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Crystal Riders

Reanimation
von

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Wunder Punkt

Jet – Wunder Punkt
 

Aqualung & Lucy Schwartz - Cold
 

Sturmgleiche Stunden, die ich hinter verschlossenen Türen und zugezogenen Vorhängen an mir vorbeifegen hatte lassen. Ich zählte die Tage an den Ziffern ab, die mir der Kalender zeigte, ohne der Tatsache gewahr zu werden, dass sie vorüberstrichen. Wieder fühlte ich mich wie eingefroren, irgendwo in einen Zwischenraum gedriftet, an dem die Uhr mit der Schnelligkeit eines von Todesangst erfüllten Pulsschlags tickte, während der Mensch in ihrem Schatten unruhig auf einem Punkt herumtigerte, ohne von ihr beeindruckt zu sein.

Amber hatte mehrfach das Gespräch gesucht, Moon mindestens doppelt so oft. Beide hatte ich abgewiesen, mit knappen Worten, schroffen Gesten, bis sie irgendwann in Resignation verfallen waren und schweigend an mir vorbeigingen, wenn wir uns zufällig im Flur begegneten. In die Mensa ging ich nicht mehr, sondern wartete mit dem Essen, bis ich wieder im Apartment saß, wo die Stille mit jeder Sekunde lauter wurde und wie ein gefangenes Tier an den Wänden seine Krallen wetzte.

Gerüchte über Crystal machten auf dem Internat die Runde. Das Mädchen ohne Gabe. Betrügerin. Schwindlerin. Spionin des Staats. Ich nahm nichts davon für voll, reagierte jedoch ebenso wenig, wenn ich jemanden davon sprechen hörte.

Jetzt blickte ich diesem Mädchen ins Gesicht und verstand, dass Zeit ein irrationaler Begriff ist. Menschen konnten sich in wenigen Wochen mehr verändern, als in vielen Jahren. Aber Crystal wirkte nicht verändert, sie wirkte abgeschliffen. War sie vorher ein formvoll gewachsener Bergkristall, der an vielen Ecken noch rau und ungleichmäßig war, hatte sie nun den scharfen Lichtbruch eines falschen Diamanten. Aber nicht das Training hatte sie glatt gebürstet. Es waren ihre eigenen Gedanken gewesen, die das getan hatten. Ich hatte das getan.

„Was ist?“, fragte sie rundheraus und ruckte herausfordernd das Kinn. „Fangen wir an?“ Ich zog nur ganz leicht die Brauen zusammen, ehe ich die verschränkten Arme löste und zur Wand hinübertrat, an der eine Ansammlung von Langstöcken lehnte.

„Wie weit seid ihr mit dem Training gekommen?“, fragte ich, ohne sie anzusehen und wählte betont langsam einen Stab aus, obwohl sie alle gleich gut in der Hand lagen; darauf hatte Jade stets ein präzises Auge.

„Bis zum Direktkampf“, erwiderte sie kurz angebunden, woraufhin ich mich wieder zu ihr umdrehte, ohne meiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen. Ich wusste nicht, was Jade für ein Vertrauen in dieses kleine Mädchen legte, dass sie sie nach wenigen Wochen schon als geeignet für die direkte Konfrontation hielt. Erzählte Crystal mir Lügen? Nein, dafür war ihre Antwort viel zu gefasst gewesen.

„Fein“, entschied ich, schnappte mir einen Stock und trat langsam wieder auf sie zu. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich die Ahnung von Unsicherheit, als ich im vorschriftsgemäßen Abstand vor ihr zum Stehen kam. Wahrscheinlich hatte sie bei Jade nie wahrgenommen, wie nahe sich die Teilnehmer eigentlich gegenüberstanden. Ich hörte, wie ihre Hand sich matt quietschend um das seidige Holz ihres Stabes krampfte und die Scheu in ihren Augen wich Trotz.

Ihre Augen.

Es war, als wären sie zu zwei eigenständigen Lebewesen geworden, pulsierend, glühend, beinahe grell und stechend blass. Und die Farbe so überschattet, dass sie immer wieder weiß schienen und die Pupille stetig kleiner wurde. Augen wie weißer Schnee. Unwillkürlich fragte ich mich, ob sie gerade dasselbe dachte, wenn sie meine sah; Augen wie schwarze Kohle.

Crystal gegen Jetstone. Kristall gegen Gagat.
 

Tsubasa Reservoir Chronicle Soundtrack - Ruthless
 

Genau wie am Abend des Balls, setzten wir synchron den ersten Schritt zurück und begaben uns in Angriffsposition. Ihr Blick verlor noch weiter an Emotion, machte wärmeloser Abgeklärtheit und Konzentration Platz. Mehr denn je erschien es mir, als würde eine Crystal die andere tief in ihr Innerstes zurückdrängen und hinter mehreren Türen wegsperren. Die Crystal, deren Gedanken keine Ruhe gaben und deren Gefühle wie eine Kettenreaktion von explosiven Chemikalien waren.

„Nach dir“, flüsterte ich in die Lautlosigkeit des Trainingsraumes und das ließ Crystal sich nicht zweimal sagen. Binnen eines Atemzugs holte sie mit dem Stab aus und wirbelte ihn mir entgegen. Ich wich gen Boden, anstatt zu parieren, versuchte, ihr die Beine wegzufegen, aber sie reagierte mit dem Gespür einer Raubkatze und sprang reflexartig in die Luft. Ich fing ihren erneut herannahenden Stab mit der Hand ab, lenkte ihn um und sie geriet kurzweilig aus der Balance, was ich mir zunutze machte, um ihr den Stab ganz aus der Hand zu schlagen.

Er landete mit einem hohlen Klirren auf dem Boden, rollte ein Stück weiter, noch während ich ihr meinen Stab in die Kniekehlen drückte, wodurch sie vollends das Gleichgewicht verlor.

Bevor sie auf dem Boden aufstoßen konnte, schloss ich meinen Arm um ihre Taille und zog sie zurück auf die Füße.

„Lass mich“, fauchte sie und machte sich grob von mir los. Ich glaubte, sie würde sich geschlagen geben, aber unerwarteterweise schnellte sie nur herum und raffte ihren Stock auf, um sich gleich wieder auf mich zu stürzen. Geistesgegenwärtig wehrte ich ab.

„Crystal, lass es gut sein“, sagte ich und duckte mich unter dem nächsten Stoß weg. Doch sie schien gar nicht dran zu denken. Mit einer ungeahnten Wendigkeit, ließ sie die Waffe herumkreisen und ich machte mich schon wieder darauf gefasst, sie zu blocken, als sie mitten im Angriff plötzlich den Griff löste. Der Stock flog rasant an meiner Schulter vorbei, dann traf mich ihr Fuß gegen den Brustkorb. Vor Irritation und Schmerz glitt auch mir das Holz aus den Fingern.

„Sei auf alles vorbereitet“, hörte ich sie zischen und bildete mir sogar ein, eine Art grimmiges Schmunzeln herauszuhören, als ihre Hand an meiner Schläfe vorbeirauschte, da ich mich instinktiv zur Seite gewandte hatte. Da hörte ich ihr Keuchen und Stiche aus Eisperlen rieselten auf mein Bewusstsein nieder. Nein, verdammt… Ich musste irgendwas unternehmen!

„Hör auf“, stieß ich hervor und versuchte, ihre Handgelenke zu fassen zu kriegen, aber sie war viel zu schnell. „Crystal, stopp!“ Im Mantel der Panik wurde ich unachtsam, ihr Knie traf mich hart in die Magengrube und ich sackte ein Stück in mich zusammen, wofür sie keine Anteilnahme übrig hatte, nichts, nicht mal eine Wimpernzucken.

„Der Virus, Crystal“, versuchte ich halbwegs fest hervorzubringen, da ich aufs Neue damit beschäftigt war, ihren immer heftiger und flinker werdenden Attacken zu entgehen. „Du bist zu wütend, er wird dich…“ Doch jedes weitere Wort wurde unterbunden, als ich sie nochmals keuchen hörte. Diese Art von Atmung… Ich musste handeln. Sofort.

Alles oder nichts, dachte ich, floh ihre nächste Schlagserie und sprang schließlich nach vorn, um sie mit mir zu Boden zu reißen. Ihr Körper schaltete ohne Verzug auf Widerstand, ich hatte Mühe, sie überhaupt festzuhalten, geschweige denn unter mir. In blinder Rage warf sie sich nach vorn, was dafür sorgte, dass wir zur Seite schwangen und auf einmal sie über mir war.

„Schreib mir nicht vor, was ich zu tun habe, Jetstone!“, schrie sie mir mitten ins Gesicht und ließ meinen Namen dabei wie einen Urteilsspruch klingen. Dann holte sie stockend Luft, wobei es sich anhörte, als würde überhaupt kein Sauerstoff hineingelangen. Voller Angst presste ich die Hände zu Fäusten und nahm alle Kraft zusammen, ehe ich mich hochdrückte und ihren Körper so fest es ging an mich zog.

Crystal kreischte, trat, kratze und schlug wie ein Berserker um sich, aber ich ließ keine Sekunde lang locker, auch nicht, als sie mich biss und wüst beschimpfte. Keine Sekunde lang. Ich wusste nicht, wie lang ihre Gegenwehr noch anhielt, aber es kam mir wie Stunden vor, bis sie endlich, von hier auf jetzt, in meinen Armen erschlaffte und keine Regung mehr zu spüren war, außer die ihres sich allmählich wieder normalisierenden Atemrhythmus.

Und dann hörte ich sie schluchzen.
 

Trading Yesterday - Shattered (Piano Cover, MTT Version)
 

Meine Arme lagen noch um ihren Körper, ihr Gesicht auf meiner Brust, ihre tiefen, tränenschweren Atemzüge an meinem Hals. Und kein Muskel war bereit, sich zu bewegen, nicht einen Zentimeter. Weder von mir noch von ihr.

„Jet…“, konnte ich sie plötzlich zwischen zwei gebrochenen Schluchzern sagen hören. „Oh Gott… es… tut mir so…“

„Schon gut“, flüsterte ich in ihr Haar. „Ich hab schon Schlimmeres eingesteckt.“ Ihr Weinen ließ etwas nach, aber sie machte keine Anstalten, sich von mir zu lösen. Die Stille um uns herum wurde dichter und aus irgendeinem Grund fiel mein Blick auf die Lichtschleier der tieforangen Sonne, die sich seitlich durch die Fenster streckten und den Raum gleichmäßig mit Helligkeit und Schatten füllten. Ich konnte nur schätzen, wie lange wir schon hier waren, die Minuten hätten Stunden und umgekehrt sein können. Vielleicht war es schon Abend, vielleicht brach aber auch gerade ein neuer Morgen an. Hatte es eine Bedeutung?

„Ich verstehe dich nicht“, murmelte Crystal schließlich, wobei ihre Stimme kaum vernehmbar zitterte. „Erst tanzt du mit mir, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt und dann tust du wieder so, als wäre ich eine abstoßende Erinnerung.“ Ich schluckte und schloss die Augen.

„Das ergibt doch keinen Sinn!“, brauste sie mit einem Mal auf und entwand sich meiner Umarmung, um sich aufrichten und mich ansehen zu können. In ihren Wimpern hatten sich einzelne Tropfen verfangen, einer davon löste sich und zersprang auf ihrer Unterlippe. „Was habe ich dir getan, dass ich das verdiene? Jetzt sag schon!“ Ihre Hände fanden meinen Kragen, krallten sich hinein und neue Tränen flossen nach, trafen auf meine Haut. „Warum antwortest du denn nicht?! Weißt du, wie dämlich ich mir vorkomme?! Wenn das nur eine scheiß Wette ist, dann sag es mir wenigstens ins Gesicht! Hör auf, mit mir zu spielen!“ Bei den letzten Worten, sank ihr Kopf wieder auf meine Brust und sie weinte ungehemmt hinein.

Etwas in mir sprang mit der Deutlichkeit von Glas. Die ersten Splitter landeten klimpernd auf dem grauen Boden meines Verstandes. Eine Ader schlängelte sich quer hindurch. Und als Crystal verzweifelt den Kopf schüttelte, meinen Kragen abrupt losließ und von mir runtergehen wollte, fiel die Spiegelwand scheppernd in sich zusammen.

Ich griff mit beiden Händen nach ihren Schultern, riss sie wieder zu mir und warf uns beide herum, sodass nun sie auf dem Boden lag und ich über ihr kniete. Vollständig überrumpelt von diesem rabiaten Umbruch, starrte sie mir entgegen.

„Jet…“, stieß sie, mehr hauchend als atmend, hervor und ich ballte die Hände neben ihr auf dem Boden wieder zu Fäusten. Irgendwo unter mir konnte ich ihr Herz ausmachen. Es schlug genauso grob und fiebrig wie meins, vielleicht teilte sie sogar den gleichen Schmerz, der so oft, und auch jetzt, in mir wütete. Vielleicht waren wir nicht so unterschiedlich, wie ich mir eingeredet hatte, oder vielleicht waren wir es doch – so sehr, dass wir genau nebeneinander liefen. Pulsschlaggleich, sie der erste Halbton, ich der zweite.

Ihr Mund klappte auf, aber jedes Wort, das seinen Weg hinausfinden wollte, wurde erstickt, als ich mich jäh hinunterbeugte und meine Lippen auf ihre legte.

Zuerst machte sie sich steif, ihr ganzer Körper schien seine Funktionen einzustellen und auszuharren, jedoch nur um ebenso ruckartig wieder aufzutauen, denn ihre Arme schossen nach oben und schlangen sich um meinem Nacken. Ich konnte ein Stöhnen nicht zurückhalten und ließ mich bereitwillig auf ihr Näherkommen ein, sodass unsere Körper aufeinandertrafen.

Vermutlich hätte ich mich in ihrem Kuss auflösen und die Zeit endgültig aus meiner Welt verbannen können, aber irgendwann waren wir gezwungen, uns voneinander zu lösen, wenn wir nicht ersticken wollten. Nach Atem ringend, die Augen noch geschlossen, verweilte ich mit meinen Lippen knapp über ihren und wie von selbst, suchten die ersten Worte ihren Weg nach draußen.

„Du hast das Offensichtliche nicht verstanden, Crystal“, flüsterte ich mit einigen Pausen und lachte ganz leise. „Wenn ich mich nicht von dir ferngehalten hätte… wärst du wahrscheinlich keinen Augenblick lang vor mir sicher gewesen.“
 

Final Fantasy X OST - Wandering Flame
 

„Wie meinst du das?“, fragte sie, ebenso außer Atem. Sie lockerte ihren Griff um meinen Hals ein wenig und vergrub eine Hand in meinem Haar.

„Wie ich es sage. Schon neben dir zu stehen, ist wie eine Folter, wenn ich weiß, dass ich dich nicht berühren kann.“

„Und das soll ich glauben?“, meinte sie und lachte rau. „Nachdem du mich täglich angesehen hast, als wäre ich eine Küchenschabe?“ Dabei schob sie auch die restlichen Finger in meine Haare und zog leicht darin, was mir eine Gänsehaut über den Nacken jagte.

„Da verwechselst du wohl Abscheu mit Verlangen.“

„Ist das dein Ernst?“ Zweifelnd legte sie die Stirn in Falten.

„Und wie“, erwiderte ich und zeichnete mit einer Hand die Linie ihres Kinns nach, während ich ihr einen stillen Kuss auf Stirn gab, wofür sie nur ein sehr, sehr tiefes Seufzen übrig hatte.

„Seltsamerweise wirst du mir gerade ein nur noch größeres Rätsel…“

„Gut zu wissen“, schmunzelte ich, küsste ihre Schläfen, ihre Wangen, ihre Nasenspitze und immer wieder ihre Lippen. Nur von ihrem Hals hielt ich mich fern, denn ich wusste, jede Berührung in diesem Bereich stellte für Crystal eine Qual dar. Sie ließ sich eine Weile davon einhüllen, zerraufte mir nur in stillem Frieden die Haare, aber irgendwann kam doch der Moment, an dem sie die eine Frage heraufbeschwor, von der ich genau gewusst hatte, dass sie wieder auftauchen würde. Und trotzdem verkrampften sich mir die Muskeln und ein klangloser Schmerz schnappte nach meinem Herzen.

„Wo bist du am Abend des Balls hingegangen, Jet?“ Zwar war mir längst klar, dass ich damit nicht durchkommen würde, aber ich versuchte nichtsdestotrotz, es mit einem Kuss in Vergessenheit zu schieben. Wie erwartet drückte Crystal mich sanft ein Stück von sich.

„Das…“, setzte ich an und wich ihrem Blick aus, „kann ich dir nicht sagen.“ Mutlos biss sie sich auf die Unterlippe.

„Aber… kannst du mir nicht wenigstens erklären, wieso du mir nichts gesagt, sondern mich einfach hast stehen lassen?“ Ich schüttelte nur den Kopf und richtete mich wie als natürliche Folge dieser Geste auf, um wieder aufzustehen. Crystal ließ sich von mir hochhelfen, aber kaum, dass sie gerade stand, taumelte sie und sank gegen mich.

„Ist dir nicht gut?“, fragte ich sofort und legte eine Hand auf ihre Wange, damit sie mich ansah. Ihre Augen hatten einen glasigen Schimmer, zudem wirkte sie blasser als noch vorhin. „Soll ich dich in den Krankenflügel bringen?“ Ihre Locken flogen ihr ums Gesicht, als sie den Kopf schüttelte.

„Es ist in Ordnung, wenn du mir nicht alles erzählst, Jet“, hauchte sie und ließ ihre Arme um meine Mitte gleiten. „Ich kann es nachempfinden, aber… ich hab… wirklich Angst um dich.“

Das rammte mich aus dem Konzept. Vor Verblüffung war ich zu keiner Gegenrede fähig und bemerkte nur schemenhaft das altvertraute Gefühl, das am Rande meines Verstandes zu knospen begann.

„Irgendwas quält dich, das sehe ich doch“, behaarte Crystal, ihre Wange gegen meine Brust drückend. Womöglich lauschte sie meinem Herzschlag. „Ich hab das Gefühl, dass es dich kaputt macht, dich zu etwas werden lässt, was… du nicht bist.“
 

Audiomachine - Waking The Demon
 

Dieser Satz war der Auslöser. Der letzte Stein, der noch im Weg stand, der die brüchige Konstruktion des Walls Aufrecht erhielt, brach entzwei und die gut verborgene, himmelhohe Naturgewalt dahinter, schlug Rache dürstend über mir zusammen.

Es war nichts anderes als nackte Angst um Crystal, die mich ihre Arme ergreifen und sie von mir wegstoßen ließ. So fest es möglich war, kniff ich die Augen zu und verließ mich auf mein Raumgefühl, um zur Tür hinüberzueilen.

„Jet!“, flehte sie und versuchte, mich aufzuhalten, aber ich hatte die Tür schon erreicht, riss sie auf und floh. Wobei ich alles aus meinen Beinen herausholte, was sie zu geben hatten, um möglichst schnell möglichst viel Abstand zwischen mich und Crystal zu bringen.

Es war zu spät für Entschuldigungen und es zerfetzte mir das Herz, sie dort zurückzulassen, aber es war besser so. Ich konnte nicht aufs Spiel setzen, dass ihr etwas zustieß und wenn das Risiko auch noch so vage war.

Damit ich nicht versehentlich in andere Schüler hinlief, nahm ich eine Abzweigung und bog in den Geheimgang ein, den nur Jade und ein paar Lehrer kannten und welcher den kürzesten Weg nach draußen beherbergte. Als mich die kühle Luft des nahenden Abends umgab, spürte ich, wie der Widerstand im Inneren anfing, ganz zu erlöschen. Ich war also gerade noch rechtzeitig davongekommen. Mein letzter, autarker Gedanke galt Crystal.

„Verzeih mir“, seufzte ich und rannte über den glasgrauen Pflasterstein Richtung Hauptstraße, raus aus dem Internatsgelände, während mein Bewusstsein alle Farbe verlor und weiß gepinselt verblieb.

Weiß wie die Zeit.
 

Beastly Ost – Hunter and Zola talk
 

„Die Stärke, Unsterblichkeit und oftmals sogar Schönheit des Kristallvirus lässt vergessen, dass es sich immer noch um einen parasitären Komplex handelt. Eine Lebensform, die keinen eigenen Stoffwechsel besitzt und daher von dem ihres Wirts lebt. Doch dieser Virus unterscheidet sich von gewöhnlichen, weil er den Körper tötet und mit seiner eigenen Kraft wieder ins Leben ruft. Ohne das Gen ist der Organismus dem Tod geweiht. Aber ebenso kann auch der Virus nicht ohne das lebende Objekt bestehen. Diese nahtlose Abhängigkeit verursacht Unruhen innerhalb der Zellstruktur, der Psyche, der Gesamtheit des Menschen und wenn sie übersteuert, verliert der Crystal Rider die Kontrolle über jene Gabe, der Knotenpunkt des Virus, das, was er sich zunutze macht, um den Körper wiederzubeleben.

Und manche Gaben sind so gefährlich, weil sich ihre Quelle, gleich einem Messer, durch das Schmerzempfinden des Herzens frisst, selbst wenn nur die Erinnerung daran hervorgerufen wird. Was immer es war, was tief im Betroffenen verborgen lag und entfesselt wurde, als der Virus auf ihn übersprang, muss eine schwere, seelische Belastung gewesen sein. Und genau darum, ist es so schwierig, sie unter Kontrolle zu halten.“
 

The Sixth Station - Joe Hisaishi
 

Die Nacht war tintenschwarz und so unbewegt und geräuschfremd, dass ich mich fragte, ob ich meinen Gehörsinn auf dem Weg verloren hatte. Überrascht hätte es mich ehrlich gesagt kaum… Ich wusste nicht, was ich tat. Was meine abgekämpften Schritte nach all den Stunden zurück durch das anmutig verzierte Eingangstor des Internats trug, anstatt heim. Wieso ich dabei unverständliche Worte vor mich hin murmelte oder meine Hände, schmerzeng ineinander verschränkt als ein Knoten auf meiner Brust lagen, direkt über dem stockend pochenden Ding, das sich Herz schimpfte. Ein Herz zum Fühlen, zum Mitleid zeigen… Um ein Haar brandete das von Hohn verzerrte Lachen aus meiner Kehle hinaus, stattdessen biss ich mir auf Lippe, bis sie blutete.

Ein Schatten erhob sich in meinem Augenwinkel und es bedurfte keines weiteren Blickes, um ihm einen Namen zuzuordnen. Es war Granite, ein Zwei-Meter-Hüne mit hochgeduldigen und friedlichen Bärenaugen, und der Gabe der Stärke. Nur weil es ihn gab, hatte ich mich breitschlagen lassen, als Aushilfslehrer tätig zu werden, statt nur die Nachtwache zu übernehmen.

Ich nickte ihm zu und war dankbar, dass er noch nie ein Mann vieler Worte gewesen war, ehe ich mich weiter Richtung Haupthaus schleppte.

Kurz bevor ich das Tor erreichte, hob ich noch einmal die Augen gen Himmel. Kein Wunder, dass es so dunkel war, es war Neumond. In solchen Nächten schlief jeder gut, aber niemand tief, hieß es. Eigentlich war ich nicht der Typ für derlei Binsenweisheiten, aber seit ich ein Crystal Rider war, ertappte ich mich öfter dabei, über solche Dinge nachzudenken. Und es war gut möglich, dass ich damit nicht allein dastand.

Als ich die Zimmer der Jungen passierte, stoppte ich unvermittelt an der Nummer 167 und trat vorsichtig darauf zu, obwohl ich keinen blassen Schimmer hatte, ob ich dieser Gegenüberstellung bereits gewachsen war. Es waren die lauten Echos des schlechten Gewissens, die mich schlussendlich doch dazu überredeten, anzuklopfen. Es hallte dumpf von den hohen Wänden, doch nichts geschah.

„Amber?“, fragte ich und versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Ob er schon schlief? Merkwürdigerweise war ich davon überzeugt, dass er das nicht tat und drückte daher die Klinke hinunter. Im Zimmer herrschte leidenschaftliche Unordnung, aber von Amber fehlte jede Spur. Die Brauen zusammenziehend, schob ich die Tür wieder zu und setzte meinen Weg fort, auch wenn sich mit jedem weiteren, schweren Schritt die Frage, gleich einer sich entwickelnden Fotographie, mehr schärfte.

Was erhoffst du dir eigentlich?

Aber dann war es zu spät für neue Zweifel, Einwände oder Zögern, denn ich erreichte ihr Zimmer und klopfte, als wäre es ein gängiger Impuls, wie Blinzeln oder Einatmen. Die Tür wurde praktisch noch während meine Hand darauf ruhte, stürmisch aufgeschwungen. Mit glasiger Nässe betaute, rot geriebene Augen tauchten vor mir auf. Das Haar lag frisch gewaschen auf ihren Schultern und verströmte einen dezenten Lilienduft. Sie wirkte so grazil und lebendig wie ein Frühlingstag. Ich dagegen musste an eine Novembernacht erinnern.

„J-Jet“, stammelte sie, obschon sie ganz offenbar darauf gefasst gewesen war, dass ich erscheinen würde. Oder hatte sie nur gehofft? Was auch immer es war, es durchzog mein bis eben noch totkaltes Herz mit einem Hauch von Wärme. Aber leider auch mit einer Flut von neuer Angst…

„Tut mir leid…“, krächzte ich und wusste nicht, wie mir geschah, als ein Zittern von meinem Nacken aus durch den ganzen Körper kroch und dabei zusehends stärker wurde. Was war das? Wie sollte ich damit umgehen? „Ich mache es dir nicht gerade leicht, was?“ Sie winkte nur ab und legte eine Hand auf ihre Augen, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.

„Kannst du… das wiedergutmachen?“

„Wenn es etwas gibt, womit ich das kann“, antwortete ich ohne nachzudenken und stützte mich, in einem Anflug von Erschöpfung, am Türrahmen ab.

„Das gibt es“, sagte Crystal mit einem zielstrebigen Blick in meine Augen. Ich wollte ihm ausweichen, konnte aber nicht, als wäre da ein Faden zwischen uns entstanden, der sich nicht mehr durchtrennen ließ.

„Alles, was du willst.“ Sie hob die Hände, legte sie an mein Gesicht, stellte sich lautlos auf die Zehenspitzen und nahm die Winterkälte mit ihren Lippen von meinen. Der Kuss dauerte kaum länger als einen Herzschlag, trotzdem keuchten wir beide.

„Lass mich heute Nacht nicht allein…“



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