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Du bist nicht hier

Im Wandel der Jahreszeiten
von

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Sommer

Sommer
 

Ich tauche unter das Blätterdach und genieße den Schatten der Bäume. Der Sommer ist angebrochen. Kein Regen, keine Kälte, nur strahlende Sonne.

Selbst in mir scheint sich ein Teil des Nebels zu lichten.
 

Mit wachem Blick betrachte ich die Intensivität der Farben um mich herum. Das Grün der Bäume glänzt stärker denn je, das Blau des Himmels besticht mit seiner Reinheit. Es ist, als ob die Natur ihren Höhepunkt erreicht habe, als ob sie allen verkünden möchte, dass die Jahresmitte gefeiert werden muss.

Beständig dringt die Wärme durch meine aufgestellten Mauern, umschmeichelt mein Herz, doch vermag es trotz allem nicht, jenes zu schmelzen.

Ich liebte den Sommer, mein ganzes Leben lang.

Jetzt kann ich ihm nur noch ein seichtes Lächeln abgewinnen.

Ich weiß nicht, warum ich diesen Weg weitergehe, warum ich so sehr an diesem Ritual festhalte.

Vielleicht genieße ich den Schmerz, weil er mich an dich erinnert. Vielleicht möchte ich auch nur zeigen, dass ich dich nicht vergessen habe.
 

Die Stimme einer Frau schreckt mich aus meinen Gedanken. Verdattert bleibe ich stehen und merke, dass ich bereits am Ende des Weges angekommen bin. Rechts von mir, ein Stück die Böschung hinunter, ist der Bach, in den du jedes Mal gesprungen bist.
 

„Mach dich bereit!“, ruft die Frau wieder. Sie steht am Ufer und hält einen Stock in die Höhe für ihren vierbeinigen Begleiter. Ein Bellen ist die Antwort, während der Hund aufgeregt im Wasser tänzelt.

Ich sehe ihnen eine Weile zu. Der Stock fliegt in hohem Bogen in den Bach, bis er platschend aufkommt; währenddessen läuft der Hund schon hinterher und bekommt seine Beute Sekunden später zu fassen.

„Bring es her, Tino! Na, komm!“ Die Frau klopft auf ihre Schenkel und lacht.
 

Irgendwann muss ich schmunzeln, als sich meine Mundwinkel fast schmerzhaft heben.

Ich weiß genau, wie sehr du das Wasser geliebt hast. Voller Tatendrang bist du in den Bach gewatet und suchtest nach den schönsten Steinen unter der Oberfläche. Und wie du nachher aussahst! Pitschnass. Über und über mit Schlamm bedeckt. Ich schimpfte vor mich hin, wie man sich nur so schmutzig machen konnte, bevor du mich mit deinem unschuldigen Blick wieder zum Lachen brachtest.

Mein Lächeln wird breiter. Irgendwie tut es gut, sich zu erinnern. Irgendwie drängt sich nicht sofort die Gewissheit des Todes in den Vordergrund.
 

„Oh, hallo!“

Die Frau. Peinlich berührt wird mir klar, dass ich noch immer hier stehe und die beiden von oben herab anglotze. Zum Glück scheint es die Fremde nicht zu stören. Im Gegenteil: Sie winkt mir zu und fährt unbeirrt fort: „Du kennst mich wahrscheinlich nicht, aber ich hab‘ euch schon oft den Weg gehen sehen. Zugegeben, Tino hatte ich nicht mit, sonst würdest du dich sicher an mich erinnern. Aber schön, dass wir mal plaudern können. Wie heißt du denn?“

Ich blinzle. Dunkles Haar, kleine Augen, älter – wohl um die 50. Ihr Labrador betrachtet mich mit Neugier im Blick. Sie hat Recht. Ich kenne sie nicht, doch sie scheint nett zu sein.

Zögernd antworte ich: „Sarah.“

Die Frau nickt. „Sarah also. Ich bin Elisabeth. Wir haben vor kurzem einen Hund – Tino - aus dem Tierheim übernommen.“ Einen Moment hält sie inne. „Wo ist denn die kleine Sandy? Ihr geht doch immer zu zweit.“
 

Mein Herz krampft sich zusammen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas sagen kann mit dem Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat.

Ich weiß nichts mehr.

Das Lächeln der Frau schwindet. „Oh, was ist denn... Hab ich etwas Falsches ge-“

„Sie ist tot.“

Die Welt steht still. Ich halte den Atem an, zögere die Sekunden, die endlosen Augenblicke hinaus, bis ich bemerke, dass ich es gesagt habe. Ein Krächzen; drei jämmerliche, stockende Worte, die so schwer mit Bedeutung gefüllt sind.

Jeder kennt die Bedeutung. Ich sehe es in den Augen der Frau, die sich weiten, in ihrem Gesicht, das sich voller Schrecken verzieht.

„Das... das tut mir so Leid. Was ist denn passiert?“

Mehr Worte liegen auf meiner Zunge; plötzlich verspüre ich den Drang, ihr alles zu erzählen. Alles hinauszulassen. Aber meine Stimme versagt.

„E-Entschuldigen Sie“, presse ich hervor und gehe hastig weiter.
 

Du bist tot.

Das weiß ich.



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