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Ponit de Minuit

von

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Lobe nie den Tag vor den Abend

Hätte ich gekonnt, hätte ich zurückgeschrien, dass ich nie einen Mann wollte und schon gar keinen wie Jonas. Doch irgendwas hielt mich davon ab, zu schreien oder auch nur ein Wort des Trotzes von mir zu geben. Vielleicht war es einfach mein Gefühl, dass mich davon abhielt, etwas zu tun oder zu sagen, was mir später leidtun würde. Ich liebte meinen Vater, wie ich auch meine Mutter und meine Schwester geliebt hatte, doch er war so verblendet, dass ich ihm am liebsten wach gebrüllt hätte. Ich war mir aber sicher, dass dies nicht funktionieren würde. Mein Vater war ein Sturkopf, ein alter Esel, dem man nicht mehr belehren konnte. Er trottete Tag ein, Tag aus in seinen eigenen Spuren oder den Spuren anderer und ging diesen Weg bis zu seinem Tod. Ich hingegen fühlte mich freier, nicht so manipuliert, weshalb ich auch nicht nach Aziz rief oder pfiff. Sicher, für ihn wäre es einfach gewesen, doch zuerst wollte ich sehen, wie weit ich alleine kam und was genau mich erwarten würde, sollte sich diese Tür demnächst wieder öffnen.

Die frische Luft, welche ich drei Tage später atmen durfte, war mir gerade das Liebste auf der Welt. Ich wusste nicht, dass Luft so frisch sein kann, so mild und feucht. Dazu die Sonnenstrahlen der aufgehenden Sonne, die Nebelwolken, welche noch über den Gräsern hingen und die Spinnweben glitzern ließen, voll von frischen Tau; es kam mir wie die schönsten und ersten Bilder vor, die ich je gesehen hatte. Drei Tage Dunkelheit und Gestank hafteten nicht nur an meiner Kleidung und in meinen Haaren, dass ich wie ein Räucherschinken auf zwei Beinen roch, sondern auch in meinem Kopf. Länger und ich wäre sicher verrückt geworden oder ich hätte Aziz wirklich gerufen oder noch schlimmer, ich wäre eingeknickt und hätte nachgegeben. Aziz... was er wohl gerade machte? Ob er auch den Sonnenaufgang genoss oder hatte er gar das Dorf beobachtet und wusste mal wieder mehr als ich? Mein Blick ging in die Ferne, doch ich sah natürlich nichts. Gerade als ich wegsehen wollte, bewegte sich etwas in meinem Augenwinkel und ich sah wieder zum Wald. Dort, dort im Schatten stand jemand oder etwas, in dunklen Kleidern gehüllt und ja, ich war mir sicher, dass es Aziz war.

„Mireille, komm.“ Ein kräftiger Ruck an meinem Handgelenk, zog mich von der schönen morgendlichen Szenerie und von Aziz fort. Vielleicht war es besser so, dachte ich stumpf, eh ich doch trotzig den Kopf schüttelte. Wie sollte es besser sein, mich in etwas zu fügen, wo ich mich gänzlich begraben fühlte, als mich nach jemandem zu sehnen, der mir weniger korrupt vorkam, als die, die ich schon Jahre liebte. Etwas Wesentliches, was meinem Vater wie auch mir in diesem einen Moment entging, waren die alten, von einigen Augenringen untersetzten Augen, die jede meiner Bewegungen erfasste. Die alten Augen, einst strahlend blau, waren nun fahl, misstrauisch und zum Teil von grauen Schlieren überzogen. Vielleicht sahen sie manche Dinge nur noch verschwommen, doch seine Vorahnungen trafen immer zu und sein alter, kauziger Geist war scharfsinnig und sehr eigen.

Meinem Vater gingen ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf. Er war besorgt, wie es sich mit seinem ungehörigen Kind entwickeln würde, so dachte ich es mir. Was die letzten drei Tage im Dorf passiert, besprochen und geregelt wurde, war mir ja verschlossen geblieben. Vater zog mich zum Haus des Bürgermeisters und klopfte an. Ungeduldig wartete er und schien sichtlich aufgeregt zu sein. Sicher, heute heiratete seine letzte Tochter. Selbst Marlene hatte so etwas nicht erleben dürfen. Müssen... sie war diesem Alptraum knapp entgangen.

„Da seid ihr ja; pünktlich, sehr schön“, wurden wir von der Schneiderin unseres Dorfes empfangen. Sie entzog mich gleich meines Vaters Griff und maß mich im spärlichen Schein, welches durch die kleinen, wenig Licht spendenden Fenster einfiel. „Ein mageres Ding, aber gut, dann spar ich Stoff. LEAR!“, rief sie mir direkt ins Ohr, da sie gerade meine nach Räucherwahre stinkenden Haare roch. „Stinken tut sie...“ „Sie hat mir noch geholfen, das Fleisch haltbar zu machen. Ein fleißiges Ding“, erwähnte mein Vater. Schleimer, Lügner, dachte ich nur und fragte mich, warum sie über mich reden mussten, als wäre ich dumm oder nicht da? Schritte wurden lauter und eine Bodenluke zum Keller öffnete sich. Herauf kam ein Junge in meinem Alter. Er war schmächtig den ersten Anschein nach, doch zierten einige kräftige Muskeln seine Oberarme. Seine Haare lockten leicht und schmeichelten dem schmalen Gesicht, in welchem Kohlenstaub und Dreck klebte. Sein hellbraunes Haar war ebenso verschmutzt und es schien, als hingen Spinnweben in ihnen. Ich musste schmunzeln, denn Lear sah genauso schlimm aus, wie ich womöglich roch. Als seine ebenso haselnussbraunen Augen mich fixierten, legte sich auch ein Grinsen auf seine Lippen.

„Miri“, meinte er erfreut, doch unsere kleine Wiedersehensfreude wurde bedauernswerter weise von der Schneiderin unterbrochen.

„Mach das Wasser heiß und bereite alles für ein Bad vor, ich muss sie komplett schrubben. So kann sie weder heiraten noch eines meiner hübschen Kleider tragen.“ Ich lächelte nur entschuldigend, während Lear mich irgendwie entgeistert ansah. Doch eh er oder ich etwas sagen oder weitere nonverbale Gesten austauschen konnten, schob diese gretige, aber doch kräftige Frau mich einfach beiseite und machte Lear Beine, er solle sich doch beeilen. Anschließend zeigte sie das fast fertige Kleid. Es war nur einfacher, weicher Wollstoff, der in einem blassen Lila strahlte, den die Färberinnen von dem Lavendel, womöglich mühsam, übertragen hatten. Ich gab's nicht gerne zu, doch ich wollte schon immer mal ein schönes Kleid tragen. Eines aus weicher Wolle, nicht wie meine, die den ganzen Tag nur kratzten und scheuerten und nach jedem Ort aussahen, an dem ich bis zur nächsten Wäsche gewesen war. Doch solche Wolle wurde für die wohlhabenderen im Dorf gebraucht. Vielleicht war diese Hochzeit doch nicht so schlimm? Ich würde danach eine bessere Stellung im Dorf haben und könnte immer so schöne weiche Kleider tragen. Ich müsste nur Jonas aushalten. Ihn lieben und Kinder gebären, seine Launen ertragen, mich ihm hingeben und seine Schläge dulden; es hinnehmen müssen, dass ich vielleicht rumgereicht würde, wie ein Vieh, das genommen werden konnte und sich nicht zu wehren hatte, so, wie es den Herren beliebte. Mich überkam ein Eisschauer und das trotz des warmen Wassers, in welchem ich saß. Meine Haut war gerötet von dem harten Schrubben der Schneiderin und meine Haare taten weh, so grob hatte sie sie mir gewaschen. Dafür aber war ich nun sauber und durfte mich noch etwas in meinem 'alten Dreck' suhlen, wie sie es nannte. Der Wasserbottich stand draußen hinter dem Haus. Lear hatte mir einen Sichtschutz aus alten, löchrigen Holzbrettern errichtet, der mir gerade ein kleines 10 Fuß breites und 7 Fuß langes Reich schaffte. Ich lehnte mich genießend zurück und vergaß für kurz all meine Sorgen. Stattdessen genoss ich lieber die Sonne auf meinem Gesicht und den frischen Duft nach Lavendel und Myrre und etwas Thymian. Etwas Ruhe, dachte ich nur, eh ich ein Rascheln hörte und mein Körper sich automatisch anspannte. Ich war nackt und irgendwie war es mir klar, dass Jonas oder einer seiner Kumpanen sich anschleichen würde, um zu spannen. Langsam öffnete ich die Augen und sah mich vorsichtig um. Als ich die Person sah, die sich angeschlichen hatte, erschrak ich erst, eh ich doch entspannter zurück in das Wasser glitt und hinter der Hand kicherte.

„Ebenso hatte ich mich heute Morgen gefühlt“, meinte Aziz ziemlich leise, doch ich verstand ihn.

„Warum?“, fragte ich erheitert und bettete meine Arme auf den hölzernen Bottichrand, um meinen Kopf auf diesen abzulegen und erheitert aufzusehen.

„Du warst eingesperrt und hast mich nicht gerufen. Und heute Morgen seh' ich dich erstmals wieder und du schaust...“ „Schlimm aus?“ „Grässlich aus.“ Wieder kicherte ich und glitt zurück in das warme Wasser. Lear konnte echt gut heizen.

„Du hättest mich dann erstmal riechen müssen...“

„Das habe ich. Roch etwas nach ausgehangenem, gesalzenem Fleisch“, meinte Aziz verwundert und trat näher. „Und nun lockte mich der Duft nach Myrre und etwas anderem, ebenso Süßem.“ Mein Herz schlug schneller, nur wusste ich nicht warum. Ich saß in dem Bottich und war nackt. Die Sonne schien auf mich nieder und erhellte meine eh viel hellere Haut. Aziz war so groß, dass er womöglich alles sehen konnte. Alles von mir... Ich wurde rot und sein Blick schien so dunkel, wie die Nacht.

„Lavendel. Ich bade in Myrre und Lavendel. Und etwas Thymian“, erwiderte ich schluckend. Ich fühlte mich wie ein Kräutersud...

„Das riecht sehr gut. In meiner Heimat gibt es kein... Lavendel. Thymian kenne ich. Doch das Andere riecht sehr gut an dir“, verwundert sah ich auf, da ich dachte, mich verhört zu haben. Hatte er mir gerade ein Kompliment gemacht? Gut, das hatte er schon öfters, nur warum berührte es mich gerade jetzt? Doch nicht nur, weil ich nichts anhatte? Aber dieser Blick mit welchem er mich bemaß...

„Aziz?“

„Ja, kleine Lady?“

„Warum siehst du mich so an?“ Seine Augen wandten sich vom reglosen Wasser weg hinauf in meine Augen und sein intensiv dunkles Braun fesselte mich, zog mich in seinen Bann.

„Ich sehe dich nicht an, ich betrachte dich und deine Schönheit“, meinte er ganz galant und strich mir so unglaublich sanft eine nasse Haarsträhne beiseite. „Ich lebe nun schon lange und bin weit gereist, aber ich habe wenige, wirklich schöne Frauen wie dich gesehen.“ Uhhh, ich bekam eine Gänsehaut! So süße Worte von einem fremden Mann an meinem, ähm…, ungewollten Hochzeitstag! Schöner konnte es nicht sein.

„Du hast dich damals als Reisender vorgestellt, aber du bist schon die letzten Jahre hier...“ Seine Finger strichen von meinem Ohr, wo sie kurz verweilt hatten, über meine Wange zu meinen Lippen und versiegelten sie. Dieser feine Zug seiner dunklen Finger ließ meine Haut kribbeln und ich kam nicht umhin, meinen Atem anzuhalten.

„Ich reise viel und ein paar Jahre sind für mich nicht von Bedeutung“, er flüsterte nur noch und legte mir seine Hand um mein Kinn, wobei der verführerische Finger von dem Daumen ersetzt wurde, der sogleich immer wieder über meinen Mund strich. „Ich ließ mich hier nur kurz nieder, es schien, ich könnte helfen und essen zugleich“, diese Worte machte mir ehrlich gesagt etwas Angst. Essen? Was meinte er damit? Doch ich kam nicht dazu, zu fragen, da ich immer noch die Luft anhielt und nur gebannt in seine dunklen Augen sehen konnte. „Warum verbirgst du deinen Atem“, fragte er verwundert, doch ebenso sanft und leise. Seine Hand an meinem Kinn dirigierte mich in die Höhe, bis ich nur noch bis zu den Oberschenkeln vom Holz des Bottichs verdeckt wurde und Aziz gerade alles zeigte, was ich hatte. Aber er sah nicht meinen Körper an; auch war er mir viel näher als sonst. Er sah in meine Augen und strich mir sanft über die Lippen. „Atme“, hauchte er leise und ich kam der Bitte nach. Ich holte tief Luft und spürte, dass es dringend nötig gewesen war! Sofort kehrte alle Anspannung und Nervosität in meine Glieder zurück und ich strauchelte, da ich mich auch zu weit über den Rand des Bottichs gelehnt hatte, nur um ihm etwas näher zu sein. Aber Aziz hielt mich an meinen Oberarmen fest. Kurz hatten wir uns verloren, doch nun sahen wir einander wieder an und ich spürte, wie sein Arm sich langsam und blind um meine Taille legte, mich zu sich zog und festhielt, als wäre ich nur ein junges Lamm, während die andere, viel größere Hand sich auf meine Wange legte und sanft darüber strich.

„Aziz?“

„Ja, kleine Lady“, sein Blick war amüsiert, sogar seine Augen lächelten. Ich hatte Augen noch nie so lächeln gesehen.

„Willst du mich etwa auch essen?“ Ich war unsicher, ob dies gerade der richtige Moment war, doch andererseits wusste ich damals noch nicht viel von Romantik und Stimmungen. Oh, wie oft habe ich mir durch meine Taktlosigkeit schon so manchen perfekten Moment verstaut. Doch Aziz strich mit seinem Daumen über meine Wange, zu meinen Lippen und ein erneutes Kribbeln erfasste mich.

„Sehr gerne sogar, nur vielleicht anders als du denkst“, seine Stimme war nur noch ein raues Flüstern, als er seinen Kopf leicht schräg legte und mir näher kam. Abermals hielt ich die Luft an, doch es passierte nichts. Nicht nur ich hatte ein gänzlich schlechtes Timing für 'romantische Momente'.

„Miri, wie ist das Was- Oh! Oh Gott, i-ich hab nichts gesehen!“ Lear kam um die Ecke getreten und sah mich nur noch nackt im Bottich stehen. Den Rücken zu ihm und mein Gesicht, welches wie Fieber glühte Richtung Wald, in welchen Aziz gerade verschwunden war.

„Miri?“ Ich war noch so verzaubert, dass mir Lear gerade ziemlich egal war. Doch mit jeder Sekunde wurde mein Kopf klarer und ich setzte mich und meine ausgekühlte Haut schnell in das noch warme Wasser.

„Alles ok, dreh dich wieder um.“ Lear gehorchte und sah mich mit roter Nase etwas schüchtern an.

„Tut mir leid, dass ich... ich wollte nicht so freinehmend sein-“, ich winkte nur lächelnd ab.

„Ist schon gut. Ein Hase war bis an den Bottich gekommen und ich wollte ihn fangen, doch da war er weg. Dabei bin ich etwas aus dem Bottich gefallen, sei froh, dass du das nicht gesehen hast“, scherzte ich, während Lear scheinbar noch röter wurde, bei dem Gedanken mein Hinterteil als höchstes Element zu sehen. Männer...

„Irine fragt, ob du fertig bist oder darauf wartest ein Fisch zu werden?“ Ich grinste und er grinste auch. Es war so ein einfaches gegenseitiges Grinsen, welches immer auftrat, wenn wir uns sahen. Als wäre er mein Bruder, mein bester Freund und mein heimlicher Geliebter zugleich. Dabei waren wir einfach nur entfernte Freunde. Er ist auch der Einzige im ganzen Dorf, der mich Miri nannte.

„Nein, aber du heizt so gut, da konnte ich mich nicht trennen.“ Wieder legte ich meine Arme auf den Rand und bettete meinen Kopf auf diesen. Lear saß weit genug weg, dass ich nicht fürchten musste, mich noch einem Mann preis geben zu müssen.

„Danke. Auch wenn mich Holz und Kohle zu verarbeiten nicht so interessiert...“

„Nicht? Aber dein Vater hat dir doch sein Geschäft überlassen?“

„Schon, und ich mach es auch, aber viel lieber als das würde ich… ach nichts. Du würdest nur lachen“, meinte er verlegen und wandte den Blick ab.

„Ach komm, nun sag schon“, schäkerte ich und stupste ihn an. „Nun sag schon. Was würdest du denn gerne machen, wenn du nur könntest?“ Lear zögerte, musterte mich eingehend, eh er sich doch mehr zu mir wandte und mit ruhiger Stimme von seinem Traum erzählte. Eigentlich waren es zwei Träume und ich fand sie beide schön. Zum einen war da doch diese Faszination in Holz, die Lear seit Kindheit an schon nicht mehr los ließ. Doch wollte er Holz nicht einfach verbrennen, er wollte lieber Tischler oder Schreiner werden. Er wollte etwas mit diesem Holz schaffen, etwas Wunderbares und Brauchbares. Und zum anderen, wollte er schneidern. Doch das fiel schon allein deswegen weg, da Männer oder Knaben nicht mit Stoffen hantieren durften. Auch ich fand es erst verrückt und nicht angebracht, doch Lear überzeugte mich, dass es auch anders gehen könnte. Seine Einfälle waren anders, aber erschienen mir geschmackvoll.

„Und du wirst mein Modell, Miri“, meinte er weiter sinnierend. „Du hast tolle Maße und in meinen Kleidern sähest du sicherlich hinreißend aus.“

„Lass das nur niemanden hören, sonst musst du noch zum Seher, wegen Verwirrtheit“, scherzte ich kurz, doch es reichte, damit Lear wieder einlegte. „Woher weißt du bitte meine Maße?“

„Ich habe vorhin auf Irines Merkliste gesehen“, meinte er, etwas rot um die Nase werdend. „Ich darf ihr ja ab und an mal helfen und kaum einer im Dorf hat deine Maße. Abgesehen von Marlene vielleicht… aber“, er hielt inne, doch ich winkte nur ab. Es störte mich nicht so sehr wie andere über bereits Verstorbene zu sprechen.

„Schon gut. Aber es scheint dir wirklich Spaß zu machen“, ich grinste und er grinste ebenso. Zumindest bis eine wild schnaufende Irnie, alias Schneiderin zu uns kam und erst Lear, dann mir die Leviten las. Diese dumme Hochzeit hatte ich schon vergessen gehabt. Doch so wie ich rumgescheucht wurde, blieb mir nicht mal Zeit, mich in irgendwelchen Gedanken zu verlieren. Aziz.. ich wollte über Aziz nachdenken, über das, was vorhin war und wie genau er es gemeint hatte, als er sagte, er wollte mich essen, aber anders als ich dachte. Dazu sein Verständnis von Zeit… verlief die Zeit für jemanden wie ihn etwa anders? Wenn ja, wie? Ich war so neugierig und fand einfach keine Antworten auf meine Fragen. Ob er mir zusehen würde? Ich hoffte es irgendwie.
 

Es gibt viele Weisheiten und Leitsprüche. Vater sagte gerne: „Lobe nie den Tag vor dem Abend!“ Oft hatte er recht gehabt, vor allem was das Wetter betraf. All die Sprüche und Weisheiten, die er immer so nebenbei erwähnte, sei es über das Wetter, das Verhalten eines Tieres vor dem Tod oder der Geburt, der Ernte oder auch bei einigen Menschen aus dem Dorf; sie trafen zu oft zu und ich habe mir nur diesen einen gemerkt.

Bis zum Abend wurde noch viel gemacht, genäht, gesteckt, gezogen, gezerrt, gekocht, geredet, verhandelt, geschoben, verschoben, umgestellt, hingestellt, neu geordnet und was man nicht noch alles für eine Hochzeit tun musste. Ich musste natürlich nur still sein, mich löblich benehmen und brauchte nicht mal etwas abzunicken oder etwas zuzustimmen, da meine Meinung eh nicht gefragt wurde. Jonas, sein Vater, der Bürgermeister, und mein Vater regelten alles. Ich war nur das hübsche Beiwerk, die Mitgift. Da fiel mir ein, meine Mitgift, wurde teuer. Natürlich weil wohlhabende Personen, immer nach mehr gierten. Vater war schon ganz blass, da er 10 Tiere und einiges von seinem Wintervorrat hergeben durfte. Wenn ich es an dieser Stelle erwähnen dürfte, würde ich gerne sagen, dass ICH dieser Hochzeit eh nie zugestimmt hatte.

Doch dem genug Gerede geschuldet! Ich trug mein neues, wunderbar weiches und nach Lavendel riechendes und leicht violettes Kleid. Dazu waren mir Blumen ins Haar geflochten worden und meine leichten, braunen Locken legten sich auf meine Schultern. Um meine Handgelenke trug ich Blumenkränze, welche von den jüngsten Mädchen im Dorf geflochten worden waren. Das ganze Dorf war auf den Beinen und hatte eine lange Tafel mit viel zu viel Essen auf dem kleinen Dorfplatz aufgebaut. Die Sonne stand genau über dem Platz und beleuchtete die Hochzeit in ihren warmen Farben. Es war ein schönes und einzigartiges Farbenspiel, welches sich uns bot und selbst ich war hin und her gerissen. Doch als Jonas vor mir stand, wurde mir wieder übel. Ich hatte heute noch nichts gegessen und der Stress und die Anspannung schlugen mir so langsam auf den Magen. Jonas grinste natürlich und trug seines Vaters prächtiges Hochzeitsgewand. Er sah viel zu prunkvoll aus mit all dem seltenen Schmuck, den wir nur manchmal von einigen fahrenden Händlern bekommen, und welcher natürlich vom Bürgermeister aufgekauft wurde.

Mein Vater stand hinter mir, gerührt von all den Ereignissen, welche seine einzige Tochter endlich in Sicherheit wiegen würden. So hätte es schon mit Marlene sein sollen, welche er nur noch zu Grabe tragen durfte.

Der Bürgermeister stand hinter Jonas und war ebenso prunkvoll gekleidet. Sein Blick streifte mich immer wieder und es schien, als sei er doch noch mit mir zufrieden. Nun, wo ich wohl aussah und mich doch endlich weniger rebellisch verhielt. Die Mitgift gefiel ihm ebenso, denn sein eigenes Erspartes, hätte für diesen Winter nicht mehr gereicht. Er grinste und mir lief es bei diesen schiefen Zähnen eiskalt den Rücken herunter.

Jonas stand vor mir. Er grinste ebenfalls, doch zeigte er mir noch seinen Rücken, da er sich mit seinen Kumpanen unterhielt, die ihn mit mehrfachen, obszönen Worten beglückwünschten, mich doch noch bekommen zu haben. Sie redeten über die Mitgift und über mich, als würde ich es nicht hören. Mir wurden allmählich die Beine schlapp und die Knie weich. Sollte ich das tun? Aber wenn ich jetzt nein sagen würde, würde ich nicht nur meinen Vater schändlich enttäuschen, sondern wohl auch mit Knüppeln und Prügel aus dem Dorf gejagt werden. Wenn ich denn Glück hätte und sie mich nicht gleich tot schlugen. Wieder glitten meine Gedanken zu Aziz und ich ließ meinen Blick durch die kleine Traube von Menschen schweifen. Ich sah alle, die ich kannte und erblickte weiter hinten Lear. Mein Herz hüpfte kurz bei seinem Anblick und er grinste mich an. Schwach und bedrückt, so sah es aus, doch mir ging es nicht anders. Ich schaffte es nicht mal zu grinsen, sondern ließ meine Mundwinkel nur etwas kraftlos zucken. Auf dem ganzen Platz herrschte leises Getuscheln und Gemurmel, welches ich schon als viel zu laut empfand. Doch ich wusste nicht, was noch in wenigen Minuten sein würde.

Als der Dorfseher, mit seinem alten, mit Bändern und Perlen behangenen Stock und seinem Mantel aus Waschbärfellen, langsam, schreitend die kleine Traube teilte, wurde es still und immer stiller. Nur seine Schritte waren auf dem sandigen Boden zu hören und das Knirschen der kleinen Steine unter seinen hölzernen Sohlen. Alle waren still und nahmen ihre Plätze ein. Der Wind wehte sanft durch das Dorf und verteilte die stehende Sommerluft, als der Seher seinen Stock nahm und ihn vor sich weit ausholend nach links und rechts schwang. Tief murmelnd in schamanischer Sprache, trat er näher und hielt seine halb vergrauten und blinden Augen stur auf mich gerichtet.

„Merle ashi ara ashi ashara, bunta bata, solum!“ Das Letzte schrie er und alle zuckten zusammen. Oft vergaß man, welchen großen Einfluss unser Dorfseher hatte, nur weil er alt und kauzig aussah. Mir schlug das Herz bis zum Hals, als er mich ansprach, bat zu ihm zu treten, um mir die heilige und von den Göttern gesegnete Weihe einer Jungfrau zu vermachen.

„Auf das, sie eeeewig ihre Mann liebe“, rief er mit gedehnten Worten und schwulztigem Ton. Wieder frischte der Wind auf, als er seine Worte weiter murmelte und die Sonne langsam hinter den höchsten Baumwipfeln zu verschwinden begann. Der Platz wurde in ein tiefes Orangerot getaucht und irgendwas an dieser Zeremonie ließ mich mehr als unruhig werden. Während alle anderen wie gebannt auf den Seher sahen, war ich versucht, mich von seinem Blick loszureißen und in den Wald zu sehen. Es gab jemanden, den ich sehen wollte, dem ich vertraute und nach dessen Schutz ich mich sehnte. Seit wann machten mir nur die Menschen, die ich mein Leben lang kannte, solche Angst? Der Seher ward still, alles ward für den Moment still, eh dieser kratzige Alte seine Stimme erhob.

„Sie trägt den Fluch auf sich. Die Hochzeit kann nicht erfolgen. Selbst Ihr, hoher Bürgermeister oder Euer Sohn, seid nicht im Stand diesen Fluch zu brechen. Ihr Herz ist verseucht und schlägt nur für den TOD!“ Er schrie das letzte Wort heraus und zeigte prangernd mit seinem am Stockende klimpernden Perlen auf mich. Alle um mich herum raunten, hielten den Atem an und sahen mich mit einer Mischung aus Frucht und Verachtung an. Hinter mir diskutierten mein Vater und der Bürgermeister hektisch miteinander.

„Habt Ihr davon gewusst?“

„Nein, woher? Sie hat nie eines der Zeichen gezeigt…“

„Vielleicht liegt der Fluch schwerer auf ihr? Verdammtes Frauenzimmer! Und sowas wolltest du mir unterschieben“, keifte der Bürgermeister zwischen zusammen gebissenen Zähnen. Mir aber wurde kalt und heiß im Wechsel. Wieder frischte der Wind auf und ich sah nervös durch die Menge. Verflucht zu sein, auch wenn ich den Grund kannte, war kein gutes Zeichen. Ich kannte Aziz nicht und hatte mit mal fürchterliche Angst. Meine nervösen Augen huschten durch die nervöse Menge, doch ich fand niemanden, niemanden, der mir mit seinem Blick Halt geben könnte. War ich verloren? Welche Strafe erwartete mich?

„NEIN! Ihr müsst Euch irren“, bat eine wohl bekannte Stimme aus der Menge heraus. Nicht mal mein Vater hatte den Mut, gegen den Seher anzureden. Vielleicht tat er es auch nicht, weil er ganz genau wusste, dass ich mit der Bestie einen Umgang pflegte und er selbst glaubte, ich müsse gereinigt werden? Wollte er, dass ich gereinigt wurde?

„Woher nimmst du das Recht, mir, dem Seher, zu widersprechen? Lear... Kremas Sohn, verstorben vor so vielen Jahren. Dein Vater hatte es wahrlich nie leicht mit dir Querkopf. Und er hat dich wahrlich zu wenig lehren können, sonst wüsstest du, dass ICH mich nie irre.“ Lear blieb zwischen den Dorfbewohnern und dem Seher stehen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und er bemühte sich um Fassung.

„Mein Vater hat mich alles gelehrt, was er konnte und es war nicht vergebens. Dennoch, Miri kann nicht verflucht sein! Sie zeigte nie Symptome“, bat Lear schon fast flehend. Er tat mir leid, doch sagen konnte ich nichts. Mitfühlend sah ich ihn an und krallte meine Hände in den weichen Stoff meines Kleides.

„Keine Symptome, für wahr. Doch! Ich habe sie geprüft, die Geister befragt und sie beobachten lassen! Sie kennt den Dämon, den Schatten aus dem Wald!“ Ein erschrockenes Raunen geht durch das Dorf und ich biss mir nur auf die Unterlippe. „Die BESTIE! Den Mööörder von so vielen von uns. Ihrer eigenen Schwester und Mutter! Und doch behielt sie alles für sich, redete mit dem Verdorbenen und ließ sich bewusst verfluchen!“ Nun schnappte ich nach Luft. War es meine Schuld gewesen? Hatte ich den Fluch etwa wirklich alleine auf mich gezogen?

„Nein...“, kam es kläglich aus meinen zu trockenen Mund, aber niemand außer dem Seher schien es gehört zu haben.

„Nein? Irre ich mich da, du heuchlerisches Frauenzimmer. War es für dich keine Versuchung der Gefahr zu erliegen; der Lust des Fleischlichen und der Begierde der Toten?“ Nun schnappte nicht nur ich nach Luft. Ich sah, Lear die Farbe aus dem Gesicht weichen und hörte meinen Vater hinter mir ungläubig meinen Namen sagen. „Sprich ihn ruhig aus, den Namen des Bösen! RUF ihn doch. Deinen Satan, deinen Untoten. Tu es! Und ich kann vielleicht noch deine Seele retten.“ Mein Herz setzte kurz aus und mir kamen die Tränen. Diese Worte waren mein Untergang. Ich würde sterben, das war gewiss. Der Seher hatte nicht vor mich am Leben zu lassen. Nur meine Seele sollte 'vielleicht' noch Erlösung finden. Alles andere war Unrat, vom Teufel beseelt und verflucht, verdorbenes Fleisch eben. „LOS! Ruf ihn.“ Ich zitterte und als ein erneuter Windstoß kam, war mir, als würde er es selbst so wollen. Kurz haderte ich noch, eh ich dem Befehl nachkam.

„Aziz...?“, meine Stimme war klein und gebrochen, doch ich war mir sicher, dass er mich gehört hatte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Eisprinz
2014-12-10T13:35:44+00:00 10.12.2014 14:35
Ich bin noch immer schockiert, wie ein Vater seine eigene Tochter tagelang zum Schinken sperren kann! Also wirklich! Dieser alte, verknitterte Kerl!
Aber ich bewundere Miri, dass sie so eisern geblieben ist und Aziz nicht rief. Ich hätte das vermutlich gemacht und sei es nur, um zu schmachten XD
Ach, is' er nicht süß? Der Lear? Erster Eindruck bekommt schon mal ein girlyhaftes Quietschen!
Manchmal ist Miri aber doch durch und durch Mädchen. Das macht sie ziemlich sympathisch. Ein kleiner Bengel getrieben von Abenteuerlust und naiver Neugier und dann wieder ein klassisches Mädchen, mit dem Anspruch hübsch auszusehen und schöne Kleider tragen zu wollen. Eine angenehme Mischung!
Der Übergang an der Stelle mit den Gedanken ist dir echt gut gelungen! Gibt ein großen Daumen hoch!
Und dann... Da, mein AZIZ... *fähnchen schwenk* bah, bei dem Bub bin ich gern Fangirly *pfeif*
Aber ehrlich? Nackt im Bottich und DER Kerl schaut zu? Ich wäre nicht minder schamvoll im Boden versunken und dann diese Atmosphäre. Also ehrlich, wer da nicht schwach wird *schwärm*
Ach man, Lear! Total die Stimmung versaut! Das ist so typisch. Da hängt man vor dem Bildschirm, schmachtend und mit Kissen an die Brust gepresst, weil das so packend ist und dann passiert das. Ja, genau dafür hat man ein Kissen, um es einem Lear um die Ohren zu pfeffern! Bengel ey... -.-
Entfernte Freunde? Die kommen wir eher wie die dicksten Kumpel vor. Ich finde 'entfernt' verfehlt das bei weitem ^^ Allein die Art, wie sie miteinander umgehen, wie sie über ihre Träume sprechend die Zeit vergessen.
Und dann wirds ernst. Die Hochzeit. Hätte Daddy sich mal nen anderen Bräutigam gesucht! Lear zum Beispiel. Der wäre seiner einzigen, noch lebenden Tochter zumindest ein guter Ehemann! Aziz ging auch, wenn der nicht schon mir gehören würde XD
Brrr, jetzt wirds beängstigend. Die Stimmung ist gut, spannend und einnehmend und man kann sich das echt gut vorstellen. Sie hat Angst, denn gerade gerät echt alles aus den Fugen und das aufgrund eines Fremden, der ganz plötzlich in ihr Leben trat und ihr eigentlich so nah schien. Oh man *an fingern knabber* Lear! Der einzige Kerl mit Mumm in den Knochen! Preiset ihn, segnet ihn, denn der Kerl ist gut!!! Aber... Die Angst vor dem Bösen ist einfach stärker. Ihm zumindest kann ich das Zurückweichen nicht verübeln, allen anderen schon! Dass Miri schließlich der Forderung nachgibt *sfz* Was blieb ihr anderes? Familie entehrt, sie dem Tode geweiht, da blieb ihr doch nur noch dieser letzte Hoffnugsschimmer! Aber... kommt Aziz? Natürlich, warum frag ich überhaupt! Der rettet seine 'kleine Lady' und bringt den Dorfbewohnern Manieren bei! Punkt!!!
So, next XD
Antwort von:  mikifou
10.12.2014 14:45
hihi danke danke :3 freut mich dass dir mein stimmung u die charas gefallen^^ u aziz is deiner? Oo soso


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