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The Heart Collector

von

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Kapitel 9: Gefahr in der Dunkelheit

„Ist das wirklich nicht zu kurz? Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich in diesem Outfit ein wenig nackt.“, gestand Charlotte errötend und zupfte an ihrem kurzen, mintgrünen Etuikleid herum.
 

Maxime, welcher auf dem Platz neben ihr saß, lächelte zuckersüß. „Mach dir keine Sorgen, Kleine. Das Kleid steht dir super. Ich bin mir sicher, dass die jungen Männer heute Abend kaum ihre Finger von dir lassen können...“
 

Schlagartig schoss dem braunhaarigen Mädchen das Blut in die Wangen und sie wendete ihren Blick ab, um aus dem Fenster zu schauen. „Ich hasse es aber, wenn ich irgendwo auffalle.“
 

Heute war Samstagabend und wie es für diesen Tag so üblich war, hatten Charlotte, Raphael und Maxime beschlossen, dieses Wochenende NICHT mit Lernen zu vergeuden.
 

Dieses Wochenende wollten sie ihre Zeit noch mal so richtig als Teenager verbringen. Gestern nach der Schule hatten die Freunde den ganzen Tag bei Raphael Zuhause auf der faulen Haut gelegen, Fernsehen geguckt, Spiele gezockt und eine Tiefkühlpizza nach der Nächsten verdrückt. Jetzt waren sie mit dem Bus auf den Weg in die Innenstadt. Und wenn das Glück auf ihrer Seite war, dann könnten sie heute Abend vielleicht noch einen freien Platz in einer der berühmtesten Diskotheken von ganz Hamburg ergattern. Im Nachtclub: Moondoo.
 

Ja, ein Abend in der Disko mit seinen besten Freunden war wirklich eine wunderbare Idee, um den Stress der vergangenen Schultage zu vergessen.
 

Außerdem...
 

Außerdem musste Maxime irgendetwas unternehmen, um diese schrecklichen Bilder aus seinem Kopf zu verbannen. Andauernd plagten ihn diese Albträume, aus denen er wie nach einem Marathonlauf schweißgebadet erwachte. Des Nachts konnte er schon gar nicht mehr schlafen. Manchmal hatte Maxime geträumt, dass ihn die Jungen aus der Gasse bemerkt hatten und umbrachten. Ein anderes träumte er von der Polizei, die ihn zuhause abholte, weil er seine Beobachtung nicht meldete...
 

Die ganze letzte Woche hatte sich Maxime wie ein Schwerverbrecher gefühlt. Aus Angst, dass ihn seine Freunde ins Gewissen redeten, hatte er Raphael und Charlotte nichts von Daimon und dem Albino erzählt. Nachher setzten sie ihm noch irgendwelche Flausen in den Kopf, und dann machte er sich noch größere Vorwürfe.
 

Nein, Maxime wollte das Schauspiel aus der Gasse noch eine Weile geheim halten.
 

In so einer Situation durfte er sich keine voreiligen Schlüsse erlauben. Eine Mordanschuldigung war ein schwerer Vorwurf. Bevor Maxime einen weiteren Schritt machte, wollte er absolute Sicherheit haben. Er brauchte noch mehr Beweise um seinen Verdacht zu bestätigen; wenn er Daimon und Avalon als Mörder anzeigte, und sie hinterher unschuldig waren, dann...

Oh oh, daran wollte er lieber nicht denken. Sicher war nur, das Kiley und Daimon Sandojé dann wahrhaftig einen Grund hatten, um jemanden an die Gurgel zu gehen.
 

„Na, seid ihr dahinten auch schon so aufgeregt wie ich?!“, fragte plötzliche eine heitere Stimme von vorne und Raphael lehnte seinen Oberkörper über den Sitz, hinter dem Charlotte und Maxime saßen. „Hey, was zieht ihr beide für lange Gesichter? Lacht doch mal. Das wird heute Abend so richtig lustig, wir werden noch mal voll die Sau raus lassen.“
 

Maxime nickte, Charlotte schüttelte heftig ihren Kopf.
 

„Ich- Ich bin gar nicht nervös!“, stotterte Charlotte und knetete hektisch ihre Fingerknöchel. „O-O-Obwohl... wenn ich jetzt so darüber nach- nachdenke, dann... dann schon! Dieses Kleid... ich bin noch nie in einem so kurzen Kleid Feiern gewesen.“
 

Maxime schmunzelte und tätschelte ihr aufmunternd die Schulter. „Bleib locker. Du kannst ruhig zugeben, dass du nervös bist. Ich glaube dass es uns allen so geht. Das Moondoo ist eine riesige Diskothek und wir waren schon eine ganze Weile nicht mehr auf der Piste.“
 

Um viertel nach Neun hatten die 3 Freunde das Moondoo endlich erreicht. Wie bereits erwartet, stand eine lange Schlange vor der Eingangstüre. Die Gäste warteten schon ungeduldig auf Einlass und wirkten leicht aufgekratzt.
 

Da das Moondoo unter den Jugendlichen so beliebt war, war es natürlich keine Seltenheit, dass sich am Wochenende viele Besucher vor seinen Türen versammelten. Aber leider war die Disko auch nur ein solides Gebäude aus Stein, was sich nicht ausdehnen konnte. Irgendwann im Laufe des Abends war das Haus auch mal voll.
 

Charlotte, Maxime und Raphael hatten jedoch das Glück auf ihrer Seite. Sie und die ganze Schlange, konnten noch in die Disko und die Freunde schafften es sogar, sich einen guten Platz an der Theke zu schnappen.
 

Maxime betrachtete aus seinem Blickwinkel die Männer, die ihn die auf Anhieb gefielen. Mit leuchtenden Augen knuffte er Raphael in die Seite und deutete mit einem kleinen Nicken auf einen jungen Mann, der rechts von ihnen stand und mit seinen Freunden ein Bier trank.
 

„Ist der nicht ein bisschen zu alt für dich?“, zischelte Raphael leise zurück. „Der Kerl ist sicher schon 19 oder 21 Jahre alt! Willst du dir einen Pädophilen anlachen?“
 

Gespielt rollte Maxime die Augen und streckte Raphael die Zunge raus. Trotzdem wollte er noch ein bisschen weiter suchen. Vielleicht würde er hier im Getümmel noch das eine oder andere Schmuckstück finden...
 

Nachdem Maxime noch eine Weile bei seinem besten Freund am Tisch geblieben war, verschwand er in Richtung Tanzfläche. Auf dem Weg dorthin ließ er seine Hüften kreisen, und schon spürte er die ersten gierigen Blicke der anderen Gäste auf seinen Körper ruhen. Ein Grinsen huschte über Maximes Gesicht. Aha! Sehr schön! Das rote Cocktailkleid zeigte also seine Wirkung bei dem männlichen Geschlecht!
 

Schwerelos schwebte der rosahaarige Junge über die Tanzfläche. Er warf die Hände in die Luft und gab sich seinen Gefühlen und dem Rhythmus der Musik hin. Überall um Maxime herum verteilt, badeten die anderen Gäste ebenso wie er im grellen Licht der Scheinwerfer. Die Geräuschkulisse im Hintergrund vermischte sich zu einem sanften Plätschern und es war, als würden sie fliegen.
 

Wie lange Maxime hinterher in Wirklichkeit getanzt hatte, konnte er nicht mehr sagen. Irgendwann begannen die Konturen vor seinen Augen zu verschwimmen und alle Bilder, welche er von nun ansah, wurden mit einem Mal wackelig und unscharf. Er wusste nur noch, dass er Raphael dafür verfluchte, dass er ihn und Charlotte überredet hatte, zu Hause schon mal eine Flasche Jägermeister zu trinken. Als Einstieg für diesen Abend quasi. Und solche hochprozentigen Getränke hatte Maxime noch nie gut vertragen; jetzt spürte er den Alkohol dafür umso deutlicher in seinen Adern pulsieren. Er benebelte seine Sinne und drückte erbarmungslos seinen Verstand nieder.
 

„Entschuldigen Sie meine aufdringlichen Worte, aber darf ich Ihnen sagen, dass Sie in diesem Kleid wirklich bezaubernd aussehen?“
 

Erschrocken wirbelte Maxime herum. Als er langsam nach oben schaute, hielt er den Atem an. Vor ihm stand der junge Mann von eben!
 

Er war groß gewachsen, schlank und machte einen selbstbewussten Eindruck. Seine Gesichtszüge waren markant, die Augen strahlten und seine Lippen sahen so aus, als hätte er mit ihnen schon viele Menschen sehr glücklich gemacht.
 

Sofort hatte der Rosahaarige Blut geleckt. Verführerisch warf er den Kopf in den Nacken und schenkte dem schönen Unbekannten sein heißestes Lächeln. „Danke, für das Kompliment. Gefalle ich Ihnen so sehr?“
 

Der Fremde grinste wölfisch. „Aber ja! Das Tanzen hat dich sicher durstig gemacht. Möchtest du mit mir an die Theke kommen? Ich würde dir gerne etwas zu trinken ausgeben.“
 

„Gerne.“
 

Ohne die Augen von ihm zulassen, führte der junge Mann Maxime von der Tanzfläche und zog ihn hinter sich her. Obwohl Maxime auf einmal das Gefühl hatte, dass er den Fremden irgendwo schon mal gesehen hatte, konnte er nicht sagen, wo das gewesen war. Vielleicht auf der Straße oder in der Stadt? Sein Gesicht kam ihn schrecklich vertraut vor...
 

Benommen stolperte Maxime dem unbekannten Mann hinterher. Sein Kopf fühlte sich an wie eine große Schüssel Pudding: hirnlos und willenlos.

Er hatte Schwierigkeiten zu laufen. Jede noch so kleine Bodenunebenheit und jede Treppenstufe stellte ein ernst zu nehmendes Problem für ihn dar. Jedoch war etwas komisch... Als der Junge sich umschaute, bemerkte er, dass er nicht wie angekündigt an der Theke stand, sondern in einer düsteren Gasse der Disco, wo sich sonst nur die zwielichtigen Typen herumtrieben.
 

In der nächsten Sekunde spürte Maxime eine kalte Hand an seiner Kehle, die ihm gewaltsam die bitter notwendige Luftzufuhr abdrückte. Der Fremde beugte sich nach unten und presste Maxime mit seinem Gewicht an die Wand.
 

„So Bübchen, jetzt reden wir einmal Klartext“, zischelte der Fremde leise und bedrohlich. „Du brauchst dich auch nicht sonderlich anstrengen. Ich möchte nur wissen, wo deine kleine Freundin geblieben ist...“
 

„Was... wovon... reden Sie? Was... für eine Fr-Freundin?“, keuchte Maxime. Er war immer noch vom Alkohol benebelt und sein matter Verstand realisierte die Gefahr nicht. Auch die Hand an seiner Kehle nahm der Junge nur am Rande des Geschehens wahr. Was für eine Freundin? Meinte der Kerl etwa Charlotte? „Hey... wenn, wenn sie meinem kleinen... Mädchen zu nahe ko-kommen... dann gibt’s Ärger! Jawohl! Charlotte ist meine Freundin, ka-kapiert?!“
 

„Kleines Mädchen? Pfft, ich glaube nicht dass wir die gleiche Person meinen. Die Schlampe ist alles andere als klein. Und ich glaube nicht, dass sie einen schwächlichen Menschen wie dich als Wachhund benötigt. Die Nemesis sind alle gute Einzelkämpfer.“
 

Irritiert blinzelte Maxime gegen das Licht. Okay, so langsam wurde die Sache eigenartig. Jetzt bemerkte sogar ein Betrunkener wie er, dass hier etwas nicht stimmte. Seine Mitbewohnerin Scarlett hieß mit Nachnamen Nemesis. Und sie war die Einzige, die Maxime kannte und die Einzige, mit der ihn der Kerl in Verbindung bringen könnte.

Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Es war nicht das Gesicht des Mannes, das ihn auf eine seltsamste Art und Weise bekannt vorkam, sondern sein stechender, düsterer Blick...!
 

„Sie... sind der Spanner aus dem Zug! Und sie haben uns auch in Hamburg verfolgt. Jetzt kann ich mich wieder an Sie erinnern!“
 

Der Fremde nickte enthusiastisch. „Bingo, 100 Punkte für den Jungen im roten Kleid. Aber nun mal zum Anfang zurück. Ich und deine Nemesis-Freundin hätten da ein paar wichtige Dinge zu besprechen, also wäre es nett von dir, wenn du mir sagst wo ich sie finden kann.“
 

Maximes Eingeweide erstarrten zu Eis. Der unheimliche Spanner aus dem Zug hatte sich innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen in einen attraktiven Jüngling verwandelt. „Erst sagst du mir, wa-was du von meiner Freundin möchtest. He! Und.. Und so wie du aussiehst, i-ist das sicher nichts Gutes.“
 

„Tja, da muss ich dir wohl oder übel recht geben. Die süße Maus geht mir nämlich gewaltig auf den Zeiger. Seitdem sie in der Stadt ist, kann ich keinen Fuß mehr auf die Straße setzen ohne Angst zu haben, dass sie mir hinter der nächsten Ecke auflauert. Außerdem kommt sie mir überall wo ich bin, in die Quere. Erst verliere ich mein Revier im Wald, weil sich da diese Familie breitmacht, und jetzt kann ich noch nicht mal mehr in die Stadt gehen. Entweder lässt mich die Kleine in Ruhe, oder ich werde sie kalt machen.“ Der Typ ließ langsam von Maximes Hals ab und fixierte ihn mit seinen bernsteinfarbenen Augen. „Das kannst du ihr gerne ausrichten, Kleiner. Diese Stadt gehört mir! Ich lebe hier schon seit Jahrzehnten. Und ich lasse mir von so einer frechen Göre wie sie ganz sicher nicht die Laune verderben. Wenn die Puppe mich weiter bedrängt, werden in Bergedorf demnächst viele schlimme Dinge geschehen. Und eine Sache kann ich dir schon mal heute versprechen: Frauen und Männer werden nicht die einzigen Opfer sein, die meine Rache zu spüren bekommen.“
 

Maximes Gefühle überschlugen sich in Windeseile. Angst, Wut, Zorn, Verzweiflung, Hilflosigkeit... Alle Empfindungen prasselten gleichzeitig auf sein Gehirn nieder und machten alles logische Denken zunichte.

Er hatte von dem, was ihm der Fremde gerade erzählt hatte, kein einziges Wort verstanden. Aber eine Sache war ihm nun klar geworden: Scarlett hatte irgendetwas mit diesem Mann zu schaffen. Maxime wusste zwar nicht genau, was sie verbrochen hatte, aber offenbar war es schlimm genug dass er sie dafür beseitigen wollte!
 

Und so sehr die Blondine Maxime auch manchmal nervte – in der letzten Zeit war ihm das störrische Mädchen irgendwie ans Herz gewachsen! Und er konnte nicht zulassen, dass dieser Mann ihr etwas Böses antat!
 

Maximes letzte Gedanken wurden von einem lauten Donnerschlag verschluckt. Ängstlich zuckte der Junge zusammen und knallte vor Schreck gleich darauf mit den Kopf gegen die Wand in seinem Rücken. Als er eine Sekunde später wieder zu atmen wagte, bemerkte er, dass sich etwas verändert hatte: plötzlich stand er alleine im Gang - der junge Mann hatte sich mit dem Schlag, offenbar in Rauch aufgelöst.
 

*xXx*
 

Am nächsten Tag überkam Maxime das Gefühl, dass er gerade ein Deja vu erlebte. Es war schon wieder Sonntagmorgen und er stand schon wieder im Wald. Doch diesmal war er alleine gekommen und nutzte diese Zeit wirklich, um eine kleine Runde zu joggen.
 

Inzwischen war er schon 2 Stunden unterwegs, sein Atem ging jedoch immer noch gleichmäßig und ruhig. Das war nun mal Maximes Preis dafür, dass er regelmäßig Sport trieb und sich bewegte. Er fühlte sich topfit - obwohl er heute Morgen mit schrecklichen Kopfschmerzen aufgewacht war und erst mal einige Schmerztabletten schlucken musste, bevor er überhaupt aufstehen konnte.
 

Maxime trank einen Schluck aus seiner Wasserflasche, und setzte sich nach einer kurzen Pause wieder in Bewegung. Dieser Wald war ihm immer noch unheimlich. Die Geschichte mit den Wilderern wollte ihm einfach nicht aus den Kopf gehen. Vor allem nicht, seitdem Herr Kirschbaum ihnen die Berichte von früher gezeigt hatte, und nun vielleicht ein gefährliches Raubtier im Wald umher schlich und die ganzen Waldbewohner tötete.
 

Schnell schob Maxime diese lästigen Gedanken bei Seite. Jetzt wollte er an etwas anderes denken, verdammt! Immerhin war er hierhergekommen, um den gestrigen Abend in der Disko zu vergessen und einen freien Kopf zu bekommen.
 

Mit diesem Ziel vor Augen, rannte Maxime flink einen sandigen Abhang hinauf. Oben angekommen blieb er stehen und wurde plötzlich von hellen Sonnenstrahlen geblendet, die ihm ungehindert ins Gesicht schienen und den Jungen kurzzeitig erblinden ließen.
 

Nanu? Plötzlich war der Wald vor seinen Augen zu Ende. Vermutlich hatte er vorhin nicht aufgepasst und war auf den falschen Weg abgebogen und jetzt... Nein, Stopp! Der Wald war eben nicht zu Ende - Er stand mitten auf einer gigantischen Lichtung!

Vor Maxime lag eine große, kahle Fläche ohne Bäume oder Sträucher, die auf ihren Betrachter einen ziemlich gespenstigen und trostlosen Eindruck erweckte.
 

Ehrfürchtig lief Maxime über die Lichtung. Seine schwarzen Turnschuhe versanken in dem weichen Untergrund und als er die Füße wieder aus dem Schlamm zog, erzeugten sie laute, schmatzende Geräusche. Am anderen Ende, wo die Natur die Oberhand zurückgewann, sah Maxime auf einmal etwas Rotes auf den Boden liegen.
 

Bevor Maxime das rätselhafte Ding aus der Nähe betrachten konnte, stieg ihm plötzlich ein harter und strenger Duft in die Nase, der im nächsten Augenblick schon wieder wie Honig roch. Fast wie Obst. Verfaultes Obst, welches schon tagelang und unbemerkt in der hintersten Ecke der Abstellkammer lag, und dort vor sich hin schimmelte.
 

Langsam wurde es Maxime mulmig zumute. Er traute sich nicht wirklich weiterzugehen. Er wollte nicht sehen, was da für ein rotes und faulig riechendes Objekt im Gras lag.

Die Entscheidung wurde ihm allerdings abgenommen, als der Wind mit einer heftigen Böe über die Lichtung fegte und das Wesen freigab, das das Gras bis gerade eben verborgen hatte. Die Umrisse vor Maximes Augen wurden immer schärfer und immer genauer. Er konnte einen mächtigen Körper erkennen, ein braunes borstiges Fell und erstarrte, milchig wirkende Augen ohne Leben.
 

Das... das hier war keine gewöhnliche Lichtung... das war ein Friedhof!
 

Wimmernd stolperte Maxime nach hinten. Zugleich riss er die Hände nach oben und presste sie sich auf den Mund. Das rote Ding war kein rotes Ding, sondern ein riesiges Wildschwein in der Größe eines Kleinkraftwagens!
 

Der Bauch des Tieres war von der Kehle abwärts bis zum Oberschenkel einmal der Länge nach komplett aufgeschlitzt. Eine lange Spur aus roter, blutiger Organmasse schlängelte sich aus dem Loch des toten Körpers über den Waldboden. Und so tief und zerrissen, wie die große Wunde aussah, waren das definitiv NICHT die Kratzspuren einer normalen Hauskatze, welche sich mal eben die Krallen wetzen wollte, sondern von einem Tier, dessen Krallen so lang und scharf wie Skalpelle waren.
 

Das Wildschwein musste von etwas viel Größeren und Gefährlicheren angegriffen worden sein. Aber Maxime konnte sich einfach nicht vorstellen, dass so ein schreckliches Tier unbemerkt in Bergedorf leben sollte. Die Jäger hätten so eine Kreatur doch schon lange bemerkt, oder?
 

Während Maxime noch mit schockstarrer Miene zu dem toten Tier blickte, spürte er einen kalten Luftzug an den Armen und wie ihn auf einmal ein paar noch kältere Finger an der Schulter berührten. Eine Sekunde später war Maxime herumgewirbelt, hatte beide Fäuste zum Angriff in die Luft gehoben und einen lauten Schrei ausgestoßen.
 

Hinter ihm stand nicht der Sensenmann, aber dafür ein anderer Kerl, denn Maxime hier und heute ebenso wenig wie Gevatter Tod sehen wollte.
 

„Oh Gott! Ich glaube ich kriege einen Herzinfarkt!“, zischte Maxime vorwurfsvoll. „Was machst du denn hier, Marcel!?“
 

„Das könnte ich dich auch fragen!“
 

„Ich habe aber zuerst gefragt!“
 

„Deutschland ist ein freies Land.“, erwiderte der blonde Junge spitz, aber ebenso erschrocken und verwirrt wie Maxime, während er seine schmalen Arme vor der Brust verschränkte. „Ich darf überall hingehen wohin ich will, und dieser Wald hier ist sowieso mein zweites Zuhause. Also habe ich gewissermaßen Heimrechte.“
 

Besonders glaubwürdig klang das nicht. Marcel, der plötzlich ohne Vorwarnung hinter Maxime stand, wirkte auf dieser Lichtung so deplatziert wie ein Satanist in der allwöchentlichen Sonntagsmesse.
 

Flink huschten die Augen des Jungen über die Lichtung und musterten den Kadaver des toten Wildschweins für einen Sekundenbruchteil. Aber anscheinend machte ihm der schaurige Anblick gar nichts aus; Marcel verzog noch nicht mal eine Miene. „Maxime? Wir müssen von hier verschwinden. Es ist gefährlich wenn wir solange bei ihrer Beute stehen bleiben und sie nicht wissen, was wir vorhaben.“
 

„Ihrer Beute...? Was? Wovon zum Geier redest du?“
 

Marcel zog zischend die Luft ein und presste den Zeigefinger gegen seine Lippen. „Nicht so laut...! Sie können uns hören, wenn du so brüllst! Diese Lichtung hier ist gefährlich. Wir müssen unbedingt leise sei-“
 

„Wer ist gefährlich? Was hat das hier alles zu bedeuten?!“ Nicht wirklich leiser, aber dafür umso aufgewühlter, dachte Maxime nicht mal im Traum daran, um auf Marcels lächerliche Warnung zu hören und seine Stimme zu senken. Im Gegenteil. Jetzt redete er sogar umso lauter. „Mittlerweile verstehe ich gar nichts mehr! Da hinten liegt ein niedergemetzeltes Wildschwein und du zuckst noch nicht mal mit der Wimper? Warum zum Geier lässt dich das so kalt? Bist du emotional abgestumpft?“
 

Plötzlich ertönte ein Knurren aus den Büschen und die beiden Jungen zuckten erschrocken zusammen. Er wirkte, wie die drohende Warnung eines Löwen, welcher gerade durch die Savanne schlich und zwei junge Gazellen als Beutetiere auserwählt hatte, die es nun zu jagen galt.
 

Der Blonde drehte den Kopf auf die Seite und riss voller Panik die Augen auf. Maxime tat es dem Anderen gleich und schaute ängstlich in die Richtung, aus der das Knurren gekommen war. „Hey... Hast du das gerade auch gehört? Was... war das? Ob das ein Wolf war?“
 

Verwundert und beklommen beobachte er, wie Marcel innerhalb von wenigen Sekunden der nackte Angstschweiß ausbrach. Gleichzeitig begann sein eigenes Herz vor Aufregung wie wild zu pochen. Wäre diese Situation hier nicht so abnormal, hätte er mit Marcel noch nicht mal ein einziges Wort gewechselt, aber nun sah die Sache anders aus. Er war froh dass er nicht alleine war und jemanden zum Reden hatte.
 

„Sie dürfen uns hier draußen nicht zusammen sehen...! Denk´ was auch immer du willst, aber wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden.“, stöhnte Marcel plötzlich und weiß wie eine Wand. „Wenn sie aggressiv werden, sind wir erledigt - dann bin sogar ich machtlos!“
 

Okay, dachte Maxime und versuchte sich seine Panik nicht anmerken zu lassen. „Du brauchst keine Angst haben, Marcel.“, versuchte er es erneut, bemüht, den Jüngeren mit seinen Worten zu beruhigen. „Das Knurren das wir gerade gehört haben, kam sicher nicht von einem Wolf. Wahrscheinlich spielt uns nur unsere Fantasie einen Streich – ich habe einfach nur ein bisschen überreagiert. Hier in Bergdorf gibt doch es gar keine Wölfe.“
 

Auch wenn Marcel so aussah, als würde er das Gesagte gar nicht gerne hören und Maxime am liebsten seinen Schicksal überlassen, griff er hektisch nach dessen Handgelenk und bohrte die Fingernägel in seine Haut. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, zerrte er Maxime von der Lichtung zurück auf den Fußgängerweg, wo er mit schnellen und gejagten Schritten sofort zu rennen anfing.
 

„Du hast es immer noch nicht kapiert, oder?!?“, zischte der blonde Junge und funkelte Maxime über die Schulter hinweg an. „Wären dass nur Wölfe, würde ich mich vor Lachen auf dem Boden kringeln! Und kannst du jetzt ausnahmsweise mal auf mich hören, und deine Klappe halten! Danke!“
 

Die nächsten Minuten rannten die Jungen keuchend weiter und warfen immer wieder ängstliche Blicke nach hinten. Dann hörten sie das zweite Knurren. Es begann tief und wurde immer höher, ging den Teenagern durch Mark und Bein und jagte ihnen tausende Schauer über den Rücken. Wie versteinert verharrten beide und hielten die Luft an. Das Knurren verklang, und gleich darauf ertönte ein dröhnendes Brüllen, welches Maxime irgendwo schon mal gehört hatte. Diesmal klang es wütender... und näher.
 

„Warte, Marcel! Wir dürfen jetzt nicht durchdrehen, okay?“ Maxime rammte seine Fersen in den Boden und zwang damit auch Marcel zum Anhalten, der schon weiter laufen wollte. „Was auch immer das für ein Vieh ist – es verfolgt uns. Wenn wir ihm den Rücken zukehren, provozieren wir nur seinen Jagdtrieb!“
 

„Das weiß ich auch.“, knurrte Marcel und fuchtelte wie wild mit den Armen herum. „Trotzdem ist es ungefährlicher, als dass wir hier Wurzeln schlagen! Und jetzt komm´ weiter! Wir müssen -“
 

„Ja, abhauen, das habe ich inzwischen auch schon kapiert.“
 

Das Wesen, was sie jagte, musste sich zweifelsohne in ihrer Nähe aufhalten. Vielleicht lag es schon hinter dem nächsten Gebüsch, und wartete nur darauf dass sie vorbei kamen...

Es interessierte Maxime in diesem Moment noch nicht mal, was Marcel hier machte und was er für einen Unsinn erzählte. Jedoch schien er mehr zu wissen als Maxime selbst; seine Panik und seine Angst war der klare Beweis dafür.
 

„Sag mal, Marcel, was meintest du eben eigentlich mit „Wären das Wölfe würde ich mich totlachen“? Du weißt was das für ein Vieh ist?“ Instinktiv griff Maxime nach einen dicken Stock der auf den Boden lag und hielt ihn wie ein Schwert in der Hand. Auch wenn er nicht wirklich auf ein Zusammentreffen hoffte, wollte er wenigstens nicht schutzlos dastehen und sich im Ernstfall verteidigen können. „Wenn ja, dann rede endlich! Wir stehen hier mitten im Wald, mein Handy hat sicher keine Netzverbindung und da hinten lauert etwas auf uns, dass, wie du gesagt hast, ein Wildschwein geschlachtet hat. Ein Wildschwein, Marcel! Das ist kein kuscheliger Feldhase, der nur weglaufen kann - das ist ein locker 300 Kilo schweres Riesentier, was zwei messerscharfe Stoßzähne hat. Die Kreatur, die es getötet hat, muss demnach noch viel schlimmer sein!“
 

Blitzschnell holte Marcel aus und schlug Maxime mit der offenen Hand so kräftig vor die Brust, dass ein jedes andere menschliche Wesen normalerweise sofort nach Luft schnappend zu Boden gegangen wäre. Doch Maxime blieb dank seinen gut entwickelten Lungen standhaft. Benommen taumelte er einen Meter nach hinten, und Marcel nutzte seinen Schockzustand und schleppte den rosahaarigen Jungen einfach weiter.
 

Das kurze Handgemenge hatte sie allerdings wichtige Zeit gekostet.
 

Hinter ihren Rücken hörten die Jungen ein schauriges Knurren, das noch viel gefährlicher klang als vor einigen Minuten und sie nun wirklich in Panik versetzte. Marcel stürzte nach vorne, Maxime folgte auf wackeligen Beinen und hechtete dem Blondschopf blindlings hinterher. Das Knurren im Hintergrund wurde immer lauter.
 

„Gleich haben wir es geschafft!“, keuchte Marcel und deutete mit der freien Hand auf einen Punkt, welchen Maxime nur als schemenhaften Lichtfleck in der Ferne beschreiben konnte. In der gleichen Sekunde fragte er sich, wieso sich Marcel hier im Wald so gut orientieren konnte. Für ihn sah jeder Baum und jeder Stein absolut identisch aus...
 

Doch weiter sollten seine Gedankengänge nicht kommen, denn nach einem weiteren Knurren spürte Maxime einen heftigen Zug an seinen Arm und wie er nach hinten gerissen wurde.
 

Für eine Sekunde stand die ganze Welt Kopf. Maximes Körper prallte als Erstes auf den Boden, dann gegen einen dicken Baumstamm, der auf dem Waldweg stand. Der Boden unter seinen Füßen gab nach, Blut pulsierte als rauschendes Echo in seinen Ohren und sein Herz rutschte ihm in die Hose. Der Schmerz trieb Maxime die Tränen in die Augen. Er hätte gerne gewusst was ihn da angegriffen hatte, doch er wagte sich nicht, die Augen zu öffnen; nur allzu deutlich spürte er den röchelnden, nach Schwefel stinkenden Atem auf seinem Gesicht und Maxime graute die Vorstellung daran, dass die Kreatur vielleicht nur wenige Zentimeter von ihm entfernt war. Eine unbedachte Bewegung würde ihm wohl das Leben kosten...
 

Eine große und mächtige Klaue ergriff seinen Fußknöchel und Maxime schrie von Angst geschüttelt auf. Auch Marcel begann im gleichen Augenblick zu schreien, aber das Untier ließ sich von dem jähen Gebrüll nicht stören. In aller Seelenruhe zerrte es Maxime vom Baum weg, und presste seinen Brustkorb mit dem Gesicht nach unten flach auf den Boden.
 

Tatenlos musste Marcel mit ansehen, wie sich das Untier über Maxime beugte und dem Jungen seine rasiermesserscharfen Krallenhände in den Rücken presste. Ein gezielter Biss würde genügen und schon würde die Hauptschlagader des Rosahaarigen in tausend Stücke zerfetzt aus seinem Hals gucken.
 

Der Stock in seiner Hand zuckte und ohne zu überlegen, machte Maxime das einzig Richtige, was ihn in den Sinn kam; er kratzte allen seinen verbliebenen Mut zusammen und schwang den dicken Ast mit aller Kraft nach hinten, wo er das Tier vermutete. Ein lautes Knirschen ertönte, dann ein wütendes Jaulen. Der Stock in seinen Fingern verlor an Gewicht, zerbrach, und mit einer raschen Bewegung wurden ihm auch noch die kümmerlichen Überreste des Astes entrissen und in die Ferne geschleudert.
 

„Was stehst du da noch blöd rum? Hau ab!“, rief Maxime stöhnend, als er den Kopf zur Seite drehte. Marcel stand immer noch fest gewachsen da und presste sich beide Hände auf den Mund. Dieser verdammte Idiot! Wieso lief er nicht weg...!?
 

Doch Maxime hätte auch genauso gut mit einer Wand sprechen können: Marcel stand unter Schock

und war unfähig sich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu bewegen. Das knurrende, nach Schwefel-riechende Tier musste demnach eine imposante Erscheinung besitzen, wenn sie es sogar schaffte, den natürlichen Fluchtinstinkt eines Menschen zu unterdrücken.
 

Maxime presste seinen Bauch auf den Boden und zählte die verstrichenen Sekunden. Wann versetzte ihm das Ungetüm endlich den Gnadenstoß?
 

Als hätte das Wesen Maximes Gedanken gelesen, beugte es sich nach vorne und zeigte seine scharfen, sechs Zentimeter langen Reißzähne in einer Geste, die Marcel aus seiner Trance riss. Er kannte diese kleine Geste, und er wusste was sie bedeutete...!
 

„Lass ihn los! Lass ihn auf der Stelle los! Du kennst die Regeln. Ihr dürft keine Menschen Jagen und Fressen!“, kreischte Marcel plötzlich aus voller Kehle und lief zu seiner alten Hochform auf; die kleine Giftnatter begann einem Inferno gleich zu toben und zu fluchen. „ALSO HALT DICH VERDAMMT NOCHMAL DARAN UND LASS MAXIME IN RUHE!! DU HAST KEINEN GRUND UM IHN ZU VERLETZEN!!“
 

Seltsamerweise wirkte das Gebrüll diesmal.
 

Das Wesen verlagerte sein Gewicht nach hinten und entfernte die langen Krallen von der Haut seines Opfers. Für eine Sekunde starrte es Marcel an. Das unheimliche Monster gab einen knurrenden Laut zum Besten und baute sich nun zu seiner vollen Größe auf. Noch drohte die Kreatur lediglich; es fletschte die spitzen Zähne und rieb die langen, mit Klauen bestückten Hände aneinander – aber es griff Marcel nicht an.
 

„DU HAST MICH GANZ GENAU VERSTANDEN. NIMM DEINE GRIFFEL VON MAXIME UND VERSCHWINDE! HAU AB! GEH NACH HAUSE!“ Das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzerrt hob Marcel seine Hand und richtete den Zeigefinger auf das aschegraue Wesen. „HIER IST DER SPASS VORBEI! DU KANNST SO VIELE TIERE JAGEN WIE DU WILLST, ABER KEINE LEUTE AUS MEINER SCHULE! WENN DU NICHT AUF MICH HÖRST, KRIEGEN DIE ANDEREN ZU HÖREN WAS DU GETAN HAST. UND DAS SCHWÖRE ICH DIR BEI MEINEN NAMEN!“
 

Dann ging alles plötzlich sehr schnell. Maxime spürte, wie das Wesen endgültig von seinen Rücken stieg und ein frustriertes Bellen über den Weg hallte. Schließlich sah es ein, dass es hier und heute keine Mahlzeit mehr bekommen würde und verschwand lautlos im Unterholz.
 

Kaum, nachdem das Tier im Wald verschwunden war, begann Maxime am ganzen Körper zu beben. Er biss die Zähne so feste zusammen, dass sich seine Kiefermuskeln unter dem Druck sofort verkrampften. Von dem Erlebten geschockt, gaben seine Arme nach und er unterdrückte das jähe Bedürfnis, hier und jetzt sein Frühstück auf die Erde zu kotzen.
 

Gerne würde er sprechen und sich die Angst von der Seele reden, aber seine Stimme zitterte so heftig, dass er nur unzusammenhängende Wortfetzen über die Lippen stieß.

Eine Sekunde später stand Marcel an seiner Seite und starrte ihn eindringlich an. Sein Gesicht war immer noch blass und die Augen geweitet, doch er war ruhiger als Maxime und ging langsam neben diesem in die Hocke.
 

„Na? Verstehst du jetzt, warum wir keine Freunde sein können?“, wisperte Marcel sanft, ohne spöttisch zu klingen. „Diese Wesen sind fast die ganze Zeit bei mir und auf Fremde reagieren sie, wie du siehst, alles andere als freundlich. Es tut mir leid, dass es so weit kommen musste. Ich hätte nie im Traum daran gedacht, dass ich dich hier treffen könnte und dass du aufgerechnet zu dieser Tageszeit hier auftauchst. Das ist ihre feste Jagdzeit.“ Schuldbewusst senkte er die Augenlider und zog Maxime auf die Beine. „Ich möchte nicht, dass du oder sonst wer, verletzt wirst. Deswegen bin ich dir aus dem Weg gegangen und war so fies zu dir. Ich dachte ich könnte dich so auf Abstand halten. Du kannst froh sein, dass du mit dem Leben davon gekommen bist.“
 

Maxime nickte wortlos. Sie gingen die letzten paar Meter zum Eingang zurück und Marcel ließ seinen Arm von seiner Taille fallen, als sie nach 10 Minuten auf die menschenleere Straße am Ende des Waldes kamen.
 

„Es tut mir wirklich leid, was passiert ist.“, wiederholte Marcel geknickt und biss sich auf die Unterlippe. „Ich wünsche mir wirklich, dass du keinen schweren Schaden erlitten hast und als Geistesgestörter in der Psychiatrie landest. Wenn ja, verspreche ich dir, dass ich dich so oft wie nur möglich besuchen komme...“
 

Zutiefst erschrocken riss Maxime seinen Mund auf und schüttelte dann resigniert seinen Kopf. Nein, so schlimm stand es noch nicht um seine Psyche. Auch wenn er kurz davor war, sich in den Arm zu kneifen, weil er dachte, dass er immer noch zu Hause als Alkoholleiche in seinem Bett lag und das alles hier nur träumte.
 

Dann wurde die Welt um Maxime herum plötzlich dunkel und ruhig. Bevor der Junge etwas dagegen unternehmen konnte, knickten seine Beine zur Seite weg und Maxime sank in einen tiefen, unruhigen Schlaf, aus Albträumen und brüchigen Erinnerungsfetzen.
 

*xXx*
 

„Verschwinde von hier, Maxime! Hast du jetzt endlich kapiert, warum wir keine Freunde sein können?! Diese Wesen bringen dich um wenn du in meiner Nähe bist!“
 

Mit einem Schrei erwachte Maxime aus seinem Traum und riss die Augen auf.
 

Die Holzdecke, welche er durch die Spalten seiner Augen erkennen konnte, kam ihn bekannt vor. Auch der Katzen-Wecker auf dem Nachtschrank hatte Maxime irgendwo schon mal gesehen. Seltsamerweise war er Zuhause und lag sicher und wohlbehütet in seinem warmen Bett. Sein Herz hämmerte mit der Kraft eines Vorschlaghammers in seiner Brust und schlug ihm bis zum Hals. Reflexartig hob er die Hand und fuhr sich mit den Fingern über das verschwitzte Gesicht – gleichzeitig vernahm er denn Geruch von Erde und Holz an seiner Haut...
 

Als ob ein Ventil in seinem Geist geöffnet wurde, hielt Maxime den Atem an und starrte angestrengt auf die Flut an Gedanken, welche sich zu einem Horrorfilm in seinen Kopf zusammenbrauten.

Die Erinnerungen an das tote Wildschwein, Marcel und das unheimliche Wesen, was sie gejagt und angegriffen hatte, kehrten zu ihm zurück. Jedoch konnte er sich nicht daran erinnern, dass er nachdem ihn Marcel bis zum Ausgang begleitet hatte, wieder nach Hause gegangen war...
 

Er schauderte und bemerkte, wie er in Panik geriet. Er begann am ganzen Körper zu beben. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, der Raum kam ihm plötzlich wie eine Gruft vor. Er lag gefesselt durch eine Decke in seinem Bett, und schaffte es vor lauter Angst noch nicht mal um Hilfe zu schreien!
 

Zum Glück sprang in diesem Augenblick die Zimmertüre auf und ein heller Lichtstrahl fiel in den abgedunkelten Raum. Gleich darauf wurde die Stille durch lautes Getrampel unterbrochen und ein jemand, mit langen, buschigen Haaren beugte sich über Maximes Gesicht. Er spürte schwere Locken auf seine Stirn fallen und wie eine zierliche Hand forschend über seinen schweißnassen Oberkörper auf- und abfuhr. Was sie da machte, war Maxime allerdings ein Rätsel; Fieber kontrollierte man an einer anderen Stelle und einen richtigen Pulsschlag suchte man dort auch vergeblich.
 

„Er ist aufgewacht.“, murmelte eine weibliche Stimme angespannt. „Ich glaube nicht, dass er etwas abbekommen hat. Er fühlt sich ganz normal an.“
 

„Das können wir erst sagen, wenn er wirklich wieder klar bei Bewusstsein ist.“, erwiderte eine zweite Stimme, ebenfalls weiblich, aber relativ kalt.
 

Maxime runzelte seine Stirn und bekämpfte die bleierne Müdigkeit, die seine Augen niederdrückte. Das Licht im Schlafzimmer blendete ihn, aber es fühlte sich trotzdem gut an nicht mehr in der Dunkelheit zu schmoren. Noch bevor er eine Frage stellen konnte, setzte sich jemand auf seine Bettkante und tätschelte ihm vorsichtig die Wange.
 

„Maxime...Hey, bist du wach?“
 

Der Angesprochene grunzte leise und drehte seinen Kopf auf die Seite. Scarlett Nemesis saß neben ihm und betrachtete Maxime mit wachsamen, ernsten Augen. „Ja, bin ich...“, murmelte er heiser.
 

„Wie geht es dir? Fühlst du dich schlecht oder hast du Schmerzen?“
 

„Nein. Aber was ist passiert? Ich habe den totalen Blackout.“, brummelte Maxime gedämpft und kämpfte sich in eine sitzende Position. „Wie komme ich hierher? Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich nachhause gekommen bin. “
 

Scarlett drehte ihren voluminösen Haarschopf und blickte zu dem anderen Mädchen im Zimmer; die junge, bildschöne Japanerin Yukiko erwiderte ihren Blick eindringlich und sah ausnahmsweise mal nicht so aus, als würde es sich um ein ekeliges Krabbeltier handeln, sobald es um Maxime ging. Es war ein offenes Geheimnis, dass sich die beiden Teenager nicht gut verstanden, doch heute lag nichts von der gewohnten Feindseligkeit in der Luft.
 

Obwohl Yukiko erst 16 Jahre alt war, ging sie mit ihrer großen Gestalt und erwachsenen Art bestimmt überall als 18 durch, wenn nicht sogar als 20. Die Japanerin war wie immer perfekt gestylt; sie trug ein modernes Designerkleid aus schwarzer Seide, welches ihre femininen Rundungen betonte und so aussah, als wäre Yukiko auf dem direkten Weg zu einem Fotoshooting.
 

„Anscheinend bist du auf der Straße ohnmächtig geworden.“, erklärte Yukiko ruhig und sachlich. „Einer deiner Schulkameraden hat dich zufällig auf dem Bürgersteig gefunden. Zum Glück hast du unsere Festnetznummer unter dem Namen „Zuhause“ eingespeichert. So konnten wir ihm die Adresse durchgeben, als er hier angerufen hat. Vor ungefähr 2 Stunden hat er dich mit dem Taxi hierher gebracht.“
 

„Ach so... Darum kann ich mich wohl auch nicht erinnern.“, murmelte Maxime schwerfällig. „Und ist der Klassenkamerad schon weg? Ich würde gerne noch mal mit ihm sprechen.“
 

„Ja!“, zischte Scarlett schnell.
 

„Nein!“, widersprach Yukiko heftig und die Jüngere warf ihr einen warnenden Blick zu, welchen die Japanerin jedoch geflissentlich ignorierte. „Was ist los, Scarlett? Wieso willst du lügen? Hast du Angst, dass er Maxime ein Haar krümmen könnte? Der Junge ist nicht gefährlich.“
 

Erneut legte sich die Stille wie eine bleischwere Decke über den Raum; Maxime runzelte seine Stirn, Scarlett wendete den Blick ab und Yukiko zuckte lässig die Schultern.
 

„Was auch immer.“, Die Älteste ging mit schnellen Schritten zur Türschwelle weil sie keine Lust mehr auf lange Diskussionen hatte. „Ich schicke den Jungen jetzt hoch. Am besten lässt du Maxime erst mal in Ruhe und kommst mit runter, Scarlett. Was die zwei besprechen, geht uns beide nichts an.“
 

Die Angesprochene nickte, und zog eine Schnute als Yukiko im Flur verschwand; es war ihr anzusehen, dass sie den Vorschlag ihrer hübschen Freundin nicht gut fand. Aber Yukiko gehörte zu den Personen, auf die man innerhalb dieses Haus besser hörte...
 

Einige Minuten später vernahm Maxime erneut das Geräusch von laufenden Füßen und wenige Sekunden später, stand ein Schatten in der Türe und lächelte den wartenden Jungen im Bett etwas schüchtern an.
 

„Ah! Na, bist du wieder unter den Lebenden?“
 

Das Gesicht des blonden Jungen sah immer noch blass und gestresst aus, aber jetzt lag der Hauch eines Grinsens auf seinen Lippen. Langsam musterte Marcel den Rosahaarigen von oben bis unten. „Wie geht es dir?“
 

„Hmm. Ehrlich gesagt könnte es besser sein. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte ich ihn in eine Waschmaschine gesteckt und die Schleuderfunktion aktiviert. Das ist ekelhaft.“
 

Maxime machte eine flinke Bewegung mit der Hand und deutete auf einen Stuhl, der in der Nähe des Bettes stand; es machte ihm nervös wenn ihn jemand so von oben herab ansah. Marcel tat Maxime diesen Gefallen gerne, zog den Stuhl nach hinten und ließ sich geschmeidig auf die Sitzfläche gleiten.
 

„Also...“, begann der Blonde gedehnt und stützte das Kinn auf seine Handflächen. „Lass mich raten; dir brennen jetzt sicher tausend Fragen auf der Zunge. Aber ich kann dir schon mal im Voraus sagen, dass ich dir vielleicht nur Zehn davon beantworten kann. Und will.“
 

Noch nicht mal im Traum hätte Maxime daran gedacht, dass Marcel das Thema „Albtraum im Wald“ freiwillig ansprach, doch der Junge sah ihn so ernst in die Augen, als könnte er auch noch ganz andere Dinge über die Welt erzählen...
 

„Was ist da draußen im Wald passiert? Du hast doch das Wesen gesehen, was mich beinahe von der Bildfläche geputzt hat. Was war das für eine Kreatur?“
 

„Oh, sehr gut. Das ist deine erste Frage und schon kann ich sie dir nicht beantworten.“ Marcel grunzte sarkastisch und wedelte mit der Hand herum. „Nächste Frage, bitte.“
 

„Okay. Warum bist du jetzt auf einmal so freundlich zu mir? Vor ein paar Tagen hast du mich noch nicht mal mit dem Arsch angeschaut, und jetzt rettest du mich auf einmal vor einem Monster? Ich dachte du hasst mich, und so was tut man nicht für einen Menschen, denn man angeblich nicht leiden kann.“
 

„Ich hasse dich nicht!“, zischte Marcel und funkelte Maxime wütend an. „Okay, ich finde dich auch nicht supertoll, aber von Hass kann nicht die Rede sein! Deine aufdringliche, arrogante Art stört mich schon vom ersten Augenblick an. Und ich mag es nicht, wenn du immer deinen Willen durchsetzen möchtest und ständig bissige, meiner Meinung nach unpassende, Kommentare in den Raum wirfst. Mich nervt es auch, dass du kein >Nein< akzeptierst und ständig ein >Aber< in der Tasche hast! Doch das heißt noch lange nicht, dass ich tatenlos dabei zuschaue wie du als Mittagessen endest und stirbst!“
 

Finster dreinblickend knetete Maxime die Bettdecke und unterdrückte das jähe Bedürfnis, gleich wieder patzig zu werden. Oh, der edle Herr fand ihn also aufdringlich und arrogant? Na, dann hatte er aber noch nicht solche Personen wie Kiley Sandojé, Yukiko oder Raphael kennengelernt!
 

„Ach so!“, zischte er unwirsch. „Obwohl ich dich so nerve, hast du dir meine Charaktereigenschaften aber ganz genau eingeprägt!“ Dann dachte er kurz nach und schluckte seinen Ärger hinunter. Wäre Marcel wirklich ein schlechter Mensch, hätte er Maxime nicht vor dem Ungeheuer gerettet und ihn nach Hause gebracht. „Na gut. Vielleicht hast du in ein paar Dingen recht. Ich bin von mir selbst überzeugt, und ich möchte auch immer meinen Dickschädel durchsetzen, aber ich kann auch anders sein. Hoffentlich gibst du mir eine Chance um dir diese Seite an mir zu zeigen.“
 

„Mal sehen wie es weitergeht...“
 

„Dein Optimismus... Wow, er haut mich immer wieder um!“
 

Knurrend verdrehte Marcel die Augen. „Mein Gott, wenn ich für jedes Augenrollen wegen dir einen Cent bekommen würde, wäre ich heute schon Millionär! Maxime, Mensch, ich habe dir doch schon gesagt, warum wir nicht befreundet sein können...“
 

„Ja, das hast du; erst waren es die mobbenden Mitschüler, dann deine Familie und jetzt sind es diese komischen Viecher aus dem Wald. Morgen ist es die Bundeskanzlerin!“
 

„Danke für dein Verständnis, aber so kommen wir nicht weiter... Ich bin nicht hier um mich mit dir zu streiten. Lass uns lieber weiter über den Vorfall von heute Morgen reden. Maxime, du musst mir versprechen, dass du niemanden von diesen Wesen erzählst. Sie würden jeden Polizisten oder Jäger, der in den Wald kommt und sie angreift, in Stücke zerhauen! Solange man sie in Ruhe lässt, geht von diesen Wesen keine Gefahr aus. Das musst du mir bitte glauben. So wie es jetzt ist, ist es für alle Beteiligten das Beste!“
 

Angespannt biss sich Maxime auf die Unterlippe. Was Marcel da von ihm verlangte, war kein gewöhnlicher Gefallen: Er sollte dieses gefährliche Tier im Wald mit seinem Schweigen beschützen und riskieren, dass es nochmal einen Menschen angriff? Und was war, wenn es das nächste Mal nicht einen Jungen in seinem Alter angriff, sondern ein Mädchen? Oder womöglich sogar ein Kind? Schon alleine bei der Vorstellung wurde Maxime schlecht.
 

„Marcel, bitte, du musst vernünftig sein.“ Maxime beugte seinen Oberkörper nach vorne und schaute dem Jüngeren fest in die Augen. „Du kannst diese Bestien nicht kontrollieren... Das ist das Gleiche wie mit Roy und seinem weißen Tiger. Alle waren von seiner Show begeistert und dann passierte das große Unglück. Irgendwann wirst du auch mit blutender Kehle zwischen ihren Zähnen liegen und dann wird dich vielleicht niemand retten können. Möchtest du dieses Risiko wirklich eingehen?“
 

„Ja, das möchte ich...“, zischte Marcel entschlossen und erwiderte Maximes Blick, ohne zu blinzeln. „Diese Wesen sind keine gewöhnlichen Tiere. Im Gegensatz zu anderen können sie denken und zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. Ich lebe schon so lange mit ihnen zusammen, noch nie ist etwas passiert. Würden sie mir wirklich etwas tun wollen, hätten sie das schon 14 Jahre lang machen können. Und? Sehe ich aus, als ob man mich misshandelt? Gib mir einfach dein Wort, dass du mein Geheimnis für dich behältst, und schon sind wir quitt!“
 

„Na gut.“, seufzte Maxime und hatte auf einmal das ungute Gefühl, dass er gerade eben den letzten Willen eines Sterbenden vernommen hatte. „Ich verspreche es dir.“
 

Marcel würde definitiv Schwierigkeiten bekommen, wenn er länger in der Nähe dieser Kreaturen blieb. Solange die Tiere noch Wildschweine und Rehe jagten, war der Junge in ihrer Gegenwart vielleicht sicher. Aber was würde passieren, wenn sie das irgendwann nicht mehr machten? Womöglich bekamen sie mal Appetit auf etwas anderes. Vielleicht sogar auf Menschenfleisch.
 

In Maximes Hals bildete sich ein Kloß, wenn er so darüber nachdachte. Er musste den schmächtigen Jungen unbedingt von seinen dummen Gedanken befreien. Aber er wusste nicht wie er das anstellen sollte! Marcel war in seiner Wahrnehmung total verblendet. Nur weil ihn diese Tiere bis jetzt noch nicht verletzt hatten, bildete er sich ein dass er ein Teil ihrer Gemeinschaft war...!
 

Aber nun hatte Maxime dafür auf einem anderen Gebiet Gewissheit: Da draußen gab es keine Wilderer, wie die Polizei dachte, Raphael und Herr Kirschbaum hatten recht - der Täter war tatsächlich ein Tier aus dem Wald und kein Mensch!
 

...Zumindest hoffte Maxime, dass es nur ein Tier war...


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo Leute,
endlich ist das nächste Kapitel fertig! Es tut mir leid das ihr solange darauf warten musstet, aber irgendwie hatte im letzten Monat eine kleine Schreibblockade gehabt! Q_Q Ich hoffe das ihr mir das nicht übel nimmt, dafür werde ich das 10e Kapitel auch etwas früher hochladen. ^^

Wie hat euch dieses Kapitel gefallen? Endlich ist Maxime dem Rätsel von Bergedorf etwas näher gekommen, aber dafür gibt es neue Fragen: Wer ist der Kerl aus der Disko und warum sieht Marcel so aus, als ob er die unheimlichen Kreaturen aus dem Wald kennt?!
Uiuiuii~ Da liegt Spannung in der Luft, Leute!

Wie immer würde ich mich über ein paar Rückmeldungen und Feedbacks von Euch freuen! <3

Bis bald, eure Gouda! Komplett anzeigen

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