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Schizophrenia

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Zu erst möchte ich mich für die lieben Kommentare bedanken!
Meine letzte Fanfiction ist schon mehrere Jahre her, von daher bedeutet es mir sehr viel, dass diese hier viel Anklang findet :)
Und nachdem sowohl mein Laptop als auch mein Job ein wenig stressig war, geht es jetzt auch endlich weiter.
Ich hoffe, es gefällt euch ^^ Komplett anzeigen

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Empire

Heute Nacht hatte es in seinem Kopf 'Klick' gemacht.
 

Nachdem er für ein paar Stunden an einem neuen Song gearbeitet hat, hatte er sich ein Glas Wein eingeschenkt, hatte sich seinen Lieblingssessel und einen kleinen Beistelltisch an das Fenster zur Terrasse geschoben und den Sturm über Tokyo beobachtet.
 

Das waren wahrscheinlich die einzigen Momente, in denen Uruhas geheime Schadenfreude zu Vorschein kam. Wenn es draußen regnete – und er saß im Warmen und hatte keine Gründe, das Haus zu verlassen.
 

Da unten liefen sie, seine durchnässten Mitbürger. Noch am Vormittag war es wolkenlos gewesen und man hatte merken können, dass der Winter endlich vorbei war und der Frühling vor der Tür stand. Erst am späten Nachmittag, als der junge Mann auf der Suche nach Inspiration und vor allem Motivation immer wieder aus dem Fenster lugte, hat sich der Himmel zunehmend verdunkelt. Hätte er nicht zuhause gearbeitet und nicht die Möglichkeit gehabt, seinen Blick frei wandern zu lassen, wäre es ihm wahrscheinlich auch nicht aufgefallen. Es war grade mal März und zu dieser Jahreszeit wird es noch verhältnismäßig früh dunkel.

Als der braunhaarige die Arbeit gegen 20 Uhr Arbeit sein ließ, nieselte es nur. Aber nachdem er duschen gewesen war und auf dem Weg vom Bad nach oben in sein Schlafzimmer einen Blick nach draußen erhaschen konnte, war schon landunter.

Also zog er sich schnell eine lockere Jogginghose an und schlüpfte in ein T-Shirt, um im Wohnzimmer dem bestmöglichem Schauspiel zu folgen – der Natur und dem erbärmlichen Versuch der Menschheit, sich dagegen zu schützen.
 

Uruha nippte an seinem Glas, verfolgte mit seinem Blick die Leute, die zur nächsten Möglichkeit sich unterzustellen eilten, und konnte sich ein überhebliches Grinsen nicht verkneifen.

Schadenfreude war eine der Eigenschaften, die er am wenigsten an sich leiden konnte. Aber wenn man für eine zu lange Zeit zu sehr gute Miene zu bösen Spiel macht, kann man seine Dämonen nicht immer kontrollieren. Und Uruha war ein Meister der Kontrolle. Seine tiefsten Geheimnisse kannte niemand und er ließ ihnen nur freien Lauf, wenn er alleine und ungestört war.

Heute war so ein Tag. Heute konnte er seinen inneren Teufeln ein wenig Freigang erlauben, wenn er sie sonst schon immer wegsperrte.
 

In jeder Minute, in der er sich heute nicht auf die Arbeit konzentriert hatte, war er durch alte Bilder und Interviews gegangen und hatte seine Ausstrahlung unter die Lupe genommen. Er hatte versucht, sich an seine Emotionen der jeweiligen Zeiträume zu erinnern und sich so gut wie möglich zu reflektieren.
 

Aber jetzt, wo ihn kein Job mehr aufhalten konnte, flossen seine Gedanken ohne Hindernisse und die Wahrheit sickerte mit jedem Schluck Rotwein weiter an die Oberfläche.

Uruha war nicht nur Musiker. Er war über die Jahre zum Schauspieler geworden, der sein Handwerk verstand. Das Vorgehen in seinem Inneren war unentdeckt geblieben.

Und jetzt, wo die dunklen Erinnerungen zugelassen wurden, kam auch der Schmerz ans Tageslicht.

Das gestörte Verhältnis zu seiner Familie. Der verwzeifelte Versuch seiner Schwester, die aus Sorge nur noch Briefe an ihn schrieb, weil er alle anderen Versuche der Kontaktaufnahme abblockte. Der Fakt, dass er seit Jahren unglücklich verliebt war. Und damit kam das dunkelste seiner Geheimnisse hoch: seine Sexualität.
 

Uruha war schwul. Nicht, dass das für ihn persönlich ein Problem dargestellt hätte. Er fühlte sich wohl in seinem Körper und hatte es niemals in Angriff genommen, sich dagegen zu wehren. Aber die Gesellschaft, in der er lebte, kannte auf Homosexualität nur eine Antwort: Ignoranz.

Er hatte im Internet von Schwulen und Lesben gelesen, die Scheinbeziehungen und sogar Ehen eingingen, weil sie keinen anderen Weg sahen, gesellschaftlich akzeptiert zu werden. In Japan gab es eine gewisse Toleranz den Homosexuellen gegenüber, die sich 'tuntig' oder im Fall von Frauen burschikos verhielten. Aber jeder Versuch von vermeintlich 'normalen' Leuten, sich zu outen, wurde nicht ernstgenommen und lediglich für eine Phase gehalten. Und da Charakterzüge wie aufgesetzt, überzogen und versucht 'kawaii' sein nicht seinem Wesen entsprachen, wurde Uruha zu einem Gefangenen seiner Sexualität.
 

Ein dunkles Lachen erfüllte die ansonsten totenstillen Wohnung.

Als er noch ein kleiner Junge war, hatte man ihn nie dazu bringen können, sich anzupassen. Er hatte immer seinen eigenen Kopf gehabt. Er hatte auch einen anderen Namen. Kouyou.

Diesen Namen trug er so lange, bis er mit Reita, seinem längsten Freund die Welt des Rock 'n' Roll entdeckte.

Reita brachte ihm auch bei, dass es manchmal weiser ist, seine eigenen Bedürfnisse hinter die anderer zu stellen. Kouyou war dazu nicht in der Lage, aber Uruha war sein Alter Ego, dass er dabei war aufzubauen. Uruha sollte also das komplette Gegenteil von Kouyou werden: altruistisch, bescheiden und omnipräsent.
 

Uruha betrachtete das leere Weinglas in seiner Hand. Er könnte es so handhaben, wie er es sonst immer tat. Er könnte sich nachschenken, wieder und wieder. Der Alkohol würde ihm zu Kopf steigen, er würde die Wut in sich kurz aufbrodeln lassen und danach schlafen gehen.
 

Ein Blitz erhellte das Apartment, kurz darauf ein bedrohendes Grollen.
 

Nein.

Es war Zeit, dem Dämon seiner Seele einen Namen zu geben.

Den Rest des Abends würde er nicht mehr Uruha sein.
 

Kouyou wollte raus..

Slaughter

Er stand aus seinem Sessel auf. Diese Handlung war eigentlich nur symbolisch gemeint, ein Aufbäumen seines wahren Ichs, das viel zu lange durch Uruha verdrängt worden war. Aber nun stand Kouyou vor seinem Terrassenfenster und wusste noch nicht so ganz, was er jetzt tun sollte. Durch die Spiegelung im Glas betrachtete er sich selbst. Smart sah er aus. Mit seiner Brille auf der Nase, dem Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln und den Haaren zum Pferdeschwanz gebunden hätte er seinen Eltern bestimmt gefallen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er nicht auf Frauen steht.

Da musste was geändert werden. Im Augenblick repräsentierte sein Äußeres alles, was er nicht war. Kouyou nickte seinem Spiegelbild zu, drehte ihm den Rücken zu und ging die Treppen hoch in sein Schlafzimmer.

Mit jeder Stufe, die er erklomm, wurde er aufgeregter. Es ist eine Sache, sich zu sagen, dass man etwas ändern musste – der erste Schritt hingegen war eine ganz andere Kragenweite, vor Allem wenn sie so konsequenzenreich sein würden, wie bei dem jungen Mann. Als er schließlich vor seinem Kleiderschrank stand, waren seine Hände eisig und sein Atem ging schnell und unregelmäßig.

Er zögerte. Sollte er wirklich? Wäre es nicht besser, alles so beizubehalten, wie es momentan war?

„Reiß' dich zusammen, du kleiner Junge! Sei nicht so feige!“, sprach Kouyou sich selbst durch den Spiegel an. Sein Kopf war gehoben und er sah sich von oben herab an, seine Stimme klar und schneidend wie der Wind im tiefsten Winter.

„Du hast Recht.“ Uruha nickte und sah betreten zu Boden. Er hätte mehr Mut von sich erwartet. Aber schlussendlich gab er auf. Er gab sich hin. Seine Hände legten sich bedächtig auf die Schiebetür seines Schrankes. Tief atmete er ein und dann – mit einem kräftigen Ruck – riss er sie förmlich zur Seite.
 

Wahllos griff er sich einen Kleiderhaken, an dem ein dunkelblau kariertes Hemd hing. Er sah es sich an und nach einem Moment fing Kouyou schallend an zu lachen. Es war so lächerlich, dass er dieses Hemd mal gerne getragen hat, dass er sich nicht zurückhalten konnte. Immernoch glucksend pfefferte er es auf den Boden, hielt dann jedoch inne. Das reichte bei weitem nicht. Sein Blick huschte auf den antiken Standspiegel neben der Schlafzimmertür und in ihm sah er einen Uruha, der dem Hemd auf dem Boden zugewandt ertappt zurückstarrte.

Langsam ging er auf den jungen Mann im Spiegel zu. Der Schritt war fest, der Blick jedoch ausweichend. Als er vor sich stand, zwang er sich jedoch, sich anzusehen.

„Vergiss es.“ Eine klare Ansage von Kouyous Seite. Aber Uruha schien lernresistent zu sein, also mussten Konsequenzen folgen. Also hob er seine rechte Hand und beobachtete wohlwollend, wie der Mann im Spiegel unsicher wurde. Und dann ohrfeigte er sich selbst.
 

Als nächstes schritt er hinaus auf den Flur. Auf dem Weg zum Badezimmer überlegte er kurz, ob er nicht zu hart gewesen war, aber diesen Gedanken verwarf Kouyou so schnell, wie er gekommen war.

Unschlüssig stand er also im Bad und sah sich um. Was würde nun sein Hilfsmittel werden, um der Maskerade ein Ende zu setzen? Am Medizinschrank blieb sein Blick hängen. War da nicht mal...? Schnell öffnete er die Türen und erblickte sie sofort. Ein zufriedenes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Sie war perfekt.
 

Kouyous Schritte waren leicht hüpfend, als er wieder das Schlafzimmer betrat. Das würde jetzt ein Spaß werden, er freute sich wie ein König. Und auf dem Boden lag auch sein erstes Opfer. Er kniete sich neben das Hemd, riss dieses vom Haken und sah dann erneut in den Spiegel. Aus diesem sah ihn Uruha mit geröteter Wange an. Sein Blick deutete, dass er böses ahnte.

„Sieh genau hin.“ Mit diesen Worten schnitt Kouyou mit der Schere einen riesigen Fetzen aus dem Hemd. Gleich darauf schhnitt er einen Ärmel zur Hälfte ab. Immer wieder schnitt er Löcher in Teile des Hemdes, bis dieses aussah, wie ein schweizer Käse. Als er sein Werk in seinen Händen betrachtete, war er allerdings noch nicht zufrieden. Zeige- und Mittelfinger beider Hände suchten sich ein Loch im Stoff.

Ein reißendes Geräusch erfüllte die Stille. Anstelle eines ganzen Stofffetzens hielt er nun einen kleinen in jeder Hand. Das war es. Das hatte gefehlt, um ihn zufrieden zu stellen, auch wenn nur für dieses Kleidungsstück. Die Vorfreude stieg, als er in den noch vollen Kleidersschrank schaute. Und ab diesem Moment war Kouyou wie im Rausch.

Ein Stück nach dem nächsten landete auf dem Fußboden. Wie im Wahn schitt er Löcher, riss er am Stoff bis dieser nachgab und warf die Fetzen im Anschluss in die nächste Zimmerecke. Verschont wurden nur die wenigsten Teile. Bandshirts, Geschenktes von Fans und seine Lieblingsteile rührte er nicht an.

Als er seinen Kleiderschrank auf ein Minimum dezimiert hatte, war sein Atem rasend und flach. Das Rauschen seines Blutes in den Ohren ließ nach und im seinen Kopf bildeten sich langsam drei Worte. „Bitte hör' auf“. Es klang wie ein Mantra in seinem Kopf.

Wut stieg in ihm hoch. Konnte dieser Mistkerl nicht einfach den Mund halten? Er spürte, wie sein Kiefer sich verkrampfte. Mit dem Handrücken wischte Kouyou sich den Schweiß von der Stirn, ehe er aufstand und sich erneut vor den Spiegel stellte. Uruha hatte geweint, sein Zopf war praktisch nicht mehr vorhanden und die Brille war verrutscht. Alles in allem war es ein erbärmlicher Anblick, der sich Kouyou bot. Aber nun sah er den letzten Fehler.

Mit der Schere schnitt er nun also in das Hemd, das er noch trug. In den Ärmeln, in den Schulterpartien und sogar im Rücken hinterließ er Löcher. Auch die Knöpfe schnitt er ab. Und der Mann im Spiegel schluchzte. Seine Schultern bebten, der Rücken war gekrümmt und er hielt sich sein letztes Hemd zusammen.

Die Wut kroch Kouyous Hals hinauf, so sehr, dass es ihn schon die Luft abschnürte.

Er sah ruhig an. Schön sah er nicht aus, aber er würde ihm kein Mitleid zu teil kommen lassen. Er löste das Zopfgummi aus seinen Haaren, nahm die Brille ab und warf sie dann mit so einer Wucht zu Boden, dass ein Glas sprang. Er zog die Überreste des Hemdes aus und als er dieses als letztes zerriss, sah er sich in die Augen.

Im Spiegel zerbrach Uruha. Sein Gesicht bekam Risse und fing an zu bröckeln. Wie ein Ertrinkender rang er nach Luft.
 

Ein markerschütternder Schrei durchbrach die Stille der Nacht, die sich langsam dem Ende neigte.
 

Als die ersten Strahlen des Sonnenaufgangs in das Zimmer krochen, stand ein junger Mann vor dem Spiegel. Nur mit einer Hose bekleidet und die Haare standen wirr vom Kopf ab, aber er hatte ein Lächeln im Gesicht.
 

„Lange nicht gesehen. Gut siehst du aus.“, sprach Kouyou zu sich selbst.

Trace

Als Kouyou aufwachte, war es schon längst hell draußen. Er war nach den Kämpfen der letzten Nacht auf dem Teppich seines Schlafzimmers eingeschlafen.

Ächzend setzte der Braunhaarige sich auf, streckte sich kurz und rieb sich anschließend die Augen. Wie spät es jetzt wohl war? Bei seinem letzten Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch war es kurz vor halb sechs gewesen.
 

Die braunen Augen suchten noch schlaftrunken nach eben dieser Uhr und nach mehrmaligem Blinzeln fanden sie sie auch. Es war fast 1 Uhr mittags.

'Kein Beinbruch', dachte Kouyou sich. Das nächste Aufeinandertreffen der Band würde erst in drei Wochen stattfinden. Aber aufstehen würde er trotzdem müssen, auch wenn er noch ziemlich geschafft war. Also schwang er sich auf die Beine und nach kurzem Hin- und Hertorkeln hatte er sogar einen festen Stand. Eine Dusche wäre jetzt genau das richtige, und mit diesem Gedanken ging er die Treppen hinunter und geradewegs ins Bad.
 

Als Kouyou sich seiner wenigen Klamotten entledigt hatte, sah er sich im Spiegel an. „Au Backe!“, brachte er nur heraus. Aber er konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen.

Seine Wange war leicht geschwollen, die Haare standen ihm zottelig zu Berge und tiefe Ringe waren unter seinen Augen zu sehen. So gut sah er nun doch nicht aus, wie er es heute früh noch von sich behauptet hatte.

Aber es war ein neuer Tag und ein neuer Abschnitt seines Lebens. Ein starkes Gefühl von Motivation breitete sich in ihm aus und füllte seine Brust. Er strahlte sich durch den Spiegel an.

„Wir kriegen dich schon wieder hin. Alles, was uns passiert, lässt uns wachsen!“
 

Zwanzig Minuten später verließ er das Bad. Nur mit einem Handtuch um den Hüften machte er sich erneut auf den Weg ins Schlafzimmer. Mit nun wachem Blick sah er sich um und ihn traf fast der Schlag. Das Chaos hätte nicht perfekter sein können. Auf dem gesamten Boden lagen Fetzen ehemaliger Kleidungsstücke. Der minimale Teil der verschonten Klamotten lagen zerwühlt im Schrank und bildeten traurige Häuflein. Und aus eben diesen fischte er sich jetzt eine schwarze Jeans und ein T-Shirt der Ramones.

Er rief sich die Motivation vor der Dusche wieder ins Gedächtnis und riss die Vorhänge zur Seite. Strahlender Sonnenschein durchflutete nun das Zimmer, was das Schlachtfeld nicht unbedingt ansehnlicher machte, aber zumindest sah er nun alles genau. Die Fenster wurden angekippt, um die 'frische' Stadtluft hinein zu lassen und dann konnte es auch schon los gehen.

Die zerstörten Kleidungsstücke warf er zu einen großen Haufen vor seinem Bett zusammen, anschließend tütete er sie ein und warf sie in den Müllschlucker im Hausflur.

Die verbliebenen Anziehsachen faltete er ordentlich, hing manche an Kleiderhaken und reorganisierte den gesamten Kleiderschrank. Zwei Stunden dauerte das Vorgehen und als er fertig war, schwitzte Kouyou leicht. Er hatte durchgepowert, sein 'Pace' war heute rasend schnell und keiner konnte ihn stoppen.
 

Als sein Körper endlich zur Ruhe kam, hatte sich sein Magen lautstark gemeldet. Schließlich war das Frühstück heute ausgefallen. Also machte Kouyou sich kurzerhand eine Schale Reis mit gebratenem Gemüse und ein paar Hähnchenstreifen.

Sein Sessel stand noch an der Fensterwand und wenig später ließ der Gitarrist auf diesem nieder, um zu essen und dabei ein wenig Sonne zu tanken.

Nachdem er aufgegessen hatte, stellte er seine Schüssel auf den kleinen Beistelltissch neben ihm, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Wer war denn eigentlich dieser neue Kouyou? Was machte ihn aus, was mochte er und was nicht? Der alte Kouyou war 17 Jahre alt und somit ein klassischer Teenager mit Stimmungsschwankungen, der gerne rebellierte. Aber dieser Kouyou hier, in dem Apartment eines tokioter Hochhauses, war 15 Jahre älter und wahrscheinlich um einiges anders. Sein Blick schweifte durch das Wohnzimmer, auf der Suche nach etwas, womit er sich identifizierte, aber bis auf seine Band konnte er nichts finden. Aber da musste doch mehr sein.

Angestrengt dachte Kouyou nach. Seine Stirn legte sich in Falten, als er nach einem Faden seiner selbst versuchte zu greifen. Er fing an, unruhig durch die Wohnung zu laufen. Er setzte sich sogar vor sein DVD-Regal. Aber auch hier konnte er kein Muster erkennen. Das konnte doch nicht wahr sein. Wie schwer kann es denn sein, sich zu kennen, und das mit 32?
 

Resigniert griff er zu seinen Zigaretten und trat hinaus auf die Terrasse. Manchmal brauchte Kouyou den Rauch in seiner Lunge einfach, um klar zu denken. Es war ein Wechselspiel von Verstand und Lunge. Wenn der Verstand vernebelt war, war seine Lunge meist frei und sobald er den Rauch in seine Lungen inhalierte, klärte sich sein Geist.

Fakt war, dass Kouyou sich selbst finden musste. Und wenn das bedeuten würde, dass er sich komplett neu erfinden musste, dann war es eben so.

Er blickte von dem Treiben auf der Straße hinauf in den Himmel. Das war es, das war der erste Funke gewesen.

Er sponn den Gedanken weiter. Was benötigt man, um etwas neu zu erfinden? Etwas neues sollte nach Möglichkeit nicht von anderen Dingen beeinflusst sein. Es muss frei von Allem entstehen. Und so, wie es Platon schon gelehrt hat, würde aus der Idee dann das Abbild entstehen.

Die Zigarette war aufgeraucht, der Verstand war klar, der Plan stand fest.

Entschlossen setzte er sich vor seinen Computer. Kouyou wusste genau, was er zu tun hatte.
 

Eine kurze Recherche später griff er zu seinem Handy. Er wählte die Nummer eines kleinen Familienhotels in der Präfektur Chiba und buchte ein Zimmer für 7 Tage. Die freundliche Dame fragte, wann Kouyou denn anreisen wolle. Kurz überschlug er im Kopf die Zeit, die er brauchen würde.

„In vier Stunden werde ich da sein können.“, antworte er.

Die Frau schien leicht überrascht zu sein, dass er so spontan war, war aber einverstanden und beendete das Telefonat mit den Worten, dass sie sich bereits freue.
 

Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprintete er die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Er zerrte seine Reisetasche vom Schrank und fing an wahllos an, T-Shirts, Pullover, Hosen und Unterwäsche hineinzuwerfen. Im Bad packte er sich eine kleine Tüte mit Hygieneartikeln, er schaltete seinen Anrufbeantworter ein. Für Notfälle hatte er sowieso sein Handy dabei.
 

Kurz darauf verließ Kouyou sein Apartment, verstaute seine Taschen im Kofferraum und fuhr los.

In Ichihara würde er die Idee von sich wiederfinden.
 

Noch war die Leinwand weiß, aber schon bald würde er malen können.
 

Alles würde ihn jetzt wachsen lassen.

Eclosion

Der Verkehr ging schleichend voran. Der Stau um die tokioter Bucht löste sich nur sehr langsam und die Stunde, die Kouyou mittlerweile stand, hatte sich endlos wie Kaugummi hingezogen.

Das Radio war kaum hörbar. Geräusche von außerhalb vernebelten ihm nur die Gedanken. Er hatte hin und her überlegt, ob es ratsam sei, den anderen von seinem spontanen Trip zu erzählen, war aber zu dem Entschluss gekommen, dass dies hier seine eigene Mission werden sollte. Natürlich war er schon öfters alleine in den Urlaub gefahren, aber mit einem komplett anderen Vorsatz, als dieses mal.

Normalerweise verreiste Kouyou, um seinen Geist mit neuen Eindrücken und Einsichten zu füllen. Jetzt fuhr er weg, um seinen Kopf von Allem zu befreien. Es würde Mut erfordern, sich der Leere und schließlich sich selbst zu stellen.
 

Da, endlich! Die Autos vor ihm kamen immer häufiger ins Rollen. Konnte es wirklich sein, dass der Stau richtung Chiba sich auflöste? Zuerst fuhren sie nur Schrittgeschwindigkeit, aber nach einer Weile kamen die Verkehrsteilnehmer auf der Tateyama-Autobahn flott voran.

„Dass ich das noch erleben darf!“, freute sich Kouyou und trommelte mit seinen Fingerkuppen auf dem Lenkrad. Wenn jetzt alles glatt gehen würde, könnte er in einer halben Stunde in Ichihara sein.
 

Das Glück war gnädig mit ihm und schon bald kam sein Wagen vor einer kleinen Familienpension im traditionell japanischem Stil zum stehen. Kouyou war grade mal aus dem Auto ausgestiegen und machte sich daran, seine Tasche aus dem Kofferraum zu holen, als ihm schon die Hausdame (vermutlich die selbe, mit der er vor wenigen Stunden noch telefoniert hatte) entgegen kam.

Sie war klein und ein wenig rundlich gebaut, aber sie hatte einen gütigen Blick und Lachfalten. Mit ihren hochgesteckten Haaren war sie quasi der Inbegriff einer einer Frau, der man eine gute Seele zuschreibt. Kouyou fühlte sich auf Anhieb wohl.

„Sie müssen Herr Takashima sein, nicht wahr? Willkommen in der Pension Haruno!“, sprach die Frau und verbeugte sich.

„Der bin ich. Vielen Dank, dass Sie es so schnell einrichten konnten, mich hier aufzunehmen.“, bedankte er sich höflich und verbeugte sich ebenfalls.

Die Dame stellte sich als Pensionleiterin vor, ihr vollständiger Name lautete Sayaka Haruno. Sie bat Kouyou an, ihm die Tasche abzunehmen, was dieser jedoch sofort ablehnte, da seine Tasche ohnehin nicht schwer war und Frau Haruno ihm viel zu sympatisch war, als dass er sie seine Lasten hätte tragen lassen können.

„Ich führe diese Pension zusammen mit meinem Mann und meinem Sohn. Sie ist schon seit vielen Jahrzehnten in Familienbesitz, wissen Sie? Früher haben hier die Arbeiter der Ölraffinerie übernachtet, die nicht in Ichihara lebten und nur für die Arbeit hergefahren sind. Aber heutzutage ist alles mobiler geworden und wir haben nicht mehr all zu oft Gäste. Von daher freuen wir uns sehr, dass Sie hier bei uns sind.“, erzählte Frau Haruno, während Kouyou sich im Genkan die Straßenschuhe abstreifte und in die Pantoffeln stieg. Aber er lauschte der alten Dame. Irgendwas war an ihr, dass er sich fühlte, wie ein kleines Kind.
 

Anschließend führte sie ihn durch das Haus. Unten war ein kleiner Empfangsbereich aufgebaut worden und es gab einen Bereich, an dem gegessen wurde. Frau Haruno erklärte, dass ihr Mann, ihr Sohn und sie es mochten, wenn ihre Gäste mit ihnen aßen, aber Kouyou solle sich nicht verpflichtet fühlen, wenn er dies nicht wolle.

„Ich koche selbst, dann schmeckt es immernoch am Besten! Ich kann Ihnen morgens ein Bento zubereiten, wenn sie sich tagsüber die Gegend anschauen möchten. Das Abendessen servieren wir um 19 Uhr. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie es einrichten könnten, teilzunehmen.“, sprach sie und lächelte Kouyou an.

„Sehr gerne, ich würde mich freuen.“, nahm er die Einladung an und ließ sich weiter herumführen.

Der Boden war aus Tatami und es gab nur Schiebetüren, Kouyou war lange nicht mehr in einem so altmodischen Haus gewesen. Aber es war ein wenig, als würde er zu seinen Wurzeln zurückkehren. Es fühlte an wie ein Instinkt, als seine Hände über die Holzbalken, Türen und Wände strichen und das Gefühl, das sie auf seinen Fingerkuppen hinterließen, ihm vertraut vorkamen.
 

Es ging in die obere Etage, wo sich die Zimmer befanden. Frau Haruno lief den Gang entlang und machte vor der letzten Tür halt. „Dies“, wandte sie sich ihm zu,“wird Ihr Zimmer sein.“ Mit diesen Worten öffnete sie die Tür und bedeutete Kouyou, zuerst das Zimmer zu betreten.

Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Fensterwand mit einem kleinen französischen Balkon, von dem aus man den Steingarten betrachten konnte. Rechts war ein Futonbett frisch bezogen, daneben ein kleiner Nachttisch mit Schubladen. An der Ecke zu den Fenstern lagen zwei Sitzkissen auf dem Boden, neben ihnen stand ein kleines Regal voller Bücher. Zu seiner linken befand sich ein kleiner Fernseher, der schon ein wenig in die Jahre gekommen war,ein Schreibtisch mit einem dazugehörigen Stuhl und eine weitere Tür.

„Sie verfügen über ein eigenes Duschbad mit Toilette. Sie dürfen sich gerne an unserer bescheidenen Bücherauswahl bedienen und den Balkon dürfen Sie zum Rauchen benutzen.“, sprach Frau Haruno.

Kouyou war beeindruckt. Das Zimmer war simpel gehalten und vielleicht waren die Möbelstücke nicht die neuesten, aber es hatte auf jeden Fall Komfort.

„Es gefällt mir sehr, vielen Dank!“, sagte er und drehte sich zu Frau Haruno.

Diese lächelte nun noch ein wenig mehr. „Das freut mich sehr. Wenn Sie keine Fragen haben und es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich nun bei Ihnen entschuldigen. Ich habe ein wenig getrödelt und muss nun das Abendessen vorbereiten.“ Sie sah ihn mit einem entschuldigen Blick an und verbeugte sich nochmal.

„Machen Sie sich bitte keine Sorgen, ich möchte Sie nicht aufhalten. Wir sehen uns dann später beim Essen.“, beschwichtigte Kouyou die Dame und lächelte ihr freundlich zu, bevor sie das Zimmer verließ.
 

Die Tür schloss sich und Kouyou stellte seufzend seine Reisetasche neben das Bett. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte 5 Uhr nachmittags an, er hatte also noch zwei Stunden, bevor das Abendessen begann. Er machte sich dran, seine Sachen auszupacken und zu verstauen. Seine Hygieneartikel stellte er in das Bad, was zwar klein, aber nicht ungemütlich war. Anschließend ging er hinüber ans Fenster, öffnete die Tür zum Balkon und sah sich um.

Der Steingarten wurde im Moment von einem älteren Herren, vermutlich Herrn Haruno, gepflegt. Er wirkte konzentriert und schien Kouyou nicht zu bemerken. Er bewegte sich langsam und genau, als würde er jeder Bewegung, jeder Pflanze und jedem Stein eine eigene Zeit widmen. Diese Hingabe spiegelte sich im Garten wieder. Alles sah gleichmäßig gepflegt aus und nichts machte den Eindruck, als würde der Mann irgend eine bestimmte Tätigkeit nicht gerne machen und diese deshalb ungenau durchführen.

Wenn man über den Garten hinaus sah, sah man in geringer Ferne die Raffinerien und dahinter das Meer. An dieses würde man hier in Ichihara nicht rankommen, zumindest nicht an unberührte Gebiete, wie er es sich wünschte. Zum Glück war er aber mobil, Kouyou würde mit Sicherheit eine schöne Stelle finden.

Auf seinen Armen hatte sich eine feine Gänsehaut gebildet und Kouyou erschauderte. Das Klima war zwar milde, aber der Wind von der Küste war trotz der Entfernung nicht zu unterschätzen. Also ging er wieder rein und schloss die Balkontüre hinter sich. Wie bestellt und nicht abgeholt stand er nun im Zimmer. Viel Zeit war nicht vergangen seitdem er das letze Mal auf die Uhr geschaut hat. Rein theoretisch hätte Kouyou spazieren gehen können, aber eigentlich war ihm eher nach einer schönen Runde Schlafen. Wenn er zu solch unüblichen Zeiten schlafen ging und und viel zu spät wieder aufwachte, wie es heute der Fall gewesen war, kam er den ganzen Tag nicht aus dem Knick. Also schlurfte er zum Bett und ließ sich auf dieses Fallen. Kouyou atmete tief ein und langsam wieder aus. Er schloss die Augen und driftete in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
 

„Herr Takashima? Das Abendessen ist fertig, möchten Sie mit uns zusammen essen?“, tönte es hinter der Zimmertür hervor und mit einem Satz saß Kouyou aufrecht im Bett. So tief hatte er gar nicht vorgehabt, zu schlafen und nun war sein Körper wach und der Verstand hinkte noch hinterher. Rasch schlüpfte er in die Pantoffeln, stolperte zur Tür, öffnete diese und schaute in das Gesicht von Frau Haruno.

„Ich bin schon da. Alles gut. Ich habe nur ein wenig geschlafen.“, brachte Kouyou grade mal mit ungenauer Aussprache hervor und war schon dabei, zur Treppe zu gehen, als er aufgehalten wurde. „Herr Takashima, entschuldigen Sie bitte meine unhöfliche Formulierung, aber möchten Sie sich nicht vorher die Haare ein wenig richten? Nicht, dass Sie sich später noch unwohl fühlen.“, sagte Frau Haruno leise zu ihm. Man konnte ihr die Unsicherheit anmerken und wenn Kouyou ein eingebildeter Firmenchef gewesen wäre, wäre sie auch begründet. Aber Kouyou war nunmal er selbst, und als sein Verstand langsam wieder zu funktionieren begann, fing er nur an zu lachen. „Sie haben recht! Verzeihen Sie bitte, ich bin nach dem Aufstehen immer ein wenig langsam.“, sprach er und band sich währenddessen die Haare zusammen. „Geht es denn jetzt?“, fragte er und Frau Haruno nickte nur, sichtlich erleichtert, dass sie aufgrund ihres Kommentares nicht angefahren worden ist.
 

Auf zwei der sechs Sitzkissen im Essbereich saßen bereits der ältere Herr aus dem Garten und ein jüngerer Mann, den Kouyou auf etwa 25 schätzte.

„Ah, Sie müssen also Herr Takashima sein. Herzlich Willkommen in unserer Pension! Mein Name ist Yuuji Haruno und dies ist mein Sohn Shinji.“, sprach der ältere Mann und deutete auf den Jüngeren neben ihm. Beide verbeugten sich höflich und lächelten ihn an. „Mein Name ist Kouyou Takashima. Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft.“, stellte Kouyou sich vor und verbeugte sich ebenfalls.

Sobald Kouyou auf einem der Kissen Platz genommen hatte, reichte ihm Frau Haruno eine Schüssel mit Oyakodon, die er dankend entgegennahm. Er wartete, bis alle eine Schüssel vor sich hatten, sie sich einen guten Appetit gewünscht hatten und fing dann an zu essen. Er war überrascht, wie gut das Essen war. Natürlich war er davon ausgegangen, dass es gut sein würde, aber seine Erwartungen wurden bei Weitem übertroffen. Das Hühnchen war perfekt gebraten, das Ei war nicht zu trocken und die Sauce hatte einen nicht zu intensiven Geschmack. Kouyou hätte sich in dieses Gericht legen können.

„Schmeckt es Ihnen?“, fragte Frau Haruno, die Kouyous geschlossene Augen wohl bemerkt hatte. Dieser schluckte schnell runter. „Sehr. Es ist das Beste, was ich seit Langem gegessen habe.“ Frau Haruno errötete leicht. „Meine Frau ist eine ausgezeichnete Köchin. Sie kocht mit viel Liebe.“, sprach Herr Haruno. „Das merkt man.“, stimmte Kouyou ihm zu und nahm sich wie zur Bestätigung noch ein wenig Reis.

Die Zeit, in der er kaute, nutzte Kouyou, um sich seine Gastgeber ein wenig genauer anzusehen. Frau Haruno war in ihren jüngeren Jahren bestimmt trotz ihrer Statur eine Schönheit gewesen. Sie hatte ebenmäßige Gesichtszüge, kein Merkmal stach stärker heraus als ein anderes. Sie hatte ein paar Fältchen im Mundbereich, wahrscheinlich weil sie immer lächelte. Kouyou konnte sich gar nicht vorstellen, dass sie es mal nicht tat. Ihre Haare waren ergraut, aber das ließ sie nur noch gütiger wirken.

Herr Haruno war eher schmal gebaut. Seine Hände waren von der Arbeit gekennzeichnet, seine Haut war gebräunt und sein Rücken war leicht gekrümmt. Seine Lippen waren schmal und wenn er lächelte, sah es ein wenig aus, als müsse er sich zurückhalten. Seine Augen waren ruhig und er ließ seinen Blick oft schweifen, so als würde er ständig über die eine oder andere Sache nachdenken.

Shinji war eher blass. Er war sportlich gebaut, hatte einen graden Rücken und breite Schultern. Seine Haare waren zu einem wilden Kurzhaarschnitt gestylt, allerdings sah er noch konform genug aus, um damit im Büro arbeiten zu können. Sein Blick war sehr fest und Kouyou fiel es schwer, ihm nicht direkt auszuweichen, sobald ihre Augen aufeinandertrafen. Seine Mimik war meistens ernst, aber wenn er lächelte, hob sich ein Mundwinkel stärker, als der andere, was ihm einen frechen Ausdruck verlieh.
 

„Was führt Sie denn nach Ichihara, Herr Takashima?“, unterbrach Herr Haruno Kouyous Gedanken. Dieser zögerte. Sollte er die Wahrheit sagen? Was hatte er schon zu verlieren?

„Ich habe ein paar Probleme mit mir selbst und hatte das Gefühl, ich brauche ein wenig Abstand, um mich wiederzufinden.“, sagte er schließlich wahrheitsgemäß. „Wie kommt das?“, fragte Shinji unverdrossen nach. Seine Mutter warf ihm kurz einen tadelnden Blick zu. Kouyou atmete kurz durch und begann zu erzählen. „Durch meinen Beruf bin ich gezwungen, ein Doppelleben zu führen. Ich mag meinen Job sehr gerne und möchte ihn nicht aufgeben, aber es scheint mir, als habe ich mich dadurch ein wenig verloren. Man sagt ja, je mehr man etwas einschließt, umso stärker wird es ausbrechen. Nun ja, gestern Nacht bin ich ausgebrochen, aber jetzt“, er griff kurz mit seinen Händen in die Luft,“bin ich weg. Ich weiß im Moment nicht so ganz, wer ich bin. Aber ich bin hier und werde mich finden.“

Kurz war es ruhig im Raum. Wahrscheinlich war man ein wenig überrascht, wie tiefgründig und ehrlich die Antwort ausgefallen war. Frau Haruno sah in mitfühlend an, Shinjis Miene hatte sich kaum verändert und Herr Haruno schien nachzudenken.

Diese Worte ausgesprochen zu haben fühlte sich gut an, aber Kouyou kam nicht umhin, eine leichte Leere in sich zu spüren. Ein wenig, als hätte er gerade sein Herz abgegeben und nun wartete er auf die Reaktion.

„Wenn Sie sich zwingen, sich zu finden, wird Ihre Suche nicht von Erfolg gekrönt sein. Aber wenn Sie sich Zeit geben und geduldig sind, bin ich sicher, dass Sie sich finden werden.“, sagte Herr Haruno nach einiger Zeit und nickte sich dann selbst zur Bekräftigung mehrmals zu. Kouyou bedankte sich für die ermutigenden Worte und half anschließend Frau Haruno, den Tisch abzuräumen.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte sie Kouyou, als die beiden für einen Moment alleine in der Küche waren. Er konnte jetzt nicht lügen. „Ich wünschte, ich hätte früher gemerkt, was ich mir antue. Dann wäre ich jetzt nicht so verloren.“

Frau Haruno schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Dieser Weg ist für Sie genau der richtige. Sie sind genau jetzt zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Jetzt haben Sie gelernt, dass man auf seine Seele genau so acht geben muss, wie auf seinen Körper. Es muss erst etwas kaputt gehen, bevor man es reparieren kann. Gestern Nacht sind Sie eben kaputt gegangen und hier werden Sie sich reparieren können. Stellen Sie sich selbst als ein Küken vor, das eben geschlüpft ist, indem es seine Schale kaputt gemacht hat.“ Sie legte ihre Hand auf seinen Arm, als wollte sie sagen, dass alles wieder gut werden würde.

„Den Rest hier schaffe ich schon alleine. Gehen Sie ruhig auf Ihr Zimmer, Herr Takashima. Sie brauchen jetzt Ruhe und deshalb habe ich Ihnen unser größtes Zimmer gegeben.“

Kouyou war kurz erstaunt, wagte aber nicht, zu widersprechen. „In Ordnung. Aber bitte nennen Sie mich Kouyou. Gute Nacht.“ Er lächelte noch einmal, wandte sich dann um und ging hinauf auf sein Zimmer.
 

Kaum hatte war die Tür geschlossen, zogen sich die Mundwinkel nach unten und das Gesicht verzog sich schmerzhaft. Das Licht hatte er gar nicht erst eingeschaltet, das Zimmer war komplett dunkel. Er tastete sich zum Bett vor, verbarg sein Gesicht im Kopfkissen und begann zu weinen. Seine Brust zog sich zusammen und immer wieder krochen Schluchzer aus seiner Kehle. Kouyou versuchte nicht erst, dagegen anzukämpfen. Der ganze Frust, die Trauer und die Wut der letzten Jahre bahnten sich jetzt Ihren Weg in den Kissenbezug und über das Gesicht des Mannes. Seine Hände krampften, sein Oberkörper wog sich vor und zurück und ab und zu reckte er mit zusammengekniffenen Augen seinen Kopf zur Decke, um seinen Hals zu entspannen.

Es war schrecklich und es hatte Stunden gedauert, bis Kouyou sich beruhigt hatte.
 

Er japste noch nach frischer Luft, als er das kleine Nachtlicht anschaltete. Er fühlte sich fix und fertig, aber er musste sich noch bettfertig machen. Allerdings zog etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich. Unter der Tür hindurchgeschoben lag ein kleiner Zettel. War er etwa laut gewesen und hatte die anderen belästigt? Er hockte sich neben die Tür und nahm den Zettel in die Hand. Öffne mich, stand da in säuberlich geschriebenen Zeichen (keine Frage, es war die Schrift einer Frau) und darüber ein Pfeil, der zur Tür zeigte.

Kouyou war verwirrt. Was sollte das werden? Aber er war auch neugierig und schob die Tür zur Seite. Zuerst öffnete er nur einen Spalt, um zu sehen, ob wer davor stand. Aber alles war leer und der Flur war dunkel. Also öffnete er die Tür ganz und da entdeckte er es. Auf einem kleinen Teller lag ein einzelnes Stück Schokolade. Davor lag ein weiterer Zettel. Schokolade macht glücklich., stand auf diesem.

Kouyou sah nochmal den Flur entlang. Es war immernoch still. Also nahm er sich das Tellerchen und den zweiten Zettel und ging wieder in sein Zimmer. Er stellte sich auf den Balkon und guckte in den Sternenhimmel. Es war windstill und kein Laut war zu hören. Langsam schob er sich das Stück Schokolade in den Mund und schloss die Augen. Er schmeckte nicht nur Schokolade. Er schmeckte Güte und Verständnis. Mit dem leichten Beigeschmack, dass sein Problem kein unbekanntes ist. Er schmeckte den Sinn. Diesmal rann ihm eine Freudenträne demütig die Wange hinab.
 

Er hatte letzte Nacht die Hölle gesehen, ja.
 

Aber jetzt durfte er den Himmel schmecken.



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von: abgemeldet
2014-05-08T07:43:57+00:00 08.05.2014 09:43
Sehr interessant mal wieder, ich lese zwar beim Arbeiten trotzdem das Kapitel gefällt mir. Ich werde sicher noch weiterlesen..
Von: abgemeldet
2014-04-28T16:42:42+00:00 28.04.2014 18:42
Sehr interessantes Kapitel ich freu mich schon wenn es weitergeht
Von: abgemeldet
2014-04-16T15:22:52+00:00 16.04.2014 17:22
Tolles Kapitel, ich bin ja immer noch gespannt
Antwort von:  mnmlfaultier
16.04.2014 20:26
Vielen Dank! Das Schreiben an diesem Kapitel hat auch unglaublich Spaß gemacht ^^
Von: abgemeldet
2014-04-09T14:33:31+00:00 09.04.2014 16:33
Sehr interessant ich freue mich darauf wenn es weiter geht
Von:  MelliMauus
2014-04-09T11:26:39+00:00 09.04.2014 13:26
Klingt spannend! Ich freu mich schon aufs nächste kapitel ! :)
Von:  NatsUruha
2014-04-09T10:28:24+00:00 09.04.2014 12:28
Uii da bin ich ja mal gespannr :3

klingt intressamt :3


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