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Du bist nicht hier

Im Wandel der Jahreszeiten
von

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Herbst

Herbst
 

Ein Jahr.

Fast ein ganzes Jahr ist es her, seit du gegangen bist.

Die Bäume werfen ihre Blätter ab, die meinen Weg bunt färben. Der Herbst hat etwas Lustiges, etwas Chaotisches an sich. Ich habe immer scherzhaft gesagt: Wenn du eine Jahreszeit wärest, dann wohl eine Mischung aus Sommer und Herbst.

Bei dem Gedanken muss ich lachen. Es fühlt sich noch ein wenig ungewohnt an, aber tatsächlich pocht mein Herz lauter als all die Wochen zuvor.

Zum ersten Mal in dieser Zeit, seit ich den Weg alleine bestreite, habe ich ein Ziel vor Augen.

Das gibt mir Trost.
 

Mein Ziel ist eine alte Buche, bei der wir oft Rast machten. Wortlos schultere ich den Rucksack ab und lasse ihn ins farbenfrohe Blättergewühl fallen. Dann setze ich mich mit dem Rücken zum Stamm der Buche. Die Luft ist angenehm kühl, die Rinde hart und knorrig.

Ich nehme einen tiefen Atemzug und schließe die Augen.
 

Und da sehe ich dich. Vorsichtig wanderst du über die leuchtende Brücke, staunst über den blauen Himmel, der sich vor dir erstreckt. Du wirfst einen Blick zurück, aber weißt, dass du weitergehen musst. Es ist okay.

Schritt für Schritt näherst du dich der warmen Lichtkugel auf der anderen Seite; nach einer Weile beginnst du zu laufen, erfüllt mit Freude und Erwartung.

Die Umgebung verschwimmt in einem Meer aus Farben. Im nächsten Moment bist du auf der schönsten Wiese, die du je gesehen hast. Sie ist bestickt mit Blumen, Beerensträuchern und Klee und verströmt einen überwältigenden Duft. Du atmest tief ein.

Erst dann siehst du die anderen, so viele andere, die dich mit einem Lächeln begrüßen und einladen, mitzuspielen. Beinahe lehnst du dankend ab, in dem Gewissen, dass deine alten Knochen für eines ihrer Spiele kaum geeignet sein würden.

Doch gleich darauf erkennst du es: Deine Energie aus Jugendtagen ist zurückgekehrt. Du bist nicht mehr alt; du bist wieder jung und kannst laufen, springen, toben.

Irgendwann nach der wilden Hatz und den witzigen Versteckspielen denkst du an mich. Dein Blick trübt sich. Du wünschtest, wir könnten beide hier sein. Zusammen. Deine neuen Freunde nicken verständnisvoll.

Sei nicht traurig, sagen sie. Wir werden mit unseren Lieben bald wieder vereint sein. Bis dahin warten wir auf sie.

Ja. Warten konntest du schon immer mit einer erstaunlichen Ausdauer. Du warst mir immer treu ergeben, nicht wahr?

Ich verspreche dir, ich werde kommen und dich holen. Und bis dahin werde ich auch lernen, geduldig zu warten.
 

Lächelnd öffne ich die Augen. Die Vorstellung, dass du irgendwo da oben auf einer Wiese herumtollst, erwärmt mein Herz.

Dir geht es gut. Wir werden uns wiedersehen.

Ich glaube fest daran.

Mein Blick schweift über die Herbstlandschaft.

Du bist nicht hier. Doch das stimmt nur zum Teil. Dein Körper fehlt, aber dein freudiges Jauchzen, dein ungestümes Wesen, dein erwartungsvoller Ausdruck, mit dem du mich so oft ansahst – All das bleibt. Die Erinnerungen verblassen nicht. Ein Teil von dir wird immer bei mir sein. Wie die Bäume im Herbst ihren Griff um die Blätter lockern, so werde auch ich den Winter überstehen und den Frühling mit Freude erwarten.

Das verstehe ich endlich.
 

Beruhigt greife ich nach meinem Rucksack, ziehe die Wasserflasche hinaus und nehme einen Schluck.

Nach einer Weile stehe ich auf. Ich erwische mich dabei, wie ich flüchtig zum Himmel hinaufsehe.

Bis wir uns wiedersehen.

Ich schlucke, aber die Erinnerung an deinen kecken Gesichtsausdruck, die Art, wie du den Kopf stets schief legtest, wenn du meine Worte nicht verstanden hast, vertreibt die Tränen.

In Gedanken bist du bei mir. Nichts wird mich je dazu bringen, dich zu vergessen.

Danke... Danke für die schöne Zeit.
 

Ich gehe.

Die Leine baumelt in meiner Hand.



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