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Last Farewell

von

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Alex

Regen. Immer noch. Seunghyun seufzte. So hatte er sich seinen Neuanfang nicht vorgestellt. Als er aus dem Aufzug in die Lobby trat, saß eine andere Rezeptionistin hinter dem Tresen. Diese hier sah definitiv schon eher nach fünf Sternen aus. Sie trug ein schlichtes, dunkles Kostüm mit weißer Bluse darunter und dezentes Make-up. Das kupferfarbene, zurückgesteckte Haar und die eckige, schwarze Brille verliehen ihr ein fast schon strenges Aussehen. „Guten Morgen“, sprach Seunghyun sie an. Die junge Dame nickte nur höflich. „Was kann ich für Sie tun, Sir?“ Er lehnte sich an den Tresen und blickte sie an. Zugegeben, die Frau gefiel ihm recht gut. Und vielleicht tat der ein oder andere Flirt ihm ja sogar gut? „Rufen Sie mir bitte ein Taxi, ja?“, bat er und setzte sein süßestes Lächeln auf, während er ihr tief in die Augen blickte. Die Rezeptionistin musterte ihn mit kühler Distanz. „Gern. Bitte nehmen Sie dort hinten in der Sitzecke Platz, bis das Taxi vorfährt.“ Okay. Scheinbar war die gute Frau hier immun gegen den Charme, den man ihm in seiner Heimat zuschrieb. „Danke.“ Er zog sich geschlagen zurück in eine der Sitzecken, die unter den großen Kletterpflanzen standen. Was für ein Start in den Tag. Es konnte nur besser werden. Oder?

Während er auf sein Taxi wartete, blätterte er diverse Zeitschriften durch, die auf den kleinen Tischen neben den Sitzmöbeln lagen. Die beinahe schon wissenschaftlichen Artikel in irgendwelchen Fachzeitschriften ließen seinen Kopf rauchen. Wer zum Geier las denn freiwillig so einen Stuss? Erleichtert schmiss er die Medizinzeitschrift zurück auf den Tisch, als die eiskalte Lady vom Tresen hinüber rief: „Sir! Ihr Wagen ist da, er wartet vor dem Hotel auf Sie!“ Und ebenso kühl und mechanisch fügte sie hinzu: „Einen schönen Tag noch, Sir.“ Seunghyun stand vom Sessel auf und hob kurz die Hand in ihre Richtung. „Ebenso“, entgegnete er und verließ die Lobby.

Vor dem Eingang stand ein großes Taxi, ganz anders als das, was er gestern Nacht am Flughafen aufgegriffen hatte. Er ließ sich auf die weichen, vollkommen neuwertig wirkenden Sitze der Rückbank sinken. Der Fahrer, der ihn durch den Rückspiegel freundlich ansah, trug einen schwarzen Anzug anstelle eines verschwitzten, abgetragenen Hemdes. Was hatte er auch anderes von einem erstklassigen Hotel erwarten sollen? „Wohin darf ich Sie fahren, Sir?“, erkundigte der Fahrer sich. „Nun, ja...“, antwortete der Rapper nachdenklich. „Kennen Sie zufällig ein gutes Maklerbüro?“ Der Grauhaarige am Steuer zog die Augenbrauen hoch. „Nein, Sir, ich fürchte, damit kann ich nicht dienen. Ich könnte Sie in die Stadt fahren, vielleicht werden Sie dort selbst fündig.“ Seunghyun seufzte. Das könnte heiter werden. „Okay. Fahren Sie mich einfach dorthin, wo Sie denken, dass ich das finde, was ich suche.“ So eine Ansage bekam der Fahrer wohl nicht jeden Tag und er schien nicht im Geringsten glücklich zu sein mit dem, was er tat, als er den Wagen in Gang setzte.

Nach einer guten dreiviertel Stunde Fahrt in Richtung Zentrum hielt der Fahrer das Taxi am Straßenrand an und nannte mit höflicher Zurückhaltung den zu zahlenden Preis. Seunghyun legte zehn Dollar dazu und verabschiedete sich freundlich, bevor er die Autotür zuschlug. Es regnete noch immer und ein unangenehmer Herbstwind trieb die kalten Tropfen in sein Gesicht. Einen Moment lang blieb er stehen und wartete, bis das Taxi gefahren war. Dann sah er sich um. Neben den großen Flügeltüren der Gebäude hingen Schilder an den Hauswänden, die Anwaltskanzleien, Fotostudios und Arztpraxen auswiesen. Ja, vielleicht würde er hier irgendwo fündig werden. Seunghyun setzte sich in Bewegung und schlenderte den menschenleeren Bürgersteig hinab, um nacheinander die Schilder abzuklappern. Nach gut zweihundert Metern war er bereits komplett durchnässt und mehr als frustriert. So hatte er sich das bestimmt nicht gedacht. Vielleicht hatte er die Schwierigkeiten, die ein Neuanfang mit sich bringen würde, unterschätzt.

Ihm fiel eine kleine Grünfläche auf, die ihn an diesem grauen Tag förmlich anstrahlte. Der Rasen war bereits zum Teil von bunten Blättern übersät Der junge Mann ließ sich auf einer der nassen Bänke nieder, die auf der Anlage verteilt standen, und zog seine Zigarettenschachtel und das Feuerzeug aus der Manteltasche. Einen kurzen Moment später stiegen bereits die ersten Rauchfahnen in die nasskalte Luft empor und Seunghyun lehnte sich seufzend zurück und überschlug die Beine. Was hatte er sich bloß bei dieser dämlichen Aktion gedacht? Er hatte in Seoul ausreichend Won in Dollar getauscht, ein Hotel und den Hinflug gebucht – und dabei ganz vergessen, dass er auf Dauer ja eine Wohnung brauchte. „Verdammter Mist...“, murmelte er in seiner Muttersprache vor sich hin. „Was zum Teufel mach ich denn jetzt...“ Doch es war niemand da, der ihm hätte antworten können.
 

In Seoul war es fünf Minuten vor zehn.

Yongbae stand mit seinen Bandkollegen hinter der großen Trennwand, die man in der Lobby von YG Entertainment aufgestellt hatte. Er beobachtete seine Freunde aufmerksam, jederzeit dazu bereit, Jiyong wieder einzufangen. Der Leader sah aus, als würde er jede Sekunde die Flucht ergreifen wollen. Noch nie hatte Yongbae gesehen, dass ein Pressetermin den Jüngeren aus der Ruhe gebracht hatte. Doch bekanntlich gab es immer ein erstes Mal. Jiyongs Gesichtsfarbe wechselte zwischen einem leuchtenden Rot und einem ungesunden Weiß, seine Hände zitterten merklich und sein Blick schweifte rastlos durch den Raum. „Reiß dich zusammen“, flüsterte Daesung ihm gerade mahnend zu. Vor der Trennwand stand noch Präsident Yang und begrüßte die Pressevertreter mit beinahe schon heuchlerisch guter Laune und kündigte groß und breit Big Bang an. „Hier sind sie!“, verkündete er schließlich. „Kommt her, Jungs!“

Jiyong schluckte trocken, als sie aufgerufen wurden. Seine Beine fühlten sich an wie Blei. Er spürte, wie jemand nach seiner Hand griff, und sah auf. Seungri erwiderte seinen Blick schüchtern und zog ihn dann mit sich und den anderen zum Ende der Trennwand. Kurz bevor sie vor die Augen der Presse traten, ließ er Jiyongs Hand los und ging vor ihm die Stufen hinauf auf das Podest, wo hinter einem langen Tisch vier Stühle für sie bereit standen. Yongbae winkte Seungri mit einer unauffälligen Geste an das linke Ende des Tisches und setzte sich neben ihn. Jiyong wurde mehr oder weniger zu seinem Platz zwischen Yongbae und Daesung geschoben und ließ sich ungewöhnlich plump auf den gepolsterten Sitz fallen. Er verbarg die zitternden Hände unter der weißen Tischdecke und sah zögerlich auf und in die kleine Menschenmenge vor ihm. Dutzende Kameras und Mikrofone waren in seine Richtung ausgerichtet und schienen ihm so bedrohlich wie noch nie. Die Journalisten rissen ihre Arme hoch, begierig darauf, endlich ihre erste Frage stellen zu können. Yongbae zeigte stumm auf den Ersten. Der etwas ältere Mann lehnte sich auf seinem Stuhl vor und starrte Jiyong direkt und unverhohlen an. „G-Dragon, du siehst müde aus!“, bemerkte er und ein zustimmendes Raunen durchfuhr die Menge. „Was kannst du uns zu den Gerüchten um die Club-Affäre sagen? Ist es wirklich wahr, dass du mit einem fremden Mann – zusammen warst?“ Jiyong erwiderte den gierigen Blick seines Gegenübers und spürte, wie eine einzelne Schweißperle seine linke Schläfe hinab rann. „Alles, was ich dazu sagen kann...“, setzte er an und stockte mitten im Satz. Sie hatten alles besprochen, er hatte sich sogar einen Spickzettel mit dem geschrieben, was er sagen sollte – sagen durfte. Er steckte im Ärmel seines Hemdes. Doch all das war in diesem Moment wie weggeblasen und hilflos murmelte er: „Ja.“ Das Murmeln um ihn herum schwoll an, einzelne Stimmen hoben zu laut dazwischen gerufenen Fragen an. Yongbae schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und stöhnte gequält. Hätten Blicke töten können, so würde Jiyong nun vermutlich nicht mehr unter den Lebenden weilen. Er musste sich und die anderen schützen. Ihm musste etwas einfallen – und zwar ganz schnell...

„Ich... Der Mann wollte ein Autogramm und wir sind ins Gespräch gekommen. Wir haben zusammen ein paar Bier getrunken. Alles Weitere hat er erfunden, es ist nichts weiter passiert“, stammelte er. Die Journalisten schienen von dieser Erklärung mehr als nur enttäuscht zu sein. Ein weiterer Mann, diesmal ungefähr in Jiyongs Alter, meldete sich. Jiyong nickte ihm zu. Als die Worte des Mannes an sein Ohr drangen, begannen seine Lippen zu beben und er biss viel zu fest darauf. Auf seiner Zunge schmeckte er das Blut. Man hatte seinen wundesten Punkt zielgenau getroffen. „Wo ist Top? Konnte er heute nicht kommen? Ist er verhindert? Geht es ihm gut?“

Daesung hörte selbst über das Gerede der Presseleute hinweg Jiyongs zittrigen Atem. Seine Hand wanderte unter die Tischdecke und suchte nach der des anderen. Auch in Yongbaes Gesicht stand die Anspannung nun deutlich geschrieben. „Sie haben den Punkt getroffen, wegen dem wir heute wohl eigentlich hier sitzen“, setzte Daesung schließlich an und schluckte nervös. „Top ist... Wir wissen nicht, wo er ist. Er hat Big Bang vor ein paar Tagen verlassen. Wir sind nun nur noch zu viert, fürchte ich“, erklärte er. Dann setzte er ein gezwungenes Grinsen auf und blickte in eine der Kameras. „Aber wenn dort draußen jemand denkt, er hätte das Zeug zu einem erstklassigen Rapper, dann soll er sich bei YG Entertainment melden! Zusammen mit unserem verehrten Präsidenten Yang werden wir ein neues fünftes Mitglied für unsere Band suchen. Big Bang wird auf jeden Fall weiterhin bestehen, ob mit oder ohne Top!“ Daesung zuckte zusammen, als bei seinen Worten Jiyongs Hand sich schmerzhaft fest um seine eigene krallte. Der Bandleader rang einen Moment sichtlich um seine Fassung, bevor sein Blick wieder ruhiger wurde und er Daesungs Hand losließ. Durch die Menge vor ihnen ging wieder ein aufgeregtes Gemurmel. Schließlich betrat Präsident Yang erneut das Podest. „Meine verehrten Damen und Herren!“, versuchte er sich mit lauter Stimme und ausladenden Gesten Aufmerksamkeit zu verschaffen. „Hiermit ist die Pressekonferenz beendet. Wir haben das Wichtigste geklärt, keine weiteren Fragen mehr!“ Er wandte sich seinen Schützlingen zu und bedeutete ihnen mit einem Wink, das Podest vor ihm zu verlassen. Die jungen Männer standen mit weichen Knien von ihren Plätzen auf und trotteten hinter die Trennwand. Die Erleichterung war ihnen deutlich anzusehen, als der Präsident sie lobte und ihnen mitteilte, dass sie von nun an ihr Training weiterführen würden, wie bisher. Auch, wenn ein Teil von ihnen fehlte, es würde weitergehen. Und diese Erkenntnis spendete den meisten von ihnen in diesem Moment Trost.
 

Seunghyun war bis zum Abend nicht ins Hotel zurückgekehrt. Er hatte sich von einem weiteren Taxi zu einer von unzähligen Bars bringen lassen. Nun saß er schon seit gut drei Stunden auf einem abgenutzten Barhocker am Tresen und beobachtete die Menschen um sich herum, die, in laute und zugegebenermaßen nicht mehr ganz nüchtern klingende Gespräche vertieft, an den Tischen saßen oder sich auf der Tanzfläche austobten. Er wusste nicht, wie viele Gläser er von diesem giftgrünen Zeug, das vor ihm stand, schon getrunken hatte, aber seine Sicht der Dinge und der mitleidige Blick des Barkeepers sprachen Bände. Was auch immer sich in diesem Glas befand – es musste von Göttern erdacht worden sein. „Kumpel, hast du nicht langsam genug?“, hörte er die Stimme des Barkeepers, der sich nun ihm gegenüber über seinen Tresen lehnte. In diesem Moment blitzte ein Gedanke in Seunghyuns Kopf auf, der ihn selbst erschreckte: Er fand diesen fremden, jungen Mann attraktiv. „Ich glaube nicht, dass ich dir noch was verkaufen kann, Mann.“ Seunghyun knurrte missmutig und nuschelte einige Sätze in seiner Muttersprache, die sein Gegenüber nur die Stirn runzeln ließen. „Ich versteh dich so nicht, Kumpel, aber du solltest wirklich gehen, bevor du noch Probleme mit der Security bekommst.“ Security – das Wort verstand Seunghyun sogar im mehr als nur angeheiterten Zustand. Das waren die netten Menschen, vor denen Jiyong ihn schon so einige Male hatte retten müssen. Widerwillig rutschte er vom Hocker und hangelte sich an den Menschen entlang zum Ausgang. Er erntete einige Seitenhiebe und verärgerte Kommentare, als er sich an den verschwitzten Shirts festklammerte, doch das kümmerte ihn nicht. Es fiel ihm schwer genug, sich auf den Beinen zu halten. Nicht einmal, als ihm vor der Bar die kühle Luft entgegen schlug, konnte er einen einzigen klaren Gedanken fassen. Wie um alles in der Welt sollte er so zurück ins Hotel kommen? Würden die ihn so überhaupt reinlassen? Er lehnte sich an die mit Graffiti besprühte Wand. Es regnete schon wieder und sein Hemd war schon jetzt halb durchgeweicht. Die Lichter der Reklameschilder und benachbarten Clubs, die um ihn herum wild flackerten, nahmen ihm den letzten Rest an Orientierungsvermögen und Seunghyun ließ sich an der Hauswand hinab auf den nassen Boden sinken.

Er schreckte zusammen, als eine zierliche Hand ihn mit erstaunlich festem Griff am Arm packte. Als er aufsah, blickte er in ein Paar blaue Augen, wie er sie noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Sie leuchteten förmlich im Licht der Neonreklamen und blickten ihn mit einer Mischung aus Neugier und Sorge an. „Hallo“, sagte die junge Frau langsam und beugte sich weiter über ihn. „Ist das nicht ein bisschen zu kalt hier?“ Er antwortete lallend, doch sie musterte ihn nur weiter fragend. Verdammt, wo waren plötzlich seine Englischkenntnisse hin? Er unternahm einen zweiten Versuch, brachte nach ein paar Sekunden erbärmlichen Gestammels nur ein einfaches „Ja“ heraus. Ein kleines Lächeln umspielte die Lippen der Frau, als sie ihn weiter nachdenklich betrachtete, und plötzlich schien ihr eine Idee zu kommen. „Hast du deine Adresse irgendwo aufgeschrieben? Das haben doch fast alle Touristen hier...“, murmelte sie vor sich hin. Sie streckte die Hand aus und – Moment mal, was hatte sie denn jetzt vor? Da, wo er herkam, betatsche man einen armen, wehrlosen Mann nicht einfach auf offener Straße! Ihre Hand wanderte an seinem Hemd entlang und dann zu seiner Hose. Ein unangenehmes Schaudern durchlief ihn und er rückte dichter an die Wand hinter ihm. Doch dann zog sie einen Zettel aus seiner linken Hosentasche. Der Zettel, den er am Vortag auch schon dem Taxifahrer am Flughafen in die Hand gedrückt hatte. Die junge Frau umfasste mit beiden Händen seinen rechten Unterarm und er ließ sich von ihr aufhelfen. Ihr Körper schmiegte sich eng an seine Seite, als sie ihn mühsam zu stützen versuchte. Wer auch immer sie war und was auch immer sie vorhatte, alles war besser, als hier im Regen sitzen zu bleiben.
 

Als Seunghyun am folgenden Nachmittag die Augen aufschlug, empfing ihn der Preis der letzten Nacht. Er wusste nicht, wo er war, wusste nicht, wie er hier her gekommen war. Doch eines wusste er ganz genau – er hatte es maßlos übertrieben. Sein Kopf hämmerte und sein Magen revoltierte gegen zu viel Alkohol. Mit unkoordinierten Bewegungen hievte er seinen Körper aus dem großen Bett und wankte ins Bad. So elend wie an diesem Tag hatte er sich lange nicht mehr gefühlt.

Als er eine Viertelstunde später zurück ins Zimmer schlurfte, fiel ihm der rote Zettel auf, der auf seinem Nachtschrank lag. Er gehörte zu seinem Notizblock, auf dem er sich für gewöhnlich die wichtigsten Termine für die Band und sich selbst notiert hatte. Doch was sollte er sich in der letzten Nacht notiert haben? Er hätte ja nicht einmal seinen eigenen Namen schreiben können... Als er näher kam, erkannte er, dass die Notiz nicht von ihm sein konnte. Der Text auf dem Zettel war auf Englisch verfasst – auf gutem Englisch, soweit er das beurteilen konnte. Und die geschwungene Schrift glich keinesfalls der einer hoffnungslosen Schnapsdrossel. Er ließ sich auf die Bettkante sinken und drehte den Zettel so, dass er ihn lesen konnte.

„Hallo, schöner Mann! Ich hoffe, du wachst heute in dem richtigen Hotelzimmer auf. Das ist zumindest das Hotel, dessen Adresse auf deinem kleinen Zettel stand, und die Dame an der Rezeption schien dich auch wiedererkannt zu haben... Jedenfalls hat sie mir eine Karte für dieses Zimmer gegeben. Ich hoffe, ich muss dich nicht noch einmal nach Hause schleppen. Wenn du Interesse an einer Aspirin oder einem Kaffee hast, ruf mich an!“

Es folgte eine Handynummer. Kein Name, kein weiterer Anhaltspunkt auf die Identität des Verfassers. Das Einzige, was vor seinem inneren Auge erschien, waren diese unglaublichen, blauen Augen. Er rieb sich mit den Fingerspitzen über die pochenden Schläfen. Aspirin klang gut... Und tiefer, als bis in die Pfütze von gestern Nacht, konnte er gegenüber dieser Frau wohl eh nicht mehr sinken. Als er zu seinem Handy griff, schlug sein Herz schneller. Er wählte langsam die Nummer, die auf dem Zettel vermerkt war, und hielt sich das Handy ans Ohr. Einige Freizeichentöne erklangen, bevor es leise klickte und sich eine fröhliche, weibliche Stimme meldete.

„Hallo?“ Er zögerte einige Sekunden, bevor er seinen Mut und den restlichen Stolz zusammenkratzte und mit heiserer Stimme antwortete. „Hallo. Hier ist der Kerl von letzter Nacht... Du hast was von 'Aspirin' geschrieben und...“ Ein helles Lachen erklang. „Ich bring dir eine Packung mit, wenn ich dich in einer Stunde abholen komme!“, versprach sie. „Zieh dir was Ordentliches an, damit ich mich mit dir blicken lassen kann, dann können wir auch gern einen Kaffee zusammen trinken.“ Er wollte etwas erwidern, doch da hatte sie schon aufgelegt. Verwundert starrte er sein Handy an. Normalerweise war doch er es, der sich ein derartiges Verhalten erlauben konnte, ohne die Konsequenzen scheuen zu müssen. Dass nun jemand den Spieß umzudrehen wagte, amüsierte ihn beinahe schon ein bisschen.

Als es eine Dreiviertelstunde später an seiner Zimmertür klopfte, stand Seunghyun gerade vor dem Spiegel und versuchte, sein völlig verkatertes Aussehen irgendwie mit einer Menge Haarspray und einem smarten, dunkelgrünen Hemd zu überspielen. Es klopfte wieder, diesmal energischer. „Ist ja gut!“, brüllte er aus dem Bad. „Ich komme ja gleich!“ Schnell warf er noch einen letzten Kontrollblick in den Spiegel – wenigstens die Frisur saß – und ging dann zur Tür. Als er öffnete, stand eine junge Frau, vielleicht ein paar Jahre jünger als er, vor ihm. Zugegeben – er hatte keinerlei Erinnerungen an ihr Aussehen gehabt. Nur diese wachen, blauen Augen, die ihn nun anlachten, erkannte er sofort wieder. Die junge Frau hatte die langen, dunkelrot gefärbten Haare zu einem strengen Pferdeschwanz zurück gebunden. Die weite, graue Bluse war in der Taille mit einem dünnen, geflochtenen Gürtel zusammengeschnürt, die engen, dunklen Leggins betonten ihre schlanken Beine. Seunghyun schluckte trocken. Er war selten sprachlos, doch nun stand er da wie ein Vollidiot, nicht einmal in der Lage, seinen Gast hinein zu bitten. Er grub in seinem lückenhaften Gedächtnis verzweifelt nach einem Namen, doch fand keinen. Als sein Gegenüber fragend die Augenbrauen hochzog, räusperte er sich schließlich und beschränkte sich auf ein „Hi!“, bevor er zurücktrat, um ihr Eintritt zu gewähren. Sie drängte sich an ihm vorbei ins Zimmer und sah sich um. „Wow“, bemerkte sie ehrlich erstaunt. „Was ist?“, wollte er wissen. Sie wandte sich ihm wieder zu und grinste. „Hätte nicht gedacht, dass jemand, der sich hemmungslos in irgendwelchen Kellerbars besäuft, in so einem hammermäßigen Hotel wohnt.“ Er zuckte mit den Schultern.

Wo sie Recht hatte...

„Was ist mit der Aspirin?“, lenkte er das Gespräch um. Sie grinste breit und zog einen Tablettenblister aus ihrer Handtasche. „Hier!“ Sie warf ihm das Ding zu und er fing es, mehr schlecht als recht, mit beiden Händen auf. „Wo willst du hingehen?“, erkundigte sie sich, während sie langsam das Zimmer abschritt. Er ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Wer weiß, ob hinterher noch alle seine Sachen an ihrem Platz sein würden... „Café“, stellte er fest. Sie hob eine Augenbraue, nickte dann aber. „Meinetwegen. Du bezahlst das Taxi.“ Hätte er sich ja denken können... Er griff noch einmal in die Tasche seines Mantels, als er ihn überwarf, um sicher zu gehen, dass er auch Geld dabei hatte. Als er der jungen Frau über den edlen Hotelflur folgte, verspürte er zum ersten Mal seit Monaten so etwas wie die Aufregung vor einer Verabredung.
 

Unglaublich, wie schnell Jiyong und er sich in der Alltagsfalle wiedergefunden hatten. So sehr sie sich auch geliebt hatten, der vollgestopfte Terminkalender hatte sie so schnell in die Realität zurückgeholt, dass Seunghyun nicht einmal bemerkt hatte, wie er auf Wolke 7 gelandet war. Traurig, dass ihm das gerade jetzt durch den Kopf ging, wo er in einem schicken, kleinen Café einer attraktiven Amerikanerin gegenüber saß, bei der scheinbar die ein oder andere Sicherung locker war. „Hey! Hörst du mir überhaupt zu?“, beschwerte sie sich gerade. Er sah vom Fenster zu ihr und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Du redest zu schnell“, erklärte er. Sie schob beleidigt die Lippen vor. „Und du mit einem zu starken Akzent! Woher kommst du überhaupt?“ Seunghyuns Gesichtszüge verhärteten sich augenblicklich. Bis jetzt hatte er es genossen, dass sie nichts voneinander wussten. Das Mädchen hatte ihn behandelt wie – einen Menschen. Sie wählte ihre Worte in seiner Gegenwart nicht so vorsichtig aus, wie die Mädchen in seinem Land es zu tun gepflegt hatten, gab sich nicht so zurückhaltend und niedlich. Das gefiel ihm. „Du zuerst“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie stützte ihr Kinn auf die Hände und blinzelte mit diesen wahnsinnigen Augen. „Nenn' mich einfach Alex. Mehr musst du nicht wissen – erst mal. Jetzt du.“ Er gab sich seufzend geschlagen und hoffte inständig, dass sie nicht auf die beknackte Idee kam, heute Abend in ihrem stillen Kämmerlein seinen Namen durch die Suchmaschine zu jagen. „Seunghyun...Choi“, entgegnete er widerwillig. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, seinen Vornamen zuerst zu nennen. Sie klimperte wieder mit den Augen. „S- Se...was?“, stammelte sie. Er überlegte einen Moment und grinste dann höflich. Wenn sie ihn googeln würde, würde sie es sowieso herausfinden. Also, was sollte es? „'Top' ist auch okay!“, erklärte er. Ihre Reaktion fiel – anders aus, als erwartet. Sie verdrehte die Augen und wandte den Blick genervt von ihm ab und aus dem Fenster. „Dein Ego ist ja mehr als nur überdimensional.“ Er kniff die Augen zusammen und nippte an seinem Cappuccino. „Mag sein“, nuschelte er über den Tassenrand hinweg, ohne das offensichtliche Missverständnis aufzuklären.

Wo sie Recht hatte...
 

Am Abend nach der Pressekonferenz war es wieder still geworden unter den Bandmitgliedern. Jeder schien seinen eigenen Gedanken nachhängen oder sie irgendwie verdrängen zu wollen. Daesung stand in der Küche und wusch das Geschirr vom Morgen ab. Der Jüngste stand neben ihm, das Geschirrtuch in der Hand, und trocknete Teller, Tassen und Schüsseln, um sie dann in die Schränke zu räumen. Die beiden Männer wirkten wie Maschinen, die stur ihren eintönigen Bewegungen folgten, keine Regung in Mimik oder Gestik, kein gesprochenes Wort. Jiyong, der auf der Rückfahrt zum Apartment krampfhaft versucht hatte, gute Laune zu zeigen, hockte auf der Couch vor dem Fernseher und schaufelte eine Tüte Chips und Süßkram nach der anderen in sich hinein. Über den Bildschirm flackerte eine DVD mit den Musikvideos aus ihren Anfangszeiten. Damals hatten sie noch Spaß zusammen gehabt – es war nie so sehr Arbeit gewesen, wie in der letzten Zeit. Es schmerzte ihn, sie in den alten Videos so fröhlich zu sehen. Nichts davon war gespielt, es war ihnen gut ergangen damals. Wie konnte es passiert sein, dass im Laufe der Zeit der Spaß und die ehrliche Freude an der Sache gänzlich kühler Berechnung gewichen waren? Hatte er im Laufe der Zeit die anderen so sehr aus den Augen verloren, dass er es nicht gemerkt hatte, bevor es zu spät gewesen war? Er rieb sich über die Augen und griff ein letztes Mal an diesem Tag zu seinem Handy, immer noch eine leise Hoffnung hegend. Die Worte auf dem Display sprangen ihm entgegen, als wollten sie ihn verhöhnen:

„Keine neuen Nachrichten.“
 

Als das Taxi am späten Abend in der heruntergekommenen Gegend hielt, die Alex ihr Zuhause nannte, versuchte Seunghyun, sich seine Gedanken nicht ansehen zu lassen. Er hatte gewusst, dass seine neue Bekanntschaft nicht gerade lebte, wie die Made im Speck, aber das hier war doch schlimmer, als er erwartet hatte. Die Gebäude waren mit vulgären Graffiti besprüht, die Straßen und Bürgersteige waren verdreckt, die Fensterscheiben waren teilweise mit roter Farbe übermalt. In den Nebenstraßen sah er dunkle Gestalten, die sie zu beobachten schienen. Alex griff nach ihrer Handtasche und wollte aussteigen, doch Seunghyun hielt ihr Handgelenk fest. Sie drehte sich irritiert zu ihm um. „Was ist?“, wollte sie wissen. Er zögerte einen Moment, überlegte, wie er sich ausdrücken sollte, ohne sie zu verletzen. „Ich – soll ich dich nicht bis zur Tür bringen?“, fragte er schließlich nur. Sie zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen... Aber glaub nicht, dass ich nicht selbst auf mich aufpassen könnte!“ Als hätte sie seine Gedanken gelesen. Er verkniff sich ein Grinsen und rutschte auf der Rückbank herüber, um hinter der jungen Frau auszusteigen, nachdem er dem Fahrer bedeutet hatte, zu warten. Zugegeben, ihm war nicht ganz wohl dabei. Sonst hatte er immer mindestens einen Mann von der Security um sich gehabt und nun spielte er selbst Bodyguard. Er meinte, zahlreiche Blicke auf ihnen zu spüren, und beschleunigte seine Schritte, um nah hinter Alex zu bleiben. Schon nach einem Tag schien er so etwas wie einen Beschützerinstinkt für sie entwickelt zu haben – oder vielleicht fehlte ihm auch einfach ein gewisser junger Mann, an dem er ihn sonst hatte ausleben können. Schnell schüttelte er den Kopf. Gar nicht erst dran denken! Alex blieb gut hundert Meter weiter vor einem der Apartmentgebäude stehen und drehte sich zu ihm um. „Also“, setzte sie an. „Danke fürs herbringen – Top.“ Die Art, wie sie den Namen aussprach, wirkte beinahe schon belustigt. Was war so witzig, verdammt? Anderswo bekamen die Mädchen weiche Knie, wenn man seinen Namen nur erwähnte! Alex war anders. Sie sah in ihm das, was er letztendlich war: Ein junger Mann, völlig verloren und unbeholfen in einem fremden Land, dessen größte Sorge war, ob er wieder zu seinem Luxushotel zurückfinden würde. Sie hatte Recht – wenn man es so sah, war es wirklich fast schon lächerlich... Sie klopfte ihm gegen die Brusttasche seines Mantels. „Den Notizzettel wieder dabei?“ Er grinste schief. „Ja. Aber den brauche ich hoffentlich bald nicht mehr.“ Ein Moment verlegenen Schweigens trat zwischen die beiden jungen Menschen. Nicht allzu weit entfernt dröhnte ein Martinshorn. Dann nahm er all seinen Mut zusammen, um die Frage zu stellen, die ihn seit einigen Stunden bewegte: „Alex... Ich werde dich doch wiedersehen – oder?“ Ihre blauen Augen blickten ihn an – fast auf Augenhöhe mit ihm. Dann umspielte ein kleines Lächeln ihre Lippen. „Ruf mich an.“
 

Als Alex die Tür zu ihrer Wohnung öffnete, empfing sie die gewohnte Stille. Sie zog ihre Schuhe aus und hängte Jacke und Tasche an die Garderobe, bevor sie in ihre warmen Hausschuhe schlüpfte und ins Wohnzimmer schlurfte. Auf dem Couchtisch stand eine Tüte vom Chinesen, daneben lag ein Zettel: „Bin schon auf Arbeit, habe dir Essen geholt.“ Sie ließ sich erschöpft aufs Sofa sinken. Sie hatte nicht damit gerechnet, tatsächlich von Top zu hören. Er hatte ihr im Café seinen richtigen Namen auf eine Serviette gekritzelt, „zum Üben“. Sie zog das Papiertuch aus der Hosentasche und faltete es auseinander. Seine ganze Art, sein Auftreten und sein Benehmen, waren so eigenartig und fremd für sie und gerade das machte die ganze Sache so interessant. Er hatte ihr nicht verraten wollen, was er beruflich machte und woher das ganze Geld für dieses Fünf-Sterne-Hotel kam. Es fiel ihr schwer, nicht darüber nachzudenken, und als sie eine halbe Stunde später mit einem Karton chinesischer Bratnudeln vor ihrem PC saß, plagte sie fast schon das schlechte Gewissen. Sie rief den Internetbrowser auf und tippte seinen Namen in die Suchmaschine ein.

„Seunghyun Choi“

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis die Maschine die Ergebnisse ausspuckte. Bilder von einem Mann, den sie kaum wiedererkannte – geschminkt und irre in Szene gesetzt blickte er mit einem verschmitzten Lächeln in die Kamera. Das war ganz sicher nicht der betrunkene Kerl, den sie gestern Nacht aus der Pfütze gehievt hatte. Unter den Links waren etliche, die zu Steckbriefen und Fanseiten führten. Sie klickte den dritten in der Liste an und begann zu lesen. Das bewegte Leben eines jungen Mannes, zusammengefasst in wenigen Zeilen, geschmückt mit intimsten Details, woher auch immer die Autoren das alles zu wissen glaubten... Offengelegt für die gesamte Menschheit. Ihre Augen wurden größer. Sie schob sich eine weitere Gabel voll Nudeln in den Mund und begann langsam, aber sicher zu verstehen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  rainbow77
2014-01-03T16:40:59+00:00 03.01.2014 17:40
Oh mann !!!!!!
Deine Geschichte ist so unsagbar toll, leider habe ich erst heute die 2 neuen Kapitel entdeckt, aber jetzt habe ich sie ja gelesen.
Und um ehrlich zu sein, ich bin begeistert.
Ich liebe diese Story, BITTE, BITTE schreib schnell weiter !!!!!
Ich kann das nächste Kapitel kaum erwarte >aufgeregt im zimmer herum-sping< lol

GLG rainbow77


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