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1945

von

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IV - Verlierer


 

Kapitel IV - Verlierer

„Mild und leise wie er lächelt,

wie das Auge hold er öffnet –

seht ihr’s Freunde? Säht ihr’s nicht?

Immer lichter wie er leuchtet,

sternumstrahlet hoch sich hebt?“

-Richard Wagner, „Tristan und Isolde“ – 3. Aufzug

Der Krug auf dem Tablett klirrte gegen die Porzellanschüssel neben der er stand - ein Klimpern wie ein leises Windspiel. Die schmalen Hände die das Tablett trugen zitterten, aber nicht mehr oder weniger als sonst auch. Lettland ermahnte sich, seinen Blick nach vorne zu richten, dann würde er nicht so schnell stolpern.
 

Ein Geräusch ließ den Letten innehalten – ein leises Stöhnen aus dem Zimmer vor ihm. Lettland schluckte. War ihr Gast etwa … erwacht?
 

Er biss sich konzentriert auf die Unterlippe, schlich so leise es ging Richtung Tür. Behutsam drückte er diese auf, und suchte mit seinem Blick die wohlbekannte Figur, die im Bett lag. Er erblickte den Preußen sofort – sein drahtiger, nunmehr dürrer Oberkörper versuchte, sich von der Matratze zu erheben. Vergebens – seine an den Bettpfosten fixierten Handgelenke hielten ihn an Ort und Stelle.
 

Lettlands Arme begannen unter dem Gewicht des Tabletts zu zittern und das Geschirr darauf klirrte erneut – genug an Geräusch, um die Aufmerksamkeit des Mannes im Bett auf ihn zu lenken. Lettland schaute jedoch schnell gen Boden und trat schwitzend ein, stellte das Tablett schnell auf den kleinen Tisch am Ende des Betts. Draußen sangen die Vögel und die Sonne schien zum Fenster hinein, beleuchtete umher fliegenden Staub sachte, die Situation im Raum völlig missachtend.
 

Vorsichtig hob er seinen Blick wieder. Neugierig war er ja schon, ob die andere Nation nun vollends erwacht war, oder ob es nur ein Fehlalarm war, wie einige Male zuvor.
 

Doch – der Preuße war erwacht. Die schneidende Schärfe seines Blickes ließ keinen Zweifel aufkommen. Er funkelte Lettland stumm mit seinem verbliebenen Auge an – Raivis fragte sich stumm, woher er die Kraft dafür nahm, nachdem er so lange geschlafen hatte. Aber Preußen war … irgendwie anders. Das war nichts Neues. Raivis schluckte nervös und sein Herz fing an zu rasen. Er wollte instinktiv fliehen, doch er verharrte stattdessen starr vor Schreck an Ort und Stelle.
 

Preußens Blick wurde etwas weniger schneidend, als hätte er den Letten nun zu Ende eingeschätzt und beschlossen, dass von ihm keine Gefahr ausginge. Raivis Blick huschte verlegen über den fast vollends entblößten Körper des anderen, und sie verharrten kurz auf der Bandage über seinem rechten Arm,

dann auf dem Verband über seiner Brust.
 

„Lettland.“
 

Augenblicklich zuckte Raivis zusammen beim Klang der Stimme – sie war zwar leise, rau, und Preußen räusperte sich augenblicklich, aber von ihm direkt angesprochen zu werden, brachte Raivis in Verlegenheit. Sofort griff Lettland zum Krug und goss ein Glas Wasser ein. Es war viel passiert … und sie beide hatten gemeinsame Geschichte. Wie fast jeder. Und nun …

Raivis zögerte – er schätzte, er konnte Gilbert nun befreien. Doch wie jede Entscheidung, die der in Abwesenheit Russlands treffen musste, bereiteten ihm die möglichen Konsequenzen für den Fall, dass es die falsche war, jetzt bereits Kopfzerbrechen.
 

„Du … wirst dich jetzt nicht mehr kratzen, nehme ich an“, murmelte Raivis und trat an das Bett heran. Seine schweißnassen Finger machten sich schnell daran, die Knoten an Preußens Handgelenken zu lösen.
 

Der Mann im Bett schaute ihn fragend an und Raivis fügte hastig hinzu: „Wir haben das nicht gemacht, nur um dich festzumachen … sondern weil du dir deine Wunde immer wieder aufgekratzt hast.“
 

Sobald er den anderen befreit hatte, trat Raivis vom Bett zurück. Er fühlte sich peinlich berührt – er ahnte, dass die andere Nation nun … Fragen haben würde. Und das, obwohl sich Raivis am liebsten so schnell wie möglich aus der Affäre gezogen hätte. Wieso hatte er auch gerade heute den Dienst anstelle von Estland oder Litauen … ?
 

Immer noch nicht recht verstehend, blickte der Preuße an sich und seiner bandagierten Brust herunter – er zog seine Arme, die ein wenig zitterten, an sich heran und betrachtete seine Fingernägel. Sie waren verkrustet und beschmutzt mit altem Blut – sein eigenes. Raivis hoffte inständig, dass er sich selbst zusammenreimen könnte, was passiert war. Dankbar für jede Art von Tätigkeit macht er sich daran, dem Preußen das Glas Wasser zu holen.
 

„Ich … kann Königsberg nicht spüren“, sprach Preußen leise. Raivis biss sich auf seine Unterlippe. Preußen schluckte und legte seine zitternde Hand auf seinen Brustkorb. Sein Atem wurde flach, immer schneller und panischer. Seine Augen huschten im Raum herum, als würde er hoffen, die Antwort dort in diesem fremden Zimmer zu finden oder als hoffte er, dies wäre alles ein schlechter Scherz oder ein noch viel schlechterer Traum. Raivis stand mit dem Glas in der Hand, planlos was er nun tun sollte. Es wirkte auf einmal so nichtig, ihm Wasser anzubieten, wo er gerade bemerkt hatte, dass ihm sein Herz fehlte.
 

Die Situation war nun genau zu dem Punkt gekommen, von dem Raivis inständig gehofft hatte, dass er nicht aufkommen würde. Noch bevor er sich eines besseren besinnen konnte, hörte er sich selbst hastig antworten: „S-Sie hatten sich gekratzt, die ganze Zeit, Sie waren nicht richtig wach – deswegen … mussten wir Sie festmachen. Es t-tut mir leid … aber … die Wunde konnte so nicht … heilen …“ Raivis’ Stimme wurde immer kleiner und leiser, und verschwand letzten Endes vollkommen in der Tiefe des Zimmers.
 

Ihm war schlecht. Und er spürte das immer stärker werdende Verlangen, sich umzudrehen und hinauszulaufen – doch wie so oft wenn es darauf ankam, blieben seine Füße wie angewurzelt auf dem Boden stehen und all die Anspannung äußerte sich in einem lächerlichen, bemitleidenswerten Beben das seinen ganzen Körper ergriff.
 

-*-
 

Woher nahm Lettland eigentlich die Dreistigkeit, auszusehen als ob er sich gerne übergeben würde? Wenn hier irgendwer das Recht darauf hätte die Beherrschung zu verlieren, dann war das Gilbert selbst!
 

Sein eingeschränktes Sichtfeld bemerkte er erst nach und nach – die Helligkeit, die an sein heiles Auge drang, überforderte ihn und er stöhnte leise. Er fühlte etwas Weiches über seiner rechten Gesichtshälfte – Bandagen vermutlich.
 

Langsam wurde Gilbert bewusst, wo er war. Was genau passiert war oder gar welches Jahr sie hatten, wusste er jedoch immer noch nicht. Das Letzte, an das er sich erinnerte, waren die Häuserkämpfe in Stalingrad, zermürbende Tage, Wochen, Monate in der Kälte, hungrig, und immer weniger werdend.
 

Eine Welle von Übelkeit kam sogleich über ihn und sein Sichtfeld wurde in Schwarz getaucht. Ein kalter Schauer jagte durch seinen Körper und umklammerte seinen Hinterkopf fest, verblieb dort als ein dumpfer Schmerz. Ihm wurde nach und nach bewusst, wo er sich befand, zumindest auf einem niedrigen Niveau – er spürte etwas Weiches unter seinem Körper. Eine Matratze mit einem Laken darauf. Sein Auge wanderte, versuche aus den unklaren, verwaschenen Farben Sinn heraus zu lesen. Dunkle Wände … eine helle, hohe Decke … Ein Fenster zu seiner linken. Er befand sich in einem Zimmer – eines, welches er nicht kannte, das wusste er instinktiv.
 

„Mein Gott, seit wann siezt du mich?“, murmelte Gilbert und versuchte, nicht in Panik auszubrechen. Etwas fühlte sich … falsch an. Und es dämmerte ihm, was es war. Es fehlte ihm etwas. Etwas Wichtiges.
 

Nicht nur sein rechtes Auge – er wusste nicht, ob das Auge fehlte oder einfach nichts sah – etwas anderes … weitaus wichtigeres …
 

Königsberg war fort. Es fühlte sich an, als wäre ihm ein riesiges Stück aus seiner Brust gerissen worden – er schaute immer wieder ungläubig an sich herab, starrte auf die weißen Bandagen, die ihn umhüllten und nicht so recht zu seiner Wahrnehmung passten – er fühlte sich ausgehöhlt, offen, als könne man durch ihn hindurch sehen.
 

Wie ferngesteuert begann Gilbert, die Bandagen zu entfernen – er wurde immer hektischer dabei, seine Finger wurden immer zittriger und unbeholfener, bis er letzten Endes den dünnen Stoff nach unten riss, weg von seiner Haut. Die Stoffbahnen fielen lautlos in seinen Schoß. Gilbert schwankte zwischen dem Horror, den er befürchtete, und dem verzweifelten Wunsch, dass er sich schlichtweg irrte und ihn bloß ein Hirngespinst aus seinem langen Schlaf verfolgte.
 

Sein Sichtfeld war durch die Bandagen um seine rechte Gesichtshälfte eingeschränkt – Gilberts linkes Auge sah, wenn auch etwas verschwommen. Er erblickte die vernarbte Haut über seiner Brust sofort, registrierte die zarte, rosa Farbe des noch jungen Gewebes. Er schluckte. Die Wunde musste riesig gewesen sein – es sah aus als wäre ihm an der Stelle sein Brustkorb aufgeplatzt oder aufgerissen worden und sei dann halbherzig wieder zusammengewachsen.
 

Er schluckte und zwang seinen Atem wieder ruhiger zu werden – leichter gesagt als getan, denn als die anfängliche Angst wich, brach die Verzweiflung über das was er verloren hatte über ihn hinein.
 

„SCHEISSE!“
 

Gilbert fluchte und vergrub sein Gesicht in den Händen. Seine rechte Augenhöhle brannte, juckte, und in seiner Brust schien ein Loch zu klaffen, groß und tief wie ein Brunnen. Die zitternden Hände in seinem Schoß ballten sich zu Fäusten, als wollte er die Bandagen die darin lagen zerreißen.
 

ScheißeScheißeScheißeSCHEISSE----
 

Der Klang einer neuen Stimme riss ihn aus seinen rasenden Gedanken – er hob den Kopf etwas zu schnell, und seine Sicht doppelte sich, er sah jemand Neues vor seinem Bett stehen, oder waren es zwei … ?
 

Blonde Haare …
 

… die Haare … waren … blond … ?
 

Gilbert zuckte jäh zusammen, als ein greller Ton direkt an sein Trommelfell drang, zuerst von links wanderte er in das Innere seines Kopfes, immer lauter werdend. Er konnte nichts mehr hören, nichts mehr sehen, merkte nur, dass er wohl seinen Mund weit aufriss, und dass es auf einmal schwer war, zu atmen.
 

-*-
 

Eduard hielt den schreienden Preußen am Oberarm fest und drückte ihn mit all seiner Kraft ins Bett zurück und bedeutete Raivis mit einem hektischen „Schnell!!“, es ihm gleich zu tun. Gemeinsam schafften sie es, den halbnackten ausgemergelten Mann im Bett zu halten. Es war ihr Glück, dass er noch zu geschwächt war, um ihnen etwas entgegen zu setzen. Seine Schreie wichen einem jämmerlichen Wimmern, bis er jäh verstummte und lediglich zitternd im Bett lag, das Auge weit aufgerissen und an die Decke starrend.
 

Estland schluckte, beruhigte sich langsam. Er konnte sich bereits denken, warum Preußen so außer sich war – er hatte bereits befürchtet, dass die gebeutelte Nation mehr als nur körperliche Schäden von seiner Begegnung mit Russland davon getragen haben würde.
 

„Preußen … ich bin es, Estland.“
 

Die Nation blinzelte und drehte den Kopf nur widerwillig um mit seinem verbliebenen Auge einen Blick auf Eduard zu erhaschen. Er schien verängstigt, nervös, atmete jedoch erleichtert aus, als er Eduard zu erkennen schien.
 

Hatte er gedacht, er wäre … ?
 

Estland räusperte sich, und ließ von Preußens Arm ab. Er rückte seine Brille zurecht, die ihm etwas zu weit nach unten auf seine Nase gerutscht war. Sie hatten keine Anweisungen von Herrn Russland erhalten, wie sie nun vorgehen sollten – außer ihn unverzüglich zu kontaktieren.
 

„Raivis, du kannst anrufen“, sprach Eduard und sendete Raivis einen bedeutsamen Blick, der ihn ermahnte, die Gelegenheit den Raum zu verlassen bloß zu nutzen. Lettland ließ sich nicht ein weiteres mal auffordern und drehte sich auf dem Absatz um, um aus dem Raum zu huschen.
 

Eduard schloss die Tür hinter ihm leise und zog sich sein etwas zerknittertes Hemd zurecht, stopfte den Saum wieder in seine Hose. Er hatte sich Gedanken über genau diese Situation gemacht, doch nun, da sie Realität geworden war, wusste Estland nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Seine Länder waren von Preußen besetzt gewesen, bis er letztes Jahr von Herrn Russland abgelöst worden war. Sie hatten die Deutschen als Retter empfangen, und die Deutschen hatten die Estländer im Gegenzug bevorzugt behandelt, zumindest im Vergleich zu den anderen baltischen Staaten.
 

Soweit man in einem Krieg dieser Größenordnung von bevorzugter Behandlung überhaupt sprechen konnte. Im großen Bild, das sich nun ergeben hatte, wirkte alles was zuvor gewesen war nichtig.
 

„Welches Jahr?“, sprach Gilbert leise, als hätte er Angst vor der Antwort.
 

Eduard biss sich kurz auf die Unterlippe und antwortete dann: „Wir haben den 6. Mai.“
 

Angespannte Stille erfüllte den Raum, bis Eduard sie erneut jäh durchbrach.
 

„1945.“
 

Die andere Nation sah für einen Moment betroffen aus, starrte Eduard mit geweitetem Auge an, als würde er sich fragen, ob er gerade einen Scherz gemacht hatte. Preußen ließ seinen Blick fallen, und schaute stattdessen an die Decke. Er fügte tonlos hinzu: „Die Frage wer gewonnen hat erübrigt sich wohl“, und Eduard fragte sich, wie viel Preußen wohl wirklich vom Ausgang des Krieges wissen wollte.
 

Und wie viel er ihm eigentlich überhaupt erzählen durfte.
 

Bevor die Situation noch angespannter und unangenehmer werden konnte, betrat Lettland erneut den Raum, sichtlich verstört.
 

„ … was ist es?“
 

Lettland schluckte und fummelte an seiner rechten Uniformtasche herum, die Tasche, in der er üblicherweise seinen Flachmann aufbewahrte, wie Eduard wusste.
 

„Er … er ist bereits … auf dem Weg. Hat Berlin heute M-Morgen verlassen … “ Brachte Raivis unter Mühen hervor und wischte sich sogleich mit zitternder Hand durch sein Gesicht.
 

Eduard bemühte sich, ruhig zu bleiben, und nahm einen tiefen Atemzug.
 

Herr Russland war auf dem Weg nach Hause. Berlin war gefallen. Eine bedingungslose Kapitulation. Er war sich sicher, dass Preußen wusste, wer gemeint war – doch er hütete sich davor, ihn und seine Reaktion auf die Neuigkeit nun allzu gründlich zu beäugen. Sie schienen zurzeit alle in einer ähnlichen Situation zu sein, jedoch wusste Estland, dass es nicht klug war, allzu involviert in die Angelegenheiten anderer Nationen zu werden. Ein Fünkchen seines Mitgefühls gehörte dem Preußen dennoch, insofern als dass sie vor einer für sie nur kurzen Zeit teilweise kollaboriert hatten. Über ein paar gemeinsame Unternehmungen sentimental zu werden wäre jedoch nur wenig produktiv.
 

Es war nicht einmal sicher, ob Preußen noch lange unter ihnen weilen würde. Wer wusste schon von einer Nation, die ohne ihr Herz leben konnte, außer vielleicht Herr Russland selbst?
 

Seine Gedanken waren geordnet wie eh und je. Dies war nur ein weiterer Abschnitt in ihren langen, langen Leben als Nationen. Verkörperungen von dem was war, von viel mehr Teilen als nur einem. Geist und die Erinnerung von Millionen von Menschen die stets hofften und schafften, zerstörten und so oft einen Schritt nach vorne und mehrere zurück taten.

Es war eine missliche Lage, doch auch sie würde vorüber gehen. Kein Martyrium würde ewig dauern.
 

Die Deutschen steckten die Welt in Brand, hatten sich im Wahn nur allzu gerne blenden lassen, ein Elan, der sie ins Verderben geführt hatte und ganz Europa mit ihnen. Jetzt würden sie selbst die Asche die sie gesät hatten zu schmecken bekommen. Preußen wohl mehr als sein Bruder – schließlich kannte Estland Russland nur all zu gut. Es war befremdlich, eine einst so starke und nur allzu oft übermäßig laute und kriegerische Nation wie Preußen so zu sehen wie er nun war – schmächtig, lediglich ein Schatten seiner selbst. Die immer schon blasse Haut hatte nun einen Schimmer von Grau inne, eine Farbe wie sie Leichen trugen. Das verbliebene Auge blutgetränkt und stets zitternd, unsicher, suchend ohne zu wissen wonach. Haare wie die Asche, die die Erde seiner Länder bedeckte. Die Farbe zermahlender Knochen. Hände, die zu viele Gelenke zu haben schienen, Finger wie die dürren Äste eines Baumes im Winter.
 

Estland war überzeugt, Preußen würde nicht lange bleiben. Und so riskierte er doch einen Blick auf die andere Nation, die fassungslos im Bett saß, wie erstarrt.
 

„Was bin ich, jetzt?“ fragte er, die Stimme klang fahl und klein.
 

Bald bist du nichts mehr.
 

„Du bist Kriegsgefangener“, antwortete Estland, und es tat ihm fast etwas leid ,so kurz angebunden zu sein. „Wenn du etwas brauchst … Wir werden regelmäßig nach dir schauen.“
 

Ob diese Worte eine versteckte Anspielung auf mögliche Fluchtversuche waren, … das wusste Estland selbst nicht. Die Vorstellung der Preuße könne versuchen zu fliehen schien absurd. Die andere Nation reagierte nicht und starrte weiterhin in die Leere, Hände zu schlaffen Fäusten in die Bettlaken geballt.
 

Keine Freunde. Keine Feinde. Nur Fremde mit ein paar geteilten Erinnerungen.
 

Eduard merkte kurioserweise wie sich ein Gefühl ähnlich der Übelkeit in seinem Magen breit machte. Er verließ das Zimmer schnellen Schrittes und schloss die Tür hinter sich, schwer atmend.
 

„Eduard? Geht es dir gut?“
 

Er hob den Kopf und erblickte Toris im Gang, der langsam auf ihn zu kam. Eduard erhob seine Hand und bemerkte sogleich, dass sie zitterte.
 

„Ja … ja, es ist nichts.“
 

Toris musterte ihn von oben bis unten und durchschaute ihn sofort, sagte aber kein Wort.
 

Es war ein Irrenhaus. Das alles hier.

Und der Hausherr würde schon bald wiederkehren.
 

-*-
 

Russland war bester Laune. Nicht nur war das Wetter außerordentlich schön – denn es war warm und sonnig! – sondern auch hatte er den unmissverständlichen Ruf der Nation gehört, auf dessen Erwachen er schon so lange gehofft und gewartet hatte. Er summte eine leise Melodie, während er den Wagen über die holprigen Straßen lenkte. Es war nicht mehr weit.
 

Der Anblick seines Anwesens stimmte ihn noch fröhlicher, und er konnte ein aufgeregtes Kichern nicht ganz unterdrücken als er den Wagen zum stehen brachte und hastig ausstieg. Er zog sich nicht einmal die schweren, dreckigen Stiefel aus, als er ins Haus eilte und die Treppen zu dem Zimmer erklomm, von dem er wusste, dass sich der Preuße darin befand.
 

Seine Gedanken kreisten seit Wochen schon nur um die Frage ob und wann der Preuße endlich erwachen würde – Ivan hatte bereits den Verdacht gehegt, dass es erst soweit sein würde, wenn das Deutsche Reich endgültig zerfallen wäre und sein Führer nicht mehr war. Er hatte es deutlich gespürt, eine Kraft am Rand seines Bewusstseins, die nicht von der Erde hatte weichen wollen. Es war dieses nicht verglühen wollende bisschen Energie gewesen, das Russland damals verleitet hatte, nach Preußen zu suchen. In dem Schnee, in dem er gemeint hatte, ihn getötet zu haben. Es hatte Russland zu ihm geführt, zu dem Körper im Schnee, der weder starb noch lebendig war. Das Schicksal hatte etwas mit ihm vor, und mit Russland – es schien Bestimmung zu sein, dass sie zueinander geführt wurden, als hätte eine unsichtbare Macht die Geschicke der Welt so geleitet. Und nun war es soweit. Berlin lag in Schutt und Asche, die von den Nazis eroberten Gebiete waren längst unter Kontrolle der Alliierten.
 

Ivan hatte sein Herrschaftsgebiet vergrößern können – und zwar bedeutend.
 

Doch es war nicht genug. Er wollte Berlin – doch das wollte der Amerikaner auch. Sein Summen wurde prompt eine Note vehementer und unharmonischer bei dem Gedanken.
 

Toris stand vor der Tür zu dem Zimmer in dem sich der Preuße befand. Es wirkte nicht, als ob er Russland den Weg versperren wollte – er kannte Ivan gut genug, um zu wissen, dass dies wahrlich keine gute Idee sein würde.
 

„Toris!“
 

Die kleinere Nation wirkte sowohl erleichtert als auch besorgt. „Ah, willkommen zurück“, antwortete er höflich. Ivan tätschelte die braunen Haare des anderen, glücklich über jemanden, der sich zu freuen schien, dass er zurückgekehrt war. Ivan war weder dumm noch ganz so naiv wie es mancher zu wissen glaubte – er wusste, was für eine Wirkung er auf die anderen Nationen unter seinen Fittichen hatte. Aber er würde stets Höflichkeit und Freundlichkeit belohnen, auch wenn sie vielleicht nicht ganz aufrichtig waren. Und Ivan meinte, tatsächlich eine Spur von Aufrichtigkeit in Toris’ grünen Augen zu erkennen. War etwas geschehen?
 

„Ist etwas nicht in Ordnung?“
 

Toris schien kurz zu überlegen. „Siehst du … er ist wach. Aber es ist wahrscheinlich nicht das, was du dir erhofft hast“, sprach Toris langsam und so vorsichtig wie möglich. Und dann, als müsse er sich zwingen weiter zu sprechen: „Er wird wohl nicht glücklich sein, dich zu sehen.“
 

Ivans Herz sank in seiner Brust hinab – sein Lächeln war wie weggewischt. Er hatte es befürchtet, sich so manch schlaflose Stunde in den Baracken von links nach rechts im Bett gewälzt und sich den Kopf mürbe gedacht mit Szenarien, die zur Wirklichkeit werden könnten, sobald Preußen erwachen würde. Auf eine gewisse Art war es besser für ihn gewesen als Preußen noch schlief – so konnte er Ivan nicht hassen für das was er getan hatte und all das, was er vielleicht noch tun würde. Würde tun müssen. Wer wusste das schon?
 

Er nickte stumm, und schluckte seine Enttäuschung hinunter.
 

Toris versuchte, zu erklären: „Er hat bereits Eduard für dich gehalten … und er hatte große Angst.“
 

Ivan lächelte nun wieder, ein wenig traurig. Er hätte es wissen müssen. Auf ein Wunder zu hoffen, das einen reibungslosen Neuanfang garantieren würde, war illusorisch. Doch einen harten Weg gemeinsam zu gehen, konnte noch viel erfüllender sein als würde man alles was man sich erhoffte auf einem Silbertablett serviert bekommen, nicht wahr?
 

Ja – es hatte keinen Zweck, die Möglichkeiten die nicht zur Wirklichkeit werden würden zu betrauern. Er musste es angehen, egal wie widrig die Umstände sein würden.
 

„Ich verstehe. Ich werde es schon irgendwie schaffen“, versicherte Ivan, und atmete tief ein und aus.
 

Ich werde nicht aufgeben, Preußen. Ich mache wieder jemanden aus dir. Das verspreche ich.
 

Wie falsch, wie unglaublich falsch er damit lag.
 

Er öffnete die Tür.
 

-*-
 

Toris knetete seine Hände in seinem Schoß. Er hatte sich auf sein eigenes Zimmer zurückgezogen, unwillig zu viel von der ersten Begegnung der beiden Nationen mitzubekommen. Ivan hoffe zu viel und zu sehr, steckte seine Erwartungen sicher wieder zu hoch. Das war der Grund, warum er immer wieder enttäuscht wurde.
 

Es dauerte nicht lang, bis die Stimme Preußens lauter und lauter wurde. Toris schüttelte den Kopf sachte und griff nach seinem Tee, pustete behutsam über das dampfende Getränk bevor er einen Schluck nahm. Der Schuss Alkohol brannte angenehm in seinem Rachen.
 

Was genau er schrie konnte Littauen nicht ausmachen – es war ihm auch reichlich egal. Er hoffte nur, dass diese Konfrontation mit der Wirklichkeit Ivan nicht in einer zu schlechten Stimmung zurücklassen würde. Denn darunter würden sie alle leiden müssen. Toris verzog das Gesicht. Das war genau der Grund, warum keiner den Preußen wirklich hier haben wollte – er stellte eine kaum vorhersehbare Gefahr für den Haussegen da. Sie alle kannten Ivan und wussten, wie sie ihn und sein Handeln zu nehmen hatten. Doch Preußen war … anders.
 

Die dumpfen Stimmen wurden lauter – Ivan wurde selten laut. Er musste selten laut werden. Er schien gegen die Lautstärke von Preußen ankommen zu müssen, wobei er immer noch ruhiger und kontrollierter wirkte als die andere Nation, die fast schon schrill und zweifellos beleidigend wirkte.

Ein kurzer Aufschrei – und es herrschte Stille. Toris nahm noch einen Schluck. Diesmal einen größeren. Der Alkohol brannte stärker.
 

Er hatte es gewusst, seitdem er heute Morgen aufgewacht war – dies würde kein guter Tag werden.
 

-*-
 

Gilbert versuchte sich mit all seiner Kraft die er noch hatte aufzubäumen, doch der eiserne Griff des Russen um seinen Unterkiefer war so stark, dass es schmerzte. Mit der anderen Hand drückte die nicht viel größere aber dafür sehr viel stärkere Nation ihn in die Matratze. Die violetten Augen über ihm funkelten ihn an, dunkel und wütend. Preußens Spucke klebte ihm immer noch quer im Gesicht, wie er mit Genugtuung bemerkte.
 

Es war einfacher gewesen wütend als ängstlich zu sein, auch wenn das Letztere seine erste Reaktion war als der Russe den Raum betreten hatte. Viel hatte der Andere nicht sagen oder tun müssen, um Gilbert auf 180 zu bringen – die Erinnerung an das, was er verloren hatte, und die Aussicht, dass er nicht nur Gilbert annektieren wollte sondern seinen Bruder gleich dazu.
 

Er hasste ihn. Er wollte ihm ein Messer in die Brust rammen, genau wie er es mit dem Preußen gemacht hatte damals, als er ihn wie eine Weihnachtsgans ausgeweidet und zum sterben hatte liegen lassen. Auch wenn er keine Erinnerung an die Geschehnisse hatte, so waren die Schilderungen der Anderen von dem was geschehen sein musste genug, um Gilbert ein Bild davon zu geben, was passiert war. Die hässliche, großflächige Narbe auf seiner Brust, wo einst sein Herz schlug, war Zeuge genug davon.
 

Russland wischte sich über sein Gesicht und presste Gilbert seine eigene Spucke so fest er konnte in sein eigenes. Gilbert gab einen wütenden Laut von sich und strampelte mit den Füßen.

Der andere ließ von ihm ab, und Gilbert rang nach Luft.
 

Wenigstens fühlte er sich nicht tot.
 

„Wenn es denn so sein muss,“, sprach Russland leise, fast schon irritierend sanft, „… dann muss es halt so sein.“
 

Gilbert kniff die Augen zusammen, hustete ein wenig – niemand sollte beim Würgen so starke Hände haben dürfen – und blieb stumm.
 

„Du wirst wissen, wann es soweit ist. Bis dahin … „
 

Der Russe warf Gilbert ein Lächeln zu, das falscher nicht hätte sein können.
 

„Genieße die russische Gastfreundschaft!“


Nachwort zu diesem Kapitel:
A/N; Ich entschuldige mich für das spät Kapitel und den doch recht langatmigen Inhalt - Charaktere zu etablieren ist immer etwas mühsam. Aber nun sind unsere beiden Lieblinge zumindest schon einmal aufeinander getroffen! (... bei Bewusstsein jedenfalls ...)
Dass nicht jede der baltischen Nationen Russland siezt und "Herr Russland" nennt hat mit ihren unterschiedlichen Beziehungen zu ihm zu tun.

Ich hoffe es hat euch gefallen - über Reviews und Feedback jedlicher Art würde ich mich sehr freuen! :) Komplett anzeigen

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