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1945

von

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V - Claudere


 

Kapitel V - Claudere
 

claudēre (Latein) - "[1] schließen, verschließen, [2] umzingeln, umschließen, [3] beendigen, beenden
 

-*-
 

“Tiere sind gute Menschen und Menschen böse Tiere.”

- „Felidae“, Akif Pirinçci
 

-*1944*-
 

„Du hast ein ungewöhnliches Interesse an ihm.“
 

Russland versuchte, seine Hände und Finger unter Kontrolle zu behalten. Ansonsten würde er sich andauernd durch die Haare fahren müssen oder an seinem Schal herumspielen. Er ballte die Hände zu Fäusten an seinen Seiten und versuchte ein überzeugendes Lächeln aufzusetzen. „Ich denke, es steht mir zu, ihn zu besitzen.“
 

Stalin verzog keine Mine. Der Tabak in seiner Pfeife glühte auf als er daran zog. Er stand von seinem Schreibtisch auf und ging in langsamen Schritten auf die Nation zu. Ivan fühlte sich nie wohl, wenn die Aufmerksamkeit seines Oberhauptes vollends auf ihm lastete. Ivan hatte auf einmal Angst – Angst, dass sein Plan nicht aufgehen würde. Dass ihm verwehrt würde, wonach er sich schon so lange sehnte.
 

„Welcher Natur ist dein Interesse?“, fragte er fast schon desinteressiert, während er aus dem großen Fenster auf den schneebedeckten roten Platz blickte. 
 

Die Frage konnte fast beiläufig wirken, wüsste Ivan nicht um die Implikation, die sie in sich barg. Der recht klein gewachsene Mann drehte sich zu Ivan und durchbohrte ihn mit seinem Blick. Ivan fragte sich heimlich, ob die anderen Nationen sich ähnlich fühlten wie er just in diesem Moment, wenn Ivan sie ansah. Das fahle Licht, das durch das Fenster drang, beleuchtete Stalins Gesicht, sodass seine Pockennarben noch mehr zur Geltung kamen als sonst. Ivan wandte seinen Blick ab – er wollte nicht starren. Hitze stieg in sein Gesicht als er verstand, was Stalin da implizierte.
 

Die Abneigungen Stalins den gomosyatin (wie er sie gerne nannte) gegenüber waren kein Geheimnis. Oft genug hatte Ivan mitbekommen, wie er vor allem in der Gegenwart anderer Mitglieder des Staatsapparates lautstark und unmissverständlich klar machte, was er von Männern hielt, die Zuneigung anderen Männern gegenüber empfanden. Hatte Ivan noch lange Zeit gedacht, dass seine menschlichen Führungskräfte verstünden, dass er als Nation und nur quasi-Mensch nicht ganz in ihre Schemen und Ideen von Partnerschaft passte, so verhielt es sich mit Stalin anders. Den genauen Grund dafür konnte Ivan nur erahnen – es kursierten verschiedene Begründungen für die Sanktionen von gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Egal ob es daran lag, dass Homosexualität angeblich ein Zeichen von Faschismus war oder ob er sich steigende Geburtenraten erhoffte – Stalin duldete keine derartigen Verstrickungen, schon gar nicht bei Ivan.
 

Es war nicht so, dass Ivan ihm nicht zu erklären versucht hätte, dass solcherlei Themen unter Nationen einen anderen Stellenwert hatten; dass keine Nation entweder nur eines oder etwas anderes wäre und, dass selbst die Konzepte von „männlich“ und „weiblich“ die die Menschen hatten trotz ihrer äußeren Erscheinung nicht Eins zu Eins auf die Nationen übertragbar waren. 

Es war Stalin herzlich egal. Er duldete solcherlei Anwandlungen nicht - in erster Linie aus ideologischen Gründen. Was genau gleichgeschlechtliche Liebe mit dem Faschismus zu tun haben sollte, verstand Ivan dennoch nie so ganz. Menschen verhielten sich fahrig und wechselhaft, wenn es um Dinge wie diese ging. Als wären Arten zu Leben, die nicht ihren eigenen glichen, eine Bedrohung ihrer selbst. Es frustrierte ihn, dass ein Mensch wie Stalin mit seinem Verhalten dafür sorgte, dass er als Nation Unbehagen und Scham empfinden musste.
 

Glücklicherweise verstand Stalin jedoch, dass die Nationen der Ukraine und Weißrussland tatsächlich seine Geschwister waren – eine Art politische polygame Hochzeit war so also ausgeschlossen, zu Ivans Erleichterung. Er hätte es Stalin durchaus zugetraut, etwas Derartiges anzuleiern um Ivan als „ganzen Kerl“ dastehen zu lassen. Die Wirkung nach außen war wichtig in einem Krieg der Systeme, Stalin wurde nie müde dies zur Genüge zu betonen.
 

Ivan ließ sein Lächeln ein wenig breiter werden. „Ein historisches,“ sagte er und lachte leise. Es beruhigte ihn ein wenig, dass sich seine Nervosität nicht in seine Stimme geschlichen hatte. Zumal Stalins merkwürdige Implikation keineswegs mit beiden Füßen in der Realität stand. Ivans Interesse an Preußen war in erster Linie der Wunsch, einen Freund zu gewinnen nach dem er sich immer gesehnt hatte. Ein Freund, der einst schon einmal zum greifen nah gewesen war … doch der ihm dann das Messer in der Rücken gerammt hatte. Ivans Lächeln gefror bei der Erinnerung an den gebrochenen Eisernen Pakt. Es war nicht nur das – vielleicht war es auch der heimliche Wunsch nach Revanche. Wiedergutmachung. Er hatte sich nicht nur einmal ausgemalt was er tun würde, wenn er Preußen in seiner Gewalt, nein, in seiner Obhut hätte … 
 

Sein Lächeln war nun immerhin ehrlich, auch wenn Stalin über den Grund seiner Freude wohl im Unklaren bleiben würde.

“Siehst du es nicht ähnlich, Genosse? Ich will ihm helfen, die Fesseln des Faschismus abzustreifen. Damit wir gemeinsam in eine friedliche Zukunft gehen können. Nicht wahr?“
 

Ivan spürte ehrliche Freude in sich aufkeimen bei dem Gedanken. Stalin schien zufrieden mit dieser Antwort, und sein Blick wurde weniger stechend. Er nickte langsam. „Wer Berlin beherrscht, beherrscht Deutschland. Und wer Deutschland beherrscht, der beherrscht Europa.“
 

Der Schnee fiel weiter, und der Kamin knisterte wohlig.
 

“Du sollst Preußen haben. Wenn du ihn denn findest.“

Ivan strahlte über das gesamte Gesicht. „Natürlich! Überlasse das nur mir, Tovarishch!“
 

Etwas schien Stalins Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – er fixierte Ivan, etwas unterhalb seines Gesichtes. In seinen Augen flackerten die Flammen des Kaminfeuers ominös. Die Atmosphäre im Raum schien augenblicklich verändert und Ivan spürte wie sich sein gesamter Körper verkrampfte. Hatte er etwas Falsches gesagt?
 

Bedächtig schritt der kurze Mann vorwärts, und Ivan widerstand seinem Instinkt, der ihn befehligen wollte, bloß rückwärts zu gehen und so viel Distanz zu diesem Mann zu waren wie es nur ging. Ivan schluckte, fühlte wie seine Ohren heiß wurden. Stalin streckte seine Hand aus, und mache Anstalten nach Ivans Schal zu greifen – in diesem Moment setzte Ivans Verstand aus, und ein jämmerliches Geräusch entfloh seinem Hals als er panisch einen Satz zurück machte.
 

Sein Hals … niemand durfte an seinen Hals. Nicht einmal Stalin. Vor allem nicht Stalin. Ivan umklammerte den Stoff mit zitternden Händen, nun von seinem Staatsoberhaupt abgewandt. Er atmete schwer.
 

„Passiert das etwa, wenn du lügst?“, fragte Stalin spöttisch.
 

Ivans Gedanken rasten. Was meinte er? Log Ivan etwa, ohne es zu wissen? Was meinte er? Er keuchte schwer, ein Beben fuhr durch seinen gesamten Körper. Sein Herz, so befürchtete Ivan, würde jeden Moment aus seiner Brust fallen.
 

„Du kannst gehen“, sagte Stalin beiläufig, und fast hätte Ivan es gar nicht bemerkt.
 

Er stahl sich aus dem Zimmer so schnell er konnte, nun vollends aufgelöst. Es scherte ihn nicht mehr, wie bemitleidenswert er wirkte. Bloß weg von hier.
 

Seine Füße trugen ihn ziellos in einen verlassenen Gang, wo er langsam wieder zu Atem kam. Die Angst saß immer noch in seinen Knochen, brachte ihn zum zittern. Vorsichtig zog er den Schal von seinem Hals, fühlte in dem darunterliegenden Verband – er war feucht.
 

Ivan kniff die Augen zusammen, fühlte die Verzweiflung in sich aufsteigen.
 

Nein … nein … bitte nicht …
 

Von den Bemühungen, nicht weinen zu müssen, schmerzte sein gesamter Hals. Es kam nicht von der Wunde, die offensichtlich wieder angefangen hatte zu bluten. Er lehnte an einer Wand, presste seine Handfläche vorsichtig gegen den Verband. Als er seine Hand zurückzog und betrachtete, glänzte sie rot, schwach benetzt mit Wundwasser und seinem Blut. Er spürte wie sich ein Lachen in ihm aufbäumte, und er ließ es spontan aus seinem Mund purzeln. Es klang dissonant, abgehackt.
 

Sein Kiefer zitterte – er schloss den Mund schnell wieder, beunruhigt von diesem jämmerlichen Geräusch, das er da gerade von sich gegeben hatte. 
 

Nein. Das geschah nicht, wenn er log.
 

Das geschah, wenn viele seiner Menschen starben.
 

-*1945*-
 

Wo waren die Deutschen Tugenden geblieben? Der Wille zum Sieg, zur Überlegenheit? Die gestählten Körper und der mutige Blick in eine strahlende Zukunft für das Volk?
 

Ganz sicher nicht hier, im Land des einstigen – oder immer noch? - Feindes. Nicht in diesem Haus, nicht in diesem Zimmer. Gilbert war froh, wenn er es schaffte, den Tag zu überstehen, ohne etwas umzustoßen oder gleich vollends zu Boden zu gehen. Ersteres lag an seinem eingeschränkten Blickfeld, bedingt durch seine anhaltende Blindheit auf dem rechten Auge. Letzteres an seiner anhaltend schlechten körperlichen Verfassung. Er kam nur langsam und mit viel Mühe wieder auf die Beine und musste sich jedes Stück Selbstständigkeit hart erarbeiten. 
 

Als wäre all das nicht schon anstrengend genug, herrschte der Hochsommer in Russland – und in den Breitengraden, in denen sich das Haus des Russen befand, war es unerträglich heiß. Russland war eben nicht nur Sibirien, und deshalb auch nicht immer frostig.
 

Geistesabwesend blickte Gilbert aus dem Fenster seines Zimmers, wie er es so oft tat. Für ihn war es die einzige Art und Weise zu erfahren womit sich die anderen Bewohner des Hauses beschäftigten und wie sie gestimmt waren. Jeder hatte seine Aufgaben zu erledigen, egal ob es darum ging Wasser zu besorgen, die an das Haus angeschlossenen Felder zu bestellen, den Hof zu fegen oder Reparaturen an den Automobilen auszuführen.
 

Etwas zog seine Aufmerksamkeit auf sich – ein hoch gewachsener Mann, der zielstrebig zum Hundezwinger ging, mit zwei großen mit Wasser befüllten Blecheimern. Es war Russland, keine Frage – Gilbert spürte jäh, wie sich ein unangenehmes Gefühl in seiner Brust breit machte, als er ihn erkannte. Es fühlte sich leer an, aber auch als wäre etwas so schweres darin, dass es drohte, ihn zu Boden zu reißen. Die Augen konnte er nicht abwenden, so sehr er es wollte.
 

Die Hunde – allesamt Huskies - reagierten eher lethargisch als sie von ihm Notiz nahmen. Sie hechelten, ihre Zungen hingen ihnen aus den Schnauzen wie nasse Lappen. Selbst der Schatten, den die Bäume spendeten, schien ihnen nur wenig gegen die Hitze zu helfen. Ivan kniete sich vor einen der Hunde hin und begann mit einer Art Schale Wasser über sein Fell zu gießen. Aus der Entfernung konnte Gilbert keine Details erkennen, aber der Hund schien gelinde gesagt erfreut über die Abkühlung. Sofort war die Aufmerksamkeit der anderen Hunde ebenfalls auf Ivan; manche standen auf und trotteten zu ihm in der Hoffnung, ebenfalls abgekühlt zu werden.
 

Es war befremdlich, die andere Nation so zu sehen. Noch nie hatte sich Gilbert ihn in einer Situation wie dieser vorgestellt – etwas so harmloses. Er kümmerte sich um seine Hunde und diese wedelten mit dem Schwanz, kläfften vergnügt. 
 

Gilbert wusste nicht so recht, was er von der Szene dort unten im Hof halten sollte. Immer freudiger und hektischer bewegten sie sich, als Russland dazu überging sie mit dem verbliebenen Wasser großzügig zu übergießen.Natürlich. Hunde lieben ihre Herrchen, egal wer sie sind und was sie tun. Sein Unterkiefer presste sich immer fester in seinen Oberkiefer, bis Gilbert das Knirschen seiner Zähne selbst bemerkte. 
 

Just in diesem Moment stand der Russe auf und schaute, wie beiläufig, zu Gilberts Fenster hinauf. Trotz der Entfernung spürte Gilbert, dass er ihn sofort entdeckte, obwohl er sich versuchte noch rasch wegzudrehen. Gilbert fühlte wie sein Gesicht jäh anfing warm zu werden – die Tatsache, dass er fast über seine eigenen Füße fiel, tat ihr übriges.
 

„Scheisse!“ fluchte Gilbert leise.
 

-*-
 

Ivan konnte nicht behaupten, dass er sich auf das heutige Treffen mit den Alliierten freute. Und dieser Tag würde nur der Anfang für Verhandlungen sein, die sich weiß Gott wie lange hinziehen würden. Er wusste genau, was er wollte. Und er wusste, dass vor allem Amerika ihn nicht würde walten und schalten lassen wie er wollte. Er wusste gut, wer der neue Gegner in diesem Spiel war und er war nicht bereit, sich der neuen angeblichen „Supermacht“ Amerika unterzuordnen.
 

Die Potsdamer Konferenz … Ivan hoffte inständig, aus diesen Verhandlungen erhobenen Hauptes und als wahrer Sieger hervortreten zu können. Mit Gilbert an seiner Seite.
 

Doch zuvor musste er den Preußen präsentabel erscheinen lassen.
 

Gilbert starrte ihn mit großen, fragenden Augen an. Sein Blick wanderte zaghaft auf das Etui in Ivans Hand, dann verwandelte sich sein Gesicht in eine halb ängstliche, halb wütende Maske seiner selbst.
 

„Wenn du glaubst, ich lasse dich damit auch nur einen Schritt näher an mich heran, dann hast du dich geschnitten!“ fauchte Gilbert, einer Katze nicht ganz unähnlich. Er war sich sicher – hätte er gekonnt, so hätte der Preuße nun seine Haare zu berge stehen lassen.
 

Ivans Grinsen wurde noch breiter – machte Gilbert das etwa mit Absicht? Er lachte leise.
 

„Der Einzige, der sich hier geschnitten hat, bist du. Hast du heute schon in den Spiegel geschaut? Du siehst furchtbar aus“ erwiderte Ivan fröhlich, trat unverzagt ins Zimmer hinein und schloss die Tür hinter sich.
 

Gilbert trat augenblicklich ein paar Schritte nach hinten.
 

Als würde das Zimmer ihm gehören – und das tat es ja letztendlich auch – bewegte sich Ivan wie selbstverständlich durch den Raum in das kleine Badezimmer und drehte den Wasserhahn auf. „Also setz' dich hin. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“
 

Ivan öffnete das Etui und nahm sich die Utensilien heraus, die er benötigte. Sie hatten kein heißes Wasser hier, aber es musste auch so gehen. Luxus war ein Fremdwort in diesem Haus. Mit flinken Bewegungen mischte Ivan den Rasierschaum an. Er selber musste sich nicht allzu oft rasieren, Gilbert jedoch schien einen etwas stärkeren Bartwuchs zu haben – allerdings nur an wenigen Stellen. Selbst wenn er wollte, würde er sich wohl nie einen „richtigen“ Bart stehen lassen können. Es würde am ehesten danach aussehen, als hätte er sich zu lange nicht gewaschen. So wie Gilbert im Moment aussah, würde er ihn nicht mit nach Potsdam nehmen und die besiegte Nation wusste das. Seine Versuche, sich selbst zu rasieren, waren mächtig schief gegangen und er hatte sich mehrere Schnittwunden zugezogen – höchstwahrscheinlich aufgrund seines eingeschränkten Sehvermögens. Seine Bartstoppeln waren an vielen Stellen noch vorhanden – alles in einem sah seine Kinnpartie aus wie ein löchriger dunkler Rasen mit gelegentlichen roten Schnittwunden dazwischen.
 

Er spürte, dass Gilbert sich hinter ihm bewegte, jedoch widerwillig und steif. Angespannt.
 

Ivan wandte sich zu ihm um, etwas ungeduldig. „Ich weiß, dass es dir selber auch unangenehm ist so rumzulaufen. Also?“
 

Gilbert macht ein Gesicht als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. Er setzte sich endlich auf den kleinen Hocker der vor dem Waschbecken, steif als hätte er einen Stock verschluckt.
 

„Wieso kann es nicht jemand anderes machen?“ fragte Gilbert mürrisch. Ivan lächelte.
 

„Ich glaube, du überschätzt deine Beliebtheit hier maßlos“, erwiderte er ohne zu zögern als er sich zu Gilbert hinunter beugte, um ihm den Schaum ins Gesicht zu pinseln. Der verspannte sich nun noch mehr, schien eine Antwort geben zu wollen, doch er blieb stumm.
 

Was sagt man auch schon darauf? Wenn man weiß, dass man die ganze Welt in den Krieg gestürzt hat, und nun mit den Leidtragenden der Folgen des Schlachtens unter einem Dach wohnen musste?
 

Stille legte sich. Bis auf das leise Geräusch der Klinge, die über Gilberts Haut fuhr, war nichts zu hören. Ivan arbeitete effizient; mit geübten, vorsichtigen Bewegungen ließ er die scharfe Klinge durch den weißen Schaum gleiten, nichts als feuchte und glatte Haut zurücklassend. Er merkte wie sich seine Laune allmählich aufhellte als Gilbert all dies geschehen ließ. Diese Nähe zu Gilbert war etwas seltenes, das die andere Nation immer nur widerwillig zuließ, wenn überhaupt. Und so nah wie jetzt war Ivan ihm nicht mehr gekommen seit dem Tag, an dem er ihn zu sich geholt hatte. Wohlige Gefühle der Nostalgie stiegen in ihm hoch und sein immerwährendes Lächeln wurde ein klein wenig echter. 
 

Gilbert war ihm ausgeliefert, hier und jetzt. Er saß mit gestrecktem Hals, sein blasser Nacken ungeschützt vor der Klinge des Rasiermessers. Auch wenn Gilbert all dies nur tat, weil er keine andere Wahl hatte, erfüllte es Ivan mit einem Gefühl der Genugtuung. So gefiel der Preuße ihm, stur und lebhaft, aber dennoch demütig, wenn es nicht anders ging. 
 

-*-
 

Es brodelte in ihm. Gilbert fühlte, wie sich Schweiß an seinem Nacken bildete, wo seine Haarlinie endete und in blassen Flaum überging.
 

Er hasste den Russen. Er hasste es, ihm ausgeliefert zu sein. Er hasste es, sich von ihm rasieren zu lassen, weil er es selber nicht schaffte ohne sich fast selbst zu skalpieren. 
 

Seiner Position in diesem Haushalt wurde er sich erneut schmerzhaft bewusst, als Russland wie nebenbei fallen ließ, dass hier niemand für ihn einstehen würde, niemand ihn vor dem Kontakt mit Russland bewahren würde. Es schnürte ihm die Kehle zu, und das wahre Ausmaß seiner Schuld, die Dimension des Grauens, das er und Ludwig über die Welt gebracht hatten, war ihm immer noch nur teilweise bewusst. Es gab vieles, was er wusste, und einiges, was er verdrängt hatte. Die momentane Situation in der er sich befand schien ihm zurzeit wichtiger als die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit. 
 

Das ist es. Vergangenheit. Und meine Gegenwart … ist hier. Bei ihm.
 

Er schluckte schwer. Das Messer glitt fast lautlos über seine Haut. Ein Schaudern durchfuhr ihn als erst ein, dann zwei Tropfen kaltes Wasser seinen Hals hinunter liefen. Der Russe schien dies zu bemerken, und lachte kurz. Anstatt ihm das Wasser wegzuwischen, machte er einfach weiter.
 

Arschloch!
 

Gilberts Hände, die eh schon zu Fäusten geballt waren, fingen an zu zittern. Seine Knöchel färbten sich weiß. Könnte er, so hätte er Russland schon längst eine reingehauen, mitten auf seine riesige hässliche und stets leicht rötlich verfärbte Nase. Er ließ ihn zappeln wie einen Wurm am Haken. Alles was er tat war stets mit dem Wunsch verbunden, ihn zu erniedrigen und vorzuführen. Was Gilbert am schlimmsten fand war der belehrende Ton, den er so gerne an den Tag legte, wie ein Lehrer, der ein besonders dummes Kind von oben herab maßregelte.
 

Endlich war er fertig. Um noch einen letzten Fetzen seines Stolzes zu wahren, schnappte er nach dem kleinen Handtuch in Russlands Hand und wischte sich die Reste des Rasierschaums selbst aus dem Gesicht. Wie er Russland einschätzte, hätte er dies gerne selber gemacht. Tja, Pech!
 

Gilbert ignorierte Russland nun, doch er konnte sich ausmalen dass er wahrscheinlich zuerst verdutzt drein schaute und sich dann sein falsches Grinsen sofort wieder über seine Lippen legte. Er wusste, dass die Nation sich diese kleine Geste gut merken würde, und dass er zu einem späteren Zeitpunkt sicherlich dafür zahlen musste. Aber das war ihm in diesem Moment herzlich egal. Wer wusste schon, wie lange es ihn überhaupt noch geben würde?
 

Ein stechendes Gefühl von Verzweiflung breitete sich bei dem Gedanken in seiner Brust aus. Gilbert schluckte erneut, fühlte sich als bekäme er kaum mehr Luft.
 

„In einer Stunde werden wir abgeholt. Bis dahin ziehst du die Kleidung an, die ich für dich rausgelegt habe“, sprach Russland bedächtig und trat um Gilbert herum.
 

Gilbert wischte weiterhin über sein Gesicht, auch wenn es längst sauber war. Er hoffte, seine Finger zitterten nicht. Auf einmal zog etwas an Gilberts Kinn und riss sein Gesicht zur Seite. Es geschah so schnell, dass ihm schwindelig wurde. Er spürte Russlands Atem an seinem Ohr und seine Finger um sein Kinn, die schmerzhaft zudrückten. Gilbert entfuhr ein Schmerzenslaut, der in dem kleinen ansonsten stillen Raum widerzuhallen schien.
 

„Du wirst nicht sterben, Preußen. Was einmal Russland gehört, bleibt bei Russland. Ob du willst oder nicht.“
 

Seine Worte klangen nicht wie ein Versprechen, sondern mehr wie eine Drohung.
 

Und so schnell wie er ihn umfangen hatte, war Russlands Hand um seinen Unterkiefer auch wieder verschwunden, und mit ihm auch die andere Nation. Die Tür zu Gilberts Zimmer fiel hinter ihm ins Schloss.
 

Gilbert saß auf seinem Hocker, vor Wut zitternd.
 

Er schmiss das Handtuch in die Ecke, wutentbrannt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Erneuten Dank an meinen wunderbaren Beta-Leser und für das liebe Feedback das ich zu dieser Geschichte bis dato erhalten habe! Ihr gebt mir die Motivation, immer weiter hieran zu arbeiten und dafür danke ich euch! :) Ich hoffe ihr findet Gefallen an diesem Kapitel!

Für alle die nicht ganz wissen was die Potsdamer Konferenz war, hier ein Auszug aus Wikipedia; "Die Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 im Potsdamer Schloss Cecilienhof, offiziell als Dreimächtekonferenz von Berlin bezeichnet, war ein Treffen der drei Hauptalliierten des Zweiten Weltkriegs nach dem Ende der Kampfhandlungen in Europa zur Beratung auf höchster Ebene über das weitere Vorgehen." Komplett anzeigen

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