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Er liebt mich, er liebt mich nicht

[Secret Love]
von

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In dieser Nacht konnte Takeda nicht schlafen. Immer wieder kreisten seine Gedanken um Hirakawa, versuchten die Puzzleteile seines Verhaltens zu einem eindeutigen Bild zusammenzusetzen, doch es mochte ihm nicht gelingen. Immer dann, wenn er doch für einen kurzen Augenblick in den Schlaf abglitt, sah er Hirakawas Gesicht vor sich. Das lächelnde Gesicht des Sechsjährigen vor dem Schaufenster in Ginza, das verzerrte Gesicht des Teenagers bei einem ihrer letzten Gespräche, bevor Hirakawa fortgezogen war, ihn verlassen hatte.

»Unsere Spieluhr ist weg.«

»Ein Antiquariat kauft Sachen an, um sie zu verkaufen. So ist das eben.«

Aus.

»Takeda! He, Takeda, wach auf!«

Takeda schlug die Augen auf. Er musste doch tatsächlich eingeschlafen sein, wenn auch nicht für lange, wie es sich anfühlte.

Ishida hatte sich über ihn gebeugt und ihn an der Schulter gepackt, um ihn wach zu rütteln: »Da bist du ja wieder. Du hast den Wecker überschlafen. Keine Ahnung, wie du das geschafft hast, bei dem Lärm, den der veranstaltet hat.«

»Wie spät ist es denn?«, wollte Takeda wissen, rappelte sich auf und fuhr sich mit der Hand durch das zerwühlte Haar.

»Halb sieben, also keine Panik. Du hast nicht besonders gut geschlafen, was?«

»Sieht man mir das an?«

»Ein bisschen«, gab Ishida trocken zurück und grinste leicht, ein schwaches Grinsen, das gleich darauf wieder verblasst war. »Du hast im Schlaf gesprochen. Hast dich immer wieder bei irgendwem entschuldigt. Es geht mich zwar nichts an, aber ich glaube, du solltest die Sache lieber klären, bevor du noch den Bach runtergehst.«

»Einfühlsam wie immer«, gab Takeda zurück und unterdrückte ein Gähnen.

»So bin ich halt.«

Ishidas Grinsen lebte wieder auf und er schnappte sich sein Kissen, um es Takeda unsanft an den Kopf zu werfen: »Aber du bist auch nicht besser, oder?«

Obwohl sein Herz noch immer schwer war, verzogen sich Takeda Lippen unwillkürlich zu einem kleinen Lächeln. Ishida machte einen zufriedenen Eindruck.

»Na dann, auf geht’s! Dusche am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen«, flötete er in einem fürchterlich unmelodischen Singsang und Takeda folgte ihm nur zu gerne in den Waschraum.

Der Schultag flog an Takeda vorüber, ohne dass er viel Notiz davon nahm. In jeder Pause zwischen den Unterrichtsstunden bemühte er sich, Hirakawas Blick aufzufangen, doch nun schien sein einstiger Wunsch, wieder Luft für den alten Freund sein zu können, plötzlich und ungefragt doch noch in Erfüllung gegangen zu sein.

Als die Glocke endlich das Ende des Unterrichts ankündigte, war Takeda mehr als froh, der unangenehmen Mischung aus Nähe und Distanz zu Hirakawa entkommen zu können. Bis zum Kendô-Training hatte er noch gut eine halbe Stunde Freizeit und so schlenderte er gedankenverloren über den Campus, den Blick zum strahlendblauen Himmel erhoben, über den sich hier und da eine dicke, flauschige Wolke treiben ließ. Für Takedas Geschmack war der Tag einfach viel zu schön, zu schön für den grässlichen Gewittersturm, der in seiner Brust tobte, jedenfalls.

Gerade als er das dachte, schreckte eine bekannte Stimme ihn auf: »Na, träumst du, Junge?«

Kuroi hatte sich an die niedrige Mauer gelehnt, die an dieser Stelle des Campus‘ den Hauptweg säumte und taxierte Takeda mit väterlichem Blick in den dunklen, von buschigen Augenbrauen gesäumten Augen.

Dankbar über die kleine Ablenkung gesellte sich Takeda zu ihm: »Musst du nicht eigentlich das Training vorbereiten, Kuroi?«

»Was soll man da groß vorbereiten?«, gab der mit einer wegwerfenden Handbewegung leichthin zurück. »Du siehst nicht besonders gut aus. Alles in Ordnung?«

Der Gedanke, dass seine Stimmung offenkundig so leicht von seinem Gesicht abzulesen war, gefiel Takeda ganz und gar nicht. Was war nur aus seiner Aura der Gleichgültigkeit, seinem perfekten Pokerface geworden?

»Wie man’s nimmt«, antwortete er schließlich widerstrebend und ließ den Blick erneut zu den Wolken empor wandern.

»Streit mit Ryo?«

Überrascht begegnete Takeda Kurois Blick. War er wirklich so durchschaubar?

Sofort verzogen sich Kurois Züge zu dem schiefen Grinsen, das er, so schien es Takeda, immer dann aufsetzte, wenn er mehr wusste als das, was er hätte wissen sollen.

»Mach dir nicht zu viele Gedanken, das steht dir nicht.«

»Was steht mir denn?«

»Ich weiß, was dir steht.«

Ehe Takeda begriff, was vor sich ging, hatten Kurois schwere Hände seine Oberarme umfasst und ihn zu sich herangezogen. Kurois Lippen fanden die seine und er stahl ihm einen Kuss.

Einige Herzschläge lang schien die Welt still zu stehen.

Das ergab einfach keinen Sinn. Das war doch...

In diesem Augenblick drehte Kuroi Takeda leicht herum und er sah, was der Vorsitzende des Kendô-Clubs bereits lange vor ihm bemerkt haben musste. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen fiel Takedas Blick auf Hirakawa, der nicht weit entfernt auf dem Hauptweg stand und zu ihnen hinüber starrte. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke, dann wandte Hirakawa sich ab.

Als wäre ein Bann von ihm genommen, stieß Takeda Kuroi hart zurück: »Was soll der Scheiß?!«

Kuroi lachte kurz und bellend auf: »Na lauf ihm schon nach. Das willst du doch, oder?«

Takeda hatte keine Zeit für ein warum. So schnell er konnte stürzte er Hirakawa nach, der sich mit zielstrebigen Schritten zusehends von ihm entfernte. Das Herz hämmerte so laut in seiner Brust, dass er glaubte, Hirakawa müsse es hören und das bellende Lachen Kurois dröhnte immer noch in seinen Ohren.

»Warte, Hirakawa!« Takedas Stimme klang gebrochen, sein Atem hart und unregelmäßig. »Es ist nicht so, wie es aussieht.«

Noch während die Worte Takedas Kehle entrannen, kam er sich mehr als albern vor. Sofort wünschte er sich, er könnte sie zurücknehmen, doch zu seiner Überraschung Hirakawa hielt abrupt inne, wandte sich jedoch nicht zu ihm um: »Das geht mich nichts an.«

»Offensichtlich doch, sonst würdest du wohl kaum vor mir weglaufen, oder? Sieh mich an.«

Takeda ergriff Hirakawas Oberarm, um ihn zu sich herumzudrehen. Mit einer blitzschnellen Bewegung schlug Hirakawa seine Hand zur Seite: »Fass mich nicht an!«

»Gut, ich fasse dich nicht an. Aber lass uns doch endlich mal vernünftig miteinander reden.«

»Ich weiß nicht, was es da zu reden gibt.«

»Ich will doch nur, dass wir wieder Freunde sein können, so wie früher. Wieso machst du mir das so schwer?«

Hirakawas Augen verengten sich leicht, ehe er antwortete: »Du bist doch derjenige, der mir die ganze Zeit über nachstellt. Nennst du das Freundschaft?«

»Ist dir eigentlich mal aufgefallen, dass du niemanden mehr an dich ran lässt? Außer dieser Bibliothekarin hast du überhaupt keine Freunde, oder?«

»Bist du etwa immer noch eifersüchtig?«

»Ich bin doch nicht eifersüchtig.«

»Ach ja, und wie würdest du das nennen?«

Hirakawa machte eine kurze Pause, um Takedas Gesicht eingehend zu studieren, ehe er aufgebracht fortfuhr: »Mein Gott, sie ist eine Freundin meiner Mutter, okay? Sie hat mir die Schule hier empfohlen. Denkst du nicht, es wäre ein bisschen undankbar, sie nicht hin und wieder mal zu besuchen?«

»Hin und wieder? Du hängst doch ständig in der Bibliothek rum.«

»Ja, um zu LERNEN. Was ist eigentlich dein Problem?«

»Ich will einfach nur wissen, was mit dir los ist. Früher hatten wir nie Geheimnisse voreinander. Wieso hast du den Kontakt zu mir abgebrochen, als du hier hergezogen bist?«

»Ist das alles?«

Hirakawas Wut hatte nun auch den Drachen in Takedas Brust geweckt: »Ja, das ist alles.«

»Schön«, gab Hirakawa zurück, seine Stimme ein wenig zu laut, ein wenig zu schrill. »Mein Vater ist nicht nach Osaka versetzt worden. Er hat seinen Job verloren und sich am vierten März um 23.18 Uhr vor den Shinkansen geworfen. Sie haben uns danach seine Einzelteile geschickt, in einer netten Geschenkverpackung. Bist du jetzt zufrieden?«

Takedas Kehle war wie zugeschnürt. Er konnte das, was er in diesem Augenblick empfand, nicht in Worte fassen. Ja, er war sich nicht einmal sicher, was genau es für ein Gefühl war, das dort in seiner Brust tobte. Reue, Schuld, Mitleid? Vielleicht von allem ein bisschen.

»Hirakawa...«, begann er hilflos, ohne zu wissen, was er eigentlich sagen wollte, doch der alte Freund hatte sich bereits umgedreht und marschierte in Richtung des Wohnheims davon. Dieses Mal versuchte Takeda nicht, ihn aufzuhalten.



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