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Der Weg aus dem Kampf

Wenn Träume Berge versetzen
von

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Begegnung

Kapitel 1

Begegnung
 

„Alarm. Zu den Waffen!“

Der Ruf hallte an den Felsklippen wider und riss Mimoun aus dem Schlaf. Der junge Geflügelte kam frisch aus der Ausbildung und hatte gleich mal zur ‚Feier’ seiner Ankunft an der Front den letzten Teil der Nachtwache übernehmen dürfen - nachdem am Abend tatsächlich noch eine kleine Feier für die Frischlinge abgehalten worden war. Demzufolge war es um seine Reaktionsgeschwindigkeit nicht wie sonst bestellt und ein derber Griff am Arm riss ihn in die Höhe.

„Na los. Steh auf, Grünschnabel. Schlafen kannst du, wenn du tot bist.“

„Beschrei es nicht.“, murrte Mimoun und fuhr sich mit den Händen über Gesicht und Haare.

Kekaras drückte ihm nacheinander die einzelnen Rüstungsteile in die Hand, die der Jüngere mit leicht fahrigen Bewegungen anlegte. Abschließend reichte sein Mentor ihm noch Pfeil und Bogen. „Und nun ab.“

Widerspruchslos folgte der junge Geflügelte demjenigen, dem er gleich nach seiner Ankunft zugeteilt worden war. Jeder Frischling bekam einen erfahrenen Kämpfer zur Seite gestellt, der ihn unterstützen und anleiten sollte. Und Kekaras sah man seine vielen Schlachten an. Der ernste Blick, die vielen Narben.

Mimoun wandte seinen Blick rasch ab. Die ersten zwei Anweisungen, die er erhalten hatte, waren ‚Nicht anstarren!’ und ‚Gehorche, ohne zu zögern und widerspruchslos!’. Und er wollte noch nicht herausfinden, was geschah, wenn er gegen diese Anweisungen verstieß. Sein Mentor war zwar angesehen, aber nicht gerade beliebt.

Kekaras war an den Rand der Felsspalte getreten und hangelte sich an die Wand daneben, um auch seinem Schüler und den anderen die Möglichkeit zu geben nach draußen zu gelangen. Dicht unterhalb seines Mentors suchte sich Mimoun sicheren Halt und ließ seinen Blick schweifen, während der steife Wind an Haaren und Flügeln zerrte. Überall von den Felswänden der schwebenden Inseln um ihn herum stürzten sich die Krieger, um sich wenige hundert Meter unterhalb in kleineren Schwärmen zu sammeln. Ein einzelner Schwarm war zu riskant, denn ihre Gegner kannten nur eine Kampfstrategie: Hinterhältigkeit. In großen Schwärmen boten die Geflügelten einfach ein viel zu gutes Ziel für die heimtückischen Zauber, die auch mehrere gleichzeitig außer Gefecht setzen konnten, waren sie zu dicht beieinander.

Mimouns Augen suchten den Wald ab, der sich unterhalb der Inseln erstreckte. Dort unten, irgendwo zwischen dem wild wuchernden Grün, versteckten sie sich. Doch es hatte ihnen nichts gebracht. Die Wachen hatten sie entdeckt.

Ein Tritt in seine Seite und eine bezeichnende Kopfbewegung Kekaras erinnerten den jungen Geflügelten daran, dass es auch für ihn an der Zeit war, sich in die Tiefe zu stürzen und seinen Platz in der Schlachtformation einzunehmen. Mimoun stieß sich ab und stürzte sich kopfüber in die Tiefe. Erst kurz vor seiner Position breitete er seine Schwingen aus, spürte den Wind der ihn auffing. Dicht neben ihm kam Kekaras flatternd zum Stillstand.

„Halt die Augen und Ohren offen.“

Der Frischling schnaubte. Als wenn er das nicht wüsste. Auch ihm schien es hier zu ruhig zu sein. Rasch suchte er das Blätterdach ab, konnte aber nicht einmal erkennen, was die Wachen alarmiert haben könnte.

Nicht nur sein Blick war aufmerksam nach unten gerichtet und so bekam keiner mit, wie sich ein Stück oberhalb der Inseln einige Wolken langsam aber unaufhaltsam zusammenballten.

Die Eissplitter, die sich daraus lösten, trafen viele, bevor man realisierte, woher der Angriff kam. Sofort zerstreuten sich die Geflügelten noch weiter.

Ein stechender Schmerz explodierte in Mimouns linkem Flügel und er fiel ein ganzes Stück, bevor er auch nur daran dachte, wieder an Höhe zu gewinnen. Doch der Wind weigerte sich, ihm Halt zu geben. Ein Blick zeigte dem jungen Geflügelten, warum. Die Flughaut wies einen riesigen Riss auf. Er konnte der Luft nicht mehr gleichmäßig Widerstand bieten und begann wie ein Flügelsamen torkelnd zur Erde zu stürzen. Seine verzweifelten Versuche, den Sturz abzubremsen, brachten ihn noch mehr ins Schlingern und er krachte ungebremst ins Blätterdach. Ein kleinerer Ast bohrte sich auf seinem weiteren Weg nach unten tief in seine Seite, bei dem Versuch sich festzuhalten, verrenkte und brach er sich den rechten Arm und knallte schließlich Rücken voran auf eine aus dem Erdboden ragende Wurzel. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst und er glaubte, ersticken zu müssen, weil er sekundenlang nicht richtig atmen konnte. Dunkle Schleier tanzten vor seinen Augen und drohten Mimoun in die Bewusstlosigkeit zu ziehen. Ein Schrei voller Todesqualen riss ihn zurück und er rollte sich von der Wurzel herunter ins Dickicht. Ein vorsichtiger Blick in die Runde, bestätigte seine Befürchtung. Er war nicht der einzige, der abgestürzt war. Und natürlich waren die Magier zur Stelle, um ihr Werk zu vollenden. Grausam und heimtückisch zu mehreren auf einen Verletzten. Mimoun wusste, dass seinem Kampfgefährten nicht mehr zu helfen war, und versuchte stattdessen lieber, seine Haut zu retten. Doch wohin sein Blick auch streifte: Magier. Überall um ihn herum. Seine einzige Hoffnung war die kleine schlammgefüllte Kuhle unter der Baumwurzel. Es war eng und er hatte Schmerzen, doch er durfte keinen Laut von sich geben. Einzelne Farne und große Blätter versuchte er wie zufällig vor dem Eingang zu platzieren. Und dann blieb ihm nur noch zu hoffen, dass diese Schlacht schnell vorbei war, dass die Magier ihn nicht aufspürten, dass irgendjemand ihn suchen würde.

Langsam aber sicher kehrten die schwarzen Schlieren vor seinem Gesichtsfeld zurück, die sich diesmal nicht vertreiben ließen. Das Ende des Kampfes erlebte er in tiefer Bewusstlosigkeit.
 

Dhaôma hatte sich versteckt. Wie beinahe jedes Mal, wenn sein Bruder die anderen zu einem Angriff führte, hängte er sich an ihre Fersen. Er konnte sich nicht erklären, warum er das tat, aber ihn trieb die Neugier. Die Hanebito, die Geflügelten, gefielen ihm schon, seit er denken konnte. Sie waren stolz, majestätisch und exotisch, wenn sie auf ihren riesigen, ledernen Schwingen durch die Lüfte glitten, beinahe ohne einen Laut. Oft versteckte er sich im Wald auf einem der hohen Bäume oder am Rande der Ebenen und wartete auf sie, um sie zu beobachten. Dann konnte er träumen. Davon träumen, genau wie sie eines Tages frei durch die Lüfte schweben zu können.

Aber das hier war anders. Er folgte den Kriegern, um vielleicht die Chance zu erhaschen, einen Hanebito aus der Nähe zu sehen, vielleicht, um ihn zu retten. Aber in den letzten zwei Jahren hatte sich diese Gelegenheit niemals ergeben. Doch heute…

Versteckt zwischen Blattgrün beobachtete er, wie die vier Magier dem verbrannten Hanebito den Rücken kehrten. War das ihr ernst? Hatten sie nicht gesehen, dass zwei heruntergekommen waren?

„Glück gehabt!“, frohlockte er leise und ließ still seine Augen durch das Gebüsch wandern, während er sich vorsichtig voranbewegte. Er musste aufpassen, damit keiner der anderen ihn hier sah. Sie würden wieder schimpfen. Aber momentan waren sie mit ein paar anderen beschäftigt und außer Sichtweite.

Endlich entdeckte er den schwarzen Schatten unter der Wurzel. Nicht sehr gut versteckt, trotz der Tarnfarbe. Wie hatten sie ihn übersehen können? Dhaôma grinste, hockte sich möglichst versteckt hinter die Wurzel und begann seine Magie auf den Boden zu richten. Unter seinen Händen wuchsen weiche Seidengräser und buschiger Schlangenfarn, Heidelbeeren und junge Baumschösslinge. Eine Ranke verankerte sich auf dem Holz des alten Baumes, unter dem der Hanebito schlief, und kletterte dort hinauf, schloss die Höhle der Wurzel zu einem großen Teil ab.

Geschrei ertönte neben ihm und aus den Baumkronen kam ein weiterer Hanebito. Er war noch am Leben, aber an seinem Bein klaffte eine hässliche Wunde. Blitzschnell wog Dhaôma seine Chancen ab. Dass er gesehen worden war, konnte er nicht glauben, aber dieser Irre da oben würde sicherlich die Magier auf den Plan rufen und die sollten ihn besser nicht entdecken.

Mit einiger Anstrengung weitete er den Winkel seiner Magie und verlangsamte den Fluss, so dass es unaufmerksamen Menschen nicht mehr auffallen würde. Im Hintergrund hörte er, dass zwei Magier und der Hanebito starben, dann herrschte um ihn herum fast betäubende Stille. Als er fertig war, hörte er in der Ferne den Ruf zum Rückzug und entspannte sich ein wenig. Er musste sich ausruhen. So viele Pflanzen wachsen zu lassen, war anstrengend.

Als er wenig später, aus dem Gebüsch trat, musste er sich selbst loben. Von den unteren vier Metern des Baumstammes sah man so gut wie nichts mehr. Alles überwuchert von Vegetation. Sehr hübsch. Ein richtiges Kunstwerk. Aber das war nebensächlich. Endlich war er allein und hatte einen Hanebito, den er sich ganz aus der Nähe anschauen konnte!

Neugierig kroch er durch das hohe Gras zu der Stelle, an der er ihn vermutete, denn man sah die Wurzel nicht mehr. Und da war er. So schön! Das Gesicht etwas kantiger, die Nase schmal, die Haut dunkler als bei irgendjemanden von seiner Rasse. Er hatte Haare wie sie, dafür waren die Ohren ein wenig spitz. Der Rest des Körpers wurde von einem dieser wundervollen Flügel verdeckt.

„Wow!“, flüsterte Dhaôma beeindruckt und streckte die Hand aus. Es war ein kühles, weiches Gefühl, wie besonders teures, gegerbtes Hirschleder.
 

Seine Sinne schlugen Alarm. Etwas war nicht in Ordnung.

Mimoun schlug die Augen auf, doch irgendwie wollte sich seine Sicht nicht scharf stellen. Ein verwaschener Farbfleck beugte sich über ihn. Kein Geflügelter, das war zumindest sicher.

Seine Hand bewegte sich nach vorn, stieß auf Widerstand und versuchte diesen wegzuschieben. Gleichzeitig versuchte er der Höhle zu entkommen, die wie befürchtet zu einer Falle geworden war, aus der es keinen Ausweg mehr gab.
 

Dhaôma zog seine Hand wieder zurück, als der Hanebito sich zu bewegen begann. Kam er wieder zu Bewusstsein? Musste er jetzt befürchten, angegriffen zu werden? Aber wenn, war das nicht egal?

„Hey, ruhig.“, sagte er in seiner sanftesten Tonlage und lächelte. „Ich tu dir nichts. Versprochen. Aber wenn du dich zu viel bewegst, verletzt du dich vielleicht noch mehr.“ In ihm brodelte Aufregung. Endlich, endlich wurde sein Wunsch wahr, endlich konnte er mit einem von ihnen sprechen! Weich lachte er, als ihm klar wurde, dass der junge Mann versuchte, durch die Wurzel zu kriechen. „Das ist die falsche Richtung. Raus kommst du aus deinem Versteck nur, wenn du in meine Richtung krabbelst.“
 

Als ihm die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen bewusst wurde, wandte sich Mimoun der Stimme zu. Noch immer konnte er nichts klar erkennen. Da half es auch nichts, mit dem schlammbesudelten Arm übers Gesicht zu fahren.

„Geh.“, flüsterte er schwach. „Oder... töte mich. Aber... wage es... nicht... deine Spielchen mit mir zu treiben.“ Der junge Geflügelte flüchtete sich in die nächste Bewusstlosigkeit in der Hoffnung, seinen Tod so nicht kommen sehen zu müssen. Nur einen Sekundenbruchteil vorher begann er Angst zu verspüren. Er wollte noch nicht sterben.
 

Seufzend schüttelte Dhaôma den Kopf. Vielleicht war seine Idee, mit diesen Wesen Freundschaft zu schließen, Käse. Zu lange schon und zu viel hatte sein Volk ihnen angetan. „Ich spiele keine Spielchen mit dir.“, sagte er leise, doch es kam keine Antwort mehr. „Bist du wieder ohnmächtig?“ Sachte berührte er ihn erneut, doch es kam nicht mal ein Zucken. „Armer Kerl. Ich werde dich irgendwo hinbringen, wo du es bequemer hast.“

Es stellte sich als ziemlich schwierig heraus, den Hanebito aus der kleinen Höhle zu ziehen, zumal er den einen Arm nicht zum Ziehen nutzen konnte. Deutlich hatte er das Knacken und Knirschen gehört, als er es versucht hatte. Als er es doch noch geschafft hatte, sah er erst das volle Ausmaß der Verletzungen. Der Flügel war zerrissen. Es traf ihn wie ein Blitz. Das bedeutete, dass der junge Mann nicht mehr fliegen konnte!

„Verdammt!“, fluchte er. „Das krieg ich nicht mehr hin, das sollte dir klar sein! Ich bin kein Heiler!“

Unter größten Kraftanstrengungen wuchtete er sich den schlaffen Körper auf die Schultern und machte sich auf den Weg in sein Versteck. In der kleinen Baumhöhle verbrachte er mitunter Tage, wenn er es zu Hause nicht aushielt, weil sein Bruder wieder und wieder von seinen Schlachten schwärmte und detailreich beschrieb, wie und wie viele er getötet hatte. Es gab ein weiches Lager aus Moos und Blättern, duftende Kräuter und einen ordentlichen Vorrat an getrockneten Früchten.

Drei Stunden dauerte es, bis er den Arm geschient, eingerenkt und alle Kratzer und Wunden gesäubert und versorgt hatte. Die Bauchwunde bereitete besonders große Probleme, aber zum Glück war kein Schmutzwasser hineingelaufen. Nur der Flügel überstieg seine Fähigkeiten. Zwar trug er Salbe auf, aber wie sollte man ihn verbinden? Es war zu sperrig. Sein Patient hatte in der ganzen Zeit nur ein paar Mal gestöhnt, doch wach geworden war er nicht.

Als er fertig war, war es draußen längst dunkel und Dhaôma war erschöpft. Es war ein langer Tag gewesen und er hatte seine Kräfte überbeansprucht. Immerhin hatte er auch die Heilpflanzen wachsen lassen, um sie nicht suchen zu müssen. Aber neben dem Fremden zu schlafen, erschien ihm zu gefährlich. Er wusste ja nicht, wie der reagieren würde, wenn er erwachte. Außerdem mochte er es nicht, jemanden nachts neben sich zu haben, also zog er sich auf den Nachbarbaum zurück und rollte sich dort in einer Astgabel zusammen. Er hoffte nur, dass er auch wach wurde, bevor der Hanebito noch verschwand.
 

Leises Rauschen von Wind zwischen Blättern war der erste Sinneseindruck, der sich Mimoun offenbarte, als er wieder zu sich kam. Als nächstes kam ein angenehmer Geruch hinzu, der ihn umhüllte. Mimoun öffnete die Augen und sah sich blinzelnd um. Er war nicht tot, soviel stand fest. Dafür tat sein Körper einfach zu sehr weh. Doch wo war er hier?

Mit seiner linken Hand fuhr er vorsichtig tastend über seine Unterlage. Weich, nachgiebig. Die rechte konnte er nicht benutzten, stellte er am Rande fest. Mit wenigen unauffälligen Kopfdrehungen erkundete sein Blick die restliche Höhle, doch es erschloss sich ihm nicht, wo er hier war, geschweige denn, wie er hier hingekommen war.

Als er keine andere Lebensform in seiner unmittelbaren Nähe ausmachen konnte, wagte es Mimoun, sich vorsichtig aufzusetzen. Verwundert begutachtete er die Verbände. Wer war das gewesen?

Kurz blitzte ein Bild durch seinen Geist. Ein verwaschener Farbfleck, aber dennoch deutlich als Magier zu identifizieren. Dieser musste ihn zum Sterben dort liegen gelassen haben und statt zu sterben, war er rechtzeitig von Seinesgleichen gefunden und gerettet worden, schlussfolgerte Mimoun. Schließlich war er weder gefesselt noch eingesperrt. Und vor allem war er noch am Leben! Doch wo befand sich der andere nun? Schwankend und sich an der Wand abstützend, tastete sich der junge Mann Zentimeter für Zentimeter weiter Richtung Ausgang vor.
 

Der braunhaarige Magier war schon vor einiger Zeit wieder aufgewacht, hatte das Frühstück besorgt und dann geduldig unter dem Baum gesessen, die Höhle stetig im Blick. Bei Tageslicht konnte er seinen Besucher auch besser sehen und seitdem er den gröbsten Schlamm entfernt und ihm die starre Rüstung ausgezogen hatte, sogar Einzelheiten erkennen.

Er gefiel ihm, machte ihn neugierig und kribbelig. Die spitzen Ohren allein waren schon faszinierend, die Haare waren irgendwie etwas starrer als seine eigenen und sein Körper etwas drahtiger, vielleicht muskulöser. Und die Flügel waren riesig, gerade, wenn er sich direkt neben ihnen befand. Jeder einzelne war fast so lang wie er selbst. An den Fingernägeln hatte er sich sogar geschnitten, als er an der einen Armschiene gezogen hatte. Im Grunde war der ganze Körper zum Kampf geschaffen. Wirklich faszinierend.

Jetzt aber straffte er die Schultern. Es war Vorsicht geboten, denn obwohl der Hanebito verletzt war, hieß das nicht, dass er nicht gefährlich war. Zumindest sagte man in seinem Volk, dass die Hanebito zu allem fähig wären. Langsam erhob er sich.

„Du hast nicht gegessen.“, erhob er die Stimme. „Dabei ist das wichtig, damit du wieder zu Kräften kommst.“
 

Mimoun erstarrte. Diese Stimme. Alles in ihm verkrampfte sich und er zog sich wieder ein Stück in die Höhle zurück. Das Schlimmstmögliche war eingetroffen. Es war dieser Magier. Also war er doch ein Gefangener.

„Was willst du?“, fragte er barsch, sich eng an die Wand hinter ihm pressend.
 

„Dass du etwas isst.“, seufzte Dhaôma. Wie es aussah, stimmte es nicht, was man sagte. Diese Geflügelten waren nicht wirklich Monster ohne Schmerz und Angst. Zumindest wirkte es nicht so. „Keine Angst, ich mache nichts. Ich bin nicht wie die anderen. Ich töte niemanden.“

Versuchshalber machte er einen Schritt auf die Höhle zu, jederzeit bereit, sich wieder zurückzuziehen. Er kannte das von verletzten Tieren. In die Enge getrieben entwickelten sie häufig immense Kräfte.
 

Keine Angst? Er war nicht wie die anderen? „Ja sicher.“ Mimoun schnaubte abfällig. „Für wie verrückt hältst du mich eigentlich?“

Er ließ sich langsam in die Hocke sinken. Trotz der Stütze in seinem Rücken war Stehen zuviel für seine schwindenden Kräfte. Erneut sah er sich aufmerksam um. Es musste doch irgendwie einen Weg hier heraus geben.
 

Nachdenklich blickte Dhaôma seinen Fund an. Eigentlich war es ja kein Wunder, dass der misstrauisch war. Wo er wahrscheinlich auch immer nur gehört hatte, dass Magier schrecklich brutale Wesen waren. Noch dazu war er ein Krieger. Wer wusste schon, wie viele Schlachten er miterlebt hatte und wie viele er schon sterben sah.

„Ist gut. Auf dem Regal steht ein Teller mit Beeren und etwas zu trinken für dich. Wenn du mutig genug bist, nimmst du auch noch den Zweig, der daneben liegt. Er hilft bei der Wundheilung. Ich komme später wieder, um zu sehen, wie es dir geht.“

Ein klein wenig enttäuscht war er schon. Wie sollte er es schaffen, Freundschaft mit einem zu schließen, der eigentlich sein Todfeind war?

„Dich findet hier keiner der anderen. Du kannst dich also in Ruhe erholen. Bis später!“ Grinsend winkte er, dann rannte er davon. Er würde nicht weit gehen, aber er brauchte noch ein paar Samen von Heilpflanzen, damit er welche in Reserve hatte. So wie es aussah, würde ihm noch ein langer Weg bevorstehen mit seinem Hanebito.
 

Mimoun starrte ihm fassungslos hinterher. Was dachte sich der Kerl eigentlich? Was bezweckte er damit? Er versorgte die Wunden eines Feindes, anstatt ihn elendig an Wundbrand und ähnlichem krepieren zu lassen? Er hatte ihn nicht gefesselt oder eingesperrt. Und nun drehte er ihm tatsächlich den Rücken zu und ging.

Verdammt. Mimoun griff sich an den Kopf. Warum fiel ihm Denken grade nur so schwer?

Mit heftigem Schütteln versuchte er Klarheit in seine Gedanken zu bringen, doch alles, was er erreichte, war heftiges Schwindelgefühl. Sein Blick glitt über seine Rüstung. Er hatte nicht einmal richtig Kraft zu stehen. Auch noch den zusätzlichen Schutz am Körper mit sich herumzuschleppen, überstieg sein Können momentan bei weitem.

Sein Augenmerk richtete sich als nächstes auf das Regal. Mimoun glaubte nicht daran, dass auch nur eine Beere giftig war. Was auch immer dieser Magier mit ihm vorhatte, er brauchte ihn lebend. Entschlossen schleppte er sich dorthin, griff nach dem Wasser und stürzte es schnellstmöglich hinunter. Dann nahm er sich den Zweig.

Solange dieser Kerl nicht in Sichtweite war, würde Mimoun seine Chance nutzen und von hier verschwinden. Auf dem Zweig herumkauend, schleppte er sich wieder zum Ausgang der Höhle und spähte nach draußen. Es blieb still, von typischen Waldgeräuschen mal abgesehen. Also nutzte er seine Chance und schlich in entgegengesetzter Richtung davon, Baum für Baum schwer atmend zur kurzen Stütze und Rast nutzend.
 

Schon bevor er bei der Baumhöhle ankam, wusste Dhaôma, dass sein zukünftiger Freund weg war. Die Geräusche des Waldes hatten sich geändert, die Vögel schimpften anstatt zu singen und das Rascheln der kleinen Tiere war verhaltener. Als würde der Tod in der Luft liegen.

Erschrocken beeilte er sich, folgte einer erstaunlich deutlichen Spur ein Stück in den Wald hinein, bevor er den Hanebito dort liegen sah. Er rührte sich nicht. Schnell kniete er neben ihm nieder, drehte ihn halb auf den Rücken und stellte erleichtert fest, dass er noch atmete. Aber seine Schiene war verrutscht.

„Du bist aber auch ein Idiot.“, murmelte er und machte sich daran, ihn zurück auf das Mooslager zu bringen. Erneut behandelte er alle Wunden mit einer extra dafür hergestellten Salbe, stellte dann wieder etwas zu Essen bereit und bemühte sich, das beginnende Fieber zu senken. Dabei redete er ständig auf ihn ein, schimpfte, weil er unvorsichtig mit seinem Leben war und kein Vertrauen kannte, lachte, weil er im Schlaf das Gesicht verzog, und erzählte ihm, wie interessant er ihn fand. Sobald er feststellte, dass der Junge wach wurde, spannte er sich allerdings wieder. Nur, dass er diesmal die Höhle nicht verließ.

„Bist du wach?“, fragte er vorsichtig.
 

Mimoun wandte ihm kurz den Kopf zu, richtete dann den Blick wieder stumm an die Decke. So hatte es keinen Sinn, das sah er nun ein. Mimoun musste erst wieder vernünftig zu Kräften kommen, bevor er von hier verschwinden konnte. Die Frage war nur, ob der Magier dann noch genauso unvorsichtig sein würde wie jetzt.

Mit einem tiefen Seufzen schloss er ergeben die Augen. Jetzt hieß es abwarten.
 

„Also bist du wach.“ Dhaôma lächelte. „Das ist gut. Ich weiß, dass es dir unangenehm sein muss, hier zu sein, aber wenn du dein Fieber auskuriert hast, bringe ich dich an einen Ort, von dem aus man deine Leute fliegen sehen kann. Vielleicht sehen sie dich dort und holen dich herauf, denn fliegen wirst du wohl erstmal nicht können.“

Sanft stellte er eine Schale mit kühlem Wasser neben das Lager. „Darf ich?“, fragte er und deutete auf das Stoffstück, das auf Mimouns Stirn lag.
 

Die Worte des Magiers riefen eine Erinnerung in Mimouns Gedächtnis, die dieser bisher verdrängt hatte. Seine Finger glitten über den Riss, spürten soweit es ging dem Verlauf der Verletzung nach. So ganz stimmten die Worte des anderen nicht. Mimoun würde nie wieder fliegen können, diese Verletzung würde nie entsprechend heilen können!

Kurz glitt tiefe Traurigkeit über seine Gesichtszüge, bevor er sich wieder zur Gleichgültigkeit zwang, die Hand neben seinem Körper zur Ruhe kam und er wieder die Augen schloss.
 

Das nahm er als Erlaubnis. Leise lächelnd begann Dhaôma das Tuch in kühles Wasser zu tauchen und damit die Stirn abzutupfen. Danach stellte er in Reichweite etwas zu Essen und zu trinken hin. „Brauchst du Hilfe?“, wollte er wissen.
 

Mimoun verkrampfte seine Hand zur Faust und bohrte sich die Fingernägel in die Handfläche, als der Magier das Tuch wechselte. Er entspannte sich erst wieder, als das Essen gebracht wurde. Auch der angehaltene Atem entwich seinen Lungen.

Nach zwei erfolglosen Versuchen schaffte er es, sich selbst aufzusetzen. Sein Blick glitt über die dargebotenen Nahrungsmittel. Beeren, Früchte, eine komische braune, schwammige Masse. Langsam, zögernd und mit einigen Pausen aß er alles. Nachdem er sein Mahl beendet hatte, ließ er sich noch immer wortlos zurücksinken.

Es war anstrengend gewesen, das spürte er, doch die Hilfe des anderen mehr als nötig anzunehmen, sah er nicht ein.
 

Dhaôma grinste, als er die Schale wieder fortstellte. „Und jetzt schlaf, Hanebito. Werd wieder gesund.“

Er verließ die Höhle und sah hinauf in das Blattwerk. Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten und er hatte kaum etwas getan. Eigentlich würde er am liebsten Laufen. So schnell es ging und so weit er konnte in den Wald hinein, das bisschen Freiheit spüren, das er sich selbst erfüllen konnte, aber er konnte seinen Patienten in dem Zustand nicht so lange alleine lassen. Stattdessen würde er lesen. Das Buch über die Legende der Drachenreiter, das er sich vor kurzem von seinem Bruder erbettelt hatte. Diese Legende war sein zweiter Traum. Er wollte ein Drachenreiter werden. Er wollte einen Drachen finden, ihn aufziehen und auf ihm fliegen. Und danach würde er nie mehr zu den seinen zurückkehren, damit sie ihn nicht töteten, denn die Drachenjagd war in seinem Volk ein beliebter Sport gewesen.

Die Sonne kroch irgendwann an den Ort, an dem er sich niedergelassen hatte, und schläferte ihn ein. Er liebte es, in der Sonne zu schlafen.

Als er erwachte, war es längst dunkel und der Hanebito schlief. So stromerte Dhaôma durch den Wald, bevor er sich in seine Astgabel zurückzog. Am Morgen setzte er sich schon früh auf eine Lichtung und ließ dort die Pflanzen wachsen, die er für heute brauchte. Damit kehrte er in die Höhle zurück, zerquetschte sie und vermengte sie mit ein wenig Öl, bis die Mischung sämig geworden war. In dem Moment, als der Hanebito wach war, wandte er sich ihm zu.

„Geht es dir gut? Kannst du dich aufsetzen? So wie gestern?“ Eigentlich müsste es ihm besser gehen, da das Fieber heruntergegangen war. Offenbar war die befürchtete Infektion des offenen Bauches ausgeblieben. Glück gehabt.
 

Träge wischte sich Mimoun mit der Hand über die Augen. Irgendwie wollte er sich jetzt noch nicht bewegen. Aber je schneller er hinter sich gebracht hatte, was auch immer der Magier von ihm wollte, desto schneller hatte er vielleicht wieder seine Ruhe.
 

„Sehr gut.“, nickte der Braunhaarige zufrieden. Die Bewegungen waren schon viel sicherer. „Noch zwei, drei Tage, dann solltest du wieder einigermaßen auf den Beinen sein.“ Mit geübten Bewegungen riss er ein Stofftuch in Streifen. „Ich werde deine Wunden behandeln. Sag Bescheid, wenn es weh tut, aber brennen wird es trotz allem.“ Und schon stellte er die Schüssel neben sein Tablett mit Salbe und Stoffstreifen. „Wenn du möchtest, kannst du nebenbei auch frühstücken.“, deutete er auf die Schale.

Dann verlor sich seine Sicherheit ein wenig, als er nach dem Bein des Hanebito greifen wollte. Vorsichtig versuchte er es anzuheben, schielte beunruhigt zur Seite, um einen möglichen Angriff blocken zu können.
 

Mimoun erwiderte dem Blick ruhig und gelassen. Dann griff er nach den dargebotenen Speisen. Na gut. Zwei, drei Tage würde er sicher überstehen. Die Frage war nur, wohin er danach wirklich gebracht werden würde. Sich auf das Wort eines Magiers zu verlassen, kam für ihn gar nicht in Frage.
 

Der Blick war so abschätzig gewesen, dass Dhaôma fast hatte lachen müssen. So misstrauisch. Aber er fragte sich, ob er nicht genauso handeln würde, wenn er in der Hand der Hanebito wäre. Doch nachdem er förmlich die Erlaubnis hatte, begann er ihn neu zu verbinden. Was ihm auffiel, war, dass die Haut etwas fester war als seine eigene. Sie fühlte sich toll an. Neu und aufregend.

„Flügel aufmachen.“, wies er ihn einmal an, bevor er auch diesen einsalbte. Der junge Mann tat, was er wollte, aber er sagte nicht einen Ton. „Wie heißt du eigentlich?“, wollte er irgendwann wissen. „Ich kann dich ja nicht immer Du nennen.“ Aber auch das war dem Geflügelten keine Antwort wert, so beschloss Dhaôma, ihn einfach Hanebito zu nennen. War ja nicht mal falsch. Schließlich hatte er ja Flügel.

Als er fertig war, grinste er ihn an. „Ich werde erst wieder heute Nachmittag zurückkommen. Ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen, immerhin habe ich kein Verlangen danach, dass mich mein dämlicher Bruder suchen kommt. Deine Waffen liegen da vorne, falls wilde Tiere kommen. Dass einer meines Volkes kommt, ist unwahrscheinlich. Ihnen ist es hier viel zu stachelig – wie ich zugeben muss, der Grund, warum ich den Dornenbüschen beim Wachsen geholfen habe. Also, bis später.“
 

Seufzend schüttelte Mimoun den Kopf. Der redete zu viel. Sollte er doch sagen, was er wirklich wollte. Und so unhöflich. Nach dem Namen fragen und sich nicht einmal selbst vorstellen.

Der junge Geflügelte ließ sich zurücksinken und versuchte wieder zu schlafen. Doch innere Unruhe zwang ihn schließlich, sich zu erheben. Der Weg nach draußen war nicht ganz so Kräfte zehrend wie noch am Vortag. „Zwei, drei Tage noch.“, sinnierte er leise. Gut. Die Zeit würde er nutzen, um sich so weit es ging zu erholen. Er ließ sich direkt neben dem Eingang nieder und starrte durch das Blätterdach in den dahinter verborgenen Himmel. Ohne sein bewusstes Zutun krochen seine Finger wieder über seinen Flügel. Die Geräusche um ihn herum, die Vögel und das Rauschen der Blätter lullten ihn schließlich ein.
 

Der Besuch zu Hause fiel gewohnt kurz aus. Dhaôma sagte kurz Bescheid, dass er noch lebte, packte ein paar Kleinigkeiten und Lebensmittel zusammen, dann verschwand er wieder. Seine Familie war nichts anderes von ihm gewöhnt und da er mit seinen lächerlichen magischen Fähigkeiten sowieso nutzlos und das schwarze Schaf der Familie war, ließen sie ihn anstandslos ziehen. Hauptsache, er machte ihnen keine Schande. Aber diesmal beeilte er sich noch ein wenig mehr, um in sein Versteck zu kommen. Und er war noch ein wenig vorsichtiger, dass ihm niemand folgte.

Als er den Hanebito dort in der Sonne schlafen sah, musste er lächeln. „Du bist so hübsch.“, sinnierte er und ging vor ihm in die Hocke, um ihn einfach zu betrachten. „Und so unvorsichtig. Du hättest wenigstens eins von den Armmessern mitnehmen können.“

Dann packte er seinen Rucksack aus. Ein bisschen Proviant, den man im Wald nicht fand, ein paar Verbände, eine zweite Schale und einen zweiten Becher und ein paar neuer Kleider für den Hanebito, auch wenn er noch nicht ganz durchschaute, wie man mit den Flügeln ein Hemd anzog. Vielleicht musste man den Rücken abschneiden oder so. Das Hemd des Hanebito jedenfalls hatte kein Rückenteil.

Dann erneuerte er das Moospolster, bevor er wieder hinausging. Was konnte er noch tun? Eigentlich hatte er doch alles. Nur noch Wasser musste er besorgen und dazu musste er nur auf den Nachbarbaum klettern, denn die Blätter sammelten das Regenwasser wie ein natürliches Reservoir.

Irgendwann wurde es dämmrig und Nebel zog auf. Es bedeutete, dass es bald wieder regnen würde, wenn die Sonne schon wieder soviel Kraft gewonnen hatte, dass sie das Wasser aus dem Boden sog. „Hanebito?“ Er hockte sich wieder neben ihn. „Wach auf. Es ist nicht gut für dein Fieber, wenn du im Nebel schläfst.“
 

Schon wieder dieser Magier. War der nicht gerade erst verschwunden?

Mimoun sah sich um. Die Sonne war nicht mehr zu sehen und die viele Feuchtigkeit in der Luft hatte die Umgebung kühler werden lassen. Sein Augenmerk richtete sich auf den Magier. Er hatte nicht so ganz mitbekommen, was dieser nun schon wieder wollte. Aber das ließ sich auch drinnen regeln.

Mit steifen Gliedern stemmte sich der junge Geflügelte in die Höhe. Einige Augenblicke hielt er mit geschlossenen Augen inne, bevor er sich wieder auf sein Lager begab.

„Warum?“
 

„Ai…“ Zögernd legte Dhaôma seinen Finger gegen das Kinn. „Ich glaube, das hat mit der kalten Feuchte zu tun. Der Körper versucht die Kälte auszugleichen, damit steigt das Fieber.“ Zufrieden mit der Erklärung nahm er die Kleider aus dem Regal. „Wenn du willst, kannst du die anziehen, dann kann ich deine mal flicken.“
 

Ein dunkles Knurren entrang sich seiner Kehle. „Warum hilfst du mir?“ Auf die selten dämliche Erklärung ging er gar nicht erst ein.

Dann besah er sich die angebotenen Kleidungsstücke. Von der Größe her müssten sie passen und seine sahen wirklich nicht mehr ansehnlich aus. Doch nur mit einem Arm gestaltete sich die Aufgabe schwieriger, als angenommen.
 

„Ah, das. Weil sich deine Leute sicher nicht hierher trauen, um dir zu helfen, und weil ich sie nicht holen kann, weil sie mir nicht vertrauen.“ Er betrachtete den Schwarzhaarigen vor sich, wie er mit einer Hand die Kleider hochhielt. „Aber das meintest du auch nicht. Du willst wissen, welchen Grund ich habe.“

Seufzend wandte er sich ab, nahm eine Büchse aus dem Regal, öffnete sie und ließ den Zeigefinger durch die vielen bunten Samen streichen. Sein großer Schatz. „Vielleicht bin ich die Kämpfe einfach Leid. Vielleicht beneide ich dich und die deinen. Vielleicht bin ich auch einfach verrückt. Such dir was aus.“ Mit einem zuvorkommenden Lächeln stellte er die Schachtel wieder zurück, bevor er auf die Kleider zeigte. „Soll ich dir dabei helfen?“
 

Die Kämpfe Leid sein? Ja. Das waren sicher viele. Verrückt war der Magier auf jeden Fall auch. Schleppte der sich doch einen Feind nach Hause. Aber beneiden? Mimoun sah keinen Grund darin. Dann stand er halt auf der anderen Seite des Schlachtfeldes. Machte es das besser, wenn man die Kämpfe leid war?

„Verrückt ist ganz praktisch. Ich kann dich ja dann später von deinem Leid erlösen, wenn ich wieder fit bin.“, murmelte der Geflügelte und deutete mit der Hand auf die Bänder, die gelöst werden mussten.
 

„Ah, wenn es darum geht, würde ich dann doch lieber noch ein wenig leben und meine Probleme irgendwann selbst und mit eigener Hand lösen.“ Mit einem leisen Kichern hockte er sich vor ihn und knotete die Bänder auf. Keine Knöpfe, alles Knoten. Es musste Stunden dauern, das an oder auszuziehen. Aber es war wirklich feines Leder. Höchstwahrscheinlich störte es nicht beim Schlafen. Nur für andere Dinge wie baden war es entschieden zu umständlich.

Vorsichtig zog er an dem Hemd. Man konnte es nach vorne abnehmen, wenn man die Knoten im Nacken gelöst hatte. „Uh, da werden dir meine Kleider sehr umständlich erscheinen, Hanebito. Die haben alle ein Rückenteil.“, murmelte er, während er es sich betrachtete. Zwei lange Risse waren im Leder zu sehen. An den blödesten Stellen. Das würde niemals mehr gut aussehen, selbst wenn er es noch so fein zu nähen vermochte, was sicher nicht der Fall war, da er damit kaum Erfahrung hatte.
 

„Hose reicht doch. Oder stört es dich?“
 

„Mich stört es nicht, aber deinem Fieber wird es nicht gut tun.“ Missfallen zeigte sich auf seinem Gesicht, als er die Stirn in Falten zog und das Hemd zerknüllte und zum Ausgang beförderte. „Du solltest dir bewusst darüber sein, dass hier, so nah an der Hauptstadt der Magier, jeder Tag gefährlich ist, selbst wenn ich dich hier verstecke!“

Er erhob sich und holte sein Messer. Etwas nachlässig warf er es vor den Jungen auf das Moosbett. „Hier, du weißt am besten, wie das aussehen muss. Ich halte das Hemd, du führst das Messer.“
 

Mimoun erstarrte. Hatten sie den Angriff echt so dicht an der Hauptstadt des Feindes geführt? Das war doch leichtsinnig!

Angespannter als noch vor wenigen Augenblicken holte er aus und ließ seine Krallen durch den Stoff gleiten. Ob er tatsächlich noch die wenigen Tagen durchhalten sollte? Wieder glitt sein Blick nervös durch die Höhle.
 

Beeindruckt drehte Dhaôma das Hemd herum. „Echt praktisch.“, nickte er, dann grinste er. „Jetzt die Hose. Wir sollten uns ein wenig beeilen, bald ist gar kein Licht mehr da. Ich möchte hier kein Feuer machen. Das ist zu gefährlich für den Lebensbaum.“

Und schon knüpfte er an der Hüfte des Fremden herum, bis der Knoten nachgab. „Hier auch Hilfe oder ist das zu persönlich?“
 

„Ich will ja nicht, dass du neidisch wirst.“, grinste Mimoun diabolisch, ließ sich aber dennoch dabei helfen. So sparte er seine Kräfte für den Notfall auf.

„Lebensbaum?“, fragte er neugierig und ließ seinen Blick über die gewölbte Decke gleiten.
 

Dhaôma zog ihm die Hose aus, während er lächelte. Die Spitze überging er, denn es freute ihn, dass der Hanebito ihm das erlaubte. Immerhin wollte er wissen, wie das bei den Geflügelten da unten aussah. Fast war er enttäuscht, dass es dem seines Volkes so ähnlich sah.

„Der Lebensbaum ist der Baum, in dem du dich hier befindest. Es ist eine Art Baum, die uralt wird, so dass es scheint, als würden sie ewig leben. Dieser hier ist mindestens achthundert Jahre alt, sonst wäre er niemals dick genug, um mir als Zuflucht zu dienen.“

Er reichte dem Jungen die Hose. „Anziehen.“ Und zur Sicherheit fragte er noch, ob er wüsste, wie man Knöpfe benutzte.
 

Die Angelegenheit gestaltete sich nicht ganz so schwierig, wie ursprünglich erwartet. Einfach und praktisch war diese Art des Verschlusses. Die Hose selbst war weit, viel weiter, als er es gewohnt war. Auch das Hemd war ein wenig zu lang an den Ärmeln, aber damit musste er sich abfinden. Obwohl der Rücken sowieso schon ruiniert war für Magierverhältnisse, da machten die Ärmel nun auch nichts mehr. Mit einem Ruck entfernte er den des rechten Arms. An den linken Ärmel kam er nur mit leichten Verrenkungen heran und es sah danach nicht ganz so elegant aus.

Nach dieser Umziehaktion brauchte Mimoun erst einmal eine Pause und ließ sich auf seinem Mooslager nieder.

„Du bist seltsam, Magier.“, stellte Mimoun eher für sich fest und legte seine unverletzte Hand auf die Schiene an seinem Bruch. „Ich versteh dich einfach nicht.“
 

„Das ist okay, Hanebito.“, lachte der. „Ich verstehe auch viele nicht, mit den meisten von ihnen lebe ich sogar unter einem Dach.“ Er knüllte auch die Hose zusammen und begutachtete den Jungen jetzt noch einmal. In dem schwindenden Licht war er inzwischen schwer auszumachen, aber morgen war ja auch noch ein Tag. „Ich heiße übrigens Dhaôma. Als Magier bin ich ein Versager, deshalb wäre es mir lieber, du nennst mich nicht so.“
 

Der Geflügelte streckte sich auf seinem Lager aus.

„Also ich weiß nicht. Wenn ich dich richtig verstanden hab, hast du die Dornenbüsche wachsen lassen. Du hast es geschafft, mich am Leben zu erhalten. Du verbirgst mich erfolgreich vor deinesgleichen.“ Mimoun fixierte sein Gegenüber in der Dunkelheit. „Versagen ist für mich was anderes.“
 

„Mal darüber nachgedacht, dass das in ihren Augen sogar mehr als Versagen ist? Genau genommen verrate ich sie sogar. Und nachdem sie mich nicht im Krieg verwenden können, weil mir keine starke Kraft zuteil geworden ist, obwohl man gehofft hat, mit mir einen neuen Heiler zu gebären…“

Das letzte Licht floh aus der Höhle und ließ Dunkelheit zurück. Jetzt konnte er den anderen nicht einmal mehr erkennen. „Aber es macht mir auch nichts, so zu sein, wie ich bin. Wie du schon sagtest: so konnte ich dir das Leben retten.“ Frech grinsend streckte er sich. „Wenn du mich brauchst, kannst du rufen. Ich schlafe auf der Grünweide nebenan.“
 

Mimoun starrte noch lange in die Dunkelheit. Selbst wenn der Magier keine übermäßigen Kräfte besaß, dass er sich dennoch so frei bewegen konnte und nicht als Schlachtviech in der ersten Reihe gelandet war, bedeutete wohl, dass seine Familie nicht ganz so arm war. Vielleicht war der Kerl doch nützlicher, als anfangs angenommen.

Doch darüber konnte er sich ja noch morgen den Kopf zerbrechen. In dieser Dunkelheit ließ sich sowieso nichts Sinnvolleres anfangen als schlafen. Doch er hatte die letzte Nacht und den halben Tag verschlafen. Sein Körper wollte seine Ruhe, da er sie so dringend brauchte, doch sein Geist war hellwach, irrte ruhelos durch die Gegend. Sein Blick glitt in die Richtung, in der er den Ausgang wusste. Ob er den Kerl rufen sollte? Er brauchte so einiges. Ein wenig Wasser wäre nicht schlecht. Mimoun wusste nicht mehr, ob sich hier in der Höhle noch welches befand. Etwas geistige Beschäftigung könnte er auch ganz gut gebrauchen. Ach nein. Besser nicht. Nicht, dass er es sich am Ende doch noch mit ihm verscherzte. Selbst wenn Dhaôma kein guter Magier war, die anderen in der Stadt waren es sicher.

Also begnügte er sich damit, den Geräuschen der Nachttiere zu lauschen und diese nachzuahmen.
 

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Ich hoffe, ihr hattet Spaß.

nächstes Kapitel nächste Woche ^^

Beschnuppern

Kapitel 2

Beschnuppern
 

Der nächste Morgen begann mit einem Regenschauer. Dhaôma kannte das schon. Zuerst kamen nur ein paar Tropfen – die Zeit, wo es über den Bäumen schüttete, was das Zeug hielt – und dann würde es kontinuierlich regnen, sachte, weich, das Wasser, das von den Blättern tropfte. Er mochte den Regen. Er war beruhigend und angenehm auf der Haut, aber es war besser, er wurde nicht nass, denn so wie er die Lage einschätzte, würde es erstmal nicht mehr aufhören.

Geschmeidig sprang er von dem Baum, griff sich die Kleider des Hanebito und hängte sie über einen Ast, der in eine Lücke im Blattwerk hineinragte. Damit war gesichert, dass sie einmal vollkommen durchnässt wurden. Feinwaschgang. Dann huschte er in die Höhle. Ein kurzer Blick: War Hanebito schon wach? Nein. Aber das Tuch auf seiner Stirn fehlte. War ihm wohl verloren gegangen.

Vorsichtig erneuerte er es, bevor er möglichst leise begann, das Frühstück aus den Tonkrügen auf dem Regal zusammenzusammeln. Wasser musste er diesmal nicht holen, es kam förmlich von draußen rein.
 

Der Geflügelte registrierte die Geräusche und Bewegungen um ihn herum, auch wenn sie fast im Plätschern des Regens untergingen. Doch solange er nicht offiziell geweckt wurde, sah er keinen Sinn darin, kostbare Energie zu verschwenden. Bedauerlicherweise hatte sich seine geistige Unruhe auf seinen Körper ausgebreitet. Er wollte nicht mehr tatenlos herumliegen und sich betüddeln lassen. Er wollte sich bewegen, etwas tun, auch wenn es nur eine Kleinigkeit war.

„Kann ich helfen?“, fragte Mimoun, während er sich aufrichtete.
 

„Oh?“ Etwas erschrocken drehte sich Dhaôma um, dann lächelte verschämt. „Klar kannst du.“ Er brachte ihm ein paar Kräuter in einer Steinschale. „Mit einer Hand solltest du die mörsern können, oder?“ Ihm gefiel die Situation, wie sie jetzt war, irgendwie. Vielleicht war es nicht Vertrauen und nicht Freundschaft, aber zumindest war diese unterschwellige Feindschaft scheinbar gegangen. Mit mehr Elan als vorher machte er sich wieder ans Werk, begann damit Nüsse zu knacken. Seine Wangen fühlten sich warm an. Warum war er so glücklich?
 

Na ja. War nicht die große Herausforderung, die man ihm da übertragen hatte. Aber wenigstens etwas.

Während seine Hand immer wieder dieselbe Bewegung ausführte, konzentrierten sich seine Sinne völlig auf seinen Gegner. Seine Augen registrierten jede Bewegung, seine Ohren nahmen jedes Geräusch wahr. Momentan schien er guter Laune zu sein. Den Grund dafür konnte Mimoun nicht ausmachen. Aber das war auch nebensächlich. Vielleicht war es so einfacher, an nützliche Informationen heranzukommen. Doch wie es anstellen?

„Stört es deine Familie denn überhaupt nicht, dass du längere Zeit unauffindbar verschwunden bist?“
 

„Nein.“, tat der Braunhaarige diese Frage mit einem halbherzigen Schulterzucken ab. Die letzte Nuss gab unter seinen Handballen nach, dann war das Essen fertig. „Du kannst Pause machen, jetzt wird gefrühstückt. Danach gehe ich zu den Bienen. Das Wetter ist perfekt dafür.“
 

Mimoun stellte die Gerätschaften und Kräuter beiseite und griff nach dem Frühstück. Ein einsamer Junge also, bei dem es sicher auch niemanden interessieren würde, sollte er für immer verschwinden. Kein Wunder, dass er dann versuchte, auf der gegnerischen Seite Kontakte zu knüpfen, befand der Geflügelte. Auch wenn das so ziemlich die hirnrissigste Idee war, die er sich vorstellen konnte.

„Sind die Bienen weit weg?“, fragte er zwischen zwei Bissen.
 

„Ein wenig. Sie sind gefährlich, deshalb sollte man nicht zu nahe an ihnen wohnen. Aber ihr Honig und ihr Wachs werden deinen Wunden gut tun.“ Er kicherte leise. „Und der Regen wird mich sauber spülen.“ Dann legte er den Kopf schief. „Aber das müsstest du eigentlich wissen, oder? Oder gibt es auf den Inseln keine Bienen?“
 

„Einige wenige Völker gibt es. Aber ich wollte hier nicht tatenlos herumsitzen.“

Sein Blick glitt nach draußen. Stimmte. Es regnete noch. Das Plätschern hatte sich in eine angenehme Hintergrundmusik gewandelt, als er begann den anderen zu erforschen. Ob das so gut war, wenn er da hinausging? Ein 'Bad' konnte er nach den letzten zwei Tagen sicher vertragen, nur sollte er sich keine Erkältung oder wieder Fieber zuziehen. Das würde seine Heilung behindern. Er verzog missgelaunt das Gesicht.
 

„Deine Aufgabe als Patient ist es, das Bett zu hüten.“, antwortete Dhaôma geradeheraus. „Nicht abgekochtes Wasser wird deine Wunden nur entzünden, da wird die Wäsche warten müssen.“
 

Mit einem tiefen Seufzen zeigte er an, dass er verstanden hatte, es ihm aber ganz und gar nicht passte. Mimoun griff wieder nach den Kräutern und dem Mörser und begann seine Arbeit fortzusetzen. Von wegen zwei, drei Tage. Wenn es jetzt anfing, ununterbrochen zu regnen, würde er hier nicht vor seiner vollständigen Genesung herausgelassen werden. Und das würde Wochen dauern. Beim letzten Verbandswechsel hatte er seine Wunden ausreichend begutachten können. Und selbst als Nichtarzt hatte er erahnen können, wie schlimm es um ihn gestanden hätte, wäre er nicht gefunden worden.
 

„Mach dir keine Sorgen. Ich bringe dich schon zu dem Ort, wo du deine Leute sehen kannst. Es gibt Möglichkeiten, den Regen abzuhalten.“ Es war eine Vermutung ins Blaue hinein, aber er konnte sich gut vorstellen, dass der Gedanke, noch länger hier bleiben zu müssen, nicht gerade angenehm war.

„Also dann, ich gehe. Die Kräuter sollten ein Pulver sein, also streng dich an!“ Kurz winkte Dhaôma, dann lief er in den Regen hinaus. Es galt ein paar zusätzliche Vorbereitungen zu treffen. Für die nächste Nacht brauchte er einen trockenen Unterstand, er musste zusehen, dass er irgendwo den Ölbaum fand, und natürlich der Honig. Aber der musste warten, bis er wieder zurückkehrte.

Am Ende dauerte es viel länger, als er gedacht hatte. Der Regen hatte die Felsen am Fluss rutschig gemacht und er war ins Wasser gefallen, bevor er an den Bienenstock herangekommen war. Und der Ölbaum hatte keine Samen mehr getragen, weshalb er nach einem kleinen Keimling suchen musste. Es war nicht so leicht gewesen, unter all den Keimlingen gerade den richtigen zu finden. Und sein Unterstand hatte ihm eine Menge Kraft geraubt.

Als er zurückkam, war er erschöpft. Möglichst leise trat er ein, um den Hanebito nicht zu wecken, aber der war wach. Entschuldigend lächelte er ihn an. „Hier ist das Wachs. Verreib es mit den Kräutern.“ Dann ging er noch mal nach draußen, um den Keimling einzupflanzen, damit er nicht einging, bevor er sich magisch darum kümmern konnte.
 

Dass der Magier sich so angeschlichen hatte, hatte Mimoun in Alarmbereitschaft versetzt, doch er entspannte sich schnell wieder. Müde sah der andere aus. Und völlig durchnässt. Wortlos nahm er das Wachs entgegen und verarbeitete es den Anweisungen entsprechend.

„Fang dir bloß keine Erkältung ein.“, rief er nach draußen. „Ich darf ja mein Lager nicht verlassen.“
 

„Ich bin es gewöhnt.“, sagte Dhaôma, als er wieder eintrat. Mit einer fließenden Bewegung entledigte er sich dem Hemd und wrang es aus. „Ich mag das Gefühl, wenn der Regen über die Haut rinnt. Und noch ist es nicht kalt.“ Danach löste er den Zopf und drückte auch aus den Haaren das Wasser. Das war ein Gefühl, das er nicht mochte. Kalte Haare auf nackter Haut. Brr.

Sich schüttelnd ging er zu dem Regal und holte aus einer der Büchsen Wechselkleider.
 

„Klar. Deshalb zitterst du ja auch so.“, schmunzelte der junge Geflügelte amüsiert, während er spielerisch einen Finger in die Pampe, die er kreiert hatte, bohrte.
 

Der Braunhaarige kicherte wieder. „Das ist der Preis.“ Als er fertig war mit umziehen, kam er wieder zu ihm. „Das ist gut, du hast schon angefangen. Das ist die Salbe für deine Wunden. Diese hier ist besser als die letzte, weil sie genau auf dich abgestimmt ist.“

Er nahm etwas auf und prüfte die Konsistenz. Sein Patient hatte gute Arbeit geliefert. Die Pflanzenteile waren fast nur noch Staub. Ob er sich gelangweilt hatte? „Wobei mir einfällt: Gibt es irgendwelche Pflanzen, die ihr nicht vertragt? Manche Tiere können bestimmte Pflanzen nicht essen, ohne davon krank zu werden. Genauso wie wir sterben würden, wenn wir das essen, was die Sperberdrossel an einem normalen Tag zu sich nimmt.“
 

Mimoun nickte und nannte ihm eine kleine Auswahl diverser Pilze und Kräuter. Auch eine Beerensorte war dabei, diese verursachte aber nur Übelkeit und Durchfall. Jedenfalls soweit es die Pflanzen der fliegenden Inseln betraf. Er konnte nicht bestimmen, inwieweit sie mit den Pflanzen hier unten übereinstimmten.

„Genau auf mich abgestimmt? Du kennst mich und meinesgleichen überhaupt nicht. Wie willst du das nach zwei Tagen so einfach bestimmen können?“
 

„Uh?“ Dhaôma kratzte sich am Ohr. War das nicht offensichtlich? „Tja, ich würde sagen, das liegt weniger an dir als an der Schwere der Wunden, die du aufweist. Das vorher war eine Salbe, die ich für mich gemacht hatte, um kleine Kratzer und dergleichen zu behandeln. Sie verhindert lediglich, dass sie sich entzünden. Das jetzt ist dafür gedacht, Wunden abzudecken und möglichst wasserdicht zu verschließen. Du wolltest doch morgen zu deinen Leuten gehen, oder?“ Er lächelte fröhlich. „Außerdem ist Weißmoos drin, das gerbt die Wundränder.“
 

Morgen war also der alles entscheidende Tag. Morgen würde sich zeigen, was der Magier wirklich mit ihm vorhatte. Auch wenn dieser ihm immer wieder beteuerte, ihn zu seinen Leuten zu bringen, wehrte sich in Mimoun etwas, seinem Gegenüber zu vertrauen.

Wortlos, ernst betrachtete der junge Geflügelte den Magier vor sich, versuchte ein Anzeichen für eine Falle oder Hinterlist zu entdecken, doch da war nichts. Und selbst wenn, wer garantierte ihm, dass der Kerl wirklich tun und lassen konnte, was er wollte? Was, wenn er doch heimlich überwacht wurde und die Verfolger nur darauf warteten, dass sich der Feind aus seinem Versteck wagte?
 

„Starr mich nicht so an. Das macht mich nervös.“, murmelte Dhaôma. „Na los, Bein ausstrecken, damit ich da anfangen kann, deine Wunden zu behandeln.“
 

Gehorsam tat Mimoun was ihm gesagt wurde.

Er machte ihn also nervös? Hatte der Kerl etwa entgegen seines Gehabes doch Angst vor ihm? Der Geflügelte legte leicht den Kopf schief und grinste amüsiert. Was für ein lustiges Kerlchen.
 

In der Zwischenzeit entfernte Dhaôma den Verband und tupfte Salbenreste mit einem weichen Tuch weg. Es sah schon wesentlich besser aus, war allerdings noch weit davon entfernt, wirklich verheilt zu sein.

„Ich befürchte, da werden Narben bleiben.“, sagte er leise, drückte etwas herum und entfernte weißliches Sekret. „Schon blöd.“ Dann griff er in die Schüssel und gab großzügig von der Salbe darauf. „Keine Verbände mehr. Stoff hält die Feuchtigkeit, das wäre nicht so gut. Und die Haut muss atmen können.“
 

„Falls es dir entgangen sein sollte, Kleiner.“, erwiderte Mimoun ernst. „Wir haben Krieg. Hier geht es nicht um Schönheit. Hier geht es darum, zu überleben.“ Seine Finger wanderten wie so häufig davor über die zerrissene Haut seines Flügels. „So gut es eben geht.“
 

Dhaôma hielt inne, dann seufzte er. So kalte Worte von so einem jungen Kerl. Es war schon traurig, was ihr Zeitalter aus den Menschen machte. Offenbar war sein Volk nicht allein davon betroffen.

„Kämpfst du denn gerne?“, fragte er und sah ihm in die grünen Augen.
 

Mimoun schnaubte. „Es war meine erste Schlacht. Ob ich gern kämpfe, hat rein gar nichts damit zu tun. Ich versuche meine Familie zu verteidigen.“ Er begutachtete erneut jede einzelne seiner Verletzungen. „Sehr erfolgreich bin ich auf jeden Fall nicht gewesen.“
 

„Tja, ich frage mich, was es deiner Familie gebracht hätte, wenn du gestorben wärst.“ Der Braunhaarige richtete sich auf, hielt noch immer an seinen Augen fest. „Ich frage mich, wessen Herz es gebrochen hätte. Ich frage mich, wessen Herz gebrochen wäre, wärst du erfolgreich gewesen.“
 

Mit einem Knurren sprang Mimoun vor und griff nach Dhaômas Kehle. „Mein Vater starb bereits durch eure Hand, Magier! Ich habe gesehen wie meine Mutter daran zerbrach. Und ich werde euch das niemals vergeben!“ Mit soviel Wucht, wie es seine Kräfte momentan zuließen, stieß er den anderen von sich. Tief einatmend zwang er sich zur Ruhe und zog sich in die letzte Ecke der Höhle zurück.

Ja. Er wusste es. Es gab immer jemanden, der trauernd zurückblieb.
 

Dhaôma blieb zitternd liegen, atmete tief ein und aus, um das Gefühl des Erstickens auszublenden und die aufgekommene Panik zu unterdrücken. Irgendwann fühlte er sich fähig, die Augen zu schließen. „Ja, das mag sein. Aber ich war es nicht, der ihn getötet hat.“, sagte er leise. „Was bitte kann ich für die Verfehlungen eines Volkes, in das ich geboren wurde?“
 

Mimoun antwortete nicht. Er blieb stumm in seiner Ecke sitzen und versuchte Klarheit in seine Gedanken zu bringen.

Den wahren Mörder seines Vaters würde er nie zu fassen kriegen, dass wusste er. Aber es gab noch so viele andere Magier, die sein Volk zu unterdrücken versuchten. Sollte er sich etwa nicht dagegen auflehnen dürfen? Sollte er etwa tatenlos zusehen, wie seine Heimat zerstört wurde?

Und ob dieser hier wirklich so harmlos war, wie er Glauben machen wollte, würde sich erst morgen beweisen.
 

Letztlich stand Dhaôma auf. Dass der Hanebito nicht antwortete, war für ihn schon fast ein Beweis dafür, dass auch er sich nur mitreißen ließ. „Ich frage mich, wann sie begreifen, dass Krieg sinnlos ist. Dass es Hass ist, der den Tod so vieler fordert.“ Am Eingang blieb er stehen, lehnte sich gegen das warme Holz und sah hinaus in den Regen. „Sag, weißt du, warum dieser Krieg herrscht? Kennst du den Grund?“
 

Nein. Er wusste es nicht, gestand sich Mimoun nach einigem Überlegen ein. Es wurde zwar gesagt, dass die Magier grausame Geschöpfe waren, die den Untergang der Geflügelten wünschten, doch ob das auch der wahre Grund war, vermochte er nicht zu sagen. Mimoun konnte noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es überhaupt jemanden gab, der den wahren Grund dafür kannte.

„Ich bin müde.“, murmelte er in der Hoffnung, dass der andere gehen würde.
 

„Kann ich mir vorstellen. Emotionale Schlachten mit einem geschwächten Körper zu schlagen, ist Kräfte zehrend.“ Zufrieden nahm Dhaôma zur Kenntnis, dass der Hanebito nicht geantwortet hatte. Das hieß entweder, dass er den Grund nicht kannte, oder dass er die Schuld nicht auf eines der Völker schieben wollte, in diesem Falle auf seines, weil er das der Magier genug verachtete, um eine solche Schuldzuweisung direkt anzubringen.

Der Braunhaarige lächelte. „Es würde mich freuen, wenn du dir Gedanken darüber machen würdest, warum dieser Kampf nicht endet. Dann wäre ich nicht mehr der einzige.“ Damit verschwand er nach draußen.

Der kurze Weg zu seinem Unterschlupf dauerte nicht lang genug, um ihn zu durchnässen, aber kalt war ihm trotzdem. Innerlich. In diesem Moment war er sich nicht sicher, ob er den morgigen Tag überleben würde. Der Angriff vorhin war schnell gekommen und wegen einer Sache, die nicht wirklich einen Grund zu einem Angriff liefern würde. Er hatte nur Fragen gestellt. Er hatte ihn nicht einmal beschuldigt, nur ein paar generelle Gedanken zum Krieg geäußert. Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht hatten seine Leute Recht und es war lebenswichtig, sich gegen die Hanebito zu wehren. Vielleicht waren die Geflügelten nicht die Opfer, die er in ihnen gesehen hatte. Vielleicht war es für ihn nicht möglich, Freundschaft mit ihnen zu schließen.

Verzagt rollte er sich zusammen und verbarg den Kopf in den Armen. Wenn er wirklich sterben sollte, würde sein Tod mehr bringen, als der eines Kriegers, der ungehört im Wald umkam? Wenn er darüber nachdachte, hatte er eigentlich nichts erreicht mit seiner Freundlichkeit.

„Ich habe mein Versprechen noch nie gebrochen.“, murmelte er auf der Schwelle des Schlafes. Er würde den Hanebito am nächsten Tag zu den Felsen bringen. Und dann sah er weiter.
 

Mimoun saß noch lange in der Dunkelheit der Höhle. Er hatte sich nie über Sinn und Unsinn des Krieges Gedanken gemacht. Die Magier waren ihre Feinde, das wurde ihm schon seit frühster Jugend immer wieder eingeschärft. Die Magier hatten seine Familie zerstört. Die Magier mussten vernichtet werden, bevor sie das ganze Volk ausrotteten.

Und nun saß er friedlich mit einem von ihnen zusammen, aß und plauderte. Vielleicht war das ja gerade sein größter Fehler gewesen. Er hätte sich nie mit dem Magier unterhalten dürfen. Er hätte stumm alles ertragen müssen, um bei der nächstbesten Gelegenheit zu fliehen.

Sein Blick glitt zum Ausgang. Vielleicht sollte er das tun. Vielleicht sollte er von hier verschwinden, bevor der nächste Morgen anbrach.

Mimoun hatte sich schon halb erhoben, als er sich wieder zurücksinken ließ. Warum hatte ihm der Magier nur diese verwirrenden Gedanken in den Kopf setzen müssen? Was bezweckte er damit? Hoffte er etwa, so den Krieg zu beenden? Wenn er ein kleines Licht in der Armee des Feindes auf seine Seite zog?

Mit einem Seufzen zog er sich auf sein Lager zurück. Er würde den Morgen abwarten.
 

Am nächsten Morgen brachte Dhaôma zuerst Wasser in die Höhle, bevor er wortlos wieder nach draußen ging. Wasser am Boden und Wasser von oben, er nahm es nicht wahr. Er konzentrierte all seine Magie auf den Keimling des Ölbaumes, sah zu, wie er wuchs und gedieh, wie er sich wand und streckte, um größer zu werden. Auch er kämpfte ums Überleben, musste größer werden und würde schon in ein paar Minuten sterben. Sobald er groß genug war.

Das erste Blatt schälte sich von der Ranke, aber es war noch nicht groß genug, um als Schirm zu dienen. Es wurde anstrengend, die Konzentration zu halten, aber er zwang sich, durchzuhalten. Zwei Blätter, drei, vier. Das war groß genug für ihn, also ließ er noch ein fünftes wachsen, bevor er seine Arme zurückzog. Wie immer leuchteten die Tätowierungen noch ein wenig nach, bevor alle Magie versiegte. Er war fertig und brach die Blätter ab.
 

Die Bewegungen um ihn herum rissen ihn auch heute wieder aus seinem Schlaf. Doch der andere reagierte nicht darauf, schien nicht einmal besonders achtsam und vorsichtig wie die Tage davor. Auch ihn schien das Gespräch vom letzten Abend mitgenommen zu haben.

Als Dhaôma sich wortlos wieder verzog, erhob sich Mimoun und folgte zum Ausgang. Noch innerhalb des Baumes lehnte er sich an die Wand und beobachtete das Treiben da draußen. Sprachlos verfolgte er, wie das kleine Pflänzchen unter der Hand und Anleitung des Magiers wuchs und gedieh.

„Beeindruckend. Ich wusste gar nicht, dass ihr auch so was könnt.“ Er stockte kurz. „Ich meine, du hast zwar erwähnt, dass du die Dornenbüsche hast wachsen lassen, aber das so aus der Nähe zu sehen, ist beeindruckend.“
 

„Danke.“, erlaubte sich Dhaôma ein flüchtiges Lächeln. Er legte die beiden Blätter in den Eingang, um sie ein wenig welken zu lassen, dann ging er zum Regal. „Hier, Frühstück. Wir haben einen langen Weg vor uns. Falls du dich nicht fit genug fühlst, solltest du es lieber vorher sagen.“

Langsam begann er zu essen, während er sich zu entspannen versuchte. Die Kraft, die er gerade verloren hatte, würde ihm später sicher fehlen. Der einzige Vorteil war, dass sein Mitwanderer verletzt war.
 

Ein Schnauben erklang. „Ich war schon die ganze Zeit nicht begeistert hier zu sein und du bist es jetzt anscheinend auch nicht mehr. Ich glaube, es ist zu unser beider Vorteil, wenn wir das hier so schnell wie möglich hinter uns bringen.“

Mimouns Blick glitt über die Landschaft, die vor der Höhle lag, und blieb an etwas hängen. „Ob meine Sachen jetzt nass genug sind?“, sinnierte er halb zu sich selbst.
 

„Ja, sind sie. Kein Staub, kein Schweiß, kein Blut mehr.“ Der Braunhaarige kicherte. Er hatte sie vergessen. „Wir nehmen sie mit, dann können sie vielleicht unterwegs trocknen.“ Ausbessern würde sie der Hanebito dann selbst, wie er das sah.

Er war über die Bemerkung, dass er nicht begeistert war, hier zu sein, hinweggegangen. Natürlich war es besser so. Hanebito schien sich bei ihm nicht wohl zu fühlen. Und sich aufzwingen wollte er auch nicht. Aber er fand es schade, dass die Unleidlichkeiten ihrer beiden Völker für ein schier unüberwindbares Misstrauen sorgten.

Müde schloss er die Augen. Warum war es plötzlich so anstrengend geworden, diesen Mann in der Nähe zu haben?
 

„Hoffen wir mal.“ Mimoun wandte sich ab und ließ sich wieder an seinem Lager nieder, um zu frühstücken. „Ich würde lieber in meinen eigenen Sachen Zuhause auftauchen. Ich werde sowieso schon in Erklärungsnöte geraten.“ Der Geflügelte griff beherzt zu und schlug sich ordentlich den Bauch voll. Niemand konnte voraussagen, was ihn nun erwarten würde.

Währenddessen glitt sein Blick immer wieder zu seinen Rüstungsteilen. Die würde er auch noch mitschleppen müssen, sollte es tatsächlich nach Hause gehen.
 

„Willst du sie anlegen?“, fragte Dhaôma, dem der Blick nicht entgangen war. „Sie sind ziemlich schwer.“
 

„Mitnehmen auf jeden Fall. Wir gehören zu den wenigen Glücklichen, die ihren Angehörigen bestatten konnten. Es ist seine. Außerdem ist das Zeug teuer.“

Mimoun stockte und schüttelte irritiert den Kopf. Warum erzählte er so was? Es ging den Magier doch nichts an.
 

„Verstehe. Aber ich bin nicht stark genug, sie zu tragen. Du wirst sie also doch anlegen müssen. Oder du holst sie später ab, wenn dir jemand tragen helfen kann.“ Dhaôma war fertig mit essen und stellte die Schale beiseite.
 

Mimoun seufzte. Auch er stellte die Schüssel zur Seite.

„Nur wegen einer Rüstung, sei sie noch so teuer, werden sie niemanden so tief in Feindesland schicken.“ Forschend begutachtete der Geflügelte sein Gegenüber. „Machen wir es so. Ich lege sie probehalber an. Sollte ich mich in der Lage sehen zu marschieren, verschwinden wir von hier. Wenn nicht, warte ich noch ein paar Tage.“
 

Wegen seiner Rüstung wollte er noch länger bleiben? Das war wirklich faszinierend. Niemals hatte er zu seinem Vater eine derart tiefe Bindung besessen, dass er an ihn erinnert werden wollte. Aber da war noch etwas anderes.

„Wie geübt bist du im Laufen?“, wollte Dhaôma neugierig wissen. Er selbst würde nie wieder laufen, wenn er fliegen könnte. Dazu stellte er sich das Gefühl viel zu berauschend vor.
 

Prüfend wackelte Mimoun mit den Zehen. „Also laufen hat man mir beigebracht. Die Frage ist nur wie weit es tatsächlich ist. Diese Dinger...“ Er deutete auf seine Flügel. „...sind nämlich nicht nur zur Zierde gedacht.“
 

Er hatte sich so etwas in der Art schon gedacht. Hanebitos Beine waren um einiges schlanker als seine eigenen, die ihn täglich kilometerweit trugen.

„Dann wird es für dich Zeit, ihnen eine größere Bedeutung zuzuschreiben, deinen Beinen.“ Dhaôma ließ jede Emotion aus seiner Stimme heraus, sagte es ganz sachlich. „Los, ich helfe dir mit der Rüstung.“ Immerhin hatte er sie ausgezogen, da sollte er in der Lage sein, sie wieder anzuziehen.
 

Zum Fußgänger degradiert. Mimoun würde sich an den Gedanken erst noch gewöhnen müssen, nie mehr fliegen zu können. Bisher hatte er versucht, es zu verdrängen. Immer wieder, immer aufs Neue die Konfrontation mit dieser Tatsache hinausgezögert.

Der Geflügelte begab sich in die Hocke und wies an, welches Teil als nächstes kam und wie es zu befestigen war. Doch er ließ sie nicht so fest schnüren, damit sie nicht auf die Wunden drücken. Abschließend erhob er sich und spielte ein wenig mit den Flügeln, ließ die Schultern kreisen, um den anständigen Sitz zu überprüfen. Zu locker, für einen möglichen Kampf ungeeignet, doch für einen einfachen Transport geeignet. Das Gewicht störte ihn weniger. Er hatte sich schon vor einem Jahr daran gewöhnen müssen. Nur ob er einen Fußmarsch durchhalten würde, blieb abzuwarten.

„Wie weit ist es exakt?“
 

„Ich brauche mindestens drei volle Tage zu den Klippen.“, gab Dhaôma Auskunft. „Und auch dann ist nicht gesagt, ob du deine Leute direkt siehst. Manchmal warte ich Tage darauf, bis ich sie sehen kann.“

Offenbar machte die Rüstung keine Probleme, also konnten sie losgehen. Er nahm eines der Blätter und legte es dem Hanebito um die Schultern. Die Flügel waren im Weg, aber das ließ sich nicht ändern. Dann legte er sich das zweite Blatt um und nahm seinen Rucksack auf. „Gehen wir. Da es wohl erst morgen aufhört zu regnen, sollten wir heute zumindest bis ins Bieberversteck kommen.“
 

„Uff.“ Er hatte ja damit gerechnet, dass es nicht gerade um die Ecke war, aber drei Tage? Bei jemanden, der sich tagtäglich nur auf seine Füße verlassen musste und der unverletzt war. Na da konnte er sich auf einen wirklich langen Marsch gefasst machen.

„Nach Euch.“ Mimoun deutete eine leichte Verbeugung an.
 

Leicht überrascht hob der Braunhaarige Magier eine Augenbraue. „Mach dich nicht lächerlich.“ Aber er ging vor. Immerhin kannte der Hanebito den Weg nicht. Ohne ihn war er in diesem Wald verloren, denn er hatte keine Orientierung, da er nicht einmal wusste, wo er sich befand.
 

Achselzuckend folgte Mimoun. Da war jemand echt schlecht drauf. Ob der Magier nervös war wegen dem, was kommen würde?

Fast automatisch begann sich der Geflügelte anzuspannen und auf die Geräusche des Waldes zu lauschen, ob irgendetwas verdächtig war.
 

Dhaôma hielt sich zurück mit dem Tempo, versuchte auf seinen Patienten zu achten und sich dessen Schritten anzupassen. Dementsprechend beobachtete er aus den Augenwinkeln dessen Anspannung.

Er seufzte. „Entspann dich. Um die Uhrzeit sind draußen keine Raubtiere unterwegs. Noch dazu siehst du momentan aus wie eine Krabbe. Welches Tier könnte schon eine so große Krabbe knacken?“
 

„Moment. Lass mich überlegen.“ Mimoun kratzte sich am Kopf. „Ich glaub, es läuft zweibeinig durch die Gegend. Man trifft es eigentlich immer in Gruppen an. Sehr gefährliche Spezies, die immer aus dem Hinterhalt und mit unfairen Mitteln angreift.“
 

Schweigend musterte Dhaôma ihn, beobachtete wie das Wasser die aufgekratzten Haare wieder glatt strich. Letztlich wandte er sich ab. „In diesem Wald gibt es keine Magier. Nicht, wenn sie nicht müssen. Da, wo wir hingehen, gibt es nichts, das sie interessieren würde, also werden sie dort auch nicht sein, zumal die Felsen keinen Schutz bieten.“ Sacht schob er einige Äste beiseite, um Hanebito das Durchkommen zu erleichtern. „Aber du kannst gerne weiterhin die Umgebung beobachten und deine Sinne dir Streiche spielen lassen. Es wird nichts daran ändern, dass wir unser Ziel erreichen.“
 

„Willst du es mir verdenken? Ich bin in Feindesland, muss mich auf das Wort eines Jungen verlassen, der eigentlich zum Gegner gehört.“ Mimoun klappte seine Flügel so dicht an den Körper wie möglich, doch dieses enge Gestrüpp zerrte an seinen Nerven und seinen Kräften. „Hab ich schon erwähnt, dass ich aus dir nicht schlau werde?“
 

„Nein.“ Leise lachte Dhaôma. „Aber ich kann es verstehen. Wie sollte man Ehrlichkeit verstehen können, wenn man immer nur nach versteckten Motiven sucht?“ Er schenkte ihm ein Zwinkern, bevor er die Zweige wieder losließ.
 

Wortlos betrachtete er sein Gegenüber. Forschend. „Es stimmt, was man über euch Magier sagt. Ihr seid grausam. Meine ganze Weltanschauung geht deinetwegen den Bach runter.“, gab er offen zu. „Das Leben war so einfach vorher.“
 

„Es ist immer einfach, nicht für sich selbst denken zu müssen.“ Achselzuckend schob Dhaôma einen Ast hinter einen Baum. Seine Stimme wurde kälter, verachtend. „Es ist so schwach, einfach dem zu folgen, was andere einem sagen, niemals Dinge zu hinterfragen und Befehle zu den eigenen Überzeugungen zu machen. Ein einfaches Leben im Schatten anderer.“
 

„Es hilft uns beim Überleben.“ Sein Schritt verlangsamte sich, stoppte schließlich. „Und dich mal ausgenommen, stimmte alles, was ich von deinesgleichen gehört hatte, mit dem überein, was ich selbst an Erfahrungen machen musste.“ Sein Blick wurde traurig. „Du scheinst dein Leben frei fernab des Kriegsgeschehens führen zu können. Wie willst du das Leben von jemandem verstehen, der mittendrin steckt?“
 

„Sicher hilft es beim Überleben.“, stimmte Dhaôma zu, blieb ebenfalls stehen und sah ihn abschätzig an. „Oder vielleicht ist es eher so, dass ihr deshalb sterbt?“ Dann seufzte er und schüttelte den Kopf. „Ich sage nicht, dass wir im Recht sind. Ich kenne die Gründe dieses Kampfes genauso wenig wie du. Aber auch ich lebe nicht hinterm Blauen Mond. Mein Vater starb, nachdem er uns eure Gefährlichkeit predigte. Meine ältere Schwester hatte das Pech, zu selbstbewusst in den Kampf zu ziehen. Ich habe gesehen, wie sie zerrissen wurde. Zum Glück für sie war sie da schon tot. Mein ältester Bruder beschützte meinen zweitältesten und ist dabei umgekommen. Radarr ist deshalb geblendet von Hass. Meine Mutter verlor schon sechs Jahre nach meiner Geburt das Vertrauen in mich, weil ich offenbar nicht das mitbekommen hatte, was dazu notwendig wäre, ihren Gatten zu rächen.“

Sein Lächeln wurde wieder kalt und er lehnte sich etwas vor. „Wie du siehst, hätte ich genug Gründe, euch zu hassen, aber ich habe dennoch nicht das Messer erhoben und dich umgebracht, nachdem es die Krieger versäumt hatten, dich zu töten.“ Ruckartig richtete er sich wieder auf. „Ich glaube einfach nicht, dass man alle Menschen über einen Kamm scheren kann, ob sie Flügel haben oder Magie einsetzen oder mit Schuppen bedeckt sind. Komm weiter, sonst kommen wir nie an.“ Damit setzte er seinen Weg fort.
 

Es vergingen noch einige Augenblicke, bevor Mimoun tatsächlich folgte. Nachdem er all das Furchtbare, das seiner Familie zugestoßen war, gesehen hatte, wie konnte er dann so vertrauensvoll einem Feind Zuflucht gewähren? Wie war es ihm gelungen, so unschuldig im Angesicht der Grausamkeiten des Lebens zu bleiben?

Mimoun versuchte keine weiteren Gespräche in Gang zu bringen. Diese endeten in letzter Zeit viel zu häufig zu seinen Ungunsten. Vielmehr konzentrierte er sich darauf, sich durch das Unterholz zu kämpfen. Er spürte seine Kräfte schwinden, doch sich körperlich anzustrengen half ihm, lästige Gedanken loszuwerden.

Schließlich ging es nicht mehr. Mimoun lehnte sich gegen einen Baum. „Pause. Bitte.“, keuchte er. „Nur kurz.“
 

Natürlich war Dhaôma nicht entgangen, dass der Hanebito langsamer wurde und hatte sich angepasst. Schon vor einiger Zeit hatte er eine Pause einberufen wollen, aber der Blick war so verbissen gewesen, dass er ihn gelassen hatte. Seine eigenen Grenzen zu kennen war wichtig. Dieser junge Mann kannte sie offenbar nicht.

„Geh noch drei Bäume weiter. Da vorne sieht es so aus, als gäbe es einen trockenen Platz unter dem dicken Ast.“, deutete er auf besagten Baum.
 

Mit einem abgehakten Nicken zeigte sich Mimoun einverstanden.

Endlich an der besagten Stelle angekommen, ließ er sich mit einem erleichterten Seufzen zu Boden gleiten. Obwohl die Bewegung doch eher einem Fallen glich. „Ich hasse Laufen jetzt schon.“ Sein Kopf kam an der Baumrinde zur Ruhe und mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich darauf, seine Atmung wieder ruhig und gleichmäßig zu bekommen.
 

„Es ist gar nicht so schlecht. Du brauchst nur ein bisschen Übung.“ Dhaôma ließ sich neben ihn fallen und kramte in seinem Rucksack, bis er den Wasserschlauch zu Tage förderte. „Hier, trink.“
 

Mimoun gab ein abfälliges Geräusch von sich, nahm den Wasserschlauch dankend entgegen. „Das sagst du nur, weil du es nicht anders kennst.“
 

„Richtig.“ Der Braunhaarige lachte leise. Wenn er fliegen könnte, würde er es sich auch überlegen, noch einmal zu laufen.

Dann verfiel er in Schweigen. Die Unterarme auf die Knie gestützt, den Blick auf die Blätter vor sich gerichtet, die in unregelmäßigen Abständen von Regentropfen getroffen wurden, dachte er über etwas nach, was ihm schon seit einiger Zeit keine Ruhe ließ. Bis jetzt hatte er es noch nicht angesprochen, hatte sich nicht getraut. Aber irgendwann musste es zur Sprache kommen, nicht wahr?

„Hanebito. Was werden deine Leute sagen, wenn du zu ihnen zurückkehrst? Du kannst nicht mehr fliegen. Du bist nutzlos geworden für sie, denn du kannst die Inseln nicht mehr verlassen. Können sie dich heilen? Dir deine Freiheit wiedergeben? Oder werden sie dich meinetwegen im Stich lassen? Weil ich dir geholfen habe…“
 

„Heilen kann das niemand.“, erklärte Mimoun niedergeschlagen. „Und was dich angeht... Sie werden sicher wissen wollen, was ich für nützliche Informationen aus dir habe rauspressen können. Schließlich muss ich dich ja dazu gezwungen haben.“ Ja. Was würde jetzt aus ihm werden? „Aber du hast Recht. Zumindest was das unmittelbare Kriegsgeschehen angeht, bin ich nutzlos für sie geworden. Aber hinter der Front, bei den Verletzten könnte ich aushelfen. Oder bei der Nahrungsbeschaffung, wohl hauptsächlich Bauer. Ich find schon eine Beschäftigung.“ Dabei behagte ihm die Vorstellung, sich nun als Bauer betätigen zu müssen, nicht wirklich.
 

„Das ist gut.“, nickte Dhaôma, dann lehnte er sich aufseufzend zurück und schloss die Augen. Also brauchte er sich keine Sorgen zu machen, dass sie seinen Hanebito vielleicht alleine lassen würden, dass seine Mühe umsonst gewesen wäre. Vielleicht war es kein schöner Gedanke, Bauer zu werden, denn er hatte unwillig geklungen, aber es war weit vom Krieg entfernt. Die Magier kamen nicht hinauf auf die Inseln, also würden sie ihn auch nicht töten. Im Grunde war das doch ein Anlass zur Freude.
 

Mimoun stützte seinen Kopf auf die Hand und betrachtete sein Gegenüber. Dieser sah tatsächlich beruhigt aus. Fast so als würde sich dieser Magier Sorgen um das Schicksal eines Geflügelten machen.

Und noch etwas ging ihm auf. Er redete hier ganz entspannt mit ihm. Warum ging er wie selbstverständlich davon aus, dass Dhaôma sein Wort halten und ihn tatsächlich nach Hause bringen würde?

„Ach, verdammt.“, murmelte Mimoun, ließ sich weiter nach unten rutschen, bis er in der Waagerechten war und legte seinen Arm über das Gesicht. Gut. Ging er mal davon aus, dass dieser Magier so harmlos war, wie er vorgab zu sein, sinnierte Mimoun in Gedanken. Das bedeutete nicht zwangsläufig, dass der Rest seines Volkes genauso harmlos war. Aber auch nicht, dass es nicht noch mehr wie diesen hier gab. Doch das würde keiner von ihnen offen zugeben, waren also nicht erkennbar. Diese wären aber unschuldig, oder?

„Ach, verdammt.“, seufzte er erneut.
 

Dhaôma merkte auf. Anscheinend war der Hanebito doch erschöpfter, als er gedacht hatte. Ob er jetzt langsam realisierte, wie begrenzt seine Möglichkeiten waren, vor ihm eine Stärke zu zeigen, die er nicht besaß? Das wäre beruhigend.

„Mach dir keine Gedanken. Du kannst so lange rasten, wie du willst. Es ist nicht so, als würde irgendjemand dort auf uns warten, also macht es gar nichts, wenn wir zwei oder drei Tage länger brauchen.“, versuchte er ihn aufzumuntern.
 

„Gut zu wissen.“, lachte Mimoun. Darüber hatte er sich ja nun so gar keine Gedanken gemacht. „Aber je länger ich meine Familie in dem Glauben lasse, ich wäre tot, desto länger leiden sie unnötig.“ Er versuchte sich wieder zu erheben, doch seine Kräfte scheiterten bereits daran. „Doch, vielleicht sollte ich auf dieses Angebot eingehen.“
 

„Das solltest du tatsächlich. Du solltest dringend lernen, besser einzuschätzen, zu was du fähig bist und zu was nicht.“ Er kicherte. „Auch wenn Krieger häufig dazu neigen, stärker sein zu wollen, als es gut für sie ist.“
 

„Du kennst doch sicher dieses Jäger-Beute-Prinzip. Die Schwachen trifft es immer zuerst.“ Er streckte sich ein bisschen, suchte sich eine bequemere Position. „Außerdem bin ich noch jung. Ich lerne erst noch die Lektionen des Lebens.“
 

„Ich lebe auch immer noch. Und ich bin nicht stark.“ Dhaôma strich sich durch die Haare. „Aber ich weiß, was du meinst. Deshalb habe ich beschlossen, dass es nicht schlecht ist, schwach zu sein, solange ich einschätzen kann, ob ich in der Lage bin, zu überleben.“
 

„Du hast dir nur eine andere Überlebensstrategie zurechtgelegt. Eine deinen Kräften angemessene. Tarnen und verbergen.“ Sein Blick folgte den Tropfen auf ihrem Weg nach unten. „Wir müssen uns halt auf unsere körperliche Stärke verlassen.“
 

„Und du musst dich jetzt auf deine Intuition verlassen, bis du wieder etwas hast, worauf du dich verlassen kannst.“, schmetterte Dhaôma diese Aussage ab. Eigentlich würde er ihm lieber sagen, dass er ebenfalls schwach war, dass diese Art des Überlebens, die er selbst vertrat, auch für ihn eine Option war, aber es schien zu viel des Guten. „Momentan bist du zu schwach, um dich auf deinen Körper zu verlassen.“ Und mit einem frechen Funkeln in den Augen fügte er hinzu: „Oder vielleicht ist es für dich besser, dich auf deinen Sturkopf zu verlassen, denn er scheint eine nicht geringe Quelle deiner Kraft auszumachen.“
 

Bezeichnend wanderte eine Augenbraue in die Höhe. „Sieh es als Glück für dich an, sonst wäre unser Treffen vielleicht anders ausgegangen. Außerdem sollte man dir beibringen, dass nicht jeder Wahrheiten so gut verträgt.“ Er setzte sich doch wieder auf. „Ich hab nämlich gar keinen Sturkopf.“
 

Still grinste Dhaôma und lehnte sich wieder zurück. Eigentlich war der Mann ganz lustig. Und wie er vorher schon bemerkt hatte, kannte er sich selbst ganz und gar nicht.

„Du solltest schlafen.“, bemerkte er leise. „Damit wir heute noch ein Stückchen schaffen.“ Denn wie es aussah, hatte er sich gewaltig verschätzt. Sie würden das Bieberversteck heute wohl nicht mehr erreichen.
 

Wieder nickte Mimoun ergeben. „Weck mich in ein oder zwei Stunden.“, merkte er noch an, bevor sein erschöpfter Körper sein Recht forderte.
 

Dhaôma nickte. Dann würde er in der Zwischenzeit etwas zu essen suchen.
 

Zwei Stunden später schüttelte er den anderen wach. „Es gibt etwas zu essen, danach gehen wir weiter, okay?“
 

Mimoun fühlte sich nicht wirklich erholt. Es fiel ihm schwer, den Schlaf abzuschütteln. Vielleicht würde es ja während des Essens besser werden. Träge griff er nach den dargebotenen Speisen, doch wirklich dazu durchringen etwas zu essen, konnte er sich nicht. Vielmehr kaute er nur lustlos darauf herum.
 

Sie gingen danach weiter. Wie vorher war das Tempo nicht gerade das schnellste und der Hanebito schwieg eisern. Dhaôma vermutete, dass es daran lag, dass er mit sich kämpfte, seine Müdigkeit nicht die Oberhand gewinnen zu lassen.

Zweimal noch beorderte er Pausen, bevor sie ihr Nachtlager unter einem vorhängenden Felsen aufschlugen. Es roch nach Raubtier und Dhaôma hoffte inständig, dass dieses Tier nicht gerade in dieser Nacht zurückkehrte. Sie hatten nicht einmal die Hälfte des Weges geschafft, den er für sie geplant hatte.

Wenn er nicht so aussehen würde wie ein Magier, hätte er selbst vorlaufen und die anderen zur Hilfe holen können, aber das war keine Option. Sie würden ihn höchstwahrscheinlich töten und ihm keinen Glauben schenken, so dass Hanebito hier alleine bleiben musste. Das war der Grund, warum er es ganz alleine schaffen musste, den Weg zu gehen. Aber es war ein gutes Training für seine Beine.
 

Über solcherlei Dinge machte sich Mimoun momentan keine Gedanken. Seine Beine fühlten sich schwer an, zitterten leicht aufgrund der ungewohnten Anstrengungen. Ohne noch etwas zu sich zu nehmen, suchte sich der Geflügelte eine bequem aussehende Stelle und rollte sich dort zusammen. Er dachte nicht einmal daran, sich der Rüstung zu entledigen. Das hätte Kräfte beansprucht, die er heute definitiv nicht mehr aufbringen konnte. Kaum hatte sein Kopf den Boden berührt, war er eingeschlafen.

Das Biberversteck

Kapitel 3

Das Biberversteck
 

In den frühen Morgenstunden hörte es auf zu regnen. Dhaôma kletterte auf einen der Bäume und wartete auf die Sonne, um deren Aufgang mitzuerleben. Leider war es immer noch viel zu bewölkt, um viel zu sehen. Danach weckte er den Hanebito.

„Fühlst du dich stark genug, um weiterzugehen?“, wollte er wissen.
 

Dieser lauschte mit geschlossenen Augen in seinen Körper hinein. Es sah nicht wirklich gut aus. So zerschlagen hatte er sich seit Ewigkeiten nicht gefühlt.

„Was ist, wenn ich nein sage?“
 

„Dann treffe ich Vorbereitungen, hier zu bleiben. Sprich, ich errichte einen effektiven Schutz gegen den eigentlichen Bewohner dieser Höhle.“, erklärte Dhaôma ernst. „Es ist nicht lustig, gegen einen Vielfraß oder Waldlöwen zu kämpfen.“
 

„Vor allem, wenn ich keine Hilfe sein kann.“, gestand Mimoun zerknirscht ein, ohne auch nur einen Finger zu bewegen. Was war nur los mit ihm? Er fühlte sich noch immer so müde. Und er hatte brennenden Durst. Doch ihre Sicherheit ging erst einmal vor.

„Kümmerst du dich bitte darum?“
 

„Selbstverständlich.“ Dass es ihm so schlecht gehen würde, hätte er nicht gedacht. Andererseits hatte er eine offene Bauchwunde gehabt.

Vorsichtig legte er ihm die Hand auf die Stirn. Fieber. Nur leicht, aber wahrscheinlich genug, um es ihn richtig fühlen zu lassen. „Hier, trink das.“, hielt er ihm den Wasserschlauch hin. „Kannst du dich genug bewegen, um die Wunden selbst neu zu salben oder soll ich das machen?“
 

Gierig trank der Geflügelte. Selbst diese kurze Bewegung hatte ihn erschöpft. Sich selbst die Wunden zu verbinden war ein Ding der Unmöglichkeit. „Später. Ich mag keine ungebetenen Gäste.“
 

„Jetzt, denn ich will nicht, dass das Fieber schlimmer wird. Es ist Tag, da geistern Raubtiere selten durch die Gegend. Wenn, dann wäre es schon in der Dämmerung zurückgekommen.“

Er begann schon, die ersten Schnallen der Rüstung zu lösen, um an alle Wunden heranzukommen. Wie hatte der Ast es nur geschafft, an diesem Lederpanzer vorbeizukommen? Vielleicht hätte er darauf bestehen sollen, dieses Ding wegzulassen. Es war für ihn sowieso nutzlos, da er sowieso nicht mehr kämpfen konnte.
 

Mimoun half mit, so gut es ging. Seine Gedanken krochen träge durch seinen Kopf. In solch einer Lage konnte er keine vernünftige Diskussion führen. Sich in aufrecht sitzender Position zu halten, ging sogar, wenn es nur nicht so einen verdammten Brummschädel verursachen würde. Müde griff er sich an die Stirn, während er Dhaôma widerspruchslos machen ließ.
 

Dhaôma hatte ehrlich Mühe, seine Arbeit zu verrichten, doch am Ende lag der Hanebito wieder auf dem Boden und schlief. Alle Wunden waren versorgt, jetzt konnte er sich darum kümmern, dass sie hier möglichst sicher waren. Die Dornenranken wachsen lassen war nicht das Problem, die kleine Blume in dem Samenbeutel zu suchen, die jeden Geruchsinn verwirrte und damit Tiere fernhielt, gestaltete sich schon schwieriger. Gegen Mittag hatte er seine Kräfte erschöpft und ruhte sich selbst aus, damit er am Abend noch ein wenig mehr schaffen konnte. Er brauchte noch ein paar Kräuter, Feuerholz und wenn möglich einen Behälter, den er zum Kochen nutzen konnte. Und Wasser musste er auch finden.

Die Zeit ging schnell vorbei und schließlich wurde es Nacht. Der Geflügelte hatte sich kaum bewegt, hatte nur manchmal was getrunken, um gleich weiterzuschlafen. Es war gut so. Vielleicht kam er wieder zu Kräften.

Am Vormittag des nächsten Tages hatte Dhaôma seinen Tee endlich fertig. Er weckte den jungen Mann, damit er ihn trank und vielleicht etwas aß. „Das hier wird das Fieber senken und die Schmerzen lindern.“, drückte er ihm die Schale in die Hand.
 

Mimoun trank einen Schluck und konnte nur knapp unterdrücken ihn wieder auszuspucken. „Das... ist... widerlich.“, würgte er, trank aber brav alles aus. „Jetzt auf meine letzten Atemzüge, hast du wohl vor, mich zu vergiften.“ Dieses bittere Zeug hinterließ irgendwie einen richtig fiesen Nachgeschmack. Vielleicht konnten die Beeren ihn ein wenig überdecken, hoffte Mimoun und griff zu.
 

„Sei kein Weichei. Medizin muss bitter sein, hat dir das noch niemand gesagt?“ Dhaôma lachte. Dieser Geflügelte war lustig und im gleichen Zuge, wie die Bitterkeit des Getränkes seine Geschmacksknospen gereizt hatte, hatten sich die kurzen schwarzen Haare gesträubt. Faszinierend. Amüsant.

Er griff nach seinem Buch. „Du kannst dich im Übrigen in Sicherheit wiegen. Ich hab den Dornenwall fertig.“
 

Mimoun versuchte ihn mit bösen Blicken zu durchbohren. Er drehte die Schüssel um, um zu zeigen, dass sie leer war. „Ich hab’s doch ausgetrunken. Willst du mir jetzt etwa verbieten, meine Meinung kund zu tun? Wenn das Zeug eklig ist, dann kann ich das doch erwähnen.“
 

Wie süß, eine Rechtfertigung. Und noch dazu eine so sinnlose. „Warum glaubst du, dass das ein Angriff auf dich war?“, wollte er wissen.
 

„Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber 'sei kein Weichei' ist unter meinesgleichen nicht unbedingt ein Kompliment.“ Der Geflügelte suchte sich eine Wand, an die er sich anlehnen konnte. „Lass gut sein. Ist nicht so wild.“, seufzte er.
 

Wenn das so war, dann brauchte er auch nicht zu erklären, dass es als Spaß gemeint war. Musste er in Zukunft einfach vorsichtiger sein mit seinen Späßen. Vielleicht kannten die Hanebito so was nicht.

„Du solltest lieber schlafen.“, sagte er stattdessen und blätterte in seinem Buch vor. „Du bist immer noch nicht wieder richtig wach.“
 

„Ehrlich? Ist mir gar nicht aufgefallen.“, schmunzelte der Geflügelte. Sein Blick fiel auf das Buch. „Was ist das?“, versuchte er Zeit zu schinden, denn sich hinzulegen, würde wieder Anstrengung bedeuten.
 

„Das ist der Weg zu meinem Traum.“ Mit einem verträumten Lächeln klappte er das Buch zu und strich über den ledernen Einband. „Ich habe es letztens gefunden, als ich Urgroßvaters Bibliothek durchsucht habe. Es bleibt nur zu hoffen, dass es auch die Wahrheit sagt.“
 

Mimoun legte den Kopf schief und sah sein Gegenüber auffordernd an. War doch klar, dass er nach so einer Info mehr wissen wollen würde. Schließlich versuchte er sich mit einem Feind zu verbrüdern. Da konnte dieser Traum keine Kleinigkeit sein.
 

„Du kannst nicht lesen, oder?“, fragte Dhaôma und hielt ihm den Buchrücken mehr ins Licht. „Es geht hier um die Legende der Drachenreiter. Kennst du die Sage?“
 

„Ich habe mich nie mit Geschichte beschäftigt oder gar mit Legenden.“ Er zog die Beine an den Körper. „Ja, ja. Ich weiß schon, was du sagen willst. Hättest du dich mehr mit der Geschichte deines Volkes und des Krieges auseinander gesetzt, würdest du nicht mittendrin stecken und andere für dich denken lassen.“, äffte er Stimme und Tonlage des Magiers nach. Mit einem auffordernden Blick stützte er Arm und Kopf auf den Knien ab. „Also los. Erzähl.“
 

Irgendwie schien es, als habe er den Hanebito verärgert, aber was sollte es. „Nach dieser Legende gibt es Menschen, die auf Drachen reiten. Sie knüpfen ein tiefes Band mit den Drachen und würden niemals Jagd auf sie machen. Früher gab es davon hunderte, aber kein lebender Magier erinnert sich daran, je einen gesehen zu haben.“

Dhaôma schloss die Augen. „Sie haben für Frieden gekämpft, haben andere beschützt und neues Land erschlossen. Aber darum geht es mir nicht. Viele dieser Drachen konnten fliegen. So wie du.“ Seine Augen strahlten, als er ihn wieder ansah. „Stell dir vor, ich könnte auf einem Drachen genauso durch die Lüfte fliegen wie einer von euch! Ich könnte die Welt von oben sehen und herausfinden, wie hoch der Himmel über den Wolken ist. Ich könnte sogar herausfinden, ob es auf dieser Welt einen Ort gibt, an dem nicht gekämpft wird, wo jedes Volk in Frieden mit dem anderen lebt. Ich könnte das Ende der Welt suchen! Und ich hätte einen Freund, vor dem ich nicht verheimlichen müsste, wer ich bin und was ich denke.“

Er klappte das Buch wieder auf. „Und aus diesem Grund muss ich das hier lesen. Immerhin muss ich herausfinden, wo ich mit der Suche nach den Drachen anfangen muss, bevor ich mir Gedanken darüber machen kann, wie ich einen fange oder aufziehe, nicht wahr?“
 

Das war tatsächlich ein großer Traum. Man wünschte sich immer das, was man nicht haben konnte. Mimoun glaubte nicht, dass es dem Magier hauptsächlich um die Drachen ging, vielmehr schien dieser fliegen und dem Leid des Krieges entkommen zu wollen. Der junge Geflügelte warf seinem Gegenüber einen traurig-mitfühlenden Blick zu, schwieg aber dazu. Das war ein Traum, der sich wohl nie erfüllen würde.

Wortlos begab er sich zu der Stelle, wo er auch die letzte Zeit immer geschlafen hatte und rollte sich wieder zusammen.
 

Dhaôma lächelte amüsiert. Hatte er da wirklich Mitleid gesehen? Seltsam, wirklich. Wahrscheinlich hielt er ihn für verrückt. Nein, ganz bestimmt hielt er ihn für verrückt. Hatte er ja selbst gesagt. Aber das war okay.

Liebevoll strich er über das Buch, dann begann er endlich zu lesen. Die Schrift war vergilbt und teilweise schwer zu entziffern, aber es war die Grundvoraussetzung, also biss er sich durch.
 

Die Tage verstrichen. Auch wenn das Fieber schnell wieder verschwunden war und Bewegungsdrang ihn malträtierte, zwang Mimoun sich die ganze Zeit in der Höhle zu bleiben und sich auszukurieren. Als er nicht mehr an seinen Wunden sondern an Langeweile zu sterben drohte, ließ er sich von Dhaôma Kiesel bringen. Möglichst gleich groß und bis auf einen gleichfarbig. Diesen legte er in einiger Entfernung hin und versuchte ihn mit den anderen Kieseln zu treffen. Doch auch dieses Spiel konnte seine Langeweile nicht auf Dauer vertreiben.

Schlussendlich griff er sogar nach dem Buch, wenn Dhaôma nicht anwesend war, und blätterte darin. Bis auf eine Karte keine Bilder und die Schriftzeichen schwer zu entschlüsseln. Mimoun hatte lange kein Buch mehr in der Hand gehabt. Wenn er ehrlich sein sollte, hatte er das letzte Buch nicht einmal gelesen, sondern nur woanders hinsortiert. Aber er hatte ja Zeit. Und die Informationen waren nur nebensächlich. Schließlich suchte nicht er nach diesen Drachen.

So vergingen etwas mehr als zwei Wochen, bevor er sich in der Lage sah, weiterzugehen. Die letzten Tage war er immer mit einigen Rüstungsteilen in der Hand durch die Höhle marschiert, um ein wenig zu üben. Doch heute würden sie weiterreisen. Wieder ließ er sich von Dhaôma helfen die Rüstung anzulegen.
 

Der Braunhaarige war in der Zeit zweimal nach Hause gegangen, um seine Familie zu beruhigen. Beim zweiten Mal hatte er angemerkt, dass er lange wegbleiben würde. Es hatte niemanden gekümmert, wie nicht anders zu erwarten gewesen war. So war er gegangen.

In der Zeit, in der der Hanebito nichts mit seiner Zeit anzufangen wusste, hatte er ihm einmal Nadel und Faden in die Hand gedrückt, damit er seine Kleider reparieren konnte. Mit den Fingernägeln hatte er auch keine Schwierigkeiten, diese durch das weiche Leder zur drücken.

An dem Tag, als sie endlich weitergehen konnten, schien sogar schon am frühen Morgen die Sonne durch die Baumkronen. Dhaôma hatte gute Laune. In der letzten Zeit hatte er den anderen schätzen gelernt, erinnerte er ihn irgendwie an ein Kind oder auch ein unterbeschäftigtes Haustier. Immer für eine Überraschung gut. Außerdem hatte sich die Bauchwunde geschlossen, ohne sich zu entzünden. Damit waren die Überlebenschancen des spitzohrigen Mannes definitiv gestiegen.

„Ob wir dieses Mal das Biberversteck erreichen?“
 

„Also an mir soll’s nicht scheitern.“, gab Mimoun zuversichtlich zurück und trat nach draußen. Wie befreit atmete er einmal tief ein und aus. „Nach dir.“
 

Was sich wieder einmal von selbst verstand. Dhaôma grinste in sich hinein und schüttelte den Kopf, aber er ging voraus. Diesmal ging es besser. Nicht jeder kleine Ast störte den Geflügelten beim Weiterkommen, auch wenn dichtes Gestrüpp wegen der Flügel einfach das Durchkommen erschwerte.

Schon mittags erreichten sie einen Fluss. „Du könntest baden.“, schlug Dhaôma vor, während er stehen blieb. „Das Wasser ist auch nur fast kalt.“
 

„Das würde aber bedeuten: Rüstung aus, Rüstung an.“, gab Mimoun zu bedenken. Doch noch im gleichen Atemzug begann er die Schnallen zu lösen. Ob kalt oder nicht war ihm egal. Es war definitiv an der Zeit für ein Bad.
 

„Warte noch, bis wir das Biberversteck erreicht haben. Das dauert noch zwei Stunden etwa. Dann können wir da bleiben.“

Dhaôma zeigte den Fluss hinunter. „Es ist eh besser, wenn du dich nicht wieder überanstrengst.“
 

„Verdammt. Warum machst du auch erst so einen Vorschlag?“ Kopfschüttelnd zog er die gelösten Gurte wieder fest und lief in die angegebene Richtung. Na gut. Würde er halt noch zwei Stunden warten.
 

„Damit du Zeit hast, dich an den Gedanken zu gewöhnen. Ich war mir nicht sicher, ob du es gut finden würdest.“, lachte der Magier. „Immerhin findest du selten Dinge gut, die ich vorschlage.“

Der Weg war leichter zu begehen, nachdem der Wald ein wenig zurückwich. Immer wieder waren Tiere zu sehen, die vor ihnen flüchteten. „Es ist wirklich zu schade, Hanebito, dass du keinen Bogen hast. Du könntest uns ein Mittagessen jagen.“
 

Bezeichnend schnupperte Mimoun kurz an sich und zog dann die Nase kraus. „Tja. Manchmal hast du auch gute Ideen.“, gestand er ihm ein. Auch er sah den Tieren nach. „Vielleicht später, nach dem Bad, wenn man mich nicht dutzende Kilometer gegen den Wind riecht. Dann zeigst du mir, wie ich mich richtig verstecke und ich zeig dir, wie man so einem Viech das Genick bricht. Oder ihm die Kehle zerfetzt.“ Kurz spielte er mit seinen Krallen, ließ sie ein paar Mal gegeneinander schlagen.
 

„Saubere Methoden fallen dir nicht ein? Oder einfachere?“, wollte der Magier naserümpfend wissen und blickte über die Schulter zurück. „Wie soll ich so ein Vieh in die Finger kriegen? Hinterherlaufen ist nicht. Und Fallen helfen erst nach ein paar Tagen etwas, wenn sie deinen Geruch eben nicht mehr in der Nase haben.“
 

„Also Genick brechen geht schnell und sauber.“, rechtfertigte sich Mimoun. „Und da gäbe es noch etwas, was mich außer einem fehlenden Bogen noch an der Jagd hindert. Man braucht zwei funktionierende Arme, um ihn vernünftig spannen zu können. Speerwerfen mit links kann man ja noch lernen, aber Bogen mit einer Hand führen?“ Er schüttelte den Kopf.
 

„Punkt für dich.“, seufzte Dhaôma und rieb sich über den Nacken. „Also keine Beute. Vielleicht krieg ich ein paar Fische.“

Es dauerte wirklich nicht mehr lange, bis sie den Biberdamm erreichten. Dhaôma hatte den Eingang so modifiziert, dass man nicht erst tauchen musste, um hineinzukommen, aber man stand förmlich auf dem Wasser, wenn man die Ast-Lehmschicht wegließ. Er mochte diesen Ort gerne. Das Geräusch des Flusses war beruhigend und die Hitze des Sommers hier leichter zu ertragen.

„Los, gehen wir schwimmen. Ich helfe dir.“
 

Sein Blick glitt über den Damm, über das Wasser. Schön war es hier. Irgendwie friedlich.

Mit einem Seufzen entledigte er sich mit der Hilfe des Magiers aller Rüstungsteile und Klamotten. Es tat gut, die ganze Last nicht mehr am Körper zu spüren. Aber noch besser würde es ihm gehen, wenn er endlich im Wasser wäre.

Vorsichtig tastete er sich in das kühle Nass vor. Es hatte eine angenehme Temperatur und auch der Boden war leicht begehbar. So gut wie keine Stöcke, an denen seine Füße hängen blieben. Keine spitzen Steine, die sich in seine nackten Fußsohlen bohrten. Als er hüfttief im Wasser stand, hockte sich Mimoun leicht hin, beugte sich vor und tauchte ein paar Mal seine Flügel unter Wasser. Er wirkte ein wenig wie eine Ente bei der Gefiederpflege.
 

Dhaôma beobachtete diese Prozedur zuerst interessiert, dann amüsiert. Wie er mit diesen Flügeln schwimmen sollte, war ihm gar nicht gekommen. Und jetzt das! Eine Ente. Offensichtlich eine Bleiente.

Um sich das Lachen zu verbeißen, hechtete er selbst ins Wasser und tauchte gleich bis zur Mitte des Flussbettes. Die Strömung war angenehm stark dort, man konnte sich meilenweit tragen lassen. Durfte er zwar heute nicht, aber ein Stückchen musste okay sein. Als er endlich wieder auftauchte, lachte er doch. Nicht über den Hanebito, sondern aus Freude. Er liebte Wasser. Er liebte Schwimmen! Und er liebte Toben.

Und weil er übermütig war und sie vorhin übers Fischen gesprochen hatten, versuchte er sein Glück – natürlich ohne Erfolg. Aber immerhin machte es Spaß.
 

Der Geflügelte konzentrierte sich eher darauf, den Dreck von seiner Haut zu waschen, als dass er beobachtete, was der Magier trieb. So kam das Lachen etwas unerwartet und er schaute auf. Es war faszinierend zu beobachten, wie dieser nun frei von allen Sorgen durch das Wasser tobte und völlig erfolglos nach Fischen tauchte.

Mimoun schüttelte den Kopf. So wie dieser Kerl das anstellte, würde nie etwas daraus werden. Sein Blick wanderte den Uferstreifen rauf und runter, bis er einen geeigneten Stock entdeckte. Lang, gerade und nicht zu dick oder dünn. Er watete zu der Stelle und wog sein Fundstück prüfend in der Hand. Missmutig wiegte er den Kopf. Es war nicht ganz das, was er brauchte, aber etwas Besseres würde er jetzt nicht ohne größeren Aufwand finden.

Umständlich klemmte er sich den Stock unter den Arm und versuchte mit seinen Fingernägeln eine Spitze zu schnitzen. Es sah reichlich missglückt aus, würde aber für seine Zwecke reichen. Wieder begab er sich hüfttief ins Wasser und verharrte, den Spieß wurfbereit erhoben, regungslos. Nur seine Augen bewegten sich, folgten den einzelnen Fischen, um einen geeigneten auszumachen.
 

Dhaôma ließ sich unterdessen doch treiben. Ausgepowert von seinem Spiel, versuchte er lediglich auf dem Wasser zu liegen und die Sonne ihn wärmen zu lassen, während der Fluss den Rest tat. Irgendwann stieß er mit dem Kopf gegen einen Felsen im Wasser, was ihn aus seinem Tagtraum weckte. Er hatte seinen Schützling alleine gelassen. Wie blöd war das denn?

Andererseits war der wieder gesund genug, um für einige Zeit alleine zu bleiben. Er sollte sich nicht so viele Gedanken darüber machen.

Sich schüttelnd trat er aus dem Wasser und orientierte sich. Er war ein gutes Stück weg vom Biberbau. Er sollte sich beeilen, zurückzukommen. Vielleicht hatte er ja immerhin Glück und sein Haar wäre bis dahin wieder trocken.

Leicht, federnd, eine Gangart einschlagend, die er schon seit geraumer Zeit nur selten hatte nutzen können, machte er sich auf den Rückweg, spürte dem Gefühl der Freiheit nach, das in ihm wuchs. In ihm begann eine Idee zu reifen: Er wollte noch nicht sterben. Also würde er den Hanebito zu den Felsen bringen, wie er es versprochen hatte, und danach direkt von dort verschwinden. Vielleicht würde er sich direkt auf die Suche nach einem Drachen machen. In der Schlucht kam man ganz gut vorwärts und war an vielen Stellen vor dem Regen geschützt. Den Hanebito müsste er noch ausweichen, aber dazu konnten seine Kräfte nützlich sein. Ein paar Pflanzen wachsen lassen, einen Sichtschutz errichten. Musste er sich einfach darauf verlassen, dass sein Hanebito nicht sang.

Mit richtig erleichtertem Herzen traf er wieder im Bibernest ein. Sein neuer ‚Freund’ stand im Wasser und zielte mit einem Stock hinein. Mit schräg gelegtem Kopf betrachtete er sich die Pose, dann schüttelte er den Kopf. Ob das was werden konnte? War sein Waffenarm nicht verletzt?

Das Kinn auf die Hände gestützt hockte er sich in die Sonne und beobachtete ihn. Offenbar verstand er was davon, die Bewegungen schienen sicher.
 

Doch es half nichts. Mit links war er einfach nicht trainiert. Der Wurf war nicht fest genug und zu wackelig, um sowohl den Widerstand des Wassers als auch den des Fischkörpers zu durchbrechen. Und so trieb der Stock jedes Mal ohne Beute auf dem Wasser.

Mit einem frustrierten Aufschrei rammte Mimoun den improvisierten Speer in den schlammigen Flussgrund. Und dabei hatte er sich auf eine kleine Abwechslung des Speiseplans gefreut.

Entmutigt schleppte er sich ans Ufer und ließ sich bäuchlings am Strand nieder, ließ die Sonne seinen Körper wärmen. „Dämliche Fische.“, nuschelte er halb in den Sand.
 

„Was ist mit dir?“, wollte Dhaôma mitfühlend wissen, während er sich lautlos neben ihn setzte. „Warum so enttäuscht? Es ist doch normal, dass man mit der falschen Hand erst üben muss, um etwas zu erreichen.“
 

„Die könnten doch so nett sein und mir direkt in die Hand springen.“ Mimoun hob leicht den Oberkörper, stützte ihn auf dem Ellenbogen ab und blinzelte zu dem anderen auf. „Ich dachte immer, auf Schwerstverwundete soll man Rücksicht nehmen.“
 

„Wärst du ein Sensibelchen, würde ich es tun.“, antwortete der braunhaarige Magier und grinste. „Du willst also Fisch essen. Ist dir der Gedanke gekommen, dass ein Netz helfen könnte, welchen zu fangen?“

Schon erhob er sich und watete wieder ins Wasser. Er suchte mit den Augen die Oberfläche ab, fahndete nach einer Stelle mit starker Strömung und wenig Verwirbelungen.
 

„Und wo auf die Schnelle ein Netz hernehmen?“, gab der Geflügelte zurück. „Und wie stellst du dir das vor? Ich meine, ich hab nur eine Hand zur Verfügung. Und dann nur links.“

Die Sache mit dem Sensibelchen überging er gekonnt. Vielleicht war er kein Sensibelchen, aber er würde die Situation sicher schamlos ausnutzen und den Magier nur noch durch die Gegend scheuchen.
 

„Geduld, daran arbeite ich. Wenn du nichts dagegen hast, mit mir zusammenzuarbeiten, benötigst du auch nur die linke Hand. Dann hätten wir insgesamt drei. Das sollte genügen, um ein Netz zu halten, nicht wahr?“

Er hatte eine Stelle erspäht und tauchte hinunter, um ein paar der Wasserpflanzen an die Oberfläche zu ziehen. Sich schüttelnd setzte er sich auf einen Stein, bevor die Zeichen auf seinen Armen zu leuchten begannen. Zunächst die Zentralen, die dafür sorgen, dass das Gras fröhlich zu wuchern begann, später diejenigen, die seitlich lagen. Er grinste, als die fadenförmigen Gebilde sich zu einem Netz zusammenfügten, das groß genug war, um einen Stör zu fangen.

„Tadaaa!“, hielt er sein Konstrukt in die Höhe.
 

„Vollidiot.“, murmelte Mimoun. Obwohl er selbst daran zu glauben schien, er sei nutzlos, bewies dieser Magier doch regelmäßig das Gegenteil.

Geschmeidig ließ er sich rückwärts wieder ins Wasser gleiten und stakste zu seinem Begleiter hinüber. Nebenbei fragte er sich, wann dieser Magier für ihn von einem Feind über potenzielle Bedrohung zu einem gern gesehenen Begleiter geworden war. Dass er ihn vielleicht irgendwann einmal als Freund bezeichnen würde, verbot er sich dennoch.

„Was soll ich tun?“ Erwartungsvoll streckte er seine funktionsfähige Hand in dessen Richtung.
 

Dhaôma überhörte die Beleidigung problemlos. Er hatte sooft von seiner Familie seine Arbeit als nutzlos beschimpft bekommen, dass ihm solche Worte nichts mehr ausmachten.

„Festhalten!“, kommandierte er deshalb und warf dem Hanebito die eine Seite des Netzes zu. Danach schwamm er auf die andere Seite des Flusses. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke, es macht Sinn, jetzt flussaufwärts zu laufen, oder?“ Etwas verunsichert grinste er und kratzte sich am Hinterkopf. „Ich hab noch nie mit einem Netz gefischt. Sonst hab ich dazu eine Angel und warte darauf, dass was anbeißt.“, gab er leicht beschämt zu.
 

Der Blick des Geflügelten glitt über die Wasseroberfläche. Er suchte nach seichteren Stellen, an denen die Fische standen. Bezeichnend nickte er mit dem Kopf in die entsprechende Richtung. Es waren nicht viele, aber dafür einige größere darunter. „Einer positioniert sich etwas flussabwärts dieses kleinen Schwarms. Der andere schleicht langsam im Bogen darum herum und auf ein Zeichen hin ziehen wir sie mit einem Ruck an Land.“, schlug er vor. Gleichzeitig fädelte er seinen Arm durch mehrere Löcher des Netzes, um es auf größerer Strecke stabil halten zu können.
 

„Ai, das klingt schlau.“, nickte Dhaôma. „Dann halt mal schön still.“ Und mit einem Augenrollen fügte er hinzu. „Hoffentlich bin ich gut im Schleichen unter Wasser. Wo man bei der Strömung sogar Probleme hat, sich von der Stelle zu bewegen.“
 

Mimoun lachte herzhaft. Spielerisch faltete er seine Flügel auf, die vom Druck der Strömung sofort nach hinten gedrückt wurden. „Beschwer dich nicht. Ich hätte es noch schwerer.“ Er schüttelte den Kopf. „Komm ihnen einfach nicht zu nahe. Fische haben doch keine Ohren.“
 

„Sei dir da mal nicht zu sicher.“, murmelte Dhaôma lautlos, aber er tat, was er sollte.

Und es war anstrengend. Genauso anstrengend, wie es spaßig war. Er konnte sich testen, seine Kraft und seine Fähigkeiten testen, der Strömung auszuweichen. Einmal wurde er fast weggespült und verdankte seinen sicheren Stand nur einem Felsen, der im Weg stand, aber irgendwie schaffte er es, zur anderen Seite des seichten Beckens zu kommen.

„Sind die Viecher noch da?“, wollte er mit erhobener Stimme wissen.
 

Mimoun behielt die Fische in der ganzen Zeit im Blick. Halb achtete er auch auf seinen Helfer, wie der sich schlug, aber solange dieser nicht Gesicht voraus ins Wasser stürzte, würde er nicht eingreifen müssen.

Die an ihn gestellte Frage beantwortete er nur mit einem knappen Nicken. Er packte seine Seite fester und schritt langsam Richtung Ufer. Gleichzeitig wies er Dhaôma an, es ihm gleich zu tun. Als die Fische begannen die Gefahr zu spüren und sich hektischer bewegten, rief er laut: „Los!“ und sprintete selbst ans Ufer.
 

Auch Dhaôma rannte ans Ufer, was nicht so einfach war, da er überrascht wurde. Die kleinen Kiesel unter seinen Füßen rutschten weg, das Wasser hielt ihn zurück, aber irgendwie schaffte er es, aus dem Wasser auf einen Felsen zu hüpfen. Dann zog er mit aller Macht am Netz, um das schwere Ding aus dem Wasser zu hieven. Schon jetzt konnte er anhand der Bewegung sagen, dass irgendetwas darin hing.

Noch während sie sich abmühten, grinste er breit. „Es gibt wohl Fisch zum Essen. Ist das Gerücht wahr, dass ihr alles Fleisch roh verspeist?“
 

„Natürlich.“, erwiderte er, als wäre diese Tatsache das selbstverständlichste auf der Welt. Mimoun wandte sich zum Netz, sammelte sich einen der größeren Fische aus dem Netz und biss herzhaft hinein. Mit einem zufriedenen, wie von himmlischem Glück erfüllten Gesichtsausdruck ließ er sich rücklings in den Sand fallen und die Sonne auf den Bauch scheinen.
 

„Du könntest das arme Tier wenigstens vorher töten.“ Angeekelt wandte sich Dhaôma ab, während ihm ein Schauder Gänsehaut verursachte. Mit einem Stein tat er selbiges dann auch mit den übrigen Fischen, bevor er sich wieder erhob. „Ich gehe Holz suchen.“, verabschiedete er sich dann in den nahen Wald. Bloß weg von diesem unappetitlichen Anblick. Er schüttelte sich erneut, bevor er zu laufen begann.

Ja, es war beinahe Flucht, aber andererseits hatte er trotz allem selbst Hunger. Und je schneller das Feuer brannte, desto eher konnte er Essen.

Am Ende brauchte er dann doch länger. Er hatte beim Holz suchen eine Lichtung gefunden und dort schmackhafte Kräuter gesucht, die man in den Fisch tun konnte. Viele waren es nicht geworden, aber genug, um zumindest zwei davon zu stopfen. Er würde es mit trockenem Ufergras auffüllen, das würde die Tiere räuchern und haltbar machen.

Als er zurückkam, war an der Stelle, an der der Hanebito lag, alles voller Blut. „Das wird den Raubtieren gefallen.“, murmelte er angefressen. „Wenn man bedenkt, was ich alles versucht habe, um genau das zu verhindern.“
 

Der Geflügelte, glücklich mit einem anderen Geschmack als dem von Früchten, Kräutern und Beeren auf der Zunge, war in der Sonne eingedöst, blinzelte hoch und dann verständnislos in die Runde. Was sollte diese in seinen Augen kleine Menge bei Raubtieren ausmachen, die in dieser Gegend sowieso ein reichhaltiges Angebot fanden?

Deshalb drehte er sich nicht gerade mit Elan auf die Seite und warf die besudelte Erde klümpchenweise ins Wasser.
 

Dhaôma quittierte das mit einem Schnauben, bevor er in die Nähe des Biberbaus ging und dort sein Holz aufschichtete. Er würde es so machen, wie er es gelesen hatte: Fische ausnehmen, Innereien verbuddeln, wenn man keinen Hund zur Hand hatte – kurz ging sein Blick abschätzig zu dem Geflügelten, bevor er doch ein Loch grub – anschließend Fische stopfen, auf Stöckchen spießen und grillen. Das alles dauerte schließlich nicht lang. Und es schmeckte besser als frisches Blut. Wenn es Fleisch wäre, das lange ausgeblutet wurde, aber Fisch…

Seufzend lehnte er sich gegen einen Felsen und betrachtete die Sonnenflecken, die vom Wasser widergespiegelt wurden. Das war einfach so. Hanebito kannte vielleicht keine Wölfe, weil es auf den Inseln keine gab. Und vielleicht gab es da oben auch zu wenig Vegetation, um Feuer zum Kochen zu machen. Ob sie oft froren? Wie war es wohl, wenn man einer von ihnen war? Eigentlich wusste er so gut wie nichts über die Hanebito. Sie waren gute Jäger, konnten fliegen und sprachen die gleiche Sprache. Mehr war da nicht. Wahrscheinlich kam er dem Hanebito auch seltsam vor.
 

Bei dem geschäftigen Treiben um ihn herum, wurde Mimoun neugierig und richtete sich wieder auf. Er beobachtete aufmerksam, wie der Magier ein Loch aushob und die Innereien der Fische darin verscharrte. Ein wenig enttäuscht sah er den zum Teil ziemlich leckeren Sachen nach, die dort in der Erde verschwanden. Was für eine Verschwendung.

Langsam ging er zu seinem Weggefährten hinüber, verfolgte fassungslos wie das Feuer entfacht wurde. Seine Finger glitten ein wenig näher an dieses heiße Element. Feuer trat bei ihnen auf den Inseln nur auf, wenn irgendwo ein Blitz einschlug. Sie brauchten es ja auch nicht. Wozu? Je höher ein Geflügelter flog, desto kälter wurde es. Ihre Körper hatten sich darauf eingestellt und regelten ihre Temperatur selbständig. Es kam nur in wirklich strengen Wintern vor, dass sie froren. Doch dann wurde einfach ein wenig näher zusammengerückt. Und Fleisch und Fisch schmeckten roh einfach besser. Er hatte mal von einem Vogel probiert, der einen Baumbrand nicht überlebt hatte. Das war eklig gewesen.
 

Der braunhaarige Junge wurde irgendwann von dem faszinierten Blick in seiner Ruhe gestört. Was war denn da im Feuer? Hatte der Hanebito etwa noch Hunger? Er hatte ihm doch extra einen Fisch aufgespart.

Aber irgendwie war er nicht dazu in der Lage, die Stille des Feuerprasselns zu unterbrechen. Es war wie Magie. Da hatte er auch immer Probleme, etwas zu sagen, so eine unbestimmte Spannung in der Luft wirkte wie versteinernd auf ihn. Seine Glieder wurden schwer und sein Herz euphorisch, bis er ganz erfüllt war. Und genau diese Faszination drückte der Hanebito aus. Auch wenn etwas nicht Greifbares diesen Eindruck störte.
 

Mimoun fühlte sich beobachtet und schaute auf, blickte genau in die tiefbraunen Augen des Magiers. Irgendwie fühlte er sich unwohl, wenn er so angestarrt wurde. Vor allem, da es keinen Grund dafür gab.

„Was ist?“, wollte er daher wissen.
 

Dhaôma bewegte sich leicht, schob die Hände unter die Oberschenkel. In ihm war ein seltsames Gefühl erwacht. Er konnte damit wenig anfangen. Oder war es tatsächlich bedauern?

„Ich frage mich gerade, wie du wohl lebst.“, gab er schließlich zu, bevor er nach oben blickte, doch in seinem momentanen Blickfeld schwebte keine dieser mystischen Inseln. „Ich dachte immer, es wäre so wie bei uns. Obwohl mein Kopf wusste, dass es nicht so ist, konnte ich mir nie etwas anderes vorstellen.“
 

Mimoun lenkte seinen Blick wieder auf das Feuer. Wie er lebte? Mit einem Seufzen schloss er die Augen und lauschte dem Prasseln des Feuers, ließ sich davon in der Zeit zurücktreiben. In eine Zeit, als er sich noch um nichts Sorgen machen musste. Vor seinem inneren Auge spielten sich noch einmal die Szenen seiner ersten Flugversuche ab, die sein Vater mit Lachen und aufmunternden Worten begleitete. Im Hintergrund die Mutter, ebenso vergnügt, die kleine Schwester auf dem Arm. Er sah sich wieder, wie er seinen Eltern beim Abernten der Obstbäume half. Auch wenn sie nicht so hoch wuchsen, wie hier unten, waren sie doch für ihn noch zu hoch und er flatterte aufgeregt von einer Seite zur anderen, während seine Eltern lachend daneben standen und Silia im Gras darunter spielte. Nicht wenige, der Früchte landeten in seinem Mund und nicht in dem Korb. Sein Geist glitt weiter auf seiner Reise. Diesmal half er seiner Schwester bei ihren ersten Flugversuchen, schließlich war er der große Bruder und musste ihr ja zeigen, wie es richtig ging.

Mimoun sah wieder ins Feuer. Das Gesicht seinen Vaters verblasste immer mehr. Er konnte sich kaum noch daran erinnern. Schon damals war er nur selten zu Hause gewesen, hatte häufig an der Front gestanden. Aber es waren so glückliche Momente gewesen, dass die Zeit ohne ihn völlig aus seinem Gedächtnis verbannt worden war.

Bis zu dem Zeitpunkt als sein Vater seine letzte Heimreise antrat. Es war erst vor fünf Sonnenläufen gewesen. Wie im Zeitraffer sah der die ohne ausreichende Pflege immer mehr vertrocknenden Obstbäume, den Verfall seiner Mutter, die nach außen hin weiterhin versuchte, fröhlich zu wirken, und liebevoll für ihre Kinder sorgte, doch immer häufiger nur traurig am Ausgang der Wohnhöhle saß und ins Leere blickte. Sah noch einmal, wie sie getobt und um ihn gekämpft hatte, damit nicht auch ihr Sohn im Krieg fiel. Mimoun fragte sich schuldbewusst, warum er das damals ignoriert und voller Begeisterung mitgegangen war. Er wusste, dass es seinen Vater nicht zurückbrachte und sein Tod das Leid seiner Mutter nur vergrößerte.

Sein Kopf ruckte in die Höhe. Sein Blick wurde panisch. Sie glaubten doch gerade, dass er gefallen sei. Woher sollten sie denn wissen, dass es nicht der Wahrheit entsprach, wenn er hier einfach so seine Zeit vertrödelte? In der Zwischenzeit konnte wer weiß was geschehen sein!

Mimouns Blick fiel wieder auf den Magier und er wurde ruhiger. Diesem Jungen hatte er es zu verdanken, dass er noch lebte. Und er konnte sich noch entsinnen, was das letzte Mal geschehen war, als er es übertrieben und nicht auf seinen Körper gehört hatte. Auch kam ihm wieder in den Sinn, was der Magier gerade gesagt hatte.

„Es ist wohl ganz und gar nicht wie bei euch. Wir müssen zwischen den Inseln wechseln, denn nicht alle sind als Wohnstätte geeignet und auf diesen Inseln kann man selten etwas Sinnvolles anbauen oder aufgrund des geringen Baumbestandes auf die Jagd nach Vögeln oder anderen Tieren machen. Oder in den Grottenseen fischen.“ Sein Blick fiel auf den letzten verbliebenen Fisch. „Die hier sind größer als unsere.“
 

War das so? Eigentlich waren diese Fische ziemlich klein. Nichts gegen die Lachse, die im Sommersterben die Flüsse hochzogen. „Deshalb geht ihr hier unten auf die Jagd, nicht wahr?“, stellte er mehr fest, als dass er fragte.

Der schwarzhaarige Geflügelte hatte so lange geschwiegen, dass er schon fast nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hatte. Jetzt spürte er, wie sein Herz schneller schlug. War das ein Vertrauensbeweis, dass er es ihm erzählte? Durfte er es dazu rechnen?
 

„Würdest du es anders machen?“, gab er die Frage zurück. „Dort oben haben wir kein so reichhaltiges Angebot wie hier unten. Und die Samen, die wir oben anzupflanzen versuchen, wachsen nicht mal ansatzweise so hoch, wie hier und sind sicher auch nicht so ertragreich, wie sie hier sein würden. Aber zumindest ist das Ernten so einfacher.“, umschrieb er das, was er eigentlich sagen wollte.
 

Dhaôma lächelte. „Nein, würde ich nicht. Da oben sicher sein, unten jagen, klingt für mich wie eine gute Strategie. Aber dass ihr wirklich Bauern seid, hätte ich nicht erwartet.“

Er lehnte sich vor und drehte die Stöckchen, auf denen die Fische brieten, herum, um sie auch von der anderen Seite gar werden zu lassen. Sie rochen jetzt schon köstlich.

„Vielleicht sollte ich mal mitkommen und euren Pflanzen beim Wachsen helfen. Oder ihr braucht mehr Wärme. Einen Glasgarten, zum Beispiel. Der schützt die Pflanzen vor Wind und hält die Wärme der Sonne selbst bei zugigen Temperaturen.“ Auch er wusste, dass Glas teuer war, aber dort oben wären die Scheiben mit Sicherheit eine gute, lohnende Investition.
 

Mimoun blinzelte irritiert. „Glas...garten?“ Es störte ihn nicht einmal ansatzweise, dass Dhaôma sich anbot, ihnen zu helfen. Oder zu ihnen hoch zu kommen. Aber er benutzte so seltsame Begriffe.
 

Nachdenklich blickte Dhaôma den Jungen an, als dieser nachfragte. Er hatte sich schon gedacht, dass das nichts war, was man oben kannte, aber diese Verwirrung war selbst für ihn überraschend. „Das ist ein Haus aus Glas.“, versuchte er zu erklären. „Man säht Pflanzen darin aus und sie wachsen.“
 

„Und Glas ist was?“, hakte der junge Geflügelte noch einmal genauer nach. „Und das hilft beim Wachsen? Ist das auch Teil eurer Magie?“
 

Jetzt völlig überfahren starrte Dhaôma den Hanebito an. Er kannte kein Glas? War das sein Ernst? Und was hatte das mit Magie…

„Ja.“, schüttelte er schließlich den Kopf, um die Vorurteile abzuschütteln. „Ja, man benutzt Magie, um Glas herzustellen. Da das nur wenige können, ist es sehr wertvoll. Man nutzt ungeheure Hitze aus, um Sand durchsichtig zu machen. Wenn man es richtig anstellt, entstehen daraus große Flächen, die man als… Ziegel verwenden kann.“ Er schickte dem jungen Mann einen fragenden Blick. Kannte er Ziegel?
 

„Warum sollten wir irgendwas nutzen, was man nicht sehen kann? Da knallt man doch ständig gegen, wenn man nicht weiß, dass sie da sind.“, gab er zu bedenken. Magier waren schon seltsam.
 

Dhaôma lachte. „Ich sagte durchsichtig, nicht unsichtbar!“

Mit einem langen Stock stocherte in der Glut, um sie dazuzubewegen, heißer zu brennen. Funken flogen auf. „Erzähl weiter. Ihr habt wenig zu essen und kein Glas. Habt ihr Städte, Dörfer? Haltet ihr Tiere?“
 

Mimouns Augenbraue wanderte nach oben. Ziemlich neugierig dieser Kerl.

Wieder versank er überlegend in Schweigen bevor er begann. „Je nach Größe und Nutzbarkeit der Insel oder in der Nähe befindlicher kann es vorkommen, dass mehrere Familien dicht beieinander wohnen. Und sicher haben wir Tiere. Ich weiß nicht, ob ihr die kennt. Etwa so groß...“ Er deutete mit den Händen etwa die Größe einer Katze an. „...seidigweiches Fell, langer weicher Schweif, Flügel. Meine Schwester wollte schon immer eins haben, aber ich mag diese Viecher nicht. Ich finde sie nervig. Liegt vielleicht auch daran, dass mich mal eins mit seinem Horn gestochen hat.“
 

Dhaôma hatte davon gehört. Allerdings lebten diese Tiere ausschließlich auf den Inseln, gesehen hatte er noch keines. Früher hatte es sie mal bei ihnen gegeben, aber das war lange her. Irgendwann vor dem Krieg. Vielleicht waren sie Handelsware gewesen.

„Wie nennst du die?“
 

„Also ich nenne sie elende Mistviecher.“, gab er prompt zurück. Er hob beschwichtigend die Hand. „Mein Volk nennt sie Fanras. Kennst du sie doch?“
 

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf und nahm eines der Stöckchen in die Hand, um zu testen, ob der Fisch gar war. Es roch himmlisch. Vorsichtig biss er hinein. Es schmeckte fantastisch. Frischer Fisch, Rauch, süßes Gras, Waldwurz und Thymian. Glücklich seufzend ließ er sich zurückfallen. „Jetzt wird alles gut.“, erklärte er dem Stöckchen voller Überzeugung.
 

Ein kurzer Schauder lief seinen Rücken hinunter. Wie konnte man nach solch einer Barbarei noch behaupten, dass alles gut werden würde? Na gut. Andere Menschen, andere Sitten. Auch er ließ sich wieder zurückfallen, genoss die Sonne auf seiner Haut und das Rauschen des Flusses in seinem Ohr.

Daran könnte man sich glatt gewöhnen, dachte er, bevor er zu einem kleinen Nickerchen wegdöste.
 

Dhaôma aß auf, bevor er die Fische vom Feuer nahm und sie säuberlich in eine Lederplane einschlug. Die Stöckchen verbrannte er und brachte dann alles Wichtige in den Biberbau.

Kurz vor Sonnenuntergang änderte sich plötzlich die Stimmung des Waldes. Zuerst fiel es ihm nicht auf, auch wenn sich ein unangenehmes Prickeln in seinem Nacken bemerkbar machte. Unsicher sah er sich um.

„Hanebito. Wach auf!“, zischte er unterdrückt. „Irgendwas ist da!“
 

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ein bisschen Kennenlernen, ein bisschen Gefahr.

Ach, ist das lange her *lach*

Müdigkeit

Kapitel 4

Müdigkeit
 

Ohne einen Laut schnellte Mimoun in die Senkrechte. Aufmerksam sah der Geflügelte sich um, lauschte, doch auch er konnte nichts Bestimmtes sagen. Aber er spürte die angespannte Stille des Waldes.

Langsam erhob er sich vollständig und schlich zu seinen Kleidern, schlüpfte so schnell hinein, wie es ihm möglich war. Kaum war er fertig, vernahm er in seinem Rücken leises Knacken und Knurren. Blitzschnell wirbelte er herum und sah drei Wölfe aus dem Dickicht treten. Vorsichtig trat Mimoun einen halben Schritt zurück und suchte den Wald ab. Auch wenn er sie noch nicht sehen konnte, er ahnte, dass sich dort noch weitere Tiere herumtrieben.

„Wir sollten verschwinden.“, flüsterte er an Dhaôma gewandt und deutete ohne hektische Bewegung zum Biberdamm, begann sich vorsichtig, die Raubtiere immer im Blick, in die entsprechende Richtung zu bewegen.
 

Dieser war längst auf dem Rückzug. Egal, wie wichtig es für den Schwarzhaarigen war, seine Kleider anzuziehen, er wusste, dass Sicherheit vorging. So war er schon am Eingang, als er die Wölfe sah.

„Verflucht!“, wisperte er. Seine Hände zitterten. Mit Wölfen war nicht zu spaßen. Die Viecher waren lästig, schnell und ausdauernd in der Jagd. Lieber als in einen Holzhaufen würde er sich jetzt auf einen Baum zurückziehen. Da war er wenigstens sicher, dass sie ihn nicht erreichen konnten! Schon hatte er den Deckel geöffnet.

„Mach schon! Nicht so lahm!“, presste er heraus, die Panik mühsam unterdrückend.
 

„Klar.“, fauchte er angespannt und leise zurück. „Damit sie mich erst recht angreifen.“

Die Tiere waren näher getreten und zwei weitere traten aus dem Wald.

Mimoun warf einen hastigen Blick zum Damm und schätzte die Entfernung ab. Es war nicht mehr weit. Kurz überlegte er und entschied sich dann für eine riskante Möglichkeit. Blitzschnell spannte er seine Flügel zu voller Spannweite auf und sprang mit einem lauten Schrei frontal auf die Wölfe zu. Als diese irritiert stoppten und zu überlegen schienen, ob sie dieser Beute noch gewachsen war, drehte Mimoun auf dem Absatz um und rannte die wenigen Meter zum Unterschlupf.
 

Schon während der Geflügelte Kopf voran in die Höhle hechtete, sprang auch Dhaôma in das Loch, so dicht hinter ihm, dass er einfach auf ihm landen musste. Den Deckel hielt er über seinen Kopf und so fest es ging, bevor er den Ruck durch seine Arme gehen spürte.

Hastig kroch er von Mimoun runter. „Los, Hanebito, halt den Deckel!“ Und schon machte er sich an die Aufgabe, die Äste zum Wachsen zu überreden. Das war schwierig, weil sie alle schon so lange tot waren, aber es war lebenswichtig, sonst würden diese Wölfe den Deckel ganz schnell lüften können.
 

„Uff.“, kommentierte er das Gewicht, das plötzlich auf ihm landete, nachdem er schon so unsanft in diesem Stockstapel gelandet war. Dennoch verrenkte er sich, kämpfte sich wieder empor, um Dhaômas Anweisung zu befolgen. Mit seinem ganzen Gewicht hängte er sich daran. Von über ihnen ertönte lautes Schnüffeln und Scharren.

„Dhaôma?“
 

Dessen Arme begannen zu leuchten, alle Zeichen auf einmal. Es dauerte schier eine Unendlichkeit, aber endlich, endlich wirkte die Magie. Endlich hatte er den Schlüssel zu totem Material gefunden.

Und wie bei einem Weidenstock, der in die Erde gesteckt wurde, wieder Wurzeln und Blätter wuchsen, so rankten auch bei diesen Hölzern plötzlich Wurzeln in die Höhle. Winzige Blättchen wurden größer, Zweige flochten sich umeinander und verankerten sich, bis der Junge kaum noch Kraft übrig hatte. Die Zeichen flackerten, dann erloschen sie, hüllten sie in Dunkelheit.

Von draußen kam Knurren und Scharren. Es waren mit Sicherheit mehr als fünf Wölfe. Hoffentlich hielt der Damm.

Schwer atmend schloss Dhaôma die Augen. Ein Schweißtropfen löste sich von seinem Kinn, platzte auf seiner Hand. Er konnte keinen Muskel mehr bewegen. Nicht einmal auf die Umgebung konnte er sich noch konzentrieren. Alles verschwamm zu einem Gemisch aus Farben und Tönen, wobei er beides nicht mehr wirklich auseinander halten konnte. Es war zu viel gewesen. Und zu schnell gegangen. Und er hatte an diesem Tag schon zu oft diese Kraft eingesetzt. Bevor er es richtig wusste, war er auch schon gegen die Wand gesunken. Sein Bewusstsein war nahe dem Nichts.
 

„Dhaôma?“, fragte Mimoun erneut, doch nun war nicht mehr der leicht gehetzte, sondern ein sorgenvoller Ton herauszuhören. Darauf vertrauend, dass die Magie des Jungen gewirkt hatte, ließ er den Deckel los und wandte sich seinem Gegenüber zu. Zaghaft berührte er ihn an den Schultern. Völlig erschöpft hing der Magier eher in seinen Händen.

„Gut gemacht. Ruh dich jetzt aus.“, verlangte er, griff sich eine der Armschienen und wandte sich fest entschlossen dem Deckel zu. „Ab hier übernehme ich.“

Die Geräusche oben verlagerten sich. Die Raubtiere versuchten es nicht nur an der Stelle, an der ihre Beute verschwunden war. Mimouns Blick huschte durch die Dunkelheit von einer Geräuschquelle zur nächsten. Sollten diese Viecher tatsächlich durchkommen, hatten sie ein gewaltiges Problem.

Nach Stunden, wie es schien, ließen die Tiere endlich von ihren erfolglosen Versuchen ab. Erst jetzt gestattete es sich Mimoun, sich aus seiner doch unbequemen Hocke zu erheben und erleichtert aufzuatmen. Nachsehen wollte er sowieso nicht, von daher konnte der Schutz so bleiben, wie er war.

„Dhaôma?“, fragte er leise in die Dunkelheit, doch von seinem Wegbegleiter kam keine Reaktion. Er schlief, wie der Geflügelte erleichtert feststellte. Doch die Position an der Wand würde morgenfrüh sicher Rückenschmerzen bei ihm verursacht haben. Also quetschte er sich vorsichtig neben den Magier, immer darauf bedacht, ihn nicht zu wecken. Sanft zog er am Arm des Jungen, so dass dieser zur Seite kippte und, durch geschickte Führung geleitet, bequemer auf dem Schoß des Geflügelten weiterschlafen konnte.

Mimoun zwang sich, die Nacht über wach zu bleiben, für den Fall, dass die Raubtiere zurückkamen. Doch es blieb alles still. Erst im Morgendämmern nickte auch er ein.
 

Dhaôma erwachte mit einem gehörigen Schrecken. Unter sich spürte er Wärme, er sah Beine und fühlte einen fremden Atem über seinen Nacken streichen. Wie von der Tarantel gestochen fuhr er hoch.

Und stieß sich den Kopf am Bieberbaudach. Mit einem unterdrückten Stöhnen sank er wieder in sich zusammen. Himmel, er fühlte sich schwach! Was war denn nur passiert? Und wie kam er dazu, mit – er hob den Blick und erkannte seinen Hanebito im Halbdunkel – jemandem zusammen zu schlafen? Das hatte er seit Jahren nicht mehr gemacht!

Er musste hier raus. Dringend!

Ohne nachzudenken, drückte er gegen den Deckel. Er ließ sich nicht öffnen. Auch nicht, wenn er sich dagegenstemmte. Und was hatten die Blätter da zu suchen? Hatte jemand den Ausgang zugestopft?

Nur langsam dämmerte ihm, was in der letzten Nacht passiert war, und stöhnte erneut. „Das kann nicht wahr sein!“, murmelte er verzweifelt. Musste er wirklich Magie benutzen, um hier wieder herauszukommen? Er fühlte sich wie ein schwächliches Baby!

Dennoch, Dhaôma wollte hinaus. Gerade jetzt war der sonst so gemütliche Bau ein schier unerträglicher Ort. So nutzte er die Magie, um die Zweige so zu verformen, dass sie einen schmalen Ausgang freimachten.

Draußen war schon heller Tag und er verschreckte ein Rotkehlchen, als er sich ins Freie zwängte. Aufatmend streckte er sich und fuhr sich danach mit bleiernen Gliedern über das Gesicht.

„Was zum Teufel?“, fragte er und starrte seine Hände an. Es waren schwarze Linien dazugekommen. Von dem gewunden Kreis auf seinem Handrücken führte nun ein Strich zu jedem Finger. „Wow.“, wisperte er beeindruckt. „Jetzt wundert mich gar nichts mehr.“ Das Entwickeln neuer Kräfte zog im Allgemeinen alle Energie aus einem heraus, weil man noch nicht gelernt hatte, die neue Magie zu lenken.

Freude stieg in ihm auf. Es war zehn Jahre her, dass er eine neue Fähigkeit entwickelt hatte. Auch wenn sie nichts Großartiges war, es war fantastisch, dass in ihm noch versteckte Kräfte schlummerten.
 

Auch Mimoun war durch die hektischen Bewegungen aufgeschreckt worden und hatte sich den Kopf an den Ästen hinter sich gestoßen. Hastig sah er sich um. Der Bau war noch geschlossen, die Wölfe waren also nicht zurückgekehrt und hier eingedrungen. Darum umso mehr verwirrt, beobachtete er Dhaôma dabei, wie dieser erst verzweifelt an dem verschlossenen Ausgang rüttelte und ihn dann magisch öffnete.

Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Vielleicht hatte der Magier ja so was wie Platzangst und es nur aufgrund einer größeren Angst vorübergehend verdrängen können. Aber warum sollte er sich das hier dann als Versteck aussuchen?

Seufzend kroch er zum Loch, nur um feststellen zu müssen, dass der Ausgang für ihn definitiv zu klein war.

„Dhaôma?“ Hoffentlich war der Kerl nicht sonst wo hingerannt.
 

Dieser sah von seinen Armen auf. „Du bist wach?“ Hatte er nicht mitbekommen. Wohl wegen der panikartigen Flucht.

Und dann ging ihm auf, dass der Eingang zu klein war für den Geflügelten. Schwimmen konnte er nicht, um den Unterwasserweg zu benutzen. Sollte das bedeuten, er musste wieder Magie nutzen? Das ging nicht! Er fühlte sich ja jetzt schon wie Matsch im Regen.

„Ist das Messer noch da unten?“ Vielleicht gab es die Möglichkeit, die neu gewachsenen Ranken einfach durchzuschneiden, um den Deckel zu heben.
 

Durch das Licht, das durch die Öffnung drang, konnte er sich wieder besser umsehen und so entdeckte Mimoun schnell den gewünschten Gegenstand. Er hob ihn auf und wog ihn nachdenklich in der Hand.

„Gefunden. Ich hatte nicht vorgehabt, dein Bauwerk zu zerstören, aber wenn es dich nicht stört.“ Und schon setzte er das Messer an den Ranken an.
 

Irritiert blickte Dhaôma nach unten. Wovon redete dieser Kerl? Nicht zerstören? Was störte ihn nicht? „Also kommst du alleine raus?“
 

Ein Achselzucken. „Früher oder später.“ Engagiert säbelte Mimoun drauf los. Sein Blick suchte die dünneren Stellen, riss mit bloßen Händen die gelösten Ranken zu Boden. Als das Loch endlich groß genug war, ließ er das Messer fallen und zog sich am Rand empor.

„Hui. Na, hat ja doch länger gedauert.“ Gut gelaunt ließ Mimoun seine Füße noch in die Höhle baumeln und sah sich nach Dhaôma um. „Alles okay bei dir?“
 

Dieser hatte sich in der Zeit um das Frühstück gekümmert, was nicht ganz so einfach gewesen war wie sonst. Ohne Magie musste er sich auf seine Fähigkeit verlassen, Essbares zu finden! Und es war bei weitem nicht genügend für sie beide.

„Fisch zum Frühstück.“, erklärte er mit wenig Begeisterung, während er sich von seinem Stein erhob. „Holst du ihn bitte aus dem Bau?“ Jetzt, wo er sich den Holzstapel ansah, stellte er fest, dass er das Ding beim nächsten Besuch dringend reparieren sollte. Falls er bis dahin nicht vollkommen zerstört war, jetzt wo jeder Zugang dazu hatte.
 

Irgendwie sah der Magier leicht neben der Spur aus. Mit schief gelegtem Kopf betrachtete Mimoun sein Gegenüber aufmerksam. Auf seine Frage hatte er auch keine Antwort gegeben. Ob er sie überhaupt gehört hatte?

Mit einem Satz sprang der Geflügelte wieder in die enge Höhle zurück und suchte nach dem Fisch. Nur knapp verfehlte er das Messer, das er schon völlig vergessen hatte. Nachdenklich wog er es in der Hand, bevor er es zusammen mit dem Fisch ans Tageslicht holte. Den geräucherten Fisch drückte er Dhaôma in die Hand. Seinen beschnupperte er vor dem Essen kurz. Fisch schmeckte am besten, wenn er wirklich frisch war, doch es gab grade nichts anderes.
 

„Hier, noch ein paar Äpfel. Auch wenn sie sauer sind, besser als nichts.“ Dhaôma grinste, dann lehnte er sich zurück. Und wäre fast vom Felsen gekippt. Zum Glück fing er sich rechtzeitig.

„Himmel!“, murmelte er, bevor er zu Boden rutschte und sich dort gegen den Felsen lehnte. Hier unten konnte er wenigstens nicht fallen. Zumindest nicht allzu tief. „Na, ob die Reise heute sicher ist?“, fragte er seinen Fisch, biss hinein und kaute nachdenklich. „Hanebito. Heute musst du wachsam sein, ja?“
 

Wieder musterte Mimoun den Magier nachdenklich. Wortlos legte er den Fisch beiseite und lehnte sich vor, legte Dhaôma eine Hand auf die Stirn. Nein. Fieber hatte er keines. Doch was war dann mit ihm los?

„Wir können auch noch einen Tag warten und du ruhst dich aus. Auf einen mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an.“
 

Der Braunhaarige blinzelte, dann lachte er. „Mach dich nicht lächerlich. Es ist nur gehen, laufen, noch dazu am Ufer entlang. Und weit ist es auch nicht, nur soweit du es schaffst.“ Kichernd schüttelte er den Kopf. „Und Müdigkeit ist kein Grund, um nichts zu tun. Das wäre schrecklich langweilig, oder?“

Nein, er wollte heute weitergehen. Der Biberbau war nicht mehr sicher und falls die Wölfe zurückkamen, hatte es sich ausgespielt.

„Notfalls lass ich mich vom Wasser treiben. Das ist ohnehin eine angenehme Art zu reisen.“
 

„Ich bin wieder fast völlig fit. Es könnte also tatsächlich weiter werden, als es dir lieb sein wird.“, unheilte Mimoun. „Aber du musst es wissen.“

Er griff nach seinem Frühstück und aß langsam. Sein Blick glitt über den stetig fließenden Fluss. Sich vom Wasser tragen lassen, sollte eine angenehme Art zu reisen sein? Da würden doch die ganzen Sachen nass werden. Aber Dhaôma hatte Recht. Zum Nichtstun verdammt zu sein, war ausgesprochen langweilig.

„Na dann hol ich mal die Sachen.“ Und schon erhob er sich, um seine Rüstung, die Tasche des Magiers und alles andere aus dem Biberdamm zu bergen.
 

Es dauerte nicht lange, bis sie alles fertig hatten, dann ging es los.

Die frische Luft und das Laufen taten gut, weckten Dhaômas Lebensgeister und machten ihn munter. Nur leider hielt das nicht sehr lange. Das Bieberversteck war noch nicht lange außer Sichtweite, da spürte er die Erschöpfung schon wie Blei in den Gliedern. Sein Blick wurde starr, richtete sich auf den Boden, um keine natürlichen Stolperfallen zu übersehen, sein Kopf wehrte sich gegen die Müdigkeit.

Eine Stunde später gab er nach. „Ich brauche eine Pause.“, deklarierte er und ließ sich rücklings einfach ins Gras fallen. „Verfluchte Müdigkeit…“, fügte er leise nur für sich hinzu.
 

Mit einem leisen Lächeln, das sowohl Verständnis als auch 'ich hab es dir doch gesagt' ausdrückte, setzte sich der Geflügelte im Schneidersitz neben seinen Wegbegleiter. Seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf die Natur, die sie umgab, um vor bösen Überraschungen sicher zu sein.

Diese Situation war abzusehen gewesen, erinnerte ihn aber an eine ähnliche, die etwa zwei Wochen her war. Deshalb verbot es sich für ihn aus Prinzip, dem anderen diesbezüglich Vorschriften zu machen. Als Kind musste man halt noch seine Grenzen austesten.
 

Dhaôma wäre wohl sofort eingeschlafen, wenn der andere sich nicht so nahe zu ihm gesetzt hätte. Nun hatte er zwar die Augen geschlossen, aber er konnte sich nicht entspannen. Sein Geist war wach. Und hing in einer Art Schwebe. Es war ihm nicht möglich, sich auf irgendwas zu konzentrieren.

Irgendwann gab er auf. So hatte das keinen Sinn. Einfach herumzuliegen und Zeit zu vergeuden, war keine Option. Da konnte er auch weiterlaufen.

Seufzend erhob er sich, streckte sich und gähnte herzhaft. „Genug Pause. Weiter geht’s.“ auffordernd sah er den Hanebito an.
 

Dieser dachte nicht im Traum daran. Mit hochgezogener Augenbraue musterte er den Magier. „Vergiss es. Du bist nicht einmal ansatzweise ausgeruht und wirst in wenigen Minuten schon wieder völlig fertig sein. Komm schon. Willst du die Strecke in zehn-Meter-Etappen hinter dich bringen?“

Er streckte die Beine aus, wackelte mit den Füßen. „Außerdem bin ich Laufen nicht gewöhnt. Meine armen Füße.“, jammerte er gespielt. Es war gut, jemanden vorschieben zu können, wenn man nicht mehr laufen wollte.
 

Abschätzig betrachtete der Magier sein Gegenüber, wog dessen Ehrlichkeit gegen den Tonfall und gegen seine Wortwahl ab. Er kam zu dem Schluss, dass er es für ihn tat. „Danke für dein Mitgefühl, aber es ist verschwendet. Ich denke, dass ich am besten weiß, was ich zu tun bereit bin.“ Herausfordernd verschränkte er die Arme vor der Brust.
 

Bestätigend nickte Mimoun. „Ich weiß. Das dachte ich von mir auch vor nicht allzu langer Zeit. Aber sowohl du als auch mein Körper sagten mir nachhaltig, dass das dumm ist, was ich da tue. Warum kannst du jetzt ernst gemeinte Hilfsangebote einfach so abschlagen?“

Lässig lehnte er sich zurück. Er würde sich keinen Millimeter von der Stelle bewegen.
 

Kontrolliert atmete Dhaôma ein, bevor er zu lächeln begann. „Soll das heißen, dass du müde bist, obwohl du vorher so munter neben mir hergedackelt bist?“
 

„Oh. Ich wollte nur nicht, dass du Mitleid mit mir hast und allzu sehr Rücksicht auf mich nimmst.“, konterte Mimoun.
 

„Also ist das alles nur Fassade?“, fragte der Braunhaarige. „Das ganze lockere Getue, die Entspanntheit und die Genesung? Die gute Laune etwa auch?“ Er seufzte. „Dir ist echt nicht zu helfen. Wenn es dir schlecht geht, hättest du das sagen sollen.“
 

Kaufte der Kerl ihm das jetzt etwa wirklich ab?

„Das sagt der Richtige.“ Mimoun deutete auf sein Gegenüber. „Du solltest dich mal anschauen. Wenn du könntest, würdest du doch im Stehen schlafen. Warum kannst du nicht sagen, wenn es dir schlecht geht?“
 

„Ich bin müde. Das heißt nicht, dass es mir schlecht geht.“ Er löste die Arme voneinander und hob seine Tasche auf. Ein Blick aus Eis traf den anderen. „Aber fein. Wenn du so erschöpft bist, gehen wir zurück zum Bieberbau. Eine Nacht ohne Schutz ist keine erfreuliche Sache in diesem Wald. Und einen ganz neu zu bauen, würde zu lange dauern.“
 

Mimoun griff sich an den Kopf und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Dieser Kerl schaffte ihn.

„Nettigkeiten sind bei dir also vergebliche Liebesmüh. Danke für diese Information. Wird nicht wieder vorkommen. Versprochen.“, gab er ebenso eisig zurück, erhob sich und setzte sich in die ursprünglich eingeschlagene Richtung fort.
 

Wenigstens hatte er das begriffen. Dhaôma seufzte und folgte ihm.

Wenn es nur um Nettigkeiten gehen würde, hätte er keine Probleme, sie anzunehmen, aber er konnte es partout nicht ertragen, wenn jemand anderes Anspruch erhob, besser als er zu wissen, was gut für ihn war und was nicht. Seit er acht war, stand er auf eigenen Beinen. Das sollte auch so bleiben.

Und genau dieser Gedanke ließ ihn diesmal länger durchhalten. Sturheit siegte bekanntermaßen. Und er konnte stur sein.
 

Mimoun zog sich zurück. Er wich dem Magier zwar nicht offen aus, doch er weigerte sich, von sich aus ein Wort an ihn zu richten. Stur setzte er einen Fuß vor den anderen, den Blick immer geradeaus auf sein Ziel gerichtet.

Wie sollte er je seine Schuld begleichen, wenn dieser... dieser Magier alles, was er ihm Gutes tun wollte, so in den Dreck zog? Wieso half ihm dieser Kerl, warum versuchte er offenkundig besser mit einem Geflügelten auszukommen, wenn er alles Freundliche von dessen Seite abblockte? Und warum war er selbst so enttäuscht über diese Entwicklung? Es war nur ein Magier. Es war einfach nur einer seiner Feinde. Am besten, er begann es wieder so zu sehen. Am besten betrachtete er ihn einfach wieder als gefährlichen Gegner. Er würde ihn nicht umbringen, wenn sich ihre Wege trennen sollten, und das Thema wäre damit erledigt. Nichts, was Mimoun dem Magier dann noch schulden würde. Ein Leben für ein anderes.
 

Es war schon Mittag, als sie einen Felshang erreichten. Vielleicht sollte man es eher als Geröllhalde bezeichnen, denn genau so verhielt sich der Anfang der Hügelkette. Ein paar karge Pflanzen hatten nach dem letzten Erdrutsch versucht, sich zu etablieren, aber da es jedes Frühjahr erneut Schlammlawinen gab, hielten sie sich nicht lange. Oberhalb dieses Steinfeldes wusste Dhaôma von einem Graszelt mitten im Wald. Dort würden sie bis morgen bleiben können. Aber vorher hieß es noch, den Schotterhaufen zu erklimmen.

Jetzt wäre es wirklich gut, fliegen zu können, dachte Dhaôma, bevor er einen fragenden Blick zu dem Hanebito warf. Immer noch hatte er kein Wort gesagt, auch keine Erklärung abgegeben. Er wartete darauf, dass der andere sagte, was er wollte.
 

Das Laufen zehrte an seinen Kräften. Er war noch lange nicht so weit, es als selbstverständlich zu nehmen. Und noch weit davon entfernt, dass es nicht mehr so ermüdend sein würde.

Tief atmete er durch, als sie an diesem Steinhaufen ankamen. Vor seinen Augen wuchs die Höhe um ein beträchtliches Maß, so dass es fast aussah, als könne er darauf direkt zu den Inseln klettern.

Erschöpft wischte er sich mit dem Arm über das Gesicht und das Bild normalisierte sich wieder. Dass sie da rauf mussten, war klar. Auch der fragende Blick Dhaômas war ihm nicht entgangen. Dennoch machte er sich ohne ein Wort oder sonst eine Reaktion an den Aufstieg.
 

„Also gehen wir weiter.“, wisperte Dhaôma für sich, grinste.

Er konnte sehen, was für ein dummes Spiel sie hier spielten, wie kindisch sie sich verhielten, aber es war ihm unmöglich, einzulenken. Es war in seinem Kopf wie eine Fessel: Gib nicht nach!

Also folgte er dem Hanebito, seinen Atem zur Ruhe zwingend. Unter seinen Schuhen glitten kleine Steinchen weg und ließen seinen Schritt unsicher werden. Von oben kamen auch immer wieder Steine gerollt, wenn der Hanebito einen lostrat.

Was versuchten sie hier zu beweisen? Wollten sie sich umbringen, um dem Kampf untereinander zu entgehen? Wozu?

Damit der Stolz nicht litt.

Diese Einsicht kam zu spät, denn sie waren bereits mitten auf dem Feld, aber sie ließ den Kampfgeist aus Dhaôma entweichen. Eigentlich wollte er doch, dass der Hanebito sein Zuhause sicher erreichte.

„Warte.“, sagte er schließlich. Laut, fest, überzeugend. Seine Schritte verharrten auf einem großen Felsblock.
 

Mimoun hörte den Ruf und atmete innerlich erleichtert auf. Es bedeutete eine Pause und sei sie noch so kurz. Laufen war eine Qual, bergauf Laufen eine größere und wenn sich dabei auch noch Steinchen lösten und seinen Tritt unsicher werden ließen, war das fast die Hölle für seine schmerzenden Beine und Füße.

Wortlos drehte er sich um, fixierte den Magier unverwandt. Noch immer kam kein Ton über seine Lippen. Stumm wartete er auf die nächsten Worte.
 

Der Braunhaarige strich sich die Fransen aus der Stirn hinter das Ohr, wo sie genauso wenig blieben wie sonst. Seine Augen fixierten den anderen mit einem Ernst, der sich in seiner Haltung widerspiegelte. Nach einiger Zeit begann er zu lächeln und mit all der Ehrlichkeit, die in ihm war, sagte er: „Ich will keinen neuen Kampf zwischen dir und mir. Nicht, wenn es um so etwas Lächerliches geht wie verletzten Stolz. Ich habe genug von Hass.“
 

Der Geflügelte betrachtete den Magier wortlos. Betrachtete das Lächeln, ließ die Worte auf sich wirken. Sein Blick glitt zu Boden und er drehte sich wieder um. „Ich hatte nicht vor, gegen dich zu kämpfen. Ich gehe nur wieder nach Hause.“, sagte er leise und fast niedergeschlagen, bevor er seinen Weg fortsetzte.

Es ist nur ein Magier, wiederholte Mimoun in Gedanken immer wieder. Es ist nur ein Magier. Lass dich nicht darauf ein. Nicht so kurz vor dem Ziel.
 

„Und damit du genau dieses Ziel erreichst, ohne dir noch mehr zu tun, als dein Körper ohnehin schon abbekommen hat, dafür bin ich da.“, stimmte der Junge zu. „Komm her. Du trinkst etwas, wir ruhen uns ein paar Minuten aus und anschließend gehen wir ins Zelt.“ Von Anfang an hatte er nicht vorgehabt, an diesem Tag weiterzugehen als bis dorthin. Es wäre zu viel für seinen Patienten.
 

Sein Schritt stockte. Unmerklich ballten sich seine Hände zu Fäusten, bohrten sich seine Fingernägel in den Handballen. „Wie du wünscht.“

Sein Weg führte ihn nun wieder ein Stück den Hang hinunter, den er sich gerade so mühsam erkämpft hatte. Mit seinem Blick dem Magier ausweichend, suchte er einen größeren Brocken, auf den er sich bequem setzen konnte. Es tat gut. Es war wirklich erleichternd nicht mehr auf den Beinen sein zu müssen.

Wortlos und den Blick gen Boden vor Dhaômas Füßen gesenkt, streckte der Geflügelte die Hand nach dem Wasserschlauch aus.
 

Dieser händigte ihm das Wasser aus und ließ dann den Blick über den Wald unter ihnen wandern. Eigentlich mochte er diesen Ort. Man hatte einen schönen Ausblick von hier. Es war fast immer warm, weil die Steine die gespeicherte Sonnenwärme kontinuierlich abgaben. Auch jetzt wirkte diese Wärme filternd. Für die Gefühle, die in ihm geschwelt hatten.

Wieso hatte er sich wegen ein paar alberner Ideen so verhalten? Warum hatte er nicht nachgeben und zugeben können, dass er müde war, damit sich der Hanebito noch ein wenig ausruhen konnte? War es wirklich so schrecklich, wenn jemand in der Nähe war, wenn er schlief? Weil er es nicht mehr gewöhnt war? Weil er Angst hatte, sein Herz zu verlieren? Angst davor hatte, verletzt zu werden?

So ein Unsinn. In erster Linie waren sie keine Freunde. Wenn der Hanebito erst wieder Zuhause war, würde er sich auf den Weg machen und einen Freund suchen, der ihm nicht das Herz brechen würde. Und es würde nicht so sein, dass er ihn vermisste, weil er ohnehin nicht sagen konnte, wer dieser Mensch eigentlich war. Alles, was er kannte, waren ein paar oberflächliche Augenblicke aus dem Leben eines Verletzten, der ihm immer noch nicht genug vertraute, um ihm seinen Namen anzuvertrauen. Der selbst auf Anfragen sein Leben und seine Gedanken nicht mit ihm teilen wollte.

Also sollte er sein kindisches Verhalten ablegen. In ein paar Tagen war sowieso alles vorbei.

Warum stimmte ihn der Gedanke so traurig?

Ein leises, selbst verachtendes Kichern entwich ihm. Hatte er diesen Starrkopf von Hanebito etwa gern? War er noch zu retten? Wo er doch eigentlich erwarten musste, dass er die nächste Woche nicht mehr erlebte? Selbst wenn dieser Hanebito sagte, er würde nicht gegen ihn kämpfen, diejenigen, die ihn abholten, waren mit Sicherheit nicht so gutmütig.
 

Dieses Kichern irritierte Mimoun und er sah auf. Beobachtete den Magier schweigend, ließ den Blick diesmal auf ihn gerichtet. Eigentlich wollte er fragen, ob alles okay war bei ihm, doch er wusste nicht, ob das unter Nettigkeiten zu zählen war. Und er hatte doch gesagt, so was würde nicht mehr vorkommen.

Der Geflügelte rutschte von seinem Felsen herunter und setzte sich auf den Boden, lehnte sich dagegen. Sein Blick folgte dem des Magiers und glitt dann Richtung Himmel, folgte dem Flug der Inseln. Wie sehr sehnte er sich danach, wieder den Wind unter den Flügeln zu spüren.

Zaghaft streckte er die Hand aus und versuchte winzige Luftströmungen zu ertasten, die sich bis nach hier unten zwischen die Felsen verirrt hatten.

Mimoun drehte seinen Kopf wieder zu Dhaôma. „Ich versuche es möglichst nicht nett klingen zu lassen… Du solltest dich auch setzen.“
 

Dhaôma, aus den Gedanken gerissen, blinzelte ihn irritiert an, dann nickte er mit einem Lächeln. Hatte er das doch einfach vergessen. Himmel, dabei ging es darum, dass er sich ausruhte.

Seltsamerweise hatte er seine Müdigkeit vergessen. Sie war noch da, lauerte am Rande seines Bewusstseins auf einen unachtsamen Moment, um wieder zuzuschlagen, aber er konnte sie unter Kontrolle halten.

Dennoch ließ er sich auf den Felsen sinken, bis er lag. Den Rücken überstreckend, ruhte der Kopf auf dem Strang Haare, die ein Band zusammenhielt. Alle Viere von sich gestreckt, spürte er der Sonne nach, die hier gnadenlos herab brannte, bis sich eine Insel vor sie schob. Es tat gut, die Schwerkraft arbeiten zu lassen, all die Muskeln zu dehnen, die in der letzten Nacht in dieser unsäglichen Position verbracht hatten.
 

Mimoun seufzte erleichtert und lächelte still. Also hatte er dieses dumme Kind nicht noch einmal verärgert. Es hätte ihn wahrscheinlich dazu bewogen, ohne den Magier einfach weiter in die eingeschlagene Richtung zu marschieren und einfach sein Glück zu versuchen. Seine Feinde sollten dieses Gebiet ja angeblich meiden, da dürfte es wohl keine so große Herausforderung werden.

Erschöpft schloss er die Augen. Der Marsch hierher hatte ihn doch mehr ermüdet, als er erwartet hatte. Oder es war die Anspannung und der Frust, die gerade unter diesem Lächeln zerbröselt wurden.

Mimoun hieb sich den Handballen gegen den Kopf. Jetzt ließ er sich tatsächlich schon wieder dazu hinreißen, den Magier als was anderes anzusehen, als er war: ein Feind.

Sein Blick glitt über den hingestreckten Körper, der nicht weit entfernt von ihm lag. Mit einem erneuten Seufzen ließ er sich ebenfalls in die Waagerechte sinken und schloss die Augen. Ein wenig Dösen konnte sicher nicht schaden. Er würde ja nicht schlafen und dabei die Aufmerksamkeit auf die Umgebung verlieren.
 

Die Insel war ein gutes Stück weitergewandert, als Dhaôma beschloss, dass es genug Pause war. Irgendwann heute mussten sie bei dem Graszelt ankommen. Besser früher als später, damit er sich noch ein separates Versteck suchen konnte.

Als er zu dem Hanebito kam, um ihm zu sagen, dass es weiterging, fand er ihn schlafend vor. Sein Mund stand leicht offen, auf seiner Stirn lag eine tiefe Falte. Hatte er etwa selbst im Schlaf noch Sorgen? Oder waren es Schmerzen?

„Hey, Hanebito, wach auf. Wir müssen weiter.“, leicht tippte er gegen die gesunde Hand.
 

Der Geflügelte stöhnte gequält. Seine Hand schob sich langsam unter seinen Rücken und zog einen kleineren, spitzen Stein hervor. „Verdammt. Wie kann man auf so was einschlafen?“, murrte er und warf ihn mit wenig Elan in eine beliebige Richtung davon.

Fluchend erhob er sich. Anfangs hatte dieses fiese Mineral dort nicht gelegen, da war er sich sicher. Es musste erst im Laufe des Nickerchens durch ungeschickte Bewegungen dort hingelangt sein.

Er fühlte sich noch müder als vor der Pause und gähnte deshalb herzhaft, blinzelte schläfrig zu dem Magier empor. „Morgen.“, murmelte er.
 

„Ja, Morgen.“, lachte Dhaôma. Die kleinen Augen in Verbindung mit den verstrubbelten Haaren, die er immer trug, schrieen laut das Wort ‚müde’. „Das nächste Plätzchen ist bequemer, versprochen.“ Er hielt ihm auffordernd den Wasserschlauch entgegen. „Und weit ist es auch nicht mehr.“
 

Statt nach dem Wasserschlauch umfasste Mimoun den Arm, in dessen Hand er sich befand, und zog sich hoch. Träge ließ er die Hand hinunter gleiten und griff als nächstes nach dem Wasserschlauch.

„Entschuldige.“ Kurz entschlossen kippte er sich einen Schwung Wasser über den Kopf. Mit heftigem Schütteln versuchte er einerseits das überschüssige Wasser aus seinen Haaren als auch die bleierne Schwere aus den Gliedern zu bekommen.
 

Vollkommen baff nach dem ungewöhnlichen Übergriff konnte Dhaôma nichts erwidern, als das Wasser schon die Strubbelhaare nach unten drückte. Es war so schnell, so flüssig gegangen. Er konnte sich nicht einmal rühren, als die Tropfen ihn trafen. Was…

„Was sollte das denn?“, fragte er schließlich vorwurfsvoll, verlagerte das Gewicht auf den linken Fuß und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Augenbrauen bildeten eine tiefe Furche auf seiner Stirn. „Der nächste Fluss ist noch ewig weit von hier entfernt!“
 

„Reg dich ab. Ist ja nicht alles. Ich verzichte auch auf meine nächste Ration.“, erwiderte Mimoun und reichte den Wasserschlauch zurück. Seine Finger fuhren durch das Haar und sammelten einige Wassertropfen auf, die er sich dann von der Hand leckte.

Sein Blick glitt den Hügel hinauf. „Außerdem brauche ich als ungeübter Läufer für diesen Aufstieg meine volle Konzentration.“, lächelte er zuvorkommend.
 

Lautlos seufzend rieb sich Dhaôma über die Nasenwurzel.

Nur ruhig, es dauert nicht mehr lange, beruhigte er sich und sagte die Worte wie ein Mantra in seinem Inneren auf. Ohne eine Antwort packte er den Wasserschlauch in die Tasche zurück und begann den Aufstieg erneut. Zweimal blieb er stehen, um eine Pflanze zu pflücken und im Gepäck zu verstauen, ansonsten hielt er ein konstantes, meditatives Tempo. Nicht zu langsam, nicht zu schnell. Wenn er merkte, dass er zu viel Vorsprung hatte, blieb er stehen und wartete, um seinen Rhythmus dann wieder zu finden. Diese Art zu laufen war die einzige Möglichkeit für ihn.

Es dauerte etwa eine Stunde, bis sie oben ankamen. Dann hieß es, einen sicheren Aufstieg über den Vorsprung zu finden, der noch etwa zweieinhalb Meter senkrecht über ihnen aufragte. Der Hanebito konnte mit dem gebrochenen Arm wohl kaum klettern. Ob es mit der Rüstung überhaupt möglich war, bezweifelte er sowieso. So suchten seine Augen nach einer Wurzel oder ein paar groben Felsen, auf die sie sich stellen konnten. Etwa zweihundert Meter weiter konnte er etwas Passendes erahnen und machte sich mit einem kurzen Kommentar dorthin auf.
 

So wirklich hatte die kurze Dusche gegen die Müdigkeit nicht geholfen, dafür das Laufen umso mehr. Es war nicht immer einfach. Immer wieder rutschte ein Stein unter seinen Füßen weg und behinderte seinen Lauf. Doch der Magier nahm genug Rücksicht auf ihn, dass er nicht den Anschluss verlor. Dieser schien diesmal ausgeruhter zu sein als er. Dabei war das doch nur eine kurze Pause gewesen.

„Oh nein.“, keuchte Mimoun ergeben und sah diese im Normalfall eigentlich nicht sehr hohe Wand vor sich aufragen. „Das ist nicht wahr.“

Dhaômas Kommentar hatte den Geflügelten in dessen Schock nicht erreicht. Unglücklich spreizte er die Flügel und versuchte wenigstens dieses kleine Hindernis zu überflattern, doch schon knapp über dem Boden zwang ihn das Ungleichgewicht wieder zur Landung. Völlig frustriert rammte er seine Faust gegen den Fels. Nicht einmal zu solch einer Kleinigkeit war er noch fähig!

Hilflos sah er sich nach dem verschwundenen Magier um. Dieser befand sich etwas weiter weg von ihm und niedergeschlagen, trottete er in dessen Richtung.
 

Dhaôma erreichte kurz darauf einen Ort, an dem er es schaffen konnte, dem Hanebito über diese Stelle hinwegzuhelfen. Mit einem Satz kletterte er auf einen großen, relativ flachen Stein und streckte sich. Er reichte geradeso an die Kante, die zwar brüchig aussah, aber von ein paar Wurzeln hoffentlich gehalten wurde. Dort konnte sich der andere auch festhalten und hochziehen.

Geduldig wartete er, bis der Schwarzhaarige herangekommen war. „Du siehst echt fertig aus. Willst du doch was trinken?“ Bisher hatte er selbst nichts angerührt, sparte es für denjenigen auf, der verletzt war.
 

„Nein danke. Mir geht es gut.“, murmelte Mimoun und wich dem Blick des anderen aus. Stattdessen begutachtete er das Konstrukt, das sich dieser zum Überwinden des Hindernisses gesucht hatte. „Ob das funktioniert?“
 

„Sicher funktioniert das. Du müsstest dazu allerdings deinen Stolz überwinden und auf meine Schultern steigen. Danach solltest du in der Lage sein, dich mit einer Hand hochzuziehen, oder?“, erklärte er, ohne ihn dabei anzusehen.

Das Wasser verschwand ungenutzt wieder in der Tasche.
 

„Was hat das mit Stolz zu tun, gut gemeinte Hilfe anzunehmen?“ Mimoun sah Dhaôma offen ins Gesicht.
 

Tja, wenn er das nicht wusste, wer konnte ihm dann dieses Verhalten erklären?

Aber Dhaôma lächelte ihn nur an. „Wirst du es tun?“, hakte er nach.
 

„Tja. Um das herauszufinden, müsstest du erst einmal vor mir auf die Knie gehen.“, sprach der Geflügelte leichtfertig aus. „Sonst könnt ich auch gleich von hier unten da hoch klettern.“ Sein Blick wanderte wieder den Rand des Vorsprungs entlang. Na das würde ein Spaß werden.

Dann ging ihm auf, wie das Gesagte in den Ohren des anderen klingen musste. „Verzeih.“
 

Diesmal fiel es dem Braunhaarigen schwerer, die Spitze zu übergehen, aber er schaffte es, sein Lächeln aufrechtzuerhalten. Und es wurde einfacher, als er die Entschuldigung hörte. „Kein Problem. Da ich dir keine große Erfahrung zuspreche, was Klettern betrifft, schiebe ich es der Ungeübtheit zu.“

Mit dem Rücken lehnte er sich gegen den Felsen, ging in die Knie und hielt dem anderen seine Hände entgegen. So ergab er eine Art natürliche Treppe. Sein Oberschenkel, seine Schulter, danach konnte er sich aufrichten und schon war es nach oben nur noch ein knapper Meter. Das sollte gehen.
 

Mimoun lächelte dankbar, als er hörte, dass der Magier ihm seine Worte nicht übel zu nehmen schien.

„Und du bist wirklich sicher, dass du mich tragen kannst?“, fragte er sicherheitshalber noch einmal nach, als seine Hand bereits auf der Schulter des Braunhaarigen ruhte und er seinen Fuß prüfend auf dem angebotenen Oberschenkel platzierte. „Es wäre nicht von Vorteil, wenn wir beide hier verletzt rumkrauchen.“
 

Dhaôma kicherte. „Hey, vergessen, dass ich dich in die Höhle getragen habe? Und da hast du nicht vorteilhaft dein Gewicht verlagern können, sondern warst sperrig wie ein halber Baum. Mit Blättern wohl gemerkt.“ Er zeigte verschmitzt auf die Flügel. „Beweg dich einfach langsam, dann sollte auch das Gleichgewicht kein Problem sein.“
 

„Ich weiß ja nicht, wie weit es war, aber hast du mich etwa die ganze Strecke durchgetragen?“, wollte er verblüfft wissen. Doch die Antwort wartete Mimoun erst gar nicht ab. Ab besten brachten sie dieses Hindernis so schnell es ging hinter sich.

Langsam schob er sich nach oben, nutzte die leicht geöffneten Flügel als weitere Gleichgewichtshilfe, als er seine Hand gegen die Felswand drückte und den nächsten Fuß auf der Schulter des Magiers absetzte. Prüfend sah der Geflügelte auf Dhaôma hinab, bevor er sich weiter nach oben schob.
 

Dieser antwortete auch nicht. Es war nicht wichtig, dass er wusste, dass er zweimal Pause machen musste. Stattdessen versuchte er abzuschätzen, wann er sich aufrichten musste, und gab sich große Mühe, das ohne großes Gewackel durchzuführen. Als seine Beine endlich durchgedrückt waren, konnte er aufatmen. Jetzt war die Gefahr, dass er zusammenbrach nicht mehr so groß.
 

In derselben Geschwindigkeit wie Dhaôma sich streckte, suchte die Hand des Geflügelten nach oben hin immer wieder sicheren Halt, um eventuelles Ungleichgewicht kontrollieren zu können. Nachdem der Magier aufrecht stand, war es Mimoun endlich möglich sich einfach und ohne große Anstrengung über die Kante zu schieben.

Erleichtert rollte er sich auf den Rücken und atmete tief durch. Diese Hürde war geschafft. Jetzt hieß es nur noch, seinen Begleiter hier hinauf zu befördern. Mimoun rollte sich wieder zum Rand hin und streckte einen Arm hilfreich nach unten. „Los. Komm.“
 

Dhaôma war, sobald das Gewicht von seinen Schultern genommen war, zusammengesunken. Was ein Kraftakt! Und er hatte die ganze Zeit über die Luft angehalten. Zumindest fühlte es sich so an. Seine Brust hob und senkte sich wie nach einem Dauerlauf.

Kläglich sah er hinauf. „Meine Beine sind wie Gelee. Ruh dich da oben ein bisschen aus. Sobald ich kann, komm ich nach.“ Er lachte leicht verschämt. Wieso musste er so schwach sein?
 

„Komm schon. Ausruhen können wir uns auch hier oben zusammen.“ Noch immer war der Arm auffordernd in Dhaômas Richtung ausgestreckt. „Oder hast du etwa Angst ich könnte dich Fliegengewicht nicht aushalten?“, grinste er hinterhältig.
 

„Nein, ich habe Angst, dass meine Beine mich Fliegengewicht nicht tragen.“, gab der Junge zurück und schloss die Augen. Das Wort Fliegengewicht hatte er genauso ausgesprochen, wie es der Hanebito gemacht hatte. Leicht herausfordernd. „Sobald die wieder funktionieren, darfst du mich gerne hochziehen.“ Auch wenn er nicht begeistert von der Idee war. Er konnte gut klettern und der Hanebito war immer noch verletzt, auch wenn diesem das immer wieder zu entgehen schien.
 

Mimoun zog nach einigem Zögern den Arm wieder nach oben und bettete seinen Kopf darauf, während er weiterhin den Magier beobachtete. Von dem bisschen Anstrengung so fertig zu sein war nicht normal. Doch er wusste ja nun aus hinreichender Erfahrung, dass sich dieser Kerl in solchen Situationen unter gar keinen Umständen helfen lassen würde.

Der Geflügelte rutschte ein wenig auf seinem Platz herum, bis er eine angenehme Position gefunden hatte und ließ sich die Sonne auf den Rücken scheinen. Na gut. Würde er eben hier oben warten. Protestieren half jetzt sowieso nichts mehr.
 

Dhaôma brauchte fast fünfzehn Minuten und eigentlich hätte er noch länger liegen bleiben wollen, aber der Wald versprach angenehmer zu sein. Zumal ihnen ja auch das Wasser ausging. Also rappelte er sich hoch, trank einen Schluck und rief hinauf:

„Hanebito, fang!“ Und schon flogen erst der Wasserschlauch und dann der Rucksack hinauf.
 

Mimoun, aus seiner warmen, angenehmen Stille gerissen, war so perplex, dass er zwar den Rucksack, aber nicht mehr den Wasserschlauch fangen konnte. Als er sich ruckartig aufrichtete, klatschte ihm das Ding ungebremst mitten ins Gesicht.

„Danke für die Warnung.“, murmelte er und hielt sich die Nase. Dann wanderte sein Blick über die Kante nach unten. „Soll ich helfen?“, fragte er und reichte den Arm wieder nach unten.
 

Dhaôma seufzte. Ihn wieder verärgern, indem er keine Hilfe annahm, wollte er eigentlich nicht, also nahm er für den letzten Schritt die Hand an. Er kletterte gut, wie sonst sollte er auf die Bäume kommen, auf denen er so gerne schlief?

„Danke.“, sagte er dennoch und streckte sich. „Wie kannst du so schwer sein, wenn du so dünn bist?“
 

Ein bezeichnender Blick von Mimoun glitt über seine Rüstung. „Ich hab nicht die leiseste Ahnung.“, log er, ohne es auch nur ansatzweise zu verbergen. Auch Mimoun streckte sich einmal durch. Dhaôma war kein Fliegengewicht, wie der Geflügelte behauptet hatte. Dennoch gab er dem Magier nicht die Gelegenheit, nach dem Rucksack zu greifen. Mit der Tasche über der Schulter und dem Wasserschlauch in der Hand sah er sich um.
 

„Das ist meiner.“, deutete der Braunhaarige auf den Rucksack. „Gib ihn mir bitte zurück.“ Da waren seine Samen drin und ein paar andere wichtige Dinge.
 

Mimouns Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Er sollte dem Magier Vertrauen schenken, aber der traute ihm nicht einmal zu, eine Tasche sicher zu tragen. Als würde er das Ding zerstören wollen.

Wortlos reichte er dem Magier seine Sachen zurück und setzte seinen Weg fort. Nicht diskutieren. Einfach die Sache endlich beenden.
 

„Ein bisschen mehr nach Rechts.“, gab der Junge die Anweisung und seine Augen glitzerten amüsiert. Was war denn los mit dem Hanebito? Da war er so erpicht darauf, nach Hause zu kommen und ihm nicht zu trauen, aber ständig wollte er ihm helfen. Hatte er sich nicht vorgenommen, ihm eben nicht mehr zu helfen?

Den Kopf leicht schüttelnd schlüpfte er in die Träger und folgte Mimoun. Es schien irgendwie so, als wäre er plötzlich zutraulich. Wie ein streunender Hund, der begriffen hatte, dass ihm nichts passierte und deshalb Angst um seinen Stand bei seinem Retter hatte – oder interpretierte er da zuviel hinein?

Schon tauchte er wieder in den Wald ein. Kühle Stille empfing ihn und Dhaôma atmete befreit auf. Nichts gegen Wärme, aber der Wald ging ihm doch über alles.
 

Der Geflügelte blieb kurz vor dem Wald stehen und ließ seinen Blick über das Dickicht streifen. Wälder waren nicht sein Zuhause. Mit seinen Flügeln konnte er sich nicht frei darin bewegen.

Tief seufzend trat der Geflügelte wieder an die Seite des Magiers. Wenn dieser sagte, sie mussten hier lang, dann musste er wohl oder übel hier durch.

Sein Blick glitt wieder über die Felsen hinter ihnen. „Hattest du nicht gesagt, bei den Felsen könnte ich meine Leute fliegen sehen und wieder nach Hause gehen können?“
 

Dhaôma nickte. „Aber nicht diese Felsen. Sie sind bei weitem nicht so gut belebt wie die Schlucht vor der kargen Zone. Die Wälder bieten zu viel Schutz, um gute Beute zu erlegen.“ Und weil das eigentlich nur seine Theorien waren, fügte er kichernd hinzu: „Vielleicht gefällt es ihnen hier auch einfach nicht, wer weiß das schon. Frag sie selbst, sobald sie sich zeigen. Im Übrigen dauert es noch mindestens zwei Tage, wenn wir in diesem Tempo weitergehen.“
 

Auch Mimoun lächelte. Wenn auch wehmütig. Nur noch zwei Tage. Das hatte er schon einmal gehört. Und das Ergebnis waren nun mittlerweile drei Wochen.

„Beschrei es nicht.“, meinte er deshalb nur ohne erklärenden Zusammenhang. Noch immer hing sein Blick an den Felsen, wanderte höher zu den Wolken hinauf, die zwischen den Inseln trieben. Er konnte niemanden entdecken.
 

Die Worte klangen weit weg, so blieb Dhaôma stehen. „Was ist? Komm.“ Und er wandte sich wieder zum Gehen in den Wald. Immerhin ging es nicht schneller, wenn sie einfach hier warteten.
 

Trotz des Rufes hing Mimouns Blick noch einige Sekunden am Himmel fest, bevor er sich schließlich abwandte. Es brachte nichts, hier sinnlos herum zu stehen und die Zeit noch mehr zu verlängern.

Sorge

Kapitel 5

Sorge
 

Kurze Zeit später fand Dhaôma einen Wildwechsel, der es dem Hanebito leichter machen würde, vorwärts zu kommen. Da auch die Tiere alle zum Wasser gezogen wurden, konnte er sich fast sicher sein, dadurch den Fluss zu erreichen. Inzwischen sehnte er das Ende des Tages herbei. Schlafen. Mehr wollte er nicht. Einfach nur schlafen. So lange wie möglich. Und danach würde er beginnen, die neue Kraft zu üben.

Den Rest des Weges beschäftigte er sich mit dem Gefühl, das die neue Magie in ihm ausgelöst hatte, um hinter ihre Wirkung zu kommen und herauszufinden, wie er sie entfesseln konnte. Kurz bevor sie das Graszelt erreicht hatten, fand er den Schlüssel. Unter seiner Haut konnte er die Kraft spüren, wie sie hervordringen wollte, wie sie freizukommen versuchte.

Unvermittelt blieb er stehen, schloss die Augen und unterdrückte sie mit aller Kraft. Er wollte nicht schon wieder ohnmächtig werden.
 

Wie nicht anders zu erwarten, zehrte das ständige Ästen Ausweichen und durch Büsche Drängen an seinen Kräften. So war er sehr dankbar, als sie schließlich auf diesen Wildwechsel stießen. Er ließ die Schwierigkeiten zwar nicht vollständig verschwinden, doch machte er das Vorwärtskommen erträglicher.

Und da er seine Aufmerksamkeit nicht mehr vollständig auf seinen Weg richten musste, begann er die Umgebung zu betrachten, den Geruch des Waldes in sich auf zu nehmen, den Geräuschen zu lauschen. So entging ihm der plötzliche Stopp des Magiers und er stieß gegen ihn.
 

Es riss Dhaôma aus seiner Konzentration und ließ die Kontrolle brechen. Seine Arme begannen zu leuchten, nur die kleinen dreieckigen Linien auf seinen Fingern, aber er spürte sofort, dass es zu viel Kraft war, dass sie ungerichtet floss und viel zu schnell.

Er ging in die Knie, presste die Hände auf den Boden, versuchte die Magie einzudämmen, doch alles, was er erreichte, war, dass sie sich in den Boden richtete. Verwelkte Gräser wurden wieder grün, graubraune Blütenblätter bunt und kräftig, eine zerbrochene Nuss ohne Inhalt trieb Wurzeln.

Dann kippte er zur Seite. Das Leuchten erlosch. Die Reserven waren endgültig erschöpft.
 

Durch den unerwarteten Zusammenprall erschrocken wich der Geflügelte einige Schritte zurück und setzte bereits zu einer Entschuldigung an, als er sah, wie Dhaôma in die Knie ging. Die Zeichen auf seinen Fingern leuchteten. Das hieß, dass er Magie einsetzte, soviel hatte Mimoun mittlerweile begriffen. Doch warum jetzt, warum hier? Hektisch sah er sich um, doch nichts deutete auf eine Bedrohung hin.

Nicht wissend, was er sonst tun sollte, trat er wieder einen Schritt vor und streckte die Hand aus. Dabei sah er, wie unter den Händen des Magiers das tote Gras wieder zum Leben erweckt wurde. Was bezweckte Dhaôma damit? Mimoun verstand es nicht.

Als dieser umkippte, sprang der Geflügelte sofort an seine Seite. Hektisch rüttelte er an der Schulter des Magiers. „Dhaôma? Komm schon. Wach auf. Was ist mit dir?“ Als keine Reaktion kam, setzte er sich neben ihn. Tief und kontrolliert atmete er ein und aus. Was sollte er jetzt tun? Erst musste er einen Ort finden, wo sie sicher vor Raubtieren waren. Doch er konnte den Magier in seinem Zustand hier nicht allein lassen. Nur, ob er imstande war, ihn ziellos durch die Gegend zu schleppen, wagte er zu bezweifeln.

Sein Blick irrte den Wildwechsel entlang. Durch den Wald schleppen ohne Ziel wäre noch anstrengender. Vielleicht sollte er gucken, wohin dieser Weg führen würde? Es war zumindest die einfachste Möglichkeit, die es gab. Nein, korrigierte er sich. Es gab eine einfachere, stellte er mit einem Blick auf den Magier fest, doch diese kam für ihn nicht in Frage. Dafür verdankte er Dhaôma zuviel.

Vorsichtig löste er den Rucksack von den Schultern des Magiers. Na toll. Und wie sollte er den Magier von hier wegbewegen? Wenn er noch zwei gesunde Arme hätte, wäre das nicht das Problem. Seine gesunde Hand glitt über die Schiene am Arm. Kurz überlegte er noch und löste dann den Verband, so dass die Stöcke, die seinen Arm in der richtigen Position halten sollten, ungehindert zu Boden fielen. Mit dem Stoffstreifen band er Dhaômas Handgelenke zusammen, trotz allem darauf bedacht, dass diesen nicht die Blutzufuhr abgeschnürt oder schmerzende Einschnitte zugefügt wurden. Sein rechter Arm war fast nutzlos. Er schaffte es kaum, den Knoten entsprechend festzuziehen. Und wirklich zufrieden war Mimoun auch nicht mit seinem Werk. Doch was blieb ihm anderes übrig? Hier konnten sie unmöglich bleiben. So völlig ohne Deckung und Nahrung und Wasser. Obwohl das Wasser nicht weit entfernt war. Er konnte das leise Rauschen bereits hören.

Den Rucksack trug er vorne. Den Magier wuchtete er hoch, legte sich dessen gefesselte Hände um den Hals und sorgte dafür, dass dieser sicher zwischen den Flügeln hing.

„Na gut. Dann los.“ Die Hände des Magiers festhaltend, damit sie ihm nicht die Luft abschnürten, erhob er sich, fluchte ein wenig aufgrund des großen Gewichts und der damit zu erwartenden Anstrengung, und schleppte sich Schritt für Schritt den Waldwechsel entlang, immer der Quelle des Geräuschs entgegen. Auch wenn der Weg durch die Last sich in die Länge zog, war es nicht einmal ansatzweise so weit, wie er es befürchtet hatte. Dass das Rauschen so leise gewesen war, lag wohl eher daran, dass es sich nur um ein langsam dahin fließendes Bächlein handelte.

Keuchend blieb Mimoun stehen und sah sich suchend um. Und nun? Wohin sollte er sich nun wenden?

Sein Blick fiel auf ein Holzgestell ein gutes Stück stromabwärts. Durch das ganze Gras, das es überwucherte, war es kaum noch als solches zu erkennen. Das war sicher Dhaômas Ziel gewesen.

Mit zittrigen Beinen taumelte er, das Gestell immer fest im Blick, darauf zu. Jeder Schritt fiel ihm schwerer als der davor. Doch er dachte einfach nicht an die Schritte, die noch vor ihm lagen, sondern erfreute sich an denen, die er bereits geschafft hatte. Seine Erleichterung wuchs noch, als er seinen Ballast endlich ablegen konnte. Vorsichtig bettete er den bewusstlosen Magier auf der Erde, legte ihm seine Tasche daneben und befreite dessen Hände.

Zu gern hätte sich der Geflügelte nun ebenfalls eine Ruhepause gegönnt. Seine Sicht begann sich vor Erschöpfung zu trüben, doch solange der Magier so außer Gefecht gesetzt war, blieb ihm nichts anderes übrig, als wach zu bleiben. Träge und mit sich selbst kämpfend nahm er den Wasserschlauch. Das restliche Wasser ließ er über die zweckentfremdeten Verbände laufen und legte die durchnässten Stoffstreifen auf Dhaômas Stirn. Er konnte nicht sagen, ob der Junge Fieber bekommen würde, doch er wollte besser vorsorgen. Anschließend erhob sich Mimoun taumelnd und füllte den Wasserschlauch neu. Auch diesen legte er leicht erreichbar neben den Magier.

Erst danach gestattete er sich ebenfalls zu trinken. Dafür tauchte er seinen Kopf auch ganz unter Wasser, um wieder halbwegs klar denken zu können. Was fehlte noch? Nahrung. Das brachte nichts. Er kannte sich hier nicht ausreichend aus, um entsprechende Früchte und Kräuter zu suchen. Und Fischen war zu anstrengend in seiner momentanen Verfassung. Blieb nur noch Verteidigung.

Der Geflügelte suchte sich zwei unterschiedlich lange Stöcke. Den einen, lang und gerade, spitzte er an und legte ihn griffbereit neben sich, als er sich an den Eingang des Unterstandes setzte. Der zweite, nicht ganz so lang, etwas dicker und nicht ansatzweise gerade, spitzte er ebenfalls an. Doch hier ging er sorgfältiger ans Werk. Es war wichtig, dass es wirklich gut wurde. Diesen buddelte er dicht vor sich in den Boden. Sollte er einnicken und nach vorne kippen, würde sich die Spitze in sein Gesicht bohren und ihn wieder wecken.

Erschöpft stieß er die Luft aus und sein Blick wanderte über den Magier. Jetzt hieß es wohl warten.
 

Als Dhaôma erwachte, war es still. Nicht ganz still, es waren eher die Geräusche der Nacht, die ihn weckten. Und das untrügliche Gefühl, nicht allein zu sein.

Neben sich ertastete er den Wasserschlauch und trank, bis er sich nicht mehr ganz so durstig fühlte. Dann sah er sich um. Zu dunkel, um viel zu erkennen, aber die Gestalt am Eingang nahm er dennoch wahr. Einer der Flügel sperrte fast alles Licht von draußen aus.

Er versuchte sich zu erheben und brauchte dazu zwei Anläufe, dann manövrierte er sich an dem Hanebito vorbei. Sein Körper war wie zerschlagen. Was war denn nur passiert?

Dunkel erinnerte er sich daran, dass er versucht hatte, wilde Magie zu unterdrücken. Offenbar hatte er es nicht geschafft. Und genauso offensichtlich hatte Hanebito ihn hierher gebracht. Der arme musste völlig planlos gewesen sein. Jetzt schlief er. Halb im Sitzen. Das würde sicherlich nicht sehr erholsam sein.

Leise verließ er das Zelt und schlug sich in die Büsche, um seine Notdurft zu verrichten. Anschließend wanderte er halb um das Zelt herum zu einem Baum. Die kurze Kletterpartie forderte fast seine ganze Kraft, so dass er sich oben in der riesigen Astgabel einrollte und sofort wieder schlief.
 

Müde streckte sich der Geflügelte, als die ersten Sonnenstrahlen ihn weckten. Jeder Knochen und jeder Muskel im Leib schmerzten aufgrund der unglücklich gewählten Schlafposition.

Erschrocken fuhr er hoch. Verdammt. Da war er doch tatsächlich eingeschlafen. Das Nachtlager des Magiers war verlassen. Hastig sprang er auf seine noch immer zittrigen Beine und ging einen Schritt in das Zelt hinein, doch das Ergebnis blieb dasselbe. Der Magier war nicht mehr da.

Verdammt, verdammt, verdammt. Er hatte doch wach bleiben wollen. Er hatte doch aufpassen wollen. Hektisch sah sich Mimoun vor dem Unterstand nach allen Seiten um, doch nirgends eine Spur.

„Dhaôma?“, rief er laut in den erwachenden Wald hinein.
 

Der Junge hörte das Rufen nur am Rande seines Bewusstseins, rollte sich enger zusammen und versteckte den Kopf zwischen den Armen. Er war noch müde. Viel zu müde, um aufzuwachen oder sich darüber Gedanken zu machen, wie man die Augen am besten zu öffnen hatte.
 

Vergebens wartete Mimoun auf eine Antwort. Am Rande hatte er gehofft, dass der Junge nur kurz austreten war, doch warum antwortete er dann nicht?

Sich selbst zur Ruhe zwingend ging er einige Schritte im Kreis und versuchte zu überlegen. Die Tasche und der Wasserschlauch waren noch da, das hatte er beim Blick in das Zelt gesehen. Also hatte der Magier ihn nicht absichtlich allein hier zurückgelassen. Es musste etwas vorgefallen sein. Doch nach dem, was gestern vorgefallen war, bezweifelte Mimoun, dass der andere die Kraft hatte, längere Strecken zu laufen, konnte also von allein nicht weit gekommen sein.

„Dhaôma? Verdammt, antworte!“, rief er noch einmal, weil er absolut keine Ahnung hatte, was er sonst tun sollte. Spuren lesen? Ja klar. Weil er sich in einem Wald mit so was auch auskannte. Sicher.

Auch diesmal kam keine Antwort. Der Geflügelte atmete tief ein, ballte die Hände zu Fäusten und ging fest entschlossen in den Wald. Doch so sehr er auch suchte. Nirgends auch nur eine Spur von dem Magier oder eines Kampfes.

Es vergingen Stunden, bis er sich niedergeschlagen zurück zu dem Unterstand begab. Er ließ sich am Ufer nieder und starrte in das träge dahin fließende Wasser.

Und was sollte er jetzt tun?
 

Dhaôma erwachte, weil ihn etwas kitzelte. Namentlich war es ein Flughörnchen und es quietschte erschrocken auf, als er sich bewegte und direkt in seine schwarzen Knopfaugen blickte. Viel zu müde, um sich über die Störung zu beschweren, gähnte er und streckte sich. Und bemerkte dann, dass es schon längst heller Tag war. Ob die Mittagszeit schon vorbei war? Hatte er wirklich einen ganzen Tag durchgeschlafen?

Neugierig sah er sich um und stellte fest, dass er auf einem bekannten Baum schlief. Vor langer Zeit hergerichtet. Er war beim Graszelt.

Grinsend sprang er vom Baum herunter. Er fühlte sich großartig. Ausgeschlafen, ausgeruht und voller Energie. Das Rascheln der Blätter unter seinen Füßen machte ihn langsam munter, wenige Schritte später hatte er das Zelt erreicht. Es war verlassen.

„Ui? Hanebito?“ Suchend sah er sich um, beschloss dann allerdings, sich erstmal zu waschen. So was schadete nie. Erst auf dem Sprung in eine natürliche kleine Ausbuchtung, sah er den Geflügelten aus dem Augenwinkel. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, im nächsten Moment landete er auch schon im brusttiefen Wasser. Prustend kam er wieder herauf und schüttelte sich. „Guten Morgen!“, rief er und winkte.
 

Durch diesen Ruf aus seinen trüben Gedanken gerissen, sah Mimoun auf. Dort vor ihm plantschte der Magier. Fröhlich. Ausgelassen.

Einerseits durchflutete ihn Erleichterung, da es ihm ja augenscheinlich gut ging. Andererseits kochte brennende Wut in ihm hoch. Mit einem Satz war er auf den Beinen. „Du verdammtes Arschloch. Was heißt hier guten Morgen?“, brüllte er ihn an.
 

„Uh?“ Dhaôma legte den Kopf schief. Wasser tropfte aus seinen langen Haaren, rann über sein Gesicht und ließ seine Kleider am Körper kleben. „Hast du schlecht geschlafen, Hanebito?“, fragte er arglos.
 

„Schlecht...?“ Jetzt explodierte Mimoun richtig. „Schlecht geschlafen? Sag mal, bist du nicht mehr ganz richtig im Kopf? Du brichst mitten auf dem Weg bewusstlos zusammen. Ich schleppe dich gefühlte Meilen durch die Pampa und diesen drecks-beschissenen Gemüsehaufen. Ich sorge dafür, dass du ein weiches Lager und Wasser in der Nähe hast. Mir ging’s echt beschissen und ich hab trotzdem versucht, wach zu bleiben, um dich im Notfall beschützen zu können. Du verschwindest ohne ein Wort oder einer Spur. Ich grabe den halben Gemüsehaufen um auf der Suche nach dir, rufe nach dir ohne Antwort und alles was ich zu hören kriege ist ein 'Guten Morgen. Hast du schlecht geschlafen'.“ Schwer atmend und vor Wut am ganzen Leib zitternd stand der Geflügelte am Ufer und versuchte den Magier in Grund und Boden zu starren.
 

Dieser betrachtete den jungen Mann. Seine Augen waren schmal, sein Gesicht rot. Sah doch ganz gesund aus inzwischen. Außerdem gefiel es ihm, dass er sich offenbar Sorgen um ihn gemacht hatte.

„Du hast mich getragen? Danke dafür.“, überging er all die anderen Vorwürfe und ließ sich wieder ins Wasser gleiten. Es war kühl und prickelte an den Fingerspitzen. Auf seinem Gesicht erschien ein fast entrücktes Lächeln.
 

Das war zuviel. Das... war... echt zuviel. Es schien den Magier nicht zu kümmern, was der Geflügelte auf sich genommen hatte. Es schien ihm egal zu sein. Ein Dank war wirklich das letzte, was er in diesem Moment hören wollte.

„Du verdammtes, ignorantes Arschloch.“ Noch immer vor Wut bebend drehte sich Mimoun um und strebte in den Wald. In irgendeine Richtung. Einfach nur weg, damit er nicht irgendeine Dummheit machte, die er später vielleicht bereuen würde.
 

Wirklich irritiert sah Dhaôma ihm nach und fragte sich, was er wohl diesmal wieder falsch gemacht hatte. Ob es etwas war, das er gesagt hatte? Oder war es eher etwas, das er unterlassen hatte?

Er löste das Band, das seine Haare nach oben hielt und tauchte unter Wasser, wusch den Sand und den Schmutz aus den Haaren, die sich im Steinbruch dort verfangen hatten. Danach machte er sich auf die Suche nach etwas zu essen. Noch immer hatte er zu wenig Magie, um damit noch nicht reife Früchte reifen zu lassen, aber hier gab es genügend Essbares. Am besten waren die Süßwassermuscheln, die er aus dem Bach fischte. Mit seiner Beute kehrte er zum Zelt zurück und teilte sie in zwei Stapel. Und weil er nicht wusste, wann der Hanebito zurückkam, fing er einfach schon an.
 

Dieser kehrte erst in den Abendstunden zu dem Unterschlupf zurück. Den ganzen Tag hatte er sich nur von einigen wenigen Früchten ernährt, die er durch Zufall gefunden hatte. Er war noch immer sauer, doch versuchte er, es sowohl aus seiner Mimik als auch Gestik zu verbannen.

Ohne ein Wort an den Magier zu richten, begab Mimoun sich erst zum Bach, um etwas zu trinken. Auch darauf hatte er fast den ganzen Tag verzichtet. Erst durch Dhaômas Verschwinden, dann durch seinen eigenen Abgang.
 

„Ah, du bist wieder da.“, begrüßte Dhaôma den Schwarzhaarigen. Nachdem der junge Mann nicht mehr zurückgekommen war, hatte er gelesen. Irgendwie war er sicher gewesen, dass er wiederkommen musste. Wenn nicht, hätte er ihn später gesucht. Und es war auch nicht so, als wäre dieser Kerl nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Ihm war nicht entgangen, dass er die Schiene entfernt hatte.

Jetzt klappte er das Buch zu und blickte Mimoun aufmerksam entgegen.
 

Der Geflügelte hörte zwar die Worte, doch er reagierte nicht darauf. Zuerst stillte er seinen Durst. Er wusste noch immer nicht, wie er dem Magier nun entgegentreten sollte. Einfach die Szene übergehen, die sich heute Mittag abgespielt hatte? Oder sich für die rüden Worte entschuldigen und sich erklären? Mimoun hatte den ganzen Nachmittag Zeit gehabt sich zu entscheiden, aber beide Möglichkeiten hatten Facetten, die ihm nicht behagten.

Still begab er sich zum Unterschlupf und setzte sich Dhaôma gegenüber.
 

Dieser beobachtete ihn. Seine Gedanken versuchten das Verhalten zu analysieren, aber alles, was ihm einfiel, war, dass der Hanebito sich dagegen wehrte, ihn zu mögen. Offenbar gefiel es ihm nicht, dass er ihm hatte helfen müssen. Vielleicht machte er sich sogar Vorwürfe, dass er ihm geholfen hatte. Von Anfang an hatte es ihm ja nicht gefallen, dass er in seiner Nähe war. Und wenn er bedachte, was für ein Schreck es für ihn gewesen sein musste, plötzlich inmitten eines potentiell feindlichen Waldes ganz auf sich allein gestellt zu sein, dann verstand er auch die Überreaktion. Und wenn das so war, dann sollte er ihm diese Angst nehmen, nicht wahr?

„Mach dir keine Sorgen.“, sagte er und lächelte ihn an. „Ich lass dich nicht alleine. Ich habe versprochen, dich nach Hause zu bringen, also werde ich das auch tun.“ Langsam erhob er sich. „Und da es dir offenbar besser geht, werde ich dir nicht mehr als nötig auf die Nerven gehen. Du musst nur noch zwei Tage durchhalten, vielleicht ein wenig länger.“ Damit machte er Anstalten zu gehen.
 

„Darum ging es doch nicht.“, platzte Mimoun heraus. Enttäuschung wallte in ihm auf. Wieso konnte der Junge nicht verstehen, dass... Mimoun unterbrach seine Gedanken abrupt. Er biss sich auf die Lippen und barg das Gesicht in den Händen. Er hatte sowieso schon zu viel gesagt. Vorhin ebenso wie jetzt.
 

Dhaôma verharrte im Schritt und runzelte die Stirn. „Worum geht es dann? Es muss doch einen Grund dafür geben, warum du so wütend warst.“
 

Mimoun lehnte sich zurück, versuchte sein aufgewühltes Inneres zu beruhigen.

„Warum ist es so schwer für dich zu verstehen, dass du anderen wichtig sein könntest und sie sich Sorgen um dich machen?“
 

Braune Augen weiteten sich in Erstaunen, bevor Dhaôma lächelte. „Mir ist aufgefallen, dass du dir Sorgen gemacht hast.“, erklärte er. „Aber als ich mich dafür bedankt habe, bist du nur noch wütender geworden, also dachte ich, ich hätte mich geirrt.“
 

Fassungslos starrte Mimoun den jungen Magier an. Das war doch sicher ein Witz. „Du... weißt aber schon, dass Leute, die sich Sorgen gemacht haben, gerne ein 'tut mir Leid, dass ich dir Sorgen bereitet habe' hören wollen, oder?“
 

Wieder erschienen die Furchen auf Dhaômas Stirn, als er versuchte, den Sinn hinter den Worten zu erlangen. War das so? Musste man sich dafür entschuldigen? Aber wenn es so einfach war…

„Tut mir Leid, dass ich dir Sorgen gemacht habe.“, wiederholte er Mimouns Wunschworte.
 

Nun war Mimoun sprachlos. Dieses Kind schien die einfachsten Formen zwischenmenschlicher Beziehungen weder zu kennen noch zu verstehen. Er kratzte sich hilflos am Kopf.

„Und normalerweise bereut man es wirklich. Schließlich sind die Personen, denen man Sorgen bereitet hat, Personen, die einen mögen, die man vielleicht selber mag und denen man eigentlich nicht wehtun wollte.“, versuchte er das Verhalten des Magiers noch ein wenig weiter zu korrigieren.
 

Dhaôma legte den Kopf schief, dachte einen Moment nach und begann dann überglücklich zu lächeln. „Ich hab dich auch gern.“, gab er zur Antwort. „Auch wenn ich dich nicht verstehe.“
 

Mimoun gab auf. Dem Jungen war definitiv nicht mehr zu helfen.

„Prima. Dann sind wir wenigstens schon zwei.“, kommentierte er stattdessen den letzten Satz. Dass er den Magier wohl zu mögen schien, schien diesen augenscheinlich glücklich zu machen.
 

„Gut.“, stellte der Junge fest, dann setzte er seinen Weg fort. „Iss auf, dann schlaf. Wir gehen morgen weiter. Die Strecke wird länger als die gestern, weil wir sonst keinen Unterschlupf für dich haben. Aber immerhin erreichen wir dann die Ebene.“ Er winkte. „Gute Nacht.“
 

„Ja. Gute Nacht.“, gab der Geflügelte geschlagen zurück.

Was hatte man diesem Kind nur angetan? War Dhaôma etwa all die Jahre komplett ohne soziale Beziehungen aufgewachsen? Der Magier konnte einem einfach nur Leid tun.

Nachdem er den ersten Bissen in sich hinein geschoben hatte, spürte er erst wieder seinen quälenden Hunger und er verschob solche Gedanken auf den morgigen Tag. Morgen würde die Sache sicher schon anders aussehen. Auch wenn schon ein großes Wunder geschehen müsste, sollte Dhaôma tatsächlich innerhalb einer Nacht soziale Kompetenzen erwerben.

Da der junge Magier bereits gegangen war, befreite sich der Geflügelte heute selbständig aus der Rüstung. Sein rechter Arm war noch immer nicht voll einsatzfähig. Zwar konnte er ihn bewegen, aber Kraftanstrengungen damit waren noch unmöglich. Er würde sich langsam wieder an seine alte Stärke herantasten müssen. Doch auch das war etwas, das er nicht mehr heute Abend regeln würde. Heute würde er einfach nur in einer bequemeren Position als in der letzten Nacht schlafen.
 

Dhaôma saß wenig später auf seinem Baum und betrachtete einen einzelnen Stern, den er durch die Blätter sehen konnte, wenn gerade kein Windstoß sie bewegte.

Was hatte den anderen nur so aufgeregt? Dass er sich nicht entschuldigt hatte, dass er ihm Sorgen bereitet hatte, schien ihm so auf die Leber geschlagen zu haben, dass er einen ganzen Tag das Trinken vergessen hatte. Dabei waren es nur ein paar Worte, nichts wirklich Weltbewegendes. Was hatte es damit auf sich? War ein Dankeschön nicht netter? War es nicht aussagekräftiger?

Aber vielleicht war das auch bloß so eine Hanebito-Sache. Er würde sich das merken, falls er jemals wieder in die Verlegenheit geraten sollte, einem Hanebito Sorgen zu bereiten.

Zufrieden mit dieser Erklärung rollte er sich zusammen und schlief recht schnell ein. Diesmal machte das Flughörnchen vom Morgen einen großen Bogen um ihn.
 

Ich dreh die Zeit zurück

Wir fangen ganz von vorne an

Jeder Augenblick ist es wirklich wert

Ich dreh die Zeit zurück

Und ich glaub ganz fest daran

Denn im Augenblick geht es uns nicht gut
 

[Digimon – Ich dreh die Zeit zurück]

Kürbissuppe

Kapitel 6

Kürbissuppe
 

Die Nacht diesmal liegend und nicht im Sitzen zu verbringen, hatte etwas ungemein Erholsames. Seine Muskeln wurden nicht durch falsche Haltung strapaziert und er hatte den Magier nicht schon wieder schleppen müssen. Somit ausgeruhter als gestern erhob sich der Geflügelte von seinem Nachtlager und trat in die frische Morgenluft vor dem Zelt. Ausgiebig streckte er sich und sah sich nach einer Stärkung am Bachwasser nach dem Magier um.
 

Dieser kam aus einem Gebüsch hervor geschossen, auf der Jagd nach einem Rebhuhn, das bei Mimouns Anblick erschreckt gackernd eine andere Richtung einschlug.

„Guten Morgen!“, brachte Dhaôma gerade noch heraus, bevor er den Richtungswechsel vermasselte und im Bach landete. Sich schüttelnd kam er wieder herausgewankt. „Mist. Schon wieder nass! Himmel, es ist ja nicht so, als müsse sie ihr Nest noch versorgen!“, fluchte er.
 

Einerseits erschreckt, andererseits verwirrt, beobachtete Mimoun den Magier bei seiner Jagd nach dem kleinen Vogel. Beobachtete, wie dieser nach dem Gruß die Kurve nicht bekam und seinen Sturz im Wasser beendete.

„Dir ebenfalls einen guten Morgen.“, erwiderte der Geflügelte, verzweifelt darum bemüht, nicht zu lachen, doch es war vergebens. So wie der Junge patschnass im Wasser hockte, sah er einfach zu komisch aus.
 

Recht unglücklich wrang Dhaôma seine Haare aus. „Das ist nicht komisch. Unser Frühstück ist weggelaufen! Allein von Eiern wird man doch nicht satt.“ Aber dann grinste er doch. „Irgendwelche Alternativpläne? Immerhin müssen wir gut gestärkt sein. Wir laufen heute weit!“
 

Mimoun wischte sich die Lachtränen weg und sah ernst zu seinem Begleiter hinüber. Doch es vergingen nur Sekunden, bevor er wieder losprustete. Himmel, wann hatte er das letzte Mal so lachen können? Sein Bauch tat schon richtig weh!

„Du wurdest von einem kleinen Vogel fertig gemacht.“, stieß er glucksend hervor. „Beeindruckend.“

Immer noch von gelegentlichen Kicherattacken heimgesucht, begann der Geflügelte sich dennoch Gedanken zu machen. „So ein Netz, wie wir es zum Fischen benutzt haben, zwischen die Büsche spannen und dann dieses Viech hineintreiben. Oder was anderes in der Größenordnung.“
 

„Ich kann aber kein Netz machen. Erstens gibt es hier kein Wassergras und zweitens ist das mit der Kraft immer noch im Argen. Ich will nicht wieder durchschlafen.“

Seufzend zog er das Hemd über den Kopf und wrang es ebenfalls aus. „Ich werde wieder Muscheln suchen. Die sind einigermaßen nahrhaft.“ Und nach einem kurzen Überlegen. „Man isst sie auch schneller. Dann kommen wir früher los!“ Warum auch immer er sich jetzt zufrieden fühlte, er hängte das Hemd über einen Ast, dann watete er wieder in den Bach. Zuerst mit den Zehen, dann mit den Händen suchte er im weichen Sand nach den harten, ovalen Schalen.
 

Nachdenklich betrachtete der Geflügelte sein Gegenüber. War Magie etwa so Kräfte zehrend? Vielleicht sollte er unauffällig darauf achten, dass dieser nicht mehr gezwungen war, seinetwegen so häufig Magie zu verwenden. Doch er ließ sich davon sicher nicht abhalten. Der Kerl tat sowieso nur das, was ihm gefiel.

Seine Gedanken vollführten einen Sprung. So wie der Magier durch den Uferschlamm watete, in dieser vornüber gebeugten Haltung, ab und zu Muscheln aufklaubend. Vielleicht sollte er helfen?

Ohne Hast entledigte er sich überzähliger Klamotten und tapste neben seinen Begleiter, begann ebenfalls nach Muscheln zu suchen.
 

Nur kurz hatte sich Dhaôma unterbrochen, als sich Mimoun der Suche angeschlossen hatte, dann arbeitete er weiter. Wenig später konnten sie essen. Muscheln, Nüsse, ein paar Eier, alles roh. Aber genug, um satt zu werden.

Danach legten sie die Rüstung an, packten alle Sachen zusammen und machten sich auf den Weg. Wie immer passte sich der Braunhaarige an das Tempo an, welches sein Schützling vorlegte, aber etwas hatte sich geändert. Es war weicher, das Gefühl zwischen ihnen. Zumindest kam ihm das so vor. Und das hob seine Laune um ein Vielfaches. Immer wieder kicherte er grundlos, häufig verlor er sich in Gedanken und sah nur noch die Blätter und Blumen der Bäume, die im Sonnenlicht leuchteten. Alle Stunde machten sie eine kurze Pause, um zu trinken. Es war kurz vor dem Ende ihrer heutigen Etappe, als Dhaôma unvermittelt stehen blieb. Ihm war ein Gedanke gekommen.

„Wenn du mal fliegen konntest, kannst du mir dann sagen, in welche Richtung das große Wasser liegt? Und wo die Wolfsberge sind? Und die Schlucht des Todes?“
 

Mimoun war die Veränderung seines Begleiters nicht verborgen geblieben. Wie ein fröhliches Kind streifte er durch die Wälder, mal neugierig, mal gedankenverloren. Es war eine friedliche Atmosphäre, fernab von Krieg und Gewalt. Er musste sich eingestehen, dass er die Situation, so wie sie nun war, als angenehm empfand. Wenn nur dieses verdammte Gestrüpp nicht wäre, fluchte er innerlich, als ein tief hängender Ast unvermittelt seine Wange streifte.

Als der Magier plötzlich anhielt, wäre der Geflügelte beinahe wieder in ihn hineingerannt, da er seine Gedanken schweifen ließ.

„Könntest du schnelle Stopps nicht vorher ansagen?“, erwiderte er, ohne auf die Frage einzugehen.
 

Dhaôma sah ihn an, dann kicherte er wieder. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich stehen bleiben will, hätte ich es dir gesagt, aber ich glaube, das hab ich gar nicht bemerkt.“
 

Da konnte man doch einfach nur den Kopf schütteln, bei so viel Unbedarftheit.

Dann dachte er über die ihm gestellte Frage nach. „Das große Wasser und die Wolfsberge sind von oben gut zu sehen, da könnte ich dir weiterhelfen, aber das letzte sagt mir gar nichts. Ließe sich aber sicher in Erfahrung bringen, denke ich.“
 

„Und wo lang muss ich gehen, um dort hinzukommen?“, hakte der Braunhaarige nach. „Wenn ich in der großen Schlucht bin, wo ihr jagt, wo muss ich hin, um die Wolfsberge zu erreichen, und wo liegt dann das große Wasser?“ Es war zu schade, dass der Hanebito nichts über die Schlucht des Todes wusste, aber es in Erfahrung zu bringen, lag wohl nicht im Ermesslichen. Immerhin würde er nicht warten, dass der Hanebito zurückkam.
 

„Tja, Erdenbewohner.“, begann der Geflügelte hochnäsig, aber in einer Art und Weise, die die wahre Absicht preisgab. „Von hier unten sieht alles anders aus. Ich sehe zwischen dem ganzen Unkraut hier keine Sterne.“ Er ließ sich leicht nach vorne fallen. „Wo sind wir denn exakt? In welche Richtung wenden wir uns gerade? Selbst den Lauf der Sonne, kann man hier unten nur erahnen. Auf freier Ebene kann ich dir die Richtung genau zeigen.“
 

„Die Bäume zeigen dir den Weg.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Wie gehen nach Sonnenaufgang. Ein bisschen weiter nach Mittag hin, aber eigentlich ist es Sonnenaufgang.“ Er schloss die Augen. „Die generelle Richtung der Schlucht ist gen Blauer Mond. Dort fließt auch das Wasser hin, wenn welches da ist.“
 

Die Bäume? Dicht trat er an einen heran, schlich um ihn herum, aber Baum blieb für ihn Baum. Auch der daneben war nicht sonderlich aufschlussreich. Na ja, was sollte es. Er war halt in der Luft aufgewachsen.

Also mal überlegen...

„Wenn du von der Schlucht aus starten willst, liegen die Wolfsberge zwar am nächsten, doch in fast entgegengesetzter Richtung zum großen Wasser. Zum Wasser musst du dem Blauen Mond folgen. Für die Wolfsberge solltest du den jetzigen Kurs etwas mehr Richtung Mittag ändern.“ Noch einmal ging er in Gedanken diese Anweisungen durch. Doch. Die grobe Richtung stimmte. Mimoun nickte noch einmal zur Bekräftigung.
 

Also mehr gen Mittag. Gut, das zu wissen.

Mit einem entschiedenen Nicken setzte Dhaôma seinen Weg fort. Jetzt wusste er, wo die Berge lagen, da brauchte er sich keine Gedanken mehr darum zu machen, wie er sie finden sollte. Prompt wanderten seine Gedanken auch schon weiter zu dem schwierigen Problem, was sie zu Abend essen sollten.

„Was hältst du von Kürbis?“, wollte er wissen.
 

„Hab ich noch nie probiert.“, gestand der Gefragte offen. Da sie bei ihnen noch schlechter wuchsen als Obstbäume, waren diese Dinge sowieso Mangelware. „Warum?“
 

„Das essen wir zum Abendbrot. Allerdings brauchen wir dazu Feuer. Roher Kürbis ist ziemlich hart und unverdaulich.“ Und schon bückte er sich, um einen Stock aufzuheben.

Der Weg war nicht mehr weit und Dhaôma suchte Feuerholz, um danach nicht noch mal losgehen zu müssen. Schon sah man das Ende des Waldes durch die Bäume schimmern und sie hielten sich ein wenig mehr rechts. Die Wurzelhöhle lag gut versteckt, so dass man sie erst sehen konnte, wenn man schon mitten drin stand, aber Dhaôma war oft genug da gewesen, um sie auf Anhieb zu finden.

Ein paar Schritte entfernt ließ er das Feuerholz fallen und ging dann in die Höhle, um zu sehen, ob sich etwas verändert hatte, seit er das letzte Mal da gewesen war, aber alles zeigte sich unversehrt. Er lächelte. Sich aufrichtend blickte er über die weite Steppe, die sich vor der Höhle erstreckte. Hinter ihm der Wald, vor ihm baumloses Grasland.

„Siehst du, Hanebito. Wir haben es geschafft. Nur noch ein paar Stunden in diese Richtung da und du solltest deine Leute wieder finden können.“
 

Nur wenige Stunden entfernt waren seine Familie und sein Volk. Irgendwie erfüllten diese Worte ihn nicht ganz so mit Vorfreude und Erleichterung, wie sie sollten. Er freute sich schon, so war es ja nicht, doch gleichzeitig wusste er, dass er Dhaôma danach nie wieder zu Gesicht bekommen würde. Und diese Tatsache erfüllte ihn mit Traurigkeit. Gedankenverloren trat er einige Schritte auf die Ebene hinaus.

Mimoun wurde in dem Moment auch bewusst, dass, auch wenn die Sache mit seinem Flügel nicht gewesen wäre, er wohl nie wieder in den Krieg gegen die Magier zurückgekehrt wäre. Der Geflügelte konnte ihnen zwar nicht vergeben für dass, was sie getan hatten. Doch den Krieg weiterführen, führte zu nichts, dass hatte der Magier dem Geflügelten mehr als deutlich klar gemacht. Und er hatte ja auch Recht damit. Auch musste jemand den Anfang machen, da es sonst nie zu einem Ende kommen könnte. Doch Mimoun war nur ein kleines Licht. Ob er sich nun beteiligte oder nicht würde an der Gesamtsituation nichts ändern. Vielleicht war das mit dem Flügel gut so. So hatte er zumindest einen guten Grund, sich ab jetzt heraus halten zu können.
 

Inzwischen hatte es sich Dhaôma in den letzten Sonnenstrahlen bequem gemacht und aus seinem Beutel einen Samen gesucht. Endlich würde er wieder normale Magie einsetzen können, etwas, das er kontrollieren konnte! So eine Wohltat. Und es bestand ja auch nicht die Gefahr, dass er danach ein Klotz am Bein war, denn für diese Nacht konnte er sich ausruhen.

Zuerst waren es nur die Kreise auf seinen Handrücken, die leuchteten, dann kamen die verschlungenen Linien auf den Armen dazu, als er dem Samen Kraft gab. Eine Wurzel und ein Keim erschienen, erstere bohrte sich in die Erde, letzterer reckte sich seinen Händen entgegen. Mehr Blätter schälten sich aus kleinen Hüllen, wurden größer, Ranken wanden sich um seinen Fuß und mehr aus Spaß denn aus Nutzen gab Dhaôma ihnen eine ansprechende Form. Endlich öffneten sich die ersten Blüten und er trickste sie aus, indem er ihnen die Bestäubung verwehrte. Dennoch bildete sich bei zwei von ihnen eine große orangefarbene Frucht.

Spielerisch ließ der Junge sie wachsen, formte sie unten rund, oben ein wenig eingedellt, bis sie groß genug waren. Fast schon traurig ließ er die Magie schließlich versiegen. Vor ihm lag auf einer Fläche von vier Metern eine Kürbisranke mit zwei großen Früchten. Breit lächelnd ließ er sich zurückfallen, direkt auf die leicht stacheligen Blätter. Es störte ihn nicht, dass es ihn erschöpft hatte, das Gefühl zählte. Und er fühlte sich großartig.
 

Als das Sonnenlicht immer mehr schwand, wandte sich Mimoun wieder um und stand völlig unerwartet vor einem Rankenteppich.

„Himmel. Wenn ich bedenke, dass du die ganze Welt umgestalten könntest mit deinen Kräften.“ Er umging das Feld und setzte sich zu Dhaôma, betrachtete die Früchte. „Hier ’ne Blumenwiese, dort einen Wald sprießen lassen.“
 

Der Junge öffnete die Augen wieder und kicherte. „Lustig wäre das schon, aber es klappt wahrscheinlich nicht besonders gut. Diese Pflanze hier wird auch wieder welken, denn hier hat sie nicht genügend Wasser, um zu überleben.“ Er stemmte sich hoch und kramte in seinem Rucksack nach dem Messer. „Du hast ja selbst schon festgestellt, dass manche Pflanzen an bestimmten Orten wachsen, andere woanders. Ich übergehe diese Regel, wenn ich so was mache.“ Endlich fand er das Messer und begann damit an den Stielen herumzusäbeln, was eher weniger fruchtete. Vielleicht hatte er es übertrieben und der Stiel war schon verholzt. „Wenn man es genau bedenkt, ist das eigentlich nicht sehr freundlich. Ich benutze sie nur, danach lasse ich sie sterben.“ Die Worte kamen völlig ohne Wertung, ohne Gefühl. Es war nur so ein Gedanke.
 

„Ach so einer bist du. Nutzt andere also nur aus.“, grinste Mimoun. Wirklich böse meinte er es nicht. Als er sah, dass sich der Magier anscheinend vergeblich um die Früchte kümmerte, fing er mit seinen Fingernägeln bereits beim zweiten an. Auch wenn es etwas dauerte.
 

Dhaôma unterbrach sich irgendwann und beobachtete das fasziniert. Wenn er daran dachte, dass es bei ihm nur dafür gesorgt hätte, dass er sich die Fingernägel abgebrochen hätte, dann tat ihm das schon weh, aber den Hanebito schien das nicht zu kümmern.

Letztlich seufzte er. „Warte.“, murmelte er, legte seine Finger über die des Hanebito und aktivierte seine zweite Gabe. Die Zacken auf den Unterarmen leuchteten und schon verrottete der Stängel unter seiner Hand. Auch den zweiten Kürbis löste er so von seiner Mutterpflanze. „Hätte ich auch gleich machen können…“
 

Erschrocken zog Mimoun seine Finger zurück. Nicht die Berührung störte ihn, der Magier hatte ihn schon häufiger angefasst. Es war eher die Tatsache, wie der Stängel plötzlich verdorrte. Bisher kannte er nur die Fähigkeit wie der Magier Leben erschuf, und seien es nur Pflanzen. Er hatte zwar nun erfahren, dass die Pflanzen schnell starben, aber dass dieser die Pflanzen bewusst vernichten konnte, war ihm neu. Welche Fähigkeiten hatte der Magier noch, die der Geflügelte nicht kannte?
 

Letztlich stand Dhaôma auf. Ihm war das Zurückzucken entgangen. „Und jetzt? Wie tragen wir die Dinger zum Unterschlupf? Ich wette, die sind schwer.“ Kritisch klopfte er mit dem Fuß dagegen. Der Kürbis bewegte sich nicht einen Millimeter. „Vielleicht sollten wir das Feuer hier machen? Und ausnehmen müssen wir sie auch noch.“ Himmel, da hatte er sich aber ein aufwändiges Essen ausgesucht.
 

„Wäre der Stummel hier länger, beziehungsweise noch an der Ranke, könnte man die Dinger hinter sich herziehen.“, meinte er an den Stängel stupsend. Aber die Idee kam nun wohl etwas zu spät. „Dann werden wir halt hier essen müssen. Also. Was müssen wir jetzt machen?“
 

„Feuer.“, war die einfache Antwort und schon lief Dhaôma zu dem Ort, wo er all das Holz hatte fallen lassen. Es würde nicht reichen, aber für den Anfang war das okay. Als er zurückkam, leuchteten seine Augen vor Tatendrang. „Kannst du die Kürbisse aushöhlen? Kannst das Messer dafür nehmen.“

Klappernd fielen die Äste zu Boden und sein Finger fuhr einer imaginären Linie auf dem Kürbis nach. „Hier aufschneiden, alle Kerne rausholen, dann das Fleisch lösen, aber nicht rausholen.“ Und schon wuselte er weiter und suchte sich ein paar Steine, die er im Rund aufstellte, drei davon etwas höher platzierte er in der Mitte. Drumherum stapelte er das Holz und entfachte das Feuer.

„Ich bin noch mal weg.“, rief er, ohne innezuhalten.
 

Schon wieder war dieser Junge so voller Tatendrang und schien nicht wirklich still sitzen zu können. Aufseufzend begann sich der Geflügelte um die ihm aufgetragene Aufgabe zu kümmern. Aufschlitzen, Kerne entfernen, aushöhlen. Anfangs benutzte er das Messer, doch als es beim Aushöhlen matschig wurde, nutzte er die Fingernägel. Wenn dann richtig.

Auf Dhaômas Bemerkung hin nickte er nur, um sein Einverständnis anzuzeigen.
 

Wenig später war Dhaôma mit mehr Holz zurück. „Bist du fertig?“, wollte er schon von weitem wissen. Das Feuer war inzwischen das einzige Licht, aber es war eine für ihn ungewöhnlich schöne Atmosphäre. Er hatte auf dieser Ebene erst selten Feuer gemacht und sich dabei immer etwas verloren gefühlt, weil um ihn herum alles so weit und leer war. Aber jetzt, mit seinem Hanebito, war das Gefühl der Einsamkeit nicht da. Es kratzte ihn noch ein bisschen mehr auf.

„Du bist matschig!“, erklärte er ihm lachend, doch die Worte gingen in dem Geklapper des Holzes unter.
 

Die bis zu den Ellenbogen mit Matsch beschmierten Arme wurden in Dhaômas Richtung ausgestreckt.

„Stimmt doch gar nicht. So seh ich immer aus.“ Der Geflügelte erhob sich. „Gesichtsmaske gefällig? Ich weiß nicht, ob sie was bringt, aber einer muss das ja austesten.“
 

Der Junge sah ihn völlig entgeistert an. „Meinst du das ernst? Warum sollte man sich das ins Gesicht machen?“ Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück.
 

„Keine Ahnung.“ Mimoun zuckte mit den Schultern. „Ich sagte ja: Wir müssen es austesten.“ Als er sah, wie der Magier zurückwich, trat er einen Schritt vor. Sein Gesicht hellte sich auf. „Tarnung. Du bist ja hier eigentlich gefährdet, wenn man uns von oben so gut sehen kann. Wir tarnen dich einfach als Kürbis.“ Ein weiterer Schritt.
 

„Nein!“ Kurz flackerte die Panik auf, dann trat er auf einen Zweig, der unter seinem Fuß zerbrach und ihn zum Stolpern brachte. Seine Augen weiteten sich, doch er konnte nicht viel machen. Er ließ sich fallen, hob einfach die Hände vor das Gesicht und wartete ab. Man konnte den Matsch ja abwaschen, nicht wahr?
 

Nach diesem fast entsetzten Schrei und dem Sturz blieb Mimoun ruckartig stehen. Schuldbewusst ließ er die Hände an seinen Seiten baumeln.

„Schon okay.“, murmelte er und wich wieder bis zum Kürbis zurück, setzte sich und schabte weiter. Wegen dem bisschen Matsche so ausflippen. Gut. Er würde halt einfach seine Arbeit beenden.
 

Dhaôma setzte sich nur langsam wieder auf. Seine Augen suchten den anderen. Hatte er sich das eingebildet oder hatte er tatsächlich enttäuscht geklungen? Aber jetzt saß er einfach da und arbeitete. Ganz ruhig. Was war das gewesen?

Ganz egal was, es hatte seine Hochstimmung zerstört. Niedergeschlagen hockte er sich vor das Feuer und stocherte darin herum. Das Gefühl, den Hanebito vor den Kopf gestoßen zu haben, nagte an ihm. Aber was hatte der damit bezweckt?

„Wozu muss man herausfinden, was Kürbis im Gesicht macht?“, fragte er schließlich, nachdem ihn die Frage nicht in Ruhe ließ.
 

„Du solltest dich häufiger unter deinesgleichen aufhalten und dich mit ihnen beschäftigen. Dann verstehst du vielleicht auch, warum man sich entschuldigt, wenn man geliebten Personen Kummer bereitet hat, und vielleicht auch, was Spaß bedeutet.“
 

Der Braunhaarige verharrte einige Zeit reglos, förmlich wie erstarrt, während er die Worte in seinem Kopf wieder und wieder durchging. Es dauerte nicht lange, bis er zu einem Schluss kam.

„Nein.“, erklärte er. „Wenn ich dafür nach Hause gehen soll, will ich es nicht lernen.“
 

„Sind deine Familienmitglieder die einzigen Magier? Ziemlich große Familie.“ Mimoun befand, dass das nun genug war und streifte sich überschüssigen Kürbismus von seinen Armen. „Habt ihr da eigentlich noch den Überblick, wer mit wem wie direkt verwandt ist?“
 

„Dafür gibt es Bücher.“, antwortete Dhaôma gelangweilt. „Und es interessiert mich nicht.“

Wieder begann seine Hand den Stecken zu führen, der die Glut verteilte und Funken fliegen ließ. Seine Augen sahen in die Flammen, doch er sah sie kaum. Innerlich wehrte er sich gegen die Erinnerungen an früher. Es waren keine schönen Erinnerungen. Es schnürte ihm das Herz zu, wenn er daran dachte, wie er immerzu alleine gewesen war, wie alle immer nur von Krieg, Kampf und Tod gesprochen hatten.
 

Der Junge schien nicht wirklich begriffen zu haben, worauf der Geflügelte eigentlich hinaus wollte. „War es dir tatsächlich komplett unmöglich außerhalb deiner Familie, aber innerhalb deines Volkes Freunde zu finden? Dass dich deine Familie abgelehnt hat, ist mir ja langsam klar geworden, aber dass du von deinem ganzen Volk so verraten wurdest, kann und will ich mir eigentlich nicht vorstellen.“, versuchte er es näher zu erklären.
 

Langsam schüttelte Dhaôma den Kopf. „Es schickt sich nicht für jemanden wie mich mit normalen Menschen zu sprechen.“, sagte er leise, als wäre damit alles erklärt.
 

„Okay…“, meinte Mimoun gedehnt. „Und das bedeutet was? Gibt es etwa auch Menschen ohne magische Fähigkeiten?“ Der Geflügelte hatte nie davon auch nur ein Gerücht gehört.
 

„Nein.“ Noch immer klang die Stimme dumpf und leblos. „Jeder kann Magie wirken.“ Kurz verstummte er. „Es gibt Klassen. Die führenden Familien, die Wohlständigen und die Arbeiter. Ich gehöre zu den arrogantesten von ihnen. Sie haben alle bestraft, die mit mir befreundet waren, dass sie mit mir gespielt haben. Irgendwann ist keiner mehr zurückgekommen.“
 

„Oh.“ Der Geflügelte senkte betreten den Kopf. „Es tut mir Leid. Das wusste ich nicht. Ich habe immer gedacht, dass du ein freies Leben führen und alles selbst entscheiden konntest.“ Mehr als penibel kratzte er den Matsch unter seinen Fingernägeln hervor. „Aber ich verstehe nicht... Ich meine, wenn sie dich für unfähig halten und du ihnen egal bist, warum haben sie dann deine Freunde vertrieben? Hätte ihnen das nicht auch egal sein müssen? Oder sind sie so arrogant?“ Abwehrend hob er die Hände. „Entschuldige. Ich frage zu viel. Du musst nicht antworten.“
 

Dhaôma dachte an das Gesicht seiner Mutter, als sie begreifen musste, dass es ihm nichts ausmachte, wenn sie ihn bestrafte, dass er dennoch mit den Kindern der Diener spielte. Diese Kälte hatte er niemals vergessen. Danach hatten sie alle bestraft, die sich ihm auch nur genähert hatten, bis er es aufgegeben hatte. Erstens wollten sie nichts mehr mit ihm zu tun haben, zweitens wollte er nicht, dass ihnen etwas passierte. So hatte er sich zurückgezogen, war tagelang im Garten gewesen, wo er sich wohl gefühlt hatte. Seine Mutter hatte gewusst, wo er war, aber dort war er aus dem Weg. Sie hatte es geduldet.

„Für sie ist es besser, wenn keiner weiß, dass jemand hoch Angesehenes wie sie einen so nutzlosen Sohn hat. Es schadet ihrem Ruf.“ Sein Rücken spannte sich, dann erhob er sich. Es fühlte sich hölzern an, als wäre er die Puppe von damals. Unwillkürlich schüttelte er sich, schüttelte all die Gedanken ab. „Hier im Wald kann ich keinen Schaden anrichten. Bist du fertig? Das Feuer ist soweit.“
 

„Natürlich.“ Auch der Geflügelte erhob sich. Dann lächelte er. „Du könntest im Wald schon großen Schaden anrichten.“, grinste er. Mimoun griff sich einen der Kürbisse und schleppte ihn näher zum Feuer. Auch wenn die Kerne nicht mehr im Gewicht enthalten waren, war es doch ein Kraftakt, nachdem er sich den rechten Arm hielt und das Gesicht verzog. Nicht nur, dass er versucht war, den Dienst zu quittieren, er schmerzte nun auch wieder heftig.
 

„Mach das nicht.“, tadelte Dhaôma unglücklich. „Du bist noch nicht gesund.“ Und weil er einsah, dass er es nicht alleine schaffen konnte, lächelte er ihn an. „Komm, wir machen das zusammen. Das Ding muss auf die Steine in die Glut.“
 

Das hatte Mimoun nun auch festgestellt. Und er hätte es sich auch denken können. Nach nur drei Wochen war ein Bruch noch lange nicht entsprechend ausgeheilt. Für diese Dummheit verdiente er die Schmerzen und er verkniff sich darum auch dumme Kommentare.

Gemeinsam wuchteten sie das Teil in die Mitte der Glut. Seufzend lehnte sich der Geflügelte zurück und ließ die rechte Schulter kreisen. „Warum kann Essen nie bereits fertig sein? Warum muss das immer so aufwändig sein?“ Vor seinem inneren Auge spielten sich noch einmal die Szenen mit den gefüllten und gegrillten Fischen ab. Unbewusst schüttelte es ihn.
 

Dhaôma lachte leise, sparte sich aber eine Antwort darauf, dass eben nicht alles zubereitet werden musste. War der Hanebito es nicht gewesen, der ihm gesagt hatte, dass sie nicht kochten? Stattdessen sammelte er aus dem zweiten Kürbis das Fruchtfleisch und tat es in den auf dem Feuer. Anschließend tat er noch Wasser drauf und dann hieß es warten und umrühren und warten.
 

Suchend glitt sein Blick über den Himmel. Von hier unten verdeckten sowohl Wolken als auch die schwebenden Inseln die Sicht auf die Sterne. Mimoun ließ sich zurücksinken und hielt den Blick nach oben gerichtet. Er hatte keine Erfahrung mit Kochen. Sollte Dhaôma ruhig mal machen.

Wieder glitten seine Gedanken zu den Erzählungen des Magiers. Heute schien es die Mutter nicht mehr zu interessieren, wo ihr Sohn sich herumtrieb. Warum hatte er sich nicht zu dem Zeitpunkt einen Freund unter seinesgleichen gesucht? Fernab ihres Einflussbereiches? Heimlich? Warum hatte er sich freiwillig der Einsamkeit preisgegeben?

Kurz schaute er zu dem Magier. Irgendwie konnte man die Rettungsaktion als Trotz ansehen. Wenn ich unter meinesgleichen nicht erwünscht bin, wende ich mich halt dem Feind zu. Mimoun grinste. An einer ganz tief in sich verborgenen Stelle war er Dhaômas Mutter für ihre Handlungen dankbar. Nur ein kleines bisschen. Doch das würde er dem Magier nie sagen.
 

Es dauerte ewig und weil der äußere Kürbis verbrannte, roch es nicht besonders gut. Irgendwann hatte Dhaôma angefangen, neu zu heizen und Kräuter in die Suppe zu tun. Als ihm kalt wurde, holte er die Decken, die er extra zu diesem Ort getragen hatte. Wenn er durch die Steppe wanderte, fror er nachts oft, da war eine Decke Gold wert. Jetzt bot er dem Hanebito eine an.

„Es dauert sicher nicht mehr lange.“, teilte er ihm mit.
 

Dieser lehnte die Decke dankend ab. Ihm war nicht im Mindesten kalt. Die Information bezüglich des Essens nahm er mit einem Nicken zur Kenntnis. Doch das lange Warten hatte erst seine Langeweile, dann seine Müdigkeit wachsen lassen. Um nicht wegzudämmern, erhob er sich und lief einige Schritte durch die Dunkelheit. „Ich muss mich nur bewegen.“, erklärte er kurz.
 

Achselzuckend setzte sich der Braunhaarige wieder vor das Feuer und rührte um. Inzwischen roch zumindest der Inhalt ziemlich lecker.

Aus den Deckeln – soweit sie noch vorhanden waren – machte er Einwegschalen, dann beschloss er, dass die Suppe fertig war. Mit einem grob geschnitzten Löffel füllte er beide Schalen, bevor er den Geflügelten heran rief. Auffordernd hielt er diesem eine der Schalen hin.
 

Mimoun kam auch sofort und nahm die Schüssel entgegen. Nachdenklich starrte er die dampfende Flüssigkeit an, schwenkte sie kurz. Sie roch schon so seltsam.

Zögerlich probierte er einen Schluck und verbrannte sich auch prompt die Zunge. Die Zunge in die milde Nachtluft gestreckt, das Gesicht verkniffen, beäugte er das Zeug noch einmal. Gut. Es kam direkt vom Feuer. Er hätte es sich ja auch denken können. Nun vorsichtiger nahm er dem nächsten Schluck. Es traf nicht so ganz seinen Geschmack. Aber besser als mit leerem Magen schlafen zu müssen.
 

Dhaôma unterdrückte ein Schmunzeln und eine Belehrung, bevor er selbst zu essen begann. Wenn er so darüber nachdachte, hätte er vielleicht Salz von Zuhause mitnehmen sollen. Gerade weil er jetzt sehr lange keines mehr schmecken würde. Aber was geschehen war, war geschehen, da half kein Jammern.

Danach zog er sich auf einen Baum in der Nähe zurück und schlief. Sie hatten verabredet, dass sie am Morgen sehr früh losgehen wollten. Das Frühstück würde kalte Kürbissuppe sein.
 

Auch Mimoun zog sich nach dem Essen zum Schlafen zurück. Doch er wählte die freie Fläche. Es tat gut, mal nicht von Bäumen, Höhlen oder anderem eingeengt zu werden. Noch lange lauschte er dem letzten Knacken in der Glut, die noch immer vor sich hinschwelte.

Abschied

Kapitel 7

Abschied
 

Der nächste Morgen begann für ihn mit leicht steifen Gliedern und einem knurrenden Magen, kurz nachdem die Sonne aufgegangen war. Gegen die Steifheit half ausgiebiges Strecken und Dehnen, beim Hunger half wohl nur Kürbissuppe. Der Geflügelte erhob sich und trat an den improvisierten Topf heran. Lustlos stocherte er mit dem Löffel darin herum. So wirklich begeistert war er ja nicht von dieser Idee.
 

Dhaôma war diesmal wirklich früh auf den Beinen. Er war in die Baumkronen hochgestiegen und hatte Wasser und Früchte gesucht, die sie mit auf die Strecke durch die Steppe nehmen konnten. Erst als er sah, dass der Hanebito wach geworden war, lief er zu ihm. Seine Decke und Ausrüstung war bereits fest verschnürt.

„Hallo, Hanebito! Schon am Frühstücken?“ Fröhlich ließ er sich neben ihm in die Hocke sinken und hielt ihm zwei Eier hin. „Hab ich gefunden. Als Ergänzung.“
 

Ersatz traf es eher, dachte sich Mimoun, behielt es aber dennoch für sich. Er befand für sich, dass das Kürbiszeug kalt noch schlechter schmeckte als warm, aß aber dennoch, was sich ihm hier bot. Auch wenn die Auswahl nicht wirklich groß war.

Kaum waren sie mit Essen fertig, verstauten sie die restlichen Gegenstände und zogen weiter. Die Grasebene erstreckte sich mit angedeuteten Erhebungen vor ihnen. Hier gab es kaum etwas, das Abwechslung bot und doch war es Mimoun lieber, als sich zwischen Bäumen und Büschen durchquetschen zu müssen. Genüsslich streckte er seine Flügel weit aus und vollführte einige flatternden Hopser. Das war wirklich frustrierend. Da hatte er nach Ewigkeiten wieder endlose Weiten vor sich und dann das.
 

Mitleidig betrachtete Dhaôma sich die fruchtlosen Versuche zu fliegen. Wenn er hätte heilen können, dann hätte der Hanebito wieder fliegen können, aber das da war traurig. Als hätte man einem Vogel die Flügel gestutzt – wie dem Paradiesvogel im Zimmer seiner Mutter.

In einiger Entfernung zog eine Büffelherde vorbei. Vereinzelt konnte er unter ihnen Hirsche und Antilopen ausmachen. An einem Wasserloch saßen große Raubkatzen, fast daneben Vögel mit langen Beinen. Einmal brach Dhaôma in ein Erdloch ein und mit einem lauten Quietschen verschwand ein Erdhörnchen im Boden. Aber insgesamt war die Reise ereignislos.

Die Schlucht war schon von weitem zu sehen, aber ihre Größe kaum einzuschätzen. Aus Erfahrungen wusste Dhaôma, dass sie breiter war, als er an einem halben Tag laufen konnte. Er lächelte.

„Sag mal, Hanebito, wie oft geht ihr hier jagen? Wie lange wirst du warten müssen?“
 

Dieser zuckte nur mit den Schultern. „Auch wenn wir untereinander viel handeln, kommt es eher vor, dass die Inseln separat voneinander auf die Jagd gehen. Je nachdem, wie schnell die Vorräte aufgebraucht wurden, kann es Tage dauern, bis sie wieder hier herunter kommen.“ Aber das war auch nicht so tragisch. Bei dem Wildbestand und den hier herrschenden Raubtieren brauchte er nur zu warten und würde nicht hungern.

Mimoun stockte kurz im Schritt. Da war etwas gewesen. Ein vertrautes Gefühl, ein vertrautes Geräusch. Doch er konnte nicht mit Gewissheit bestimmen, was es war. Als es ihm wieder bewusst wurde, drehte er sich hastig um und sah einen großen Schatten auf sie zustürzen. Das Opfer war klar. Der Magier.

„Runter.“, rief er, stürzte zu ihm hinüber und riss ihn zu Boden. Beinahe sanft wurde der Geflügelte von einer Lederschwinge gestreift, als der andere im letzten Augenblick versuchte, die Flugbahn zu ändern.

Mimoun richtete sich halb auf. Noch immer kniete er über Dhaôma, ließ die linke Hand auf dessen Körper liegen. Damit versuchte er ihm zu vermitteln, unten zu bleiben. Die Flügel spannte er leicht über ihn.

Das alles geschah innerhalb weniger Augenblicke. Erst jetzt gestattete er sich, Ausschau nach dem Angreifer zu halten. Verblüfft blinzelte er. Dort, am Ende der einige Meter langen Furche, die die Klauen ins Gras und teilweise den Erdboden gerissen hatten, hockte eine Geflügelte und starrte ihn fassungslos an. Die langen schwarzen Haare wurden von einem Band im Nacken gehalten, der zierliche kleine Körper wurde von einem grünen Kleid und ebenso grüner Hose umhüllt. Die braunen Augen, die ihm so vertraut waren, füllten sich langsam mit Tränen.

„Silia.“, hauchte er. Langsam richtete er sich weiter auf und löste sich von dem Magier. Als seine kleine Schwester ihren Namen hörte, stürzte sie auf ihn zu, warf sich ihm an den Hals. Vergessen war, dass dort ein Magier in der Nähe war, vergessen war, welche Gefahr dies bedeutete.

„Mimoun.“, schluchzte sie. „Ich hab’s gewusst. Ich wusste, dass du noch lebst. Aber sie wollten mir alle nicht glauben.“

Mimoun schlang ebenfalls seine Arme um ihren bebenden Körper und drückte sie fest an sich.
 

Dhaôma war erschreckt worden durch die unvermittelte Handlung seines Patienten und begriff nur langsam, dass sich da ein großes Problem entfaltete. So hatte er das nicht geplant! Wie sollte er jetzt noch entkommen? Wie sollte er überleben?

„Aiaiai.“, murmelte er, während er sich ein wenig zurückzog. Noch immer am Boden sitzend, noch immer halb im Gras verborgen. Bis zu seinem Unterschlupf waren es noch über zwei Stunden! Wieso war er so unvorsichtig gewesen? Normalerweise bemerkte er die Geflügelten, bevor sie ihn sahen.

Verärgert über sich selbst überdachte er seine Möglichkeiten. Einen Schutz errichten mit der Magie, die in ihm wohnte, würde ihn nur auspowern, in die Erdlöcher der Erdhörnchen passte er nicht hinein, weglaufen hatte keinen Sinn. Alles, was ihm blieb, war tot stellen oder auf den – seinen – Hanebito zu vertrauen. Immerhin hatte er ihn schon einmal beschützt. Hoffentlich hatte das für ihn keine Konsequenzen.

Letztlich gab er den Rückzug auf, zog die Beine in den Schneidersitz und betrachtete sich das Pärchen vor ihm. Sie war schmal, zierlich, die Flügel wirkten fragiler als bei seinem Hanebito, aber die Haare waren ebenso schwarz. Hübsch war sie. Ob sie auch seine Freundin werden konnte?

Hanebito wirkte richtig glücklich, sie zu sehen. Ob die beiden verbunden waren? Oder waren sie Familie? Obwohl dieses Mädchen wirklich wunderbar zu ihm passen würde. Seine Geliebte?

Auf Dhaômas Gesicht erschien ein warmes Lächeln. Er hatte es geschafft, hatte sein Versprechen halten können. Sein Hanebito war wieder bei seinen Leuten, sie konnten ihn mit sich zurücknehmen. Immerhin etwas, nicht wahr?
 

Silia stieß ihn plötzlich von sich. „Was sollte das? Bist du wahnsinnig? Ich hätte das da ganz leicht…“ Weiter kam sie nicht, denn Mimoun legte seiner Schwester zwei Finger auf die Lippen, brachte sie so zum Verstummen.

„Es tut mir leid, aber ich hätte dir nie verziehen, wenn du ihn verletzt hättest.“

Silia wich zurück und auf ihrem Gesicht spiegelten sich Fassungslosigkeit, Unglaube und Schmerz. „Aber…“

„Es tut mir leid, dass ich euch solchen Kummer bereitet habe. Aber dass ich noch lebe, verdanke ich einzig und allein Dhaôma. Er hat mich vor seinesgleichen versteckt, er hat meine Wunden behandelt und meine Macken ertragen, er hat mich hier hergeführt. Ich kann nicht zulassen, dass du ihm irgendetwas antust. Dafür verdanke ich ihm zuviel.“, erklärte Mimoun sanft.

Mit Schwung wandte sich Silia dem Magier zu. Sie zitterte am ganzen Körper. Und in ihren Augen waren deutlich ihre Gefühle abzulesen. Hass auf die Magier, Dankbarkeit für Rettung ihres Bruders, Verwirrung über die momentane Situation und wie sie sich nun verhalten sollte.
 

Dhaôma fühlte sich angesichts dieser Gefühle fast noch hilfloser als ohnehin schon. Was sollte er sagen? Was konnte er tun?

Irgendwie rettete er sich in ein Lächeln. Vorsichtig hob er die Hand, die Fläche nach vorne zeigend. „Hallo.“, sagte er und ließ die Hand wieder sinken.
 

Mimoun, anfangs angespannt wegen dieser Situation, brach nun in schallendes Gelächter aus. Als der Magier nämlich die Hand gehoben hatte, war Silia erschreckt zurückgewichen.

Sanft packte er sie bei den Schultern und schob sie Richtung Dhaôma. „Keine Angst. Der beißt nicht.“ Noch immer kicherte er.

Zornentbrannt wandte sie sich um. „Ich finde das nicht witzig, Mimoun. Hast du eigentlich eine Ahnung, was das da ist?“ Erregt deutete sie hinter sich.

Der Angesprochene sah an ihr vorbei auf den Magier. „Natürlich. Das ist Dhaôma. Und wenn du ihn nicht ärgerst, wird er davon absehen, dich mit Gänseblümchen zu bewerfen.“

„Du dummer Idiot. Er gehört zu denjenigen, die Vater umgebracht haben. Ihretwegen leidet Mutter so sehr!“, ereiferte sie sich.

Und diese Worte riefen eine andere Erinnerung in Mimoun wach. „Niemand hat dir geglaubt, als du sagtest, ich würde noch leben.“, stellte er ernst fest. Jede Spur eines Lächelns war aus seinem Gesicht gewichen. Zögerlich nickte sie. Dieser Stimmungswechsel bedeutete wohl nichts Gutes. „Das heißt, auch Mutter glaubt, ich wäre tot. Und du hast allen Ernstes nichts Besseres zu tun, als sie allein zu lassen mit der Angst, vielleicht auch noch ihr letztes Kind zu verlieren?“ Das konnte doch nicht wahr sein.

Silia zuckte zurück. „Aber niemand hat mir geglaubt. Jemand musste doch nach dir suchen!“, rechtfertigte sie sich. „Deshalb sollten wir auch so schnell wie möglich wieder nach Hause. Los. Komm.“

Ohne ein Wort spreizte Mimoun seinen linken Flügel. Entsetzt schlug sie sich die Hände vor den Mund und weinte.
 

Eigentlich hatte Dhaôma einwenden wollen, dass er es nicht gewesen war, der ihren Vater umgebracht hatte, aber ihn hatte etwas abgelenkt. Sein Hanebito hieß Mimoun. „Bestens. Jetzt kann ich ihn rufen, ohne gleich alle zu meinen.“, murmelte er und vergaß völlig, dass er besser nicht nach dem Hanebito rufen sollte, wenn andere dabei waren.

Stattdessen spannte er die Muskeln. Ihm war noch etwas anderes eingefallen. Mimoun hatte von Angst gesprochen und dieses Mädchen war in Sorge gewesen. Er richtete sich noch ein wenig weiter auf, noch immer saß er, aber er wirkte ernster. Was hatte ihm der Hanebito beigebracht?

„Es tut mir leid, dass ich dir Sorgen bereitet habe.“, sagte er.
 

Dieser Einwurf überrumpelte beide Geflügelte. Während Silia mit diesen Worten nun so gar nichts anfangen konnte und den Zusammenhang nicht verstand, dämmerte Mimoun, worauf der Magier hinaus wollte. Seufzend kratzte er sich am Kopf. Auweia. Auch wenn der Ansatz der richtige war, war die Durchführung völlig daneben.

„Er entschuldigt sich dafür, dass er dir Angst gemacht hat.“, übersetzte er daher für seine Schwester. Diese sah beinahe verstört zwischen ihrem Bruder und dem Magier hin und her. „Also noch einmal.“, wandte sich Mimoun an den Magier. „Das was du gerade gesagt hast, solltest du sagen, wenn sich die Person deinetwegen Sorgen… nein, Moment, wie formulier ich es jetzt für dich verständlich… ah… wenn sie sich um dich Sorgen macht. Silia hatte sich um dich ja keine Sorgen gemacht, sondern Angst vor dir.“

„Hey. Ich habe keine Angst vor ihm. Ich hasse ihn.“, warf sie ein, nachdem sie endlich ihre Sprache wieder gefunden hatte. „Und was sollen diese ganzen Erklärungsversuche?“

Erneut kratzte er sich am Kopf. Am Liebsten würde er jeden von ihnen in einen separaten Raum sperren und sich getrennt um sie kümmern, doch das ging wohl gerade nicht. „Das ist schwer zu erklären. Aber wir haben ja nun alle Zeit der Welt. Und Mutter würde es wohl am liebsten auch hören. Verschieben wir diese Diskussion also bitte auf später.“
 

Dhaôma schüttelte den Kopf. „Ich meinte es anders.“, sagte er. „Ich entschuldige mich nicht dafür, dass ich ihr Angst gemacht habe, denn dafür kann ich nichts. Ich entschuldige mich dafür, dass ich ihr nicht früher die Sorgen nehmen konnte, die sie um dich hatte.“
 

„Dann solltest du es auch so ausdrücken. Wenn man dich nicht kennt, versteht man dich sonst nicht.“ Mimouns Blick glitt nach oben und streifte über die Inseln.
 

Dhaôma stand endlich auf. „Aber ihr habt Recht. Ihr solltet nach Hause gehen. Wenn sie dich tragen kann.“, zeigte er auf das Mädchen.
 

„Nicht lange genug, fürchte ich.“, schüttelte Mimoun den Kopf. „Es würde nicht einmal bis zu den Inseln hinauf reichen.“ Auf die Sache mit Angst oder Sorgen beschloss er nun nicht weiter einzugehen. Irgendwie fühlte er sich missverstanden. Das hatte schon letztes Mal nicht gefruchtet, so wie es aussah. Er war wohl einfach nicht als Lehrer für so was geeignet. Und außerdem würden sich ihre Wege, wie es schien, von jetzt an trennen.

Er wandte sich seiner Schwester direkt zu, sah ihr eindringlich in die braunen Augen. „Geh bitte und hole jemanden, der mich nach Hause bringen kann. Bitte geh.“

Widerstrebend sah Silia zwischen ihrem Bruder und dem Magier hin und her. Doch schließlich nickte sie abgehakt. „Ich bin bald zurück.“, sagte sie noch und umarmte Mimoun erneut. Dem Druck, den sie dabei ausübte, nach zu urteilen, wollte sie ihn nicht hier mit einem Magier allein lassen.

„Es ist alles okay.“, versprach er leise und schob sie von sich.

Wieder trat das Mädchen vor den Magier und kämpfte mit sich. Sollte sie was sagen? Was sollte sie ihm sagen? „Wehe meinem Bruder passiert etwas.“, drohte sie ihm und entfernte sich dann schnell Richtung fliegender Inseln.

Mimoun sah ihr noch eine ganze Weile nach, bevor er sich Dhaôma zuwandte. „Tut mir Leid. Alles okay bei dir?“
 

„Warum sollte etwas nicht okay sein? Sie hat mich nicht um etwas Unmögliches gebeten. Es ist lediglich das gleiche, was ich mir ohnehin vorgenommen hatte.“ Irritiert schüttelte er den Kopf. „Aber hier warten wäre unklug. Besser wir gehen weiter zur Schlucht. Sie wird uns von oben schon sehen.“

Aber so sicher, wie er sich gab, fühlte er sich nicht. Seine Hände waren feucht vor Aufregung, denn das Mädchen würde mit Verstärkung wiederkommen. Und selbst wenn sein Hanebito – Mimoun – sie unter Kontrolle hatte, hieß das nicht, dass er auch andere davon würde abhalten können, ihn zu töten. Was sollte er denn tun?

Unwohl sah er zu der Schlucht hinüber.
 

Mimoun lächelte traurig.

„Ich hab mir nur Sorgen gemacht, schließlich drohte sie damit, dich zu töten. Ist dir das wirklich so völlig egal?“ Irgendwie konnte er das nicht glauben. Jeder hing doch zumindest teilweise an seinem Leben. Und Dhaôma wollte Drachen sehen, wenn er sich richtig erinnerte.
 

„Ich will nicht sterben.“ Der Braunhaarige schlang unbeholfen die Arme um den Körper. „Aber es hilft nichts, oder? Auch deine Schwester hat gedacht, ich hätte ihren Vater umgebracht. Und ich kann ihr nicht das Gegenteil beweisen.“ Er lächelte gezwungen. „Lass uns gehen, ja? Da hinten, da kann ich besser weglaufen.“
 

„Nicht du. Die Magier. Und du bist nun einmal ein Magier. Für sie macht es keinen Unterschied. Selbst wenn du unseren Vater nicht getötet hast, so doch andere unseres Volkes. Für sie ist das einerlei und falls du dich noch erinnern solltest, war ich anfangs auch nicht besser.“, erklärte er sanft. Auch er sah in Richtung der Schlucht. „Ich kann die Schlucht sehen, ich finde den Weg ab hier auch allein. Vielleicht solltest du deine Zeit besser nutzen, dir hier ein sicheres Versteck zu basteln und zu warten, bis alles vorbei ist.“
 

„Das geht nicht!“ Fast erschrocken krallten seine Hände sich in seine Kleider. „Wenn ich hier bleibe, auf offener Fläche, finden sie mich sofort! Ich habe nicht genug Wasser, um eine lange Belagerung auszuhalten. Und sie könnten mich einfach abbrennen. Das wäre doch gar kein Problem! In der Schlucht gibt es wenigstens Höhlen, die Wasser führen. Dort haben sie mich noch nie gefunden!“

Er schüttelte den Kopf. Angst hatte ihn im Griff und ließ ihn heftiger werden, als er beabsichtigt hatte. Ruckartig wandte er sich um und strebte der Schlucht zu. Er hatte gewusst, was auf ihn zukam, nicht wahr? Er hatte es gewusst. Die ganze Zeit.
 

Der Geflügelte sah diesem Ausbruch nur stumm zu. Was hätte er auch tun oder sagen können? Die Angst, die der andere empfand, konnte er selbst schon fast körperlich spüren. Und sie war berechtigt. Vielleicht hatte er seine Schwester kurzzeitig davon abbringen können, Dhaôma Schaden zuzufügen, doch wen auch immer sie bei ihrer Rückkehr dabei haben würde, würde sicher nicht so leicht umzustimmen sein.

Auch er strebte nun der Schlucht zu, legte ein schärferes Tempo vor, als in den letzten Tagen und begann noch mitten im Laufen seine Rüstung wieder eng an den Körper zu schnallen. Innerlich machte er sich bereit für den Kampf. Der Magier würde diesen Tag überleben, dafür würde er sorgen.
 

Dhaôma überwand in der nächsten Stunde seine Angst einigermaßen. Es sah gut aus. Die Schlucht kam näher. Irgendwie gewann er wieder Hoffnung.

„Du heißt also Mimoun.“, begann er irgendwann zu sprechen. „Bedeutet das was Bestimmtes?“ Mit dem Gespräch erhoffte er sich, dass sein Begleiter nicht mehr so finster aussah.
 

Mimoun wurde unvermittelt aus seinen Überlegungen gerissen. In Gedanken versuchte er die gestellte Frage zu realisieren. „Nein. Nicht wirklich. Aber es gibt einen sehr ähnlichen Namen für Mädchen der ‚Himmel’ bedeutet. Ich vermute eher, dass meine Eltern diesen Namen ein wenig an mein Geschlecht angepasst haben.“, grinste er verlegen. Das war ihm ein wenig unangenehm. Warum konnte er nicht sagen, doch er schoss deshalb sofort zurück. „Und dein Name? Was bedeutet er?“
 

„Freiheit. Geboren aus der Hoffnung, dass ich ein mächtiger Mann werde, dem alle Freiheiten eingeräumt werden.“ Dhaôma lachte verächtlich, bevor er verschmitzt hinzufügte: „Am Ende bedeutete es eher, dass ich mir die Freiheit nehme, meinen eigenen Kopf zu benutzen. Passt doch gut zu mir, oder?“
 

„Ich finde auch, dass das gut zu dir passt. Du kannst tun und lassen, was du willst. Du kannst gehen, wohin dich deine Füße tragen. Niemand, der dir Vorschriften macht. Nichts, was dich einschränkt.“, erwiderte Mimoun und ließ seinen Blick über den Himmel schweifen. Nirgends ein Anzeichen für Geflügelte, dabei ließ die Größe der Insel dort hinten darauf schließen, dass sie bewohnt wurde. Irgendwie dauerte es doch ein wenig lange. Der Hinweis, Geflügelter in Not, hätte eigentlich schneller Hilfe bringen müssen. Doch es störte ihn nicht. Nicht jetzt. Je mehr Zeit sie hatten, umso größer war die Chance, dass Dhaôma sich in Sicherheit bringen konnte.
 

„Und bald bin ich freier als jeder andere.“, sagte Dhaôma, zufrieden, dass nicht nur er das so sah. „Wenn ich fliegen kann, hindern mich nicht einmal mehr die Flüsse oder Berge daran, irgendwohin zu gehen, nicht wahr?“, spielte er auf seinen Plan an, einen Drachen zu finden.

Dann fiel ihm ein, dass der Hanebito eben das nicht mehr konnte. Vielleicht sollte er sich überlegen, ob er auch einen Drachen suchen wollte, aber andererseits konnte er der Mutter ihren Sohn ja nicht wegnehmen, wo sie ihn doch offensichtlich mochte. „Vielleicht kann ich dich besuchen kommen, wenn ich mein Ziel erreicht habe. Nachts, damit keiner Angst hat…“
 

Ohne seine Schritte zu verlangsamen, strebte Mimoun weiter auf die Schlucht zu.

Zeitgleich wuchs sein Mitleid mit diesem gequälten Kind. Dhaôma war so einsam, dass er sich freiwillig auf Feindesland begeben wollte, nur um seinen vielleicht einzigen Freund zu besuchen. In einer winzigen Ecke seines Bewusstseins widerstrebte es ihm, diesen Jungen wieder der Einsamkeit zu überlassen.

„Gern.“, antwortete er dennoch. „Weißt du denn, auf welcher Insel ich wohne?“ Natürlich wusste der Magier das nicht. „Willst du dich dann durchfragen?“
 

„Das geht doch nicht. Dann hätten sie ja doch Angst. Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe gelesen, dass Drachen einen feinen Geruchsinn haben. Ich nehme einfach etwas, das dir gehört, und dann findet er dich.“ Schwärmend sah er in den Himmel.

Und erschrak. Da kamen sie. Es waren vielleicht nur zwei, aber sie kamen. Seine Angst war sofort wieder da, machte seine Sinne leistungsfähiger und schneller. Wie weit war es noch zur Schlucht? Nicht mehr weit, aber zu weit, um ungesehen hinzurennen. Also mit vollem Risiko.

„Hanebito, danke für alles. Ich denke, ich werde jetzt gehen!“ Und schon lief er los. So schnell er konnte, den Rucksack hinter sich fallen lassend. Unnötiger Ballast, mehr war es in diesem Moment nicht.
 

Dieser plötzliche Wechsel überraschte Mimoun und er vergeudete wertvolle Sekunden, um in den Himmel zu schauen. Nur zwei Geflügelte. Zwei vertraute Schatten. Noch einmal vergingen Sekunden, bevor er begriff, wen seine Schwester da mitbrachte. Freude durchflutete ihn. Und unbändige Erleichterung. Auch als er sah, dass sie trotz des flüchtenden Magiers weiterhin auf Mimoun zuhielten.

„Dhaôma, bleib hier.“, rief er. „Vertrau mir.“

Doch dieser reagierte nicht darauf, falls er die Worte überhaupt vernahm. Mimoun eilte ihm nach, griff im Laufen nach dem achtlos fallen gelassenen Rucksack und warf ihn zielsicher an Dhaômas Rücken. Seinen Lauf stoppte er dabei nicht. Er rannte weiter auf den Magier zu.
 

Dieser wurde durch den unerwarteten Schlag aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte und konnte sich nicht wirklich abfangen, so dass er eine Bruchlandung absolvierte. Es tat weh, an den Händen und im Gesicht, aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Weiter, er musste einfach weiterlaufen. Seine Zähne mahlten aufeinander, als er sich wieder hochrappelte.
 

In dem Moment war Mimoun bei ihm und ergriff ihn am Arm. Gleichzeitig nahm er wieder den Rucksack auf und hielt ihn Dhaôma entgegen. „Hier. Du bist doch letztes Mal ausgeflippt, als ich ihn in der Hand hatte. Vergiss ihn also nicht.“, lächelte er sanft, aber ein wenig außer Atem. „Und ganz ruhig. Du kannst langsam gehen. Ich sorge dafür, dass sie dir nichts tun. Vertrau mir. Ich weiß, wie ich meiner Mutter zu begegnen habe.“ Sein Lächeln wurde zu einem verschmitzten Grinsen.

Dann ließ er den Arm des Magiers los und wandte sich wieder den sich nähernden Geflügelten zu. Es war eigentlich egal, ob der Magier hier blieb und abwartete oder weiter fortlief.
 

Mutter? Ein schneller Blick nach oben. Sie waren schon zu nah, um noch wegzulaufen. Hätte Mimoun ihn nicht aufgehalten, hätte er es mit Sicherheit geschafft! Warum hatte er ihn überhaupt gestoppt? Was hatte er davon? Jetzt musste er gegen seine eigene Mutter und Schwester kämpfen, wenn er ihn wirklich beschützen wollte! Dabei wollte er doch gar keinen Kampf mehr! Er wollte Frieden. Und er wollte nicht, dass irgendjemand für ihn starb. Hanebito sollte doch wieder nach Hause dürfen und nicht als Verräter gelten!

Ohne dass er was dagegen tun konnte, drangen Tränen in ihm hoch. Er umklammerte seinen Rucksack, ging in die Hocke und versteckte das Gesicht in dem robusten Stoff. Warum musste der Depp alles vermasseln, wenn es doch so einfach hätte gelöst werden können?!
 

Mimoun sah den kümmerlichen Haufen hinter sich und Reue stieg in ihm auf. Er hatte doch gewusst, welche Ängste in dem Magier wohnten. „Es ist alles okay.“, sagte er deshalb noch einmal besänftigend und lief ein paar Schritte seiner Familie entgegen.

Diese landete ein wenig abseits und während sich Silia glücklich wieder an den Hals ihres Bruders warf, blieb Mimouns Mutter erst einmal auf Abstand. Auch wenn ihre Tochter versucht hatte, sie darauf vorzubereiten, auch wenn sie sich dazu hat überreden lassen, hier herunter zu kommen und sich mit eigenen Augen zu überzeugen, so fürchtete sie sich doch. Fürchtete sich davor, dass diese wundervolle Illusion zersprang, wenn sie versuchte, ihn zu berühren.

Diese Entscheidung nahm Mimoun ihr ab, als er sich von seiner Schwester löste und selbst auf die verhärmt wirkende Frau zuging. „Du bist dünn geworden.“, stellte er zwar sachlich, aber mit leicht erstickter Stimme fest. Es tat so gut, wieder bei ihr zu sein. „Verzeih mir.“

Zögerlich streckte die Frau eine Hand aus, Verzweiflung in ihrem Blick, und berührte ihren Sohn im Gesicht. Als sie auf Widerstand stieß, änderte sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht in ungläubige Freude. Sie nahm die zweite Hand dazu und zog ihn an sich. „Mein Baby. Du lebst!“

Mimoun war sich nicht sicher, ob er sich wegen dieser geflüsterten Worte aufregen sollte, doch er beließ es dabei. Hier wieder im Kreis seiner Familie zu sein, war für ihn momentan das größte Glück.

Silia wandte sich indessen dem am Boden kauernden Magier zu. „Hey, du.“ Vorsichtig stupste sie ihn mit dem Fuß an. „Ich hab vorhin noch was vergessen.“
 

Dhaôma kauerte sich nur noch ein wenig mehr zusammen. Er wusste nicht mehr, was er denken sollte. Einerseits sagte sein Hanebito, dass er ihn beschützen würde, andererseits ließ er das Mädchen zu ihm, das ihn töten wollte und ihn als etwas Ekliges betrachtete. Was würde denn nun mit ihm geschehen? Er wollte doch nicht sterben! Er wollte leben. War das so schlimm?

Die Zeichen auf seinen Armen fingen fast ohne sein Zutun zu leuchten an. Wenn er jetzt einen Schutzwall errichtete, hatte er doch sicher noch eine Chance, oder? Also verstärkte er die Kraft, richtete sie auf die Samen in dem Beutel, der sich in seinem Rucksack verbarg.
 

Silia schrie auf und flatterte einige Schritte in Richtung ihres Bruders. Sowohl dieser als auch die Mutter sahen erschrocken auf.

„Ich wollte nur mit ihm reden!“ Panisch deutete sie zu dem Magier. Sie hatte es doch gewusst. Diese Kreaturen waren eine Gefahr, egal was ihr Bruder Gegenteiliges behauptete.

Als Mimoun die leuchtenden Zeichen sah, wusste er, was gleich geschehen würde und hoffte, es noch verhindern zu können. Schnell überwand er die wenigen Meter, die ihn von dem Magier trennten und hockte sich vor ihn. Sanft umfasst er die Handgelenke und zog sie von dem Rucksack fort.

„Du verlangtest immer von mir Vertrauen, aber wenn ich dich darum bitte, verwehrst du es mir jedes Mal.“, sagte er tadelnd. Mit einem kurzen Blick zu den Frauen bat er sie, auf Abstand zu bleiben. Doch er sah auch in den Augen der Mutter die Angst. Ihr Sohn saß gerade so dicht vor einem Magier, der dabei war zu zaubern. „Er ist ein Freund.“, versicherte er ihr deshalb mit Nachdruck. „Er würde niemandem schaden.“
 

Die Zeichen flackerten, doch die erste Ranke hatte sich schon aus der Öffnung des Rucksacks geschoben. Dhaôma blickte ihn aus verweinten Augen an, seine zerkratzten Hände zitterten. „Ich habe Angst.“, sagte er erstickt. „Ich kann das nicht verhindern.“

Die Pflanze schob eine Knospe und erblühte in einem leuchtenden Gelb. Er versuchte ja, es zu unterdrücken!
 

Mimoun fühlte sich noch mieser, schließlich hatte er Dhaôma ohne nachzudenken dieser Situation ausgeliefert. „Es tut mir leid. Ich wollte dir keinen Kummer bereiten.“, murmelte er deswegen mit gesenktem Kopf. „Aber du brauchst nichts zu fürchten. Ich verspreche es dir.“

Schritte hinter ihm ließen den Geflügelten aufblicken. Beide Frauen traten nun näher. Doch bevor er reagieren konnte, legte seine Mutter dem verängstigten Kind in ihrer Mitte die Hand auf dem Schopf. „Ja. Magier nahmen mir meinen Gefährten.“, begann sie leise. „Aber du hast mir meinen Sohn zurückgegeben, den ich bereits verloren glaubte. Ich bin nicht so verblendet und undankbar wie viele andere unseres Volkes. Du bist hier in Sicherheit.“
 

Erschrocken zuckte Dhaôma zusammen und mehr Pflanzen quollen aus dem Beutel, einige Blühten direkt, eine beschloss sehr schnell sehr lang zu werden, bevor der Junge die Magie wieder einigermaßen unter Kontrolle bekam. Unsicher blickte er auf.

Die braunen Augen waren warm und dankbar. Und auch unsicher. So wie er sich fühlte.

Erneut ging ein Zittern durch seinen Körper, dann schloss er die Augen und atmete einmal gezwungen tief durch. Das Leuchten erlosch. Dafür kullerten nur noch mehr Tränen aus seinen Augen, weil die Erleichterung ihm die Anspannung nahm. Als er die Augen wieder öffnete, nickte er. Er hatte verstanden.

Aber sein Unterbewusstsein war mit der Situation dennoch nicht zufrieden. Eine seiner Hände krallte sich in Mimouns Hand. Er brauchte einfach etwas, woran er sich festhalten konnte.
 

„Ich darf doch, oder?“, fragte Mimoun und nahm dennoch, ohne auf Antwort zu warten, den Rucksack von Dhaômas Schoß, stellte ihn aber nur wenige Zentimeter von dem Magier entfernt wieder ab. Der Geflügelte befand es für sicherer, wenn dieser nicht mehr direkten Kontakt zu den Samen oder vielmehr jetzt Pflanzen hatte. Auch wenn er sich ein wenig beruhigt zu haben schien.

Kurz überlegte er, betrachtete die Tränen und kam sich immer schäbiger vor. „Ich würde Dhaôma gerne noch bis zur Schlucht begleiten und schauen, dass er einen sicheren Unterschlupf gefunden hat. Würdet ihr bitte hier auf mich warten?“ Flehend sah er zu seiner Mutter hinauf. Er wusste, dass es gerade für sie schwer sein musste, ihren Sohn weiter in Begleitung eines Magiers zu sehen. Egal, was sie gerade zu Dhaôma gesagt hatte, und man sah ihr ihren Widerwillen auch an. Dennoch nickte sie zum Einverständnis. Während sich Mimoun mit demselben bittenden Blick an seine Schwester wandte, kniete sich die Frau neben den jungen Magier und begann mit einem Ärmel sein Gesicht zu reinigen.
 

Der Junge wollte das abwehren. Was sie da tat, verstand er nicht, aber er traute sich auch nicht wirklich etwas dagegen zu sagen. Auch nicht, als es auf den Schrammen brannte. Stattdessen hielt sich sein Blick an den Pflanzen fest.

„Jetzt sind sie alle aufgewacht.“, murmelte er. „Dabei sollten sie doch schlafen.“
 

„Mutter.“, fuhr Mimoun auf, als er ihrer Handlung gewahr wurde. „Er ist kein kleines Kind.“

Sie hielt kurz in ihrem Tun inne. „Wir sind aber schuld daran, dass er sich verletzt hat und Angst verspürt, oder etwa nicht?“

Mimoun wich ihrem Blick aus. Eigentlich war nur er dafür verantwortlich. Er hätte Dhaôma auch einfach gehen lassen können.

„Außerdem macht es das sicher nicht besser.“, mischte sich auch Silia ein. Mit verschränkten Armen stand sie etwas abseits. „Es wäre das Einfachste, wenn wir einfach von hier verschwinden. Wir haben nichts gesehen, wir wissen von nichts.“

Mimoun nickte zustimmend und zog seine Mutter mit nach oben. Er warf noch einen abschließenden Blick auf Dhaôma. Dessen Blick hing an den sprießenden Pflanzen fest.

„Lass sie doch einfach Samen treiben.“, schlug er hilflos vor. Und nach einigen Augenblicken des Schweigens fügte er an: „Danke.“

Mimoun wandte sich ab und ging ein paar Schritte mit den Frauen, bevor er sich an ihnen festhielt und sie sich zum Abflug bereit machten.
 

Dhaôma nickte, dann lächelte er seinem Hanebito zu und winkte schwach.

Er konnte es noch gar nicht fassen. Er hatte zum zweiten Mal eine Begegnung mit den Geflügelten überlebt! Einfach so! Er hatte sich nicht einmal verteidigt – oder besser, war gescheitert. Und trotzdem lebte er noch.

‚Lass doch einfach Samen treiben.’, hatte Hanebito gesagt. Das würde er tun. Jetzt gleich.

Schnell öffnete er den Rucksack. Der kleine Beutel darin war schon kaputt, aber dennoch kippte er alle Samen in den Wind. Beinahe jeder war offen und Dhaôma sah, dass nur die Baumsamen nicht der Magie erlegen waren. Sie brauchten größere Mengen, aber das war gut so. Er klaubte sie auf und steckte sie in die Tasche, dann legte er die Hände auf den Boden. Wie bei seiner ersten Begegnung mit dem Hanebito ließ er einfach alles wachsen, was wollte, gab so viel Kraft hinein, wie er konnte. Es war eine Art Abschiedsgeschenk. Von oben würden sie es sicher noch lange sehen können.

Um ihn wurden selbst die Gräser höher, wirkten frischer, als die Keimlinge wuchsen. Es machte ihm Freude und schon bald vergaß er den Grund für die Magie. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich einfach nur auf sich, während um ihn herum Kräuter und Blumen sprossen, blühten, vergingen, Samen bildeten. Als er merkte, dass seine Kraft schwand, beendete er sein Spiel und sah sich um. An diesem Tag würde er keinen Hunger mehr haben müssen. Es war genug gewachsen, das man auch essen konnte.

Rücklings ließ sich der Braunhaarige ins Gestrüpp fallen, zuckte zurück, weil er einen Dorn erwischt hatte, und begann zu lachen. Eigentlich war das Leben wunderschön!
 

Schon kurz nach dem Abflug schaute Mimoun zurück. Er wusste nicht einmal warum.

„Dieser Dummkopf.“, entfuhr es ihm leise. Auch die beiden Frauen sahen kurz nach unten und blickten erstaunt auf das sich immer weiter ausbreitende Grün, die leuchtenden Farben der Blüten. „Dummkopf.“, wiederholte der Geflügelte, diesmal mit einem Lächeln. Wenn der Magier sein Werk nur von hier oben bewundern könnte. Niemals wieder würde er glauben, dass seine Fähigkeit nichts wert war. Die verwunderten Blicke seiner Familie bemerkte er nicht, er hatte nur Augen für diesen faszinierenden Anblick.

getrennte Wege

Kapitel 8

Getrennte Wege
 

Auch als Mimoun von seiner Familie auf der nächstgelegenen Insel abgesetzt wurde, um kurz Pause zu machen, stand er am Rand von dieser und sah auf den grünen Fleck auf der Steppe hinunter. Dort saß der Magier, das wusste er. Dort saß der Junge, dem er sein Leben verdankte. Und er hatte ihm auf die letzten Minuten nur Kummer bereitet.

Eine Berührung an seiner Schulter riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Seine Mutter stand neben ihm. Ihre warmen braunen Augen leuchteten wie schon lange nicht mehr. Doch es spiegelte sich auch leichte Sorge darin. Sie spürte, dass ihr Sohn nicht mehr derselbe war wie damals, als er in den Krieg zog.

Ihre stumme Frage beantwortete er mit einem leichten Lächeln und sah wieder hinunter. Er spürte, wie ihre kühle Hand sanft seine Wange streichelte und sich dann auf seinen linken Flügel senkte. Seine Mutter hatte bisher nicht das volle Ausmaß des Schadens zu Gesicht bekommen und irgendwie scheute er ihre Reaktion. Dennoch ließ er es zu, als sie den Flügel ein wenig auseinander zog. Sanft strich sie über die Wundränder.

Von der anderen Seite wurde ihm ein Trinkgefäß gereicht. Es war nicht Silia. Diese war zwar zu den hier ansässigen Familien gegangen, um dort um etwas Wasser zu bitten, doch auf ihre Erklärung, ihr im Krieg verschollener und für tot erklärter Bruder sei gesund zurück gekehrt, kam sofort das ganze Dorf zusammen, um dieses Wunder zu begutachten. Und nun hielt ihm ein etwa achtjähriger Junge stolz den Becher entgegen. Bei diesen leuchtenden Augen musste er einfach grinsen. Und umringt von seinem Volk hoch oben zwischen den Wolken fühlte er sich endlich wieder wie Zuhause. Und doch fehlte ihm etwas. Etwas, dass sich nicht bestimmen ließ. Nur ein kleiner, beinahe unbedeutender Teil, der große Auswirkungen zu haben schien.

Von mehreren Seiten wurde er bestürmt, den Abend und die Nacht hier zu verbringen und ihnen von seinem abenteuerlichen Versteck- und Überlebensspiel zu berichten. Mimoun wich ihren Anfragen komplett aus. Er bat darum, endlich wieder in seinem eigenen Heim schlafen zu dürfen. Die Enttäuschung war groß und fast spürbar. Der Geflügelte wusste, dass er dieses entscheidende Detail seiner Heimreise nicht ewig verbergen konnte, doch gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er dann kaum noch eine ruhige Minute haben würde. Also wollte er die letzte Nacht in Frieden nutzen.

Dennoch verbrachten sie noch fast zwei Stunden in diesem Dorf. Es herrschte Entsetzen aufgrund der Schwere seiner Verletzungen. Jeder Geflügelte ahnte, was es bedeutete, nicht mehr fliegen zu können. Als sie endlich gehen gelassen wurden, wurde er von zwei starken Männern bis auf seine Heimatinsel getragen. Die Rüstung, die ihm zur Erleichterung abgenommen wurde und die weitere Verletzungen offenbart hatte, trugen die beiden Frauen. Was für ein Glück war es, dass seine Heimat so nahe war. Die Insel hätte in den letzten Wochen auch ganz woanders liegen können.

Nur zögerlich betrat Mimoun sein Heim. Beinahe zärtlich berührte er die Steine aus denen das Gebäude erschaffen wurde. Passgenaue Quader bildeten die Außenwände, um den hier oben zeitweise heftigen Winden Widerstand bieten zu können. Die hohe Decke bildeten mehrere zusammengenähte schwere Lederbahnen, die bei Flatterübungen der Jungen nicht zu Schäden an den Flügeln führen konnten. Innen sorgten einfache Lederbahnen für räumliche Unterteilungen. Mit geschlossenen Augen zog Mimoun den vertrauten Geruch in sich ein.

Zu weiterer Nostalgie ließ ihn seine Mutter nicht kommen, denn sie dirigierte ihn unnachgiebig in den Raum, den er vor einem Jahr noch zusammen mit seiner Schwester bewohnt hatte. Auch hier sah er sich um. Nichts hatte sich verändert. Selbst seine Schlafstatt sah aus, als wäre er nie weg gewesen. Dorthin drängte ihn seine Mutter nun und begann sich um die noch nicht völlig verheilte Bauchwunde, den gebrochenen rechten Arm und den Flügel zu kümmern. Es dauerte etwas, bis Mimoun es bemerkte, zu sehr war er in Erinnerungen versunken. Doch als er das immer heftiger werdende Zittern seiner Mutter sah, zog er sie in seine Arme.

„Ich bin endlich wieder zu Hause.“, murmelte er in ihre vor Kummer längst mit grau durchzogenen braunen Haare.

Die nächsten Tage wurde er von seiner Familie perfekt abgeschottet. Er konnte sein Heim nicht verlassen und ehrlich gesagt, wollte er es nicht. Die Rückkehr eines Gefallenen sprach sich nicht nur auf seiner Insel sehr schnell herum. Und immer mehr kamen neugierig herbei. Nach so langer Zeit in Feindesland war noch keiner zurückgekehrt. Doch als eine Einladung des Hohen Rates und der obersten Armeeführung kam, konnte er sich nicht mehr verbergen. Auch seine Mutter konnte nun nichts mehr tun. Voller Furcht um ihr Kind war sie seit seiner Rückkehr immer in seiner Nähe gewesen. Als fürchtete sie, ihn erneut zu verlieren.

Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend ließ er sich zu ihnen bringen. Besser er brachte es so schnell wie möglich hinter sich. Seine Mutter und Silia ließen sich natürlich nicht davon abhalten, ihn zu begleiten.

Ihn erwarteten etwa dreißig Personen. Hohe Vertreter der verschiedenen Verwaltungsbezirke, die Anführerfamilie selbst und hoch angesehene Abgesandte der Armee. Mimoun rutschte das Herz in die Hose. Was genau wollten sie nun von ihm wissen? Wie weit sollte er die Wahrheit erzählen? Gefährdete das vielleicht Dhaôma? Gefährdete das vielleicht seine eigene Familie?

Hilfe suchend sah er in die Runde und blieb dann schließlich bei seiner Familie hängen. Die beiden Frauen sahen sich kurz an, bevor sie ihm mit einem kurzen Nicken signalisierten, alles zu erzählen.

So versuchte er, sich an jedes Detail zu erinnern, jedes Ereignis, das sich seit diesem unglückseligen Tag zugetragen hatte. Er berichtete von dem Sturz durch die Bäume und die harte Landung, dem Tod eines anderen, den er mit anhören musste, seinem unrühmlichen Versuch sich zu verstecken und dass er dennoch von einem Magier entdeckt worden war. Einige der Anwesenden lehnten sich aufgrund dieser Information neugierig vor. Doch niemand unterbrach ihn. Er sollte berichten, wie er dem Feind entkommen war.

Mimoun erzählte weiter, wie er sich daran erinnerte, in der Baumhöhle zu sich gekommen zu sein und sich mit dem Magier konfrontiert sah. In einem kurzen Nebensatz erwähnte er seinen erfolglosen Fluchtversuch und die zweite Bewusstlosigkeit innerhalb weniger Stunden. Schon jetzt berichtete er von Dhaômas Versicherungen den Geflügelten wieder nach Hause zu geleiten. Unglaube zeigte sich auf vielen Gesichtern der Anwesenden. Mit einem kurzen Schnauben, gab Mimoun ihnen Recht. Auch er habe damals nicht daran geglaubt.

Seine Erzählung ging weiter über den ersten Versuch nach Hause zu gehen, den darauf folgenden Fieberschub und Zusammenbruch, die zweiwöchige Ruhephase. Und von den letzten Tagen handelte sein Bericht. Der Jagd nach den Fischen, dem Angriff der Wölfe und dem Zusammenbruch des Magiers. Seine Sorge um den Magier und den Streit zwischen ihnen hielt er dann doch raus. Es war eine private Angelegenheit, die nun wirklich nicht hierher gehörte. Er schloss damit, dass Dhaôma sein Wort gehalten habe und er selbst nun endlich Zuhause sei.

Lautes Stimmengewirr erhob sich. Es wurden unterschiedliche Fragen durcheinander geworfen. Wo dieser Magier nun wäre? Was Mimoun alles an Nützlichkeiten in Erfahrung bringen konnte? Warum er ihn am Leben gelassen hatte?

Mimoun beantwortete alle Fragen ruhig und soweit sie Dhaôma nicht gefährden konnten oder die Antwort eine offensichtliche Lüge war. So wusste er zwar, wohin sich der Magier wenden wollte, doch wo er sich momentan exakt aufhielt, konnte er ja nicht wissen. Doch wo sich die Hauptstadt so ungefähr befand, die unterschiedlichen Klassen, die leuchtenden Zeichen als Signal für einen Zauber erwähnte er. Es war Wissen über die Magier, aber nichts, was für den Krieg von elementarer Bedeutung gewesen wäre.

Die Antwort der letzten Frage fiel ihm leicht. Ernst sah er in die Runde, die Hände zu Fäusten geballt. Seine ganze Haltung drückte Entschlossenheit und Stolz aus. „Ich verdanke Dhaôma mein Leben. Und ich habe Euch dazu nichts weiter zu sagen. Wenn Ihr mich also entschuldigen wollt?“ Es wurde still in dem großen Raum. Mimoun verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung und wandte sich zum Gehen. Niemand hielt ihn auf.

Außerhalb der Begrenzung lehnte er sich erst einmal erleichtert aufatmend an die Wand. Er wusste nicht, wie lange er geredet hatte, doch sein Mund fühlte sich ganz trocken an. Seine Mutter trat neben ihn und lächelte ihm glücklich zu. Sanft strich sie ihm über seine schwarzen Zotteln. Es war eine stille Zustimmung zu seinem Handeln.

Doch Mimoun war sich in dieser Hinsicht nicht sicher. Er befürchtete, dass seine letzten Worte ein Nachspiel haben würde, doch seine Befürchtung blieb unbegründet. Im Laufe der nächsten Wochen meldete sich keiner weiter bei dem jungen Geflügelten. Und immer noch hatte er großen Zulauf, vor allem von ungebundenen jungen Mädchen, die diesen Kriegshelden gerne für sich gewinnen wollten und aufmerksam seinen Geschichten lauschten. Bereitwillig erzählte er von Dhaômas Güte, seiner Unbedarftheit, fast Naivität. Er ließ nie ein schlechtes Wort über ihn fallen oder gestattete es einem anderen, ihn mit den Magiern, die sie bekämpften, in einen Topf zu werfen.

Doch auch dieser Zulauf ließ nach. Der Wind roch bereits nach dem nahenden Winter. Mimoun versuchte sich einzubringen, wo er es trotz seiner Behinderung konnte. Doch er war an diese Insel gefesselt. Er konnte nicht mit nach unten auf die Jagd gehen. Sämtliche Obstbäume dieser Insel waren mittlerweile verdorrt und brachten daher keinen Ertrag. Das bisschen Landwirtschaft war kaum der Rede wert und schnell erledigt. Er konnte nur bei der Lagerung und Verteilung helfen. Oder sich einfache Heilkunstfähigkeiten aneignen, wenn kleinere Verletzungen oder einfache Krankheiten auftraten.

Doch mit der Zeit wurde es ihm langweilig. Er wusste nicht, was er tun sollte. Und so streunte er durch die Bibliothek, die ihr Dorf in den Höhlen im unteren Teil der Insel angelegt hatte. Viele Inseln hatten sich kleinere Räume diesbezüglich angelegt, doch die Bücher waren alle schon alt. Und Mimoun wusste nicht, was er hier wirklich sollte. Ohne Ziel durchstöberte er die in den Stein gehauenen Regale. Bis ihm ein kleines Notizbuch in die Hände fiel. Es war nur dünn und in brüchiges Leder eingebunden. Vorsichtig überflog er die ersten Seiten und lächelte. Das könnte Dhaôma weiterhelfen.

Das Lächeln verschwand. Dhaôma würde es nie erhalten können. Er selbst konnte nicht nach unten und nach dem Magier suchen. Und jemand anderen um diesen Gefallen bitten konnte er, nun da der Winter endgültig hereingebrochen war, natürlich auch nicht. Jeder versuchte nun, seine Kräfte zu schonen. Zwar machte ihnen die Kälte nicht so viel aus, doch Lebensmittel waren im Winter immer knapp. Und niemand konnte voraussagen, wie lange die karge Jahreszeit dieses Mal dauern würde. Dennoch streckte er das Büchlein ohne zu überlegen ein und begab sich weiter auf Stöbertour. Einige Bücher über Kräuter und Pflanzen, Geschichten, Berichte über vergangene Zeiten. Bei solchen blieb er hängen. Er versuchte ernsthaft einen Grund für diesen Krieg zu finden. Er wollte eine Antwort auf die Frage, die Dhaôma in ihm ausgelöst hatte. Doch hier fand sich nichts. Hier waren nur Berichte aus friedlichen Zeiten. Aus Zeiten vor diesem verzehrenden Krieg.

Als er fast gänzlich zwischen den Büchern versank, zog ihn Silia nach oben zurück. Sie zog ihn zum zentralen Platz, eine Art Versammlungsort für ihr Dorf. Jetzt im Winter hielten extra aufgestellte Planen zumindest den schärfsten Wind ab. Dort warteten zwei ihrer Freundinnen, Aylen und Jadya. Diese hatten ein Bündel bei sich.

„Ähm?“, begann er, doch er kam nicht weit, als er grob gezwungen wurde, sich zu setzen.

Silia baute sich vor ihm auf und sah ernst zu ihm hinunter. „Wir haben uns etwas überlegt. Wir wissen nicht, ob es funktioniert, und wir können für nichts garantieren, aber mit deinem Einverständnis werden wir es ausprobieren.“, begann sie, nahm Aylen das Bündel ab und begann es neben Mimoun zu entfalten. Dieser fragte nicht nach, sondern wartete ab, was geschehen würde. Das Bündel entpuppte sich als ganz dünnes, weiches Leder, in das einige dünne Lederschnüre eingewickelt waren.

„Wir haben uns gedacht, dass wir das als Ersatz für die gerissene Haut dazwischenspannen.“

Abwehrend hob Mimoun die Hände. „Sekunde. Noch mal langsam.“

„Hör gefälligst zu! Wir werden es genau auf die benötigte Größe zuschneiden.“ Sie berührte den Flügel und spreizte ihn vorsichtig. Sie deutete auf die entsprechenden Stellen. „Wir lassen die Originalhaut dran. Als Stabilisation oder so. Jedenfalls müssen wir das Ersatzleder irgendwie befestigen. Das bedeutet, dass wir es ganz eng an die Speichen und am Dorn anbinden müssen. Das wiederum heißt, dass wir jeweils hier und hier Löcher machen müssen. Es wird wehtun. Auch weil wir die Rissränder zur Stabilisation am Leder befestigen müssen.“ Ihr Blick glitt über sein Gesicht, um ein Einverständnis zu erhaschen. „Du kannst sowieso nicht mehr fliegen, da macht es nichts, es zumindest auszuprobieren.“, versuchte sie es weiter.

„Wem hab ich diese Idee zu verdanken?“ Mimoun wusste ehrlich nicht, wie er reagieren sollte. Einerseits bot sich ihm hier wahrscheinlich eine einmalige Gelegenheit wieder zu fliegen, andererseits würde seinem Flügel zusätzlicher Schaden zugefügt. Ob er es riskieren sollte?

Jadya trat einen Schritt vor. „Ich war das.“, sagte sie fest. „Ich konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, dass du so einfach aufgegeben hast.“

Mimoun lächelte mit gesenktem Kopf. Diese Worte ausgerechnet von diesem Mädchen. Früher war sie schüchtern und zurückhaltend gewesen, nie ging sie ein Risiko ein und nahm alles still hin. Aber wenn selbst sie zu dieser Tat bereit war, wie sollte er dann ablehnen? Und es war zumindest einen Versuch wert. Zustimmend nickte er und die Mädchen hüpften begeistert hoch. Sofort machten sie sich an die Arbeit. Mimoun musste sich flach hinlegen und den Flügel weit spannen, um die Fläche genau bestimmen zu können. Dies war schnell erledigt, Auch das Zuschneiden stellte sich nicht als Problem heraus. Doch die größte Herausforderung wartete noch auf ihn. Die Befestigung des Leders. Der Geflügelte legte sich einen Arm über das Gesicht und krampfte die andere Hand in den Boden unter ihm, als die Mädchen so schnell es ging mit ihren Nägeln die benötigten Löcher direkt neben die Speichen stanzten. Und es wurden viele benötigt, damit sich das Leder nicht zwischen den einzelnen Befestigungen zu sehr aufblähte. Auch bei dem Riss im Flügel wurden diese Löcher gebohrt.

Als sie endlich fertig waren, konnte Mimoun erst einmal eine kurze Pause machen. Die winzigen Wunden wurden mit schmerzstillenden und entzündungshemmenden Salben behandelt, bevor sich die Mädchen daran machten, passgenaue Löcher in das Leder zu stanzen. Obwohl diese Aufgabe schneller erledigt war, ließen sie dem Geflügelten noch einige Minuten zur Erholung.

„Weiter.“, presste Mimoun hervor. Er wollte keine Pause. Er wollte es hinter sich haben.

Auf ein Nicken von Silia hin, machten sich die Mädchen wieder an die Arbeit. In der Zwischenzeit waren immer mehr Dorfbewohner zusammengekommen und verfolgten das Geschehen. Sie alle ahnten, was die jungen Geflügelten hier taten und sie alle drückten die Daumen, dass es glücken würde.

Es war eine Qual für Mimoun, als die dünnen Lederschnüre durch die frischen Wunden gezogen wurden. Jeweils oben und unten wurde ein Knoten gemacht und die Schnüre ansonsten die komplette Länge der Speichen entlang gezogen. So locker wie möglich, um die Speichen nicht zu brechen, und so fest wie nötig, damit sich das Leder nicht zu weit löste. Die Rissränder wurden zusammengeführt und gemeinsam an das Leder gebunden, nur wenig lockerer als an den Speichen. Mehr als einmal keuchte Mimoun schmerzerfüllt auf, doch er hielt durch. Er bat nicht einmal um Pause.

Als die komplette Prozedur nach fast zwei Stunden endlich abgeschlossen war, löste Mimoun seine verkrampften Muskeln. Noch immer liegend, klappte er prüfend den Flügel ein. Es war ein völlig ungewohntes, leicht unangenehmes Gefühl. Als er versuchte sich zu erheben, gaben seine Beine nach. Nach dem fast durchgängigen Verkrampfen gaben seine Muskeln nun auf.

„Aber du wirst es noch nicht probieren.“, sagte Silia ernst, als sie ihrem Bruder Halt gab. „Erst müssen die Wunden heilen und sich daran gewöhnen, verstanden?“

Mimoun nickte. Mittlerweile hatte er wieder selbständig Stand gefunden. Obwohl er neugierig auf das Ergebnis war, wusste er aus leidlicher Erfahrung, was geschah, wenn er zu früh zu viel wollte.

Eine Woche hielt er still, dann begann er mit leichten Flatterübungen. Es zog ein wenig an den Verbindungsstellen, aber das schob er auf die noch nicht völlig verheilten Löcher. Es gab nun einen leichten Gewichtsunterschied der Flügel, den er auszugleichen hatte, doch sie boten dem Wind wieder gleichmäßig Widerstand. Anfangs langsam, mit der Zeit aber intensiver begann er seine Flugfähigkeiten zu trainieren und auszubauen. Nichts anderes beschäftigte ihn mehr. Er versuchte in kleinen Übungen immer länger in der Luft zu bleiben oder über der Insel zu schweben. In den freien Himmel wagte er sich noch nicht. Das hatte noch Zeit. Jetzt im Winter war die Luft weiter oben noch kälter und würde das Leder nur unnötig angreifen. Wenn er nicht übte, war er dabei, es zu pflegen, damit es auch weiterhin weich und geschmeidig blieb.

Die erste Warmphase nutzte er für seinen großen Start aus. Fast das gesamte Dorf war in der Luft, um ihm dabei beizustehen, dabei war es wichtiger, dass sie auf die Jagd gingen, um die Vorräte wieder aufzustocken. Kopfschüttelnd fixierte er sein Ziel. Es war eine der kleineren Inseln, die in einiger Entfernung durch den Himmel zog. Sie besaß etwa den Abstand, den Mimoun sich momentan zutraute. Und sie lag ein wenig höher als seine Heimatinsel, sie wäre also nicht so einfach zu erreichen.

Noch einmal tief durchatmen und los. Mimoun stieß sich vom Rand ab und spannte seine Flügel weit. Er spürte den Wind, der ihn auffing wie einen alten Freund, so wie früher. Mit geschlossenen Augen ließ er sich durch die Luft gleiten und genoss. Als erste Jubelschreie laut wurden, konzentrierte sich der Geflügelte wieder auf sein Ziel. Die Strömungen des Windes hatten ihn ein wenig von seinem Kurs abgebracht, doch jetzt, da er wieder am Himmel schwebte, berührte es ihn nicht mehr. Er war sich völlig sicher, die Insel zu erreichen. Und es machte ihm tatsächlich weniger Schwierigkeiten, als angenommen. Zwar war er tatsächlich etwas erschöpft, doch zu glücklich, um dieser Tatsache allzu großen Raum zu geben. Die Luft um ihn herum war erfüllt von Jubel und dem Rauschen unzähliger Schwingen, die die Luft zerschnitten. Ein Teil von ihnen spaltete sich ab und strebte der Ebene entgegen, um neue Vorräte herbeizuschaffen. Einige flogen zurück zur Heimatinsel, einige ließen sich bei ihm nieder und beglückwünschten ihn direkt. Unter ihnen waren natürlich auch seine beiden Mädels, wie er begonnen hatte sie zu nennen. Während seine Schwester ihm direkt laut jauchzend um den Hals fiel, hielt sich seine Mutter im Hintergrund. Ihr Blick war ein wenig wehmütig. Er sah es zwar, doch er verstand es nicht.

Für den Rückflug nahm er sich Zeit, um vorher wieder zu Kräften zu kommen. Die Euphorie war zwar noch nicht verflogen, doch schon um einiges eingedämmt. Und nun schlug die Erschöpfung zu. Er würde noch weiter üben müssen, um jemals wieder so fliegen zu können wie vor dem Zwischenfall.

In Begleitung seiner Familie, die bis zum Schluss bei ihm geblieben war, machte er sich wieder auf den Heimweg. Wieder im Dorf führte ihn sein erster Weg zu dem Mädchen, der er dieses Glück zu verdanken hatte. Überschwänglich bedankte er sich bei Jadya, fragte sie, wie er ihr das vergelten könne, doch sie meinte, das hätte er schon. Mimoun verstand es nicht, doch weiterem Nachhaken wich das Mädchen nur verlegen aus. Da konnte er noch so bittend fragen, sie gab nicht nach. Schließlich gab er auf, hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und flatterte nach Hause. Nun, da er es konnte, wollte er es auch wieder ausnutzen. Außerdem half es der Stärkung seiner Muskeln und Ausdauer.

Er fand seine Mutter im Eingangsbereich vor, Silia saß neben ihr und sah unglaublich traurig aus.

„Was… was ist passiert?“, wollte Mimoun erschrocken wissen. Alles, was er erntete, war ein trauriges Lächeln von beiden und eine lange Umarmung, in die er gezogen wurde.

„Mein Kind.“, begann seine Mutter schließlich. „Du bedeutest mir alles. Ich bin so überglücklich, dass du lebst und nun auch wieder fliegen kannst. Doch gerade weil du mir so wichtig bist, spüre ich deine Zerrissenheit.“

Mimoun löste sich ein wenig von den beiden Frauen. Noch immer wusste er nicht, worauf seine Mutter hinauswollte. Noch immer wusste er nicht, wieso sie so traurig waren. „Welche Zerrissenheit?“, hakte er nach.

Ein liebevolles Lächeln, wie wenn sie mit einem dummen Kind reden würde, glitt über ihre Lippen. „Bevor du die Möglichkeit hattest, wieder zu fliegen, hast du dich immer mehr in dich selbst und zu den Büchern verzogen. Deine Gedanken weilten oft nicht bei uns. Auch danach, nach deinen Übungen ging dein Blick häufig zu der unteren Ebene. Deine Gedanken galten ihm, oder?“, fragte sie direkt. „Du vermisst seine Gegenwart.“

Mimoun, der die ganze Zeit in der Hocke war, wurde von dieser Offenbarung zum Sitzen gezwungen. Jetzt, so direkt mit dieser Tatsache konfrontiert, ging es ihm auf. Wie häufig er sich gefragt hatte, wie es Dhaôma ging. Wie häufig er sich fragte, wo dieser gerade steckte und ob er seinem Ziel ein wenig näher gekommen war.

„Er ist immer einsam gewesen.“, murmelte Mimoun. „Ich war vielleicht der Erste, mit dem er offen Freundschaft schließen konnte, ohne von seiner Mutter dafür bestraft zu werden. Und ich habe ihn einfach allein gelassen. Ich habe das Gefühl, ich habe ihn im Stich gelassen.“, murmelte er ehrlich. Nun, da er sich dieses Gefühl eingestand, zog es ihn emotional runter.

Verständnisvoll legte sich eine Hand auf seine Schulter. Ein warmer Blick aus braunen, sich mit Tränen füllenden Augen traf ihn mitten ins Herz. Er wusste, was dieser Blick sagen wollte. „Dann geh zu ihm.“, sagte seine Mutter dennoch.

Mimoun wehrte ab. „Ich kann euch doch nicht allein lassen.“, begann er, doch seine Schwester unterbrach ihn.

„Wir wissen, dass du in seiner Nähe sicher bist. Du hast es oft genug betont. Und wir mussten schon lange Zeit ohne dich auskommen. Und zwischenzeitlich sogar in dem Glauben, du wärst tot.“

Mimoun zuckte bei Erwähnung dieser Episode zurück. Er bereute es furchtbar.

„Nun wissen wir ja, dass es dir gut geht. Und du kannst uns ja ab und zu besuchen kommen.“ Die Tränen seiner Mutter flossen nun ungehindert. Es war nicht einfach für sie zu akzeptieren, dass ihr Kind nun seinen eigenen Weg finden musste.

Die Zerrissenheit, von der seine Mutter gesprochen hatte, machte sich in ihm nun schmerzhaft bemerkbar. Er wollte hier bleiben, für seine Familie da sein, doch andererseits zog es ihn nach unten zu Dhaôma. Hilflos sah er von seiner Mutter zu seiner Schwester.

„Geh.“, sagte Silia nun ebenfalls.

Und Mimoun entschied sich. Entschlossen nickte er. „Ich komme wieder, ich verspreche es.“ Der junge Geflügelte erhob sich und packte zusammen, was er brauchte. Einmal Wechselkleidung, Wasser, das gefundene Notizbuch, sowie eine großflächige Karte auf der sowohl die beiden Dhaôma bereits bekannten Gebiete als auch etwas, das der Schlucht des Todes oder so ähnlich nahe kam, verzeichnet waren. Sein Blick glitt über die Rüstung seines Vaters. Sie war seit seiner Rückkehr ordentlich und wie als Schrein in einer Ecke platziert. Zögerlich strichen seine Finger über das feste Leder. Seine Kräfte waren nur begrenzt, doch im Gegensatz zu Dhaôma musste er sich darauf verlassen. Und um diese Kräfte möglichst lange für einen Kampf zur Verfügung zu haben, brauchte er ausreichenden Schutz. Und wenn er mit Dhaôma am Erdboden rumkrauchte, musste er seine Flügel auch nicht belasten. Die Tatsache, dass er den Magier erst einmal finden musste, verdrängte er.

Entschlossen griff er nach den einzelnen Teilen und legte sie sich an.

Seine Familie erwartete ihn am Ausgang. Seine Mutter weinte noch immer, doch sie lächelte aufmunternd. Sie zog ihren Sohn ein wenig herunter, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben, denn er war ihr schon vor langer Zeit über den Kopf gewachsen. „Du bist deinem Vater so unglaublich ähnlich.“, lächelte sie. „Nicht nur von Aussehen. Auch er ging immer seinen Weg, egal was es bedeutete.“

Mimoun lächelte traurig. Einem Teil von ihm widerstrebte es immer mehr zu gehen und so wandte er sich schnell seiner Schwester zu. Auch ihre Tränen rannen ungehindert die Wangen hinunter. Sanft zog er das zierliche Mädchen in seine Arme. „Pass mir bloß gut auf Mutter auf, bis ich zurück bin.“, bat er erstickt.

Sie wand sich aus seiner Umarmung und band ihm ein Lederband mit einem kleinen grünlich-schwarzen Stein um. Es war das letzte Geschenk ihres Vaters an Silia gewesen. „Ich will es zurück haben.“, forderte sie.

Mimoun bedachte seine kleine Schwester mit einem liebevollen Blick. Zum Zeichen, dass er verstanden hatte, nickte er und wandte sich zum Gehen.

Obwohl seine Familie ihn bis zum Rand der Insel hätte begleiten können, blieben sie in der Hütte. Dafür gingen andere Dorfmitglieder stumm an seiner Seite wie zum letzten Geleit. Er verstand. Sie alle wussten Bescheid. Sie alle hatten gemeinsam darüber gesprochen, nur ihm war es entgangen. Sie alle unterstützten ihn.

Sein Blick glitt über alle, die ihn von frühster Kindheit an kannten, seine Spielgefährten von damals, über die große Familie, die dieses Dorf bildete und für ihn war. Der Dorfälteste trat vor und überreichte ihm einen neuen Bogen mit einigen Pfeilen. Mimoun schalt sich. Daran hatte er nicht gedacht.

„Danke.“, sagte er und er meinte es von ganzem Herzen. Rückwärts ließ er sich von der Insel kippen, drehte sich aber schon nach wenigen Metern fallen. Die Insel war im Laufe des Winters wie jedes Jahr um diese Zeit in Richtung großes Wasser gezogen, doch die Wolfsberge lagen von der Schlucht gesehen näher. Auch von der Insel waren diese Berge einfacher zu erreichen. Dort würde er sich zuerst umsehen.

Weiter unten erspürte er einen Luftstrom, der ihn in die ungefähre Richtung seines Zieles trug. Häufig schwebte er nur auf dem Wind, um seine Kräfte zu schonen, doch immer häufiger brauchte er eine Pause. Um unangenehmen Fragen anderer Geflügelter zu entkommen, suchte er sich unbewohnte Inseln, doch je näher er dem Gebirge kam, umso seltener wurden die Inseln. Dafür begann sich unter ihm ein winterlicher Wald zu erstrecken. Und auch wenn es eine Weile her war, wusste er noch so in etwa, wie man in solch einem Terrain überlebte. Er suchte sich einen höheren Baum, auf dem er bequem landen konnte und von dem er später auch einfacher starten konnte.

Gut. Bis zu den eigentlichen Bergen war es nicht mehr weit. Jetzt begann die eigentliche Suche. Wo sollte er nur beginnen?

Mimoun entschied sich, erst einmal ein bis zwei Tage Pause zu machen. Seine Kräfte waren in den letzten Wochen immer schneller geschwunden. Es war Zeit, dass er sich die nötige Ruhe gönnte und sich darüber klar wurde, wie er weiter vorgehen wollte. Die Wolfsberge waren ein nicht gerade kleines Gebiet und hier herrschte noch Winter. Auch wenn das Nahen des Frühlings sich langsam mit dem Wind ankündigte.

Der Geflügelte sprang von seinem Baum und landete auf dem Waldboden. Erst einmal würde er auf die Jagd gehen müssen. Und Wasser finden. Obwohl er sich im Notfall auch mit dem Schnee begnügen konnte.

Die Jagd gestaltete sich innerhalb des Waldes als schwieriger als gedacht. Einmal hatte er eine gute Beute gefunden, doch dieses miese Kaninchen sprang immer wieder hinter die Bäume und Büsche und machte so das Zielen mit dem Bogen unmöglich. Also suchte er sich einen kräftigen Baum, auf dem er die nächsten Tage verbringen würde und brachte dort alles momentan Unnütze unter. Nun, da er wieder beide Hände zum Klettern hatte, würde er die Schlafphasen nicht auf dem unsicheren Waldboden zubringen. Auch unnötige Rüstungsteile legte er dort erst einmal ab, um auf der Jagd leichter und wendiger zu sein. Doch auch jetzt dauerte es noch einige Stunden, bis er endlich eines Kaninchens habhaft werden konnte. Die Jagd im Wald war für ihn nun einmal ungewohnt.

Zwei Tage später machte er sich wieder auf den Weg. Sein Flug führte ihn tiefer in die Berge. Doch war das überhaupt der richtige Weg? Sich um diese Zeit allein in den Bergen herumzutreiben, war für einen Magier selbstmörderisch. Mimoun erinnerte sich noch gut daran, wie Dhaôma vor Kälte gezittert hatte in der Nacht in der Steppe. Und hier in den Bergen wurde es kälter je höher man kam.

Entschlossen schüttelte er den Kopf, um lästige Gedanken los zu werden. Nun war er schon einmal hier, nun konnte er sich auch zumindest mal umsehen. Doch wonach?

Es verging fast eine Woche, in der er ziellos durch die Wälder und Berge streifte. Er war schon kurz davor aufzugeben. Nirgends hatte er einen Hinweis entdecken können, dass dieser Magier sich überhaupt hier herumtrieb. Und so hatte sich der Geflügelte dazu entschlossen, doch zum großen Wasser zu fliegen. Vielleicht würde sich ihm dort der entscheidende Hinweis offenbaren. Nur vorher musste er noch seine Nahrungsvorräte aufstocken.

In der Jagd war er besser geworden. Mimoun hatte gelernt, sich in Geduld zu üben. Manchmal stundenlang saß er auf einem Baum und wartete, bis ihm Beute vor seinen Bogen kam. Nur heute überraschte ihn seine Beute, während er am Waldboden hockte. Ein junges Reh schritt in nicht allzu weiter Entfernung an ihm vorbei. Kurz schnupperte es, doch es schien ihn nicht zu bemerken. Dieses Tier würde Fleisch für Tage liefern, stellte der Geflügelte erfreut fest und machte sich an die Verfolgung. Viele Meter schlich er ihm hinterher, doch es schaffte es immer in einer ungünstigen Position zu stehen oder sich im entscheidenden Moment zu bewegen. Doch Mimoun überstürzte nichts. Er würde es schon noch kriegen. Immer tiefer in die Berge folgte er dem Tier. Häufig sah es sich witternd um, nicht selten auch in seine Richtung, aber entweder hatte es ihn noch immer nicht bemerkt oder es sah ihn nicht als Gefahr an.

Ohne dass es Mimoun bewusst geworden war, erreichten sie plötzlich den Waldrand. Sichernd sah sich das Reh noch einmal um, bevor es auf die freie Fläche trat. Der Jäger sah seine Zeit gekommen und legte den Pfeil an. Doch als er sah, wohin dieses Tier strebte, stockte er und entspannte dann lächelnd den Bogen. Als er aus dem Wald trat, erstreckte sich vor ihm eine in voller Blüte stehende Wiese, weiter hinten konnte er einen ebenso erwachten Kirschbaum sehen. Obwohl das Grün schon eine Weile durch die Bäume geschimmert haben musste, war Mimoun voll und ganz auf seine Beute fixiert gewesen.

Offen trat er auf die Wiese. Das Reh stand etwas abseits von ihm und schaute ihm alarmiert entgegen. Doch Mimoun hatte nicht mehr vor, dieses Tier zu schießen. Es hatte ihn unbewusst zu dem Ort geführt, der ihm sagte, dass er auf der richtigen Spur war.

Lange sah er sich auf der Wiese um, doch nirgends konnte er eine Spur des Magiers ausmachen. Dennoch gab er jetzt nicht auf. Er sammelte all seine Sachen zusammen, nahm sich einige essbare Pflanzen zur Abwechslung seines Speiseplans mit und flog wieder tiefer in die Berge. Sein Flug war nicht mehr dicht über dem Boden, um Dhaôma direkt zu sehen, sondern etwas höher, um weitere Hinweise des Magiers ausmachen zu können.
 

Dhaôma blieb noch bis zum nächsten Tag in dem Mischpflanzendschungel. Lange genug, damit er seine Samen wieder zusammenklauben konnte. Es waren so viele und es war eine Menge Arbeit, aber es war die Arbeit auch wert. Nachts salbte er sich mit den Resten der Creme ein, die er für seinen Hanebito gefertigt hatte. Die Schrammen auf seinem Gesicht und seinen Händen waren nicht tief, sie brannten nur. Auch sein linkes Knie hatte etwas abbekommen, aber seltsamerweise war die Seide der Hose nicht gerissen. Offenbar stimmte, was gesagt wurde: Seide war robust. Irgendwo sollte er dennoch Wasser finden, damit er die Kleider waschen konnte.

Gegen Mittag verließ er seine Oase und machte sich auf den Weg in die Schlucht, nutzte dazu einen schmalen Pfad, der die steile Wand durchschnitt. In Richtung Mittag, ein wenig nach Sonnenaufgang. Er wollte in die Wolfsberge, aber dazu musste er die Große Schlucht erst einmal durchqueren. Immerhin führte das Flussbett sogar Wasser, so dass er schwimmen und seine Sachen waschen konnte. Zu seinem Glück war es nicht so viel, dass die Strömung unüberwindbar war. Mit einem beherzten Wurf schaffte er es sogar, das Buch und die Samen trocken auf die andere Seite zu bekommen.

Auf der anderen Seite und am nächsten Tag erklomm er die Felsen wieder, um sich dann in die Karge Zone aufzumachen. Weiter als bis zu deren Grenze war er niemals gegangen, zu gefährlich erschien ihm dieses leere Land, aber wenn Mimoun sagte, die Berge lägen in dieser Richtung, dann musste er sie wohl oder übel durchqueren.

Seit er nicht mehr mit dem Hanebito reiste, konnte er sein eigenes Tempo anschlagen, was ihn um einiges schneller vorwärts kommen ließ. Trotzdem vermisste er die stille oder auch redselige Gesellschaft manchmal. Gerade nachts, wenn die Sterne den Himmel unendlich werden ließen, kam er sich verloren und einsam vor. Zum Glück hatte er eine Decke, in die er sich einwickeln konnte, und seine Magie, die das Gras um ihn dichter machte, als dass irgendjemand ihn dort sehen konnte. Die kleine Blume, die den Geruchsinn betäubte, war dabei sein Schutz vor Raubtieren. Jede Nacht ließ er sie erblühen. Es war ein Trost zu wissen, dass sein Hanebito daheim war und nicht hier mit ihm fror.

Die Karge Zone war kein schöner Ort. Es war unerträglich warm tagsüber, nachts war es fast zu kalt zum Atmen, so dass er die Zeiten zwischen den Extremtemperaturen zum Wandern nahm. Außerdem wurde das Wasser trotz sparsamem Gebrauch immer wieder knapp. Zwei mal suchte er vergeblich nach Wasser, um dann nach ein oder zwei Tagen brennendem Durst durch Zufall ein Wasserloch oder eine Oase zu entdecken. Wegen dem Wassermangel wurde es auch unmöglich, Pflanzen wachsen zu lassen, was ihn hungrig machte. Einmal rettete ihn nur, dass er eine große Echse fing. Das Blut war Feuchtigkeit, das Fleisch Nahrung, auch wenn rohes Fleisch noch so eklig war.

Danach machte er auf alles Jagd, was ihm über den Weg lief. Er begriff, was Hoffnung und Überlebenswille wirklich waren. Er verstand, was Hunger und Durst bedeuteten. Und er war regelrecht überwältigt vor Erleichterung, als er nach sieben Wochen Trockenheit in der Ferne wieder Grün sah. Zuerst hielt er es für eine Luftspiegelung, die ihm mit ihrer flimmernden Suggestion schon oft Streiche gespielt hatten, aber während er näher kam, spürte er die ersehnte Feuchtigkeit auf der ausgetrockneten Haut. Trotz Erschöpfung spornte er sich noch einmal an, beschleunigte sein Tempo, bis er auf einen Flussarm stieß.

Nie hatte er solche Pflanzen gesehen! Sie waren farbenprächtiger und geruchsintensiver als er jemals geahnt hätte. Oder kam ihm das nach den Wochen in der Wüste nur so vor? Die Blätter waren viel größer und einfacher gebaut. Und es war wärmer, diesiger.

Es war egal. Wo immer er war, Dhaôma war so glücklich, aus der Kargen Zone herausgekommen zu sein, dass es ihm sogar egal war, dass die feuchte Luft den Schweiß aus den Poren trieb. Es gab genügend Wasser, um das auszugleichen, und endlich konnte er im Schatten der Bäume seinen Sonnenbrand ausheilen, der nur dank der Decke in annehmbaren Ausmaßen geblieben war.

Da sich der Fluss, wie er feststellte, wie ein breites, grünes Band durch den Sand und die Felsen zog, beschloss Dhaôma seine Marschrichtung anzupassen. Alles war besser, als erneut durch die Karge Zone zu marschieren, wo man ständig Gefahr lief, zu verdursten. Der Weg ging jetzt wieder gen Sonnenaufgang, immer den Fluss hinauf. Schließlich kam Wasser aus den Bergen und floss irgendwann ins Große Wasser, hatte er gelesen.

Die Fauna in der unbekannten Umgebung überraschte ihn immer wieder. Die Tiere waren bunter und offensichtlich gefräßiger. Überall konnte man beobachten, wie sie sich gegenseitig fraßen oder kämpften. Besser, man hielt sich da im Hintergrund, um nicht das Opfer einer dieser Attacken zu werden. Selbst eine Pflanze fand er, die sich von Insekten ernährte! Ein bisschen Manipulation und sie war groß genug, um ihm einen Vogel zu fangen, der auf den komischen Tropfen einfach kleben blieb. Praktisches Samengut.

Dennoch war er nicht aufmerksam genug. An einem Abend vergaß er, dass Unaufmerksamkeit sich rächen konnte, und betrachtete den Sonnenuntergang, als er von einem großen, schwarzen Panther angegriffen wurde. Die Raubkatze hatte sich angeschlichen, als er gefischt hatte, die Betäubungsblume hatte sie nicht gestört, und mit einem Fauchen hatte sie angegriffen. Ihre scharfen Krallen senkten sich in seine Haut und nur einem Schutzreflex war es zu verdanken, dass Dhaôma ins Wasser fiel, aus der Reichweite des Angreifers heraus. Die tiefen Kratzer auf der Schulter brannten wie Feuer, als das Wasser eindrang, es blutete, aber er konnte sich nicht darum kümmern. Die Strömung war zu stark, um sich darum überhaupt Gedanken zu machen. Er hatte doch erst am Morgen einen Wasserfall hinter sich gelassen! Er musste dringend das Ufer erreichen!

Trotz mannigfaltiger Anstrengung schaffte er es nicht. Der Sog an seinem Körper wurde stärker, seine Kräfte schwanden und er hatte genug damit zu tun, über Wasser zu bleiben, um Luft zu bekommen. Bis unter ihm und um ihn herum alles Gewicht plötzlich verschwand und er für einen Moment das Gefühl hatte zu schweben, bevor er mit dem Wasser zusammen in die Tiefe stürzte. Panisch kniff er die Augen zusammen und schrie. Dann traf er die Wasseroberfläche, doch es tat nicht so weh, wie er befürchtet hatte. Stattdessen tauchte er hinein, wurde hinuntergezogen und verlor das Bewusstsein.

Als er wieder erwachte, war er fiebrig. Sein Körper fühlte sich schwach an, sein Geist war noch tief in den Schatten verborgen, so dass er sich nur mit äußerster Anstrengung aus dem Wasserbecken schleppen konnte, in das er gespült worden war. Immerhin bemerkte er, dass sein Hemd zerrissen, sein Rucksack nass und sein linker Arm förmlich taub war. Er brauchte etwas, das er auf die Katzenkratzer tun konnte, bevor es sich vollends entzündete!

Mit letzter Kraft und die vielen hellen Flecken vor seinen Augen ignorierend suchte er aus dem Samenmatsch ein paar heraus und ließ sie gedeihen. Einige Blätter dieser Pflanzen aß er, andere zerkaute er und drückte sie auf die Schulter, presste die Augen zusammen, um nicht vor Schmerzen zu schreien, als das charakteristische Brennen eintrat. Anschließend rollte er sich unter einem der riesigen Bäume zusammen und ergab sich der Traumlosigkeit.

Wie lange er schlief oder wie oft er aufwachte, was er tat, ob das, was er erlebte und sah, Traumgebilde oder Realität waren, konnte er am Ende nicht sagen. Als er wieder zu Bewusstsein kam, war ihm heiß, er hatte Durst, seine Haut brannte, also ging er etwas trinken und baden. Danach fühlte er sich besser. Ein paar Früchte stillten seinen Hunger, bevor er wieder einschlief. Sein linker Arm pulsierte in der Nacht so stark, dass er davon aufwachte und ihn kühlen ging.

Beim nächsten Mal war es vorbei. Das Fieber war weg, die Wunde auf seiner Schulter tat kaum noch weh und zeigte fortgeschrittene Anzeichen von Heilung. Er musste mehrere Tage im Delirium verbracht haben.

Dhaôma zog sich das Ersatzhemd aus dem Rucksack an und versuchte, so gut es ging, sein Buch zu trocknen, bevor er seinen Weg fortsetzte. Er war eine gute Strecke abgetrieben worden, die er jetzt ein zweites Mal laufen musste. Aber immerhin hatte die Sache mit dem Panther ihn gelehrt, vorsichtiger zu sein. Dies war nicht sein Wald. Er musste besser aufpassen, was um ihn herum geschah.

In den paar Wochen änderte sich die Umgebung kontinuierlich. Die Pflanzen verloren ihre enorme Größe, die Luft wurde kühler und weniger diesig. Dhaôma begriff, dass dieser Klimawechsel bedeutete, dass er aus der Kargen Zone heraus sein musste. Ob er die Berge erreicht hatte?

So weit war er dann doch noch nicht gekommen, aber als er auf einen hohen Baum kletterte, von dem aus man über die anderen sehen konnte, stellte er fest, dass die Berge in greifbare Nähe gerückt waren. Wie große, drohende Zähne ragten sie in den Himmel, oben glänzten sie Weiß, unten leuchteten sie in fröhlichen bunten Farben. Waren das die Wolfsberge?

Neuer Elan war in ihm erwacht, der ihn mit größerer Geschwindigkeit vorwärts streben ließ. Und ohne es zu bemerken, näherte er sich dem Winter in den Bergen. Der Wald wurde dem ähnlicher, in dem er aufgewachsen war, aber als er die Anzeichen der kalten Jahreszeit wahrnahm, war er regelrecht entsetzt. Niemals hatte er draußen gewohnt, wenn es kalt gewesen war! Er brauchte einen Unterschlupf! Holz, Wasser, Vorräte! Ihm dämmerte, dass er vor einem ernsten Problem stand. Außerdem, wenn das Jahr wirklich schon so weit fortgeschritten war, dann war er in seiner Stadt mit Sicherheit endgültig für tot erklärt worden! Zu lange hatte er sich nicht mehr gemeldet. Ob irgendjemand um ihn getrauert hatte, so wie die Frau um Hanebito getrauert hatte?

Unmerklich wurde ihm kälter, spürte er die Einsamkeit noch ein wenig mehr an ihm nagen, aber er konnte sich nicht darum kümmern. Als er den Entschluss getroffen hatte, diese Reise zu unternehmen, hatte er gewusst, dass er niemals wieder nach Hause gehen würde. Es war zu spät, es zu bereuen. Er hatte doch auch nichts zu verlieren.

Dhaôma fand eine Höhle am Fuß eines Berges, die klein genug war, um sie effektiv heizen zu können. Er verkleinerte den Eingang mit einem dichten Geflecht aus Haselnussbäumen, danach begann er Vorräte zu sammeln, wobei ihm seine Magie ebenfalls eine große Hilfe war. Auch bei der Jagd half es ihm, Pflanzen zu seinem Vorteil umzugestalten. Trotz seiner Unerfahrenheit jagte er auch große Tiere mit Fallen, zog ihnen das Fell ab und versuchte das Fleisch haltbar zu machen, was ihm nicht immer gelingen wollte. Aber er brauchte die Felle. Mit seinen Sommerkleidern würde er frieren, wenn er nicht etwas Warmes hatte, unter das er sich zusammenrollen konnte! Außerdem stockte er seinen zerstörten Samenschatz wieder auf, so gut er konnte.

Trotz allem wurde dieser Winter hart. Das Wasser fror schon früh ein, seine Vorräte waren bei weitem nicht genug, um damit mehrere Monate auszukommen, so dass er sparsam damit umgehen musste, und das Feuerholz reichte nicht wirklich. Um neues zu holen, musste er hinaus, die Decke und die Felle, in die er sich wickelte, boten kaum Schutz vor dem schneidenden Wind. Als er nach diesem ersten Ausflug in den Schnee zurückkam, war er fertig und mit seinen Kräften am Ende. Es musste etwas passieren, sonst würde er sterben!

Dhaôma organisierte sich um. Er bastelte sich Stiefel und versah sie mit Wachs, um sie wasserdicht zu machen. Er begann die Felle umzuarbeiten, doch weil er nicht wusste, wie er sie gerben konnte, waren sie steif und unangenehm auf der Haut. Wenigstens waren sie wärmer als seine Seidensachen, die er nach einigem Überlegen einfach drunter zog. Sie gaben eine schöne Schutzschicht ab zwischen dem rauen Leder und seiner Haut. Mit seiner Magie fertigte er sich einen Speer an, weil er mehr Nahrung und Felle benötigte. Dann vergingen mehrere Wochen, in denen er keine Beute machte. Niemals hatte er jagen müssen, jetzt lernte er zwar schnell, aber es dauerte trotzdem seine Zeit. Stundenlang übte er das Werfen, bis er einigermaßen kraftvoll und sicher traf, so dass die Mühe auch Erfolg versprach.

Als er zum ersten Mal einen Schneehasen erlegte, jubelte er laut und tanzte eine Art Freudentanz. Danach wurde es besser. Häufiger fand er seine Beute und schlich sich an, ohne sie vorher zu verjagen, dann warf er seinen Speer. Meistens traf er nicht besonders gut, aber wenn er dem Tier anschließend in den Wald folgte, fand er es verendet in einer Lache voll Blut. Dann musste er sich beeilen, es in seinen Unterschlupf zu bringen, denn Wölfe und Luchse machten ihm seine Beute gerne streitig.

Des Weiteren entdeckte er im Laufe des Winters, dass er aus Eis Wasser machen konnte. Dazu brauchte er keine Hitze, sondern nur seine Magie. Er war bei einer Jagd in eine Lawine geraten und der auf ihn drückende Schnee hatte ihn zu ersticken gedroht. Voller Angst hatte er geschrieen und wie durch ein Wunder war der Schnee langsam weg geschmolzen, bis er in einer natürlichen Wanne mit eiskaltem Wasser lag. Der Husten, der sich dieser Entwicklung neuer Kräfte anschloss, fesselte ihn tagelang an die Höhle und das Bett, bis er sich mit einigen Heilkräutern versorgte, die den Husten linderten.

Aber egal, wie schlimm er krank war, die Tatsache, dass er jetzt Schnee und Eis schmelzen konnte, freute ihn. Also übte er in den dunklen Winterstunden diese Kraft. Es kostete Unmengen an Kraft, als er begann, aber irgendwann konnte er es einigermaßen steuern. Mit ein wenig Anstrengung konnte er unter einer unvorsichtigen Gämse, die sich den Berg so weit heruntergewagt hatte, den Schnee schmelzen, so dass sie den Halt verlor und in den Tod stürzte. Fleisch für ihn. Es war einer der wenigen Lichtblicke in der Winterzeit.

Der Frühling kündigte sich erst spät an. Und wurde noch einmal von einer schlimmen Kälteperiode verdrängt, aber letztlich ließ sich die Rückkehr des Lebens nicht mehr aufhalten. Dhaôma konnte es kaum erwarten, die enge Höhle endlich zu verlassen und in den Wald zu laufen, ungehindert durch Schnee und Eis. Und weil es ihm zu langsam ging, nutzte er all seine Kraft, die Natur um sich herum zu wecken. Er zwang Knospen sich zu öffnen, lockte Schneeglöckchen und Winterlinge hervor, überredete einen Kirschbaum, seine rosigen Blüten zu zeigen. Die Weiden verströmten schon vor ihrer Zeit ihren angenehmen Duft und der Ölbaum schob seine ersten, gigantischen Blätter. Selbst die Gräser, die im Wald immer etwas später kamen, zog er aus der Erde. Vor lauter Übermut und Glück rief er sogar die Spätzünder schon auf den Plan, bis sich selbst die Tiere nicht mehr dieser Macht entziehen konnten. Das neue Grün versprach Futter, da störte es nicht, dass da so ein seltsames Wesen durch den Wald sprang und lachte. Aber Dhaôma jagte sie auch nicht mehr. Ihm war das Fleisch über. Pflanzen waren bessere Kost und davon weckte er im Moment genug.

Dhaôma wartete noch eine Woche, bevor er seine Sachen zusammenpackte, soweit er sie tragen konnte. Alle Felle, die er nicht mitnehmen konnte, stapelte er ordentlich in der Höhle, falls er zurückkommen würde, bevor er den Eingang dichtmachte, um ihn vor unliebsamen Bewohnern zu schützen. Mit seiner neuen Tunika aus weißem Kaninchenpelz und einem Umhang aus allerlei verschiedenen Tierfellen, sah er aus wie ein großer Jäger, der Speer förderte diesen Gedanken noch. Seine zerrissen Ärmel und Hosenbeine dagegen wirkten wie ein Landstreicher, aber er hatte keine intakten Kleider mehr, also musste das reichen. Immerhin waren seine Schuhe noch funktionstüchtig.

„Auf in die Berge.“, feuerte er sich selbst an. Und weil er gute Laune hatte und die Sonne schien, weckte er auf seinem Weg immer wieder den einen oder anderen Baum, der ihm zu langsam war, um mit ihm den Frühling zu begrüßen, oder befreite unglückliche Schneeglöckchen von der Schneelast.

Es ging schon am nächsten Tag steiler bergauf. Dhaôma suchte sich seinen Weg zur Südseite des Hangs, weil er davon ausging, dass dort der Schnee schneller weg schmolz, achtete aber darauf, dass er auch an Höhe gewann. Immerhin hatte er vor, auf den höchsten Gipfel des Gebirges zu klettern. Schon gegen Mittag änderte sich der Wald erneut. Aus dem schönen, frühlingshaften Mischwald wurde ein Nadelwald. Nie hatte Dhaôma so viele Nadelbäume auf einem Haufen gesehen. Und schon gar nicht solche. Sie dufteten auf eine ganz eigene Weise, würzig, nach Harz und ein wenig nach Melisse. Es fiel ihm nicht einmal schwer, hier einige Samen abzustauben, denn die Bäume waren nicht geizig damit. Und sie hüteten ihre Nachkommen in kleinen Zapfen. Praktisch. Schade war nur, dass man am Boden keine Pflanzen hatte. Außer braunen Nadeln gab es hier wenig. Auch die Sonne war in dieser Umgebung nur zu erahnen. Was ein deprimierender Wald.

Eine Lichtung veranlasste ihn dann doch, einfach bergan zu gehen. Je schneller er über die Bäume kam, desto besser. Was war er entsetzt, als er auf den letzten Metern zum Gipfel sah, dass der Berg, den er sich ausgesucht hatte, lediglich ein Vorreiter der eigentlichen Berge war! Er war klein und vergleichsweise frei von Schnee, die Berge, die sich dahinter auftürmten, überragten einander wie in einem Wettstreit. Wie sollte er da jemals den größten finden? Und was sollte er wegen des Schnees unternehmen? Solange es taute, war es sicher gefährlich, sich unter solche Schneemassen zu wagen.

Entmutigt setzte er sich auf einen sonnigen Felsen und blickte zu den Bergen hinüber. Egal, wie er es anstellte, dem Schnee konnte er nicht ausweichen, denn die Berge selbst warfen viel zu viel Schatten, um die Sonne überall hinkommen zu lassen. Um die Gipfel herum zu laufen, um zu dem vermeintlich höchsten zu kommen, verwarf er auch schnell wieder, da er sich vorstellen konnte, dass die Täler mit Tauwasser überschwemmt waren.

„Ich bin zu ungeduldig.“, schalt er sich irgendwann. „Ich habe doch alle Zeit der Welt.“ Damit stand er auf. Die Sonne war auf ihrer Bahn schon fortgeschritten und er wollte nicht die Nacht ungeschützt auf dieser Freifläche verbringen. Also machte er sich auf den Weg hinunter in den Schatten, denn dort würde er am nächsten Morgen von der Sonne geweckt werden. Falls die Nadelbäume so nett waren.
 

Nach dem ersten kleinen Hinweis wurde Mimoun von unbändiger Freude gepackt. Er war auf dem richtigen Weg. Immer wieder fielen ihm einzelne Bäume ins Auge, die lange vor ihrer Zeit erwacht waren. Bei jedem legte er eine Rast ein und suchte die Umgebung ab, doch nichts. Nirgends fand sich eine weitere Fährte des Magiers. Doch die Spur der erwachten Bäume führte unweigerlich Richtung Gipfel. Die Nacht verbrachte er auf einem der in frische Blätter gekleideten Bäume.
 

Am nächsten Tag startete er, sobald die Sonne ihn geweckt hatte. Sein Flug führte ihn noch immer Richtung Gipfel, doch der Wald änderte sich. Es kamen immer mehr Nadelgehölze hinzu. Und diese waren das ganze Jahr hindurch grün. Hier einen weiteren geweckten Baum zu finden, war ein Ding der Unmöglichkeit. Völlig erschöpft machte er gegen Mittag Rast auf der Spitze eines der größeren Bäume. Diese war nicht so stabil und bog sich unter seiner Last ein wenig Richtung Erdboden. Der Geflügelte trank den letzten Rest Wasser, den er bei sich trug. Damit versuchte er einerseits seinen Durst, andererseits aber seinen Hunger zum Schweigen zu bringen. Die wenigen Früchte, die er sich mitgenommen hatte, hatten nur bis zum gestrigen Abend gereicht. Und da er nur auf die Suche nach dem Magier fixiert war, hatte er auch nicht mehr daran gedacht, nach Wild zu jagen. Nun sah er sich aufmerksam nach geeigneter Beute oder einer Wasserstelle um.

Wiedersehen

Kapitel 9

Wiedersehen
 

Es war kalt gewesen, als er erwacht war, und Dhaôma hatte sich mit steifen Gliedern auf den Weg gemacht. Den Berg hinunter, aus der Ungemütlichkeit des Schattens heraus. Ohne irgendetwas zu sehen, war er gelaufen, bis er Sonne sehen konnte. Dann begann er zu rennen. Die Wiese, auf der er herauskam, war nur noch vereinzelt mit Schnee bedeckt, und auch hier fanden sich Anzeichen für den Frühling. Kleine rote Blüten sprenkelte das junge Grün und neugierig, wie es aussehen würde, war eine dieser roten Blüten ausgewachsen, als er ihr Kraft gab. Soviel er konnte, bis sie verblühte und Samen zu Boden fielen.

Er hatte es übertrieben, stellte Dhaôma mit gerunzelter Nase fest. Aber das war nicht schlimm. Er würde die Samen einfach mitnehmen. Ihm hatte die Blüte gefallen. Und wenn sie hier wuchs, vielleicht konnte man sie auch auf den schwebenden Inseln anpflanzen, dort war es ja offensichtlich auch kalt.

Dann machte er sich auf die Suche nach etwas zu essen. Ohne besonderen Erfolg. Wie ärgerlich. Diese Wiesen boten wirklich nichts für Wesen wie ihn, die kein Gras mochten. Also würde er jagen gehen, was ein Feuer bedeutete. Feuerholz gab es in den Nadelwäldern genug. Alles trocken und morsch. Und wenn er Vorräte hatte, konnte er schneller vorwärts kommen.

Die Jagd war einfach. Während er noch Holz sammelte, zogen ein paar Hirsche über die Wiese. Er brauchte bloß werfen. Und traf auch. Dummerweise nicht wirklich glücklich. Das Tier gebärdete sich wie wild, während alle anderen flüchteten. Es verlor den Speer und hinkte davon. Das Beste, das Dhaôma hatte passieren können. Er nahm die Waffe auf und konnte diesmal sorgfältiger zielen. Diesmal traf er es im Hals. Und damit es sich nicht länger als nötig quälte, schnitt der Junge ihm die Kehle durch. Mit einigen Schwierigkeiten schleppte er seine Beute zu dem Holzhaufen, den er schon einmal entzündete, bevor er sich daran machte, den Bock auszuweiden.
 

Von seinem momentanen Ausguck ließ sich keine lohnende Beute ausmachen. Und geduldig warten, wollte er auch nicht. Je länger er hier Zeit vertrödelte, desto mehr Vorsprung gewann vielleicht der Magier. Und in höheren Lagen fanden sich kaum noch Pflanzen, die der Magier erblühen lassen konnte. Gut. Er hatte seine Samen, aber Magie einzusetzen schien an den Kräften zu zerren.

Der Geflügelte ließ seinen Blick über den Gipfel und den Horizont gleiten. Er sah sich einmal nach allen Seiten um. Die Inseln schwebten in weiter Ferne und dort war seine Familie. Hier umgab ihn nur dämliches Unkraut auf einem ebenso dämlichen Berg in tiefstem Winter, an dessen Flanke eine kleine Rauchsäule aufstieg.

Mimoun rieb sich über die Augen. Doch, die Rauchsäule blieb. Hoffnung keimte in ihm auf. Wo Rauch war, war auch Feuer. Und für einen natürlichen Waldbrand war es definitiv die falsche Jahreszeit. Mit Schwung ließ er die Baumspitze sich noch ein wenig weiter nach unten biegen und nutzte die dadurch aufgebaute Spannung zum Start.

Die Pause war noch nicht ausreichend gewesen und so reichten seine Kräfte nur bis zu der Wiese, an deren Rand das Feuer brannte. Mimoun konnte aus den Augenwinkeln eine Person ausmachen, die über irgendwas hockte, als er sich auch schon schneller als beabsichtigt dem Boden näherte. Zwar konnte er den Sturz mit den Füßen etwas abmildern, doch vom Schwung nach vorne getragen, musste er die Hände zum Abstützen mit nutzen.

Fluchend rappelte er sich wieder auf und drehte sich zu der am Boden knienden Person um. Vor Schreck tat er einen Schritt nach hinten. Ungewaschen, mit zerrissenen Kleidern und in unterschiedliche Felle gehüllt, offenbarte sich unter all dem ansatzweise der gesuchte Magier.

„Dhaôma?“, fragte er dennoch sicherheitshalber noch einmal nach.
 

Der braunhaarige Junge starrte den Ankömmling erschrocken an, hatte schon wachsam das Messer zur Verteidigung gehoben, als er neben den Flügeln schwarze Haare und die bekannte Stimme wahrnahm. Das war doch…

„Hanebito!“ Er strahlte. „Ai, Mimoun, nicht wahr?“, korrigierte er sich sofort.

Was war das bloß mit diesem Geflügelten? War es sein Hobby, von irgendwo herunterzufallen? Oder wollte er einfach noch mal in das zweifelhafte Vergnügen kommen, von ihm behandelt zu werden?

Erst danach fiel ihm die Ungereimtheit auf. War der Flügel nicht kaputt gewesen? „Haben sie dich etwa heilen können?“, fragte er aufgeregt.
 

Dieser war beruhigt, als er beide ihm mittlerweile vertrauen Namen hörte. Er setzte sich im Schneidersitz auf die andere Seite des Feuers und atmete erst einmal tief durch. Er spürte, wie ihn die Erschöpfung zu überwältigen versuchte.

Traurig sah er in die tanzenden Flammen. Der Geflügelte streckte den linken Flügel weit aus, um Dhaôma eine bessere Sicht zu gewähren. „Nein. Wie bereits erwähnt, kann das niemand. Aber eine Freundin kam auf eine brillante Idee. Sie haben eine zusätzliche Lederschicht daran genäht. Das unterschiedliche Gewicht zehrt gewaltig an den Kräften, darum auch der Absturz. Aber ich wollt nicht schon wieder die Spur zu dir verlieren.“
 

Neugierig lehnte sich Dhaôma vor, doch als seine Hände sich auf dem Bock abstützten, schüttelte er den Kopf. Zuerst um wichtige Dinge kümmern, den Flügel würde er danach ansehen. Mit geübter Hand fuhr er fort, die Haut vom Fleisch zu trennen.

„Du hast also nach mir gesucht?“ Das war der Grundkonsens, den er aus den Informationen filterte. „Hast du auch das Karge Land durchquert? Ist das in der Kalten Jahreszeit denn leichter als im Sterbenden Sommer?“ Vielleicht ergab sich aus der Antwort für ihn ja eine Möglichkeit, die Wüste noch einmal zu durchqueren, ohne dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen.
 

„Natürlich. Das ist der schnellste Weg in die Wolfsberge. Aber es ist egal in welcher Jahreszeit wir reisen. Fliegen ist schneller als Laufen. Und wenn ich von Insel zu Insel fliege, gibt es immer wieder Familien, die mich für die Nacht aufnehmen würden. Wir haben uns bei so was nicht so.“

Er klappte den Flügel wieder an, da es so bequemer war zu sitzen. Aufmerksam beobachtete er den Magier bei seiner Arbeit. Dieser schien dazugelernt zu haben. Wo er noch vor dem Winter nur Pflanzen sprießen ließ und sich von ihnen ernährte, schien er nun auch mehr auf Fleisch umgestiegen zu sein. Und das nicht gerade erfolglos, wenn er sich so die ganzen Felle betrachtete.
 

„Beneidenswert.“ Dhaôma meinte das ernst. Wenn er sich überlegte, dass bei ihm Zuhause ein riesiger Aufstand gemacht wurde, wenn sich ein Gast ankündigte, wollte er gar nicht wissen, wie es war, wenn einer unangekündigt kam.

Endlich hatte er es geschafft. Das Fell fiel mit der haarigen Seiten zuerst auf den Boden. „Irgendwelche Wünsche?“, fragte er und zeigte auf das Tier.
 

Mimoun wurde aus seiner Betrachtung des Magiers gerissen. Er versuchte sich auszumalen, wie Dhaôma die letzten Wochen allein in den Bergen verbracht hatte.

„Klar. Roh.“, grinste er schelmisch. Natürlich wusste Mimoun, worauf die Frage wirklich abzielte.
 

Der braunhaarige Junge schenkte ihm einen nachdenklichen Blick. „Schon klar.“, erwiderte er schließlich, dann grinste er. „Viel oder wenig Blut?“
 

„Je mehr desto besser.“, gab Mimoun zurück und lehnte sich erwartungsvoll die Hände reibend ein wenig vor. Doch schnell setzte er sich wieder zurück. „Aber ich verzichte auf die Delikatesse. Dabei versaut man sich so schnell die Rüstung. Und Blut geht so schwer wieder ab.“
 

Die Stirn runzelnd sah Dhaôma auf das Tier hinunter. Was bitte war hier die Delikatesse? Und wollte er jetzt das Herz oder eher nicht? Leicht verzweifelt sah er wieder auf und rettete sich in ein schüchternes Lächeln, bevor er den Brustkorb eröffnete. Sofort kollabierte die Lunge und zog sich ein Stück zurück. Dennoch musste er sie herausholen, um an das Herz zu kommen. Mit sicheren Schnitten trennte er es heraus.

„Wenn du vorsichtig bist, geht nichts daneben.“, erklärte er und brachte es zu Mimoun.
 

Die Unsicherheit des anderen war deutlich zu sehen und Mimoun wollte schon etwas sagen, doch Dhaôma kam ihm mit der Ausweidung des Kadavers zuvor. Fasziniert beobachtete der Geflügelte die scheinbar zur Routine gewordenen Handgriffe, die sichere Handhabung der kurzen Klinge. Als der Magier ihm das Herz reichte, wusste er nicht recht, was er tun sollte.

„Ich kenne dich, weiß in etwa, wie du handelst. Und ich weiß, du kennst mein Volk nicht, deshalb lass dir einen kleinen Tipp geben: Das Herz gebührt dem Jäger.“ Er verneigte sich ein wenig. „Doch wenn du darauf verzichten möchtest, danke ich dir für dieses Geschenk.“
 

Schon wieder irritiert überließ er seinem Hanebito den Lebensmuskel, bevor er zurückkehrte. Warum musste der Jäger das Herz essen? Es mochte ja sein, dass es wenig Fett enthielt, aber das machte es nicht zu etwas, das er persönlich begehrte. Das viele Blut darin schreckte ihn ab. Es gab bessere Teile. Die Leber beispielsweise. Doch bei diesem Tier musste er sie wegwerfen. Sie sah nicht besonders appetitlich aus. Er war unvorsichtig gewesen und die Galle war darüber gelaufen, noch dazu hatte sie viele weiße Punkte. Also spießte er sich ein Stück der Lendenmuskulatur auf einen Stock und hielt ihn über das Feuer. Nachdem er alle größeren Blutgefäße geöffnet hatte, würde das Tier in den nächsten Stunden genügend ausbluten, dass er das Fleisch mitnehmen konnte.

Aber etwas beschäftigte ihn dennoch. „Hanebito, wie hast du mich gefunden?“ Und kaum hatte er zu Ende gesprochen, runzelte er die Stirn. Warum nannte er ihn immer noch Hanebito? Er kannte doch jetzt seinen richtigen Namen. „Mimoun.“, murmelte er wie zu sich selbst.
 

„Du kannst mich auch weiterhin Hanebito nennen, wenn du möchtest, auch wenn ich nicht weiß, was es bedeutet. Es hat einen guten Klang.“ Er hatte sich ein wenig weggedreht und wie zufällig einen Flügel aufgefächert. Mimoun erinnerte sich noch an die Sache mit den Fischen. Auch da hatte der Magier nicht sonderlich begeistert ausgesehen und so wollte er ihm den Anblick, der ihn ja abzustoßen schien, ersparen.

Nun sah er den Magier wieder an, das Blut, das ihm vom Kinn tropfte, schnell mit der Hand wegwischend. Er grinste. „Es ist schon ein wenig auffällig, wenn nur ein begrenzter Teil der Natur vor seiner Zeit erwacht.“, erklärte er. „Nur in diesem dämlichen Nadelwald war es unmöglich, derartige Bäume auszumachen. Ich war richtig erleichtert, den Rauch zu sehen. Auch wenn es sonst wer hätte sein können.“
 

Dhaôma sah ihn an, bevor er sich wieder seinem Stock zuwandte. So war das also. Daran hatte er nicht gedacht. Andererseits wusste doch eigentlich niemand, dass er diese Kraft wirklich besaß oder dass er sie einsetzen würde. Und wenn man nicht von oben auf den Wald sah, dann ergab das sicher auch keine Spur.

Aber eigentlich war das nicht die Antwort gewesen, die er haben wollte. Vielleicht musste er die Frage noch ein wenig umformulieren.

„Und warum hast du mich gesucht?“, brachte er schließlich hervor. Warum auch immer, ihm war die Frage peinlich. Immerhin hatte er gedacht, dass Mimoun froh war, von ihm wegzukommen. So hatte es zumindest gewirkt. Und er hatte ihn nicht angreifen oder verraten wollen. Warum also war er gekommen?
 

Hochkonzentriert aß Mimoun weiter. Diese Frage wurde vorhin schon gestellt und er war sehr erleichtert, dass sie sich so einfach hatte übergehen lassen. Was sollte er auch antworten? Dass er sich für Dhaôma verantwortlich fühlte? Dass er sich immer Sorgen um ihn gemacht hatte? Das konnte er zwar seiner Mutter so offenbaren, doch nicht dem Magier.

„Nur so ein Gefühl.“, wich er aus.

Dann fiel ihm wieder etwas ein. Hektisch stopfte er sich den letzten Bissen in den Mund, leckte sich die Finger halbwegs sauber, bevor er sich Schnee zusammenklaubte und ihn zwischen den Fingern zerrieb. Schnell wischte er sich die Hände an der Hose trocken. „Hab doch noch was für dich.“, nuschelte er und robbte die wenigen Schritte zu Dhaôma auf den Knien, während seine Finger in dem Beutel an seiner Seite wühlten. Triumphierend zog er das kleine Notizbuch und die zusammengefaltete Karte hervor.
 

Neugierig besah er sich das Buch, bevor er Mimoun kritisch musterte. Was für ein Gefühl hatte ihn bewogen, diesen ganzen Weg wegen eines kleinen Buches auf sich zu nehmen? Es würde ihn wirklich interessieren, aber offenbar konnte oder wollte er es ihm nicht sagen.

„Was ist das?“ Seine Hände waren noch schlimmer mit Blut verschmiert als Mimouns, weshalb er nicht danach griff.
 

Mimoun ließ sich neben den Magier wieder fallen und setzte sich in den Schneidersitz. Das Büchlein balancierte er auf den Fußknöcheln, damit es nicht mit der feuchten Erde in Berührung kam. Es sah schon jetzt abgenutzt und schwach aus. Niemand konnte sagen, welche Folge unsachgemäßer Umgang auf den Zustand des Buches haben konnte. Die Karte faltete er komplett auseinander und ließ sie auf seinen Knien ruhen, während seine Finger die einzelnen Landmarkierungen nachzogen.

„Hier sind die Wolfsberge, wir müssten uns etwa hier befinden. Dort, das große Wasser. Und ich weiß nicht mehr, wie deine letzte Station lautete, aber es war irgendwas mit Schlucht. Diese könnte etwa deiner Information entsprechen.“ Er zog das Buch unter der Karte hervor. „Ich litt lange Zeit unter Unterbeschäftigung und hab in unserer Bibliothek gestöbert.“ Viel sagend grinste er und wedelte damit herum. „Rate.“
 

Nachdenklich überlegte der Braunhaarige. Worüber hatten sie geredet, als sie im Sommer miteinander gewandert waren? Den Krieg, Pflanzen, Ansichten. „Geschichte?“, fragte er und im gleichen Atemzug fügte er an: „Hast du noch Hunger? Es ist genug da und du bist gerade förmlich vor Schwäche vom Himmel gefallen.“
 

„Ja und falsch. Mit Geschichte hab ich mich auch auseinandergesetzt, aber in unserer nichts Brauchbares gefunden. Alles Berichte aus noch früheren Zeiten. Nichts was auch nur ansatzweise einen Hinweis liefern konnte.“ Noch immer wedelte er auffordernd mit dem Büchlein vor Dhaômas Nase.
 

Also keine Geschichte. Versuchsweise knabberte er an dem heißen Fleisch. Es war noch nicht ganz durch, aber inzwischen gut. Seit dem Winter schätzte er halbgares Fleisch. Es war zarter und hatte mehr Flüssigkeit, was dem Körper gut tat. Aber was konnte es sonst sein?

Er runzelte die Stirn und besah sich die Karte erneut. Erst da ging ihm ein Licht auf. Die Wolfsberge! „Geht es um Drachen?“, fragte er und in seiner Stimme schwang Hoffnung und Aufregung mit.
 

Diese leuchtenden Augen sorgen dafür, dass Mimoun in schallendes Gelächter ausbrach. Er ließ das Buch leicht gegen Dhaômas Stirn fallen. „Natürlich. Ich tu mir doch nicht diese Strapazen wegen einer Kleinigkeit an.“ Er legte es wieder auf seine Füße und faltete die Karte zusammen. „Ich hab nicht viel davon gelesen. Ich kann dir also nicht versprechen, dass es dir hilft. Aber scheint so was Ähnliches wie ein Tatsachenbericht zu sein. Aber wie gesagt, ich weiß nicht, in wie weit sie der Wahrheit entsprechen.“ Beide Gegenstände verstaute er wieder in seiner Tasche und trennte sich ein Fleischstück aus der Brust des Hirsches.
 

„Das ist toll! Dankeschön!“ Ungewollt bekam er Herzklopfen und beeilte sich mit dem Essen. Viel schaffte er nicht. Es war wie früher, wenn er am Tisch saß und endlich hinaus wollte, wenn der Hunger nicht mehr stark genug war, um ihn zu halten.

Schnell steckte er noch ein paar Brocken Fleisch auf den Stock und lehnte ihn gegen die Hitze des Feuers, bevor er aufstand und zu einem Schneefeld ging. Eine kurze Berührung und eine tiefe Kuhle mit Wasser entstand, in der er seine Hände, Arme und die Fransen seiner Kaninchenpelztunika wusch. Dass das Wasser anschließend rosa war, störte ihn nicht, stattdessen kehrte er zurück.

„Darf ich das Buch sehen?“
 

Fassungslos starrte Mimoun auf das Schauspiel. Seit wann konnte er das mit dem Wasser? Oder gehörte das zu dieser Pflanzensache dazu? Obwohl, der Schnee war geschmolzen.

Er verfluchte sich innerlich, dass er keinen besseren Blick darauf gehabt hatte, da Dhaôma nun mit dem Rücken zu ihm stand. Das würde er wohl beobachten.

Da er selbst noch Hunger hatte, zeigte der Geflügelte mit einer leichten Drehung der Hüfte an, dass der Magier sich bedienen konnte. Er selbst nahm sich derweil das nächste Stück und behielt von nun an Dhaôma im Blick. Er wollte jede Reaktion von ihm sehen. Momentan war es noch gespannte Vorfreude. Je nachdem, wie viele nützliche Informationen er daraus lesen konnte, konnte der Ausdruck auf seinem Gesicht dann unglücklich, enttäuscht oder begeistert sein.

„Aber Vorsicht. Es scheint alt zu sein.“
 

Dhaômas Bewegungen wurden sofort behutsam. Alte Bücher kannte er. Niemals hatte er mehr damit machen dürfen, als sie bis zum Tisch tragen. Jetzt durfte er sogar darin lesen!

Im Schneidersitz und mit dem Rücken zum Feuer, um Wärme abzubekommen, schlug er die erste Seite auf. Es war uralt, die Seiten bestanden noch aus Tierhaut. Fast wie seines. Die Tinte war noch ein wenig verblasster als in seinem Buch.

Derjenige, der das Buch geschrieben hatte, nannte sich Jondalar. Nie hatte er von ihm gehört, aber das war nebensächlich. Es war ein Reisebericht. Auf den ersten Seiten beschrieb der Autor, dass er eine kleine Siedlung besucht hatte, in der Drachenreiter zusammenlebten. Oben auf einer der Inseln. Er hatte mit vielen gesprochen, hatte Informationen zusammengetragen und sich dann auf den Weg gemacht. Dorthin, wo die Drachen lebten.

Wieder schlug er die Seite um. Man konnte kaum noch etwas erkennen. Da war ein großer Fleck, schwarz und von feinen Rissen durchzogen. „Blut…“, wisperte er und strich darüber. Diese Reise war wohl nicht so einfach gewesen, wie es bisher in den Schriften den Anschein hatte.

Der Junge war so in die Lektüre vertieft, dass er seine Umgebung vollkommen ausgeblendet hatte.
 

Mimoun beobachtete fasziniert, wie der Junge immer mehr in dem Buch versank. Mit Begeisterung sah er, wie Dhaôma jede noch so kleine Information in sich aufsog.

„Darf ich mal?“, fragte der Geflügelte und griff vorsichtig von oben nach dem Buch. Zeige- und Mittelfinger ruhten auf den Innenseiten, die restlichen berührten den rissigen Einband. Mit leichtem Zupfen tat er seine Absichten kund.
 

Es schreckte Dhaôma auf. Desorientiert blinzelte er, dann ließ er das Buch los. War ja nicht seins. So gerne hätte er weiter gelesen. Jetzt kamen doch erst die wirklich spannenden Teile, wie er die Drachen finden würde und wie er einen von ihnen auf seine Seite zog – oder auch nicht, das würde sich zeigen.
 

„Du kannst ja gleich weiter lesen.“, lachte Mimoun. Das enttäuschte Gesicht war einfach nur goldig. Es war wirklich ein Glücksgriff, dass er dieses Buch gefunden hatte. „Aber erstens weiß ich nicht wie angebrannt dein Essen werden soll. Und zweitens sollten wir uns einen vernünftigen Unterschlupf suchen, bevor du unwiederbringlich in dem Buch verschollen bist.“
 

Ai, das leuchtete ein. Hastig drehte er sich um und sah nach seinem Mittag- und Abendessen. Schien soweit noch gut zu sein, ein bisschen brauner als gewohnt. Über sich selbst lachend schüttelte er den Kopf. Er hatte so lange nichts neues mehr gelesen, dass er das völlig vergessen hatte.

„Ich habe noch keinen Unterschlupf auf meinem Weg gesehen. Wir müssen also weitergehen und woanders suchen.“ Er sammelte das Fleisch ein und schlug es in eine saubere Lederhaut, bevor er es im Rucksack verschwinden ließ. Dann sah er nachdenklich auf den Rest des Tieres hinunter, zuckte mit den Achseln und machte sich daran, alles zu zerlegen. Knochen, Sehnen und anderes Ungenießbares landeten bei der Leber, die guten Stücke auf dem Fell, das die Muskeln ja vorher schon geschützt hatte, welches er an seinen Speer knotete. Die wilden Tiere würden sich freuen, wenn sie diese leichte Beute fanden, auch wenn es nur Reste waren.

„Sag mal, Hanebito, willst du wirklich mitkommen?“ Noch immer konnte er das nicht verstehen.
 

Dieser starrte nachdenklich zu Boden. Der Magier schien allein ganz gut zurecht zu kommen. Es gab also keinen offensichtlichen Grund, warum er ihn begleiten sollte. Dass er eigentlich nur hier war, um die Einsamkeit des Magiers zu vertreiben, konnte er diesem ja schlecht auf die Nase binden.

„Es verspricht ein Abenteuer zu werden. Wenn du also nichts gegen meine Gesellschaft hast, würde ich gern mitkommen.“ Offen sah er dem Magier ins Gesicht. Noch immer saß der Geflügelte an seinem Platz. Was hätte er auch tun sollen? Dhaôma schien seine Handgriffe schon völlig verinnerlicht zu haben. Da konnte er ja schlecht einfach dazwischen greifen.
 

Also war es Abenteuerlust. Ja, das war ein vernünftiger Grund. Vielleicht wollte er ja auch einen Drachen zähmen, um endlich wieder ungehindert fliegen zu können.

Auf Dhaômas Gesicht zeichnete sich ein weiches Lächeln ab. „Ich freu mich.“, sagte er leichthin. „Aber ich kann dir nicht versprechen, dass wir wirklich Drachen finden.“
 

Das beruhigte Mimouns aufgewühltes Inneres. Er hätte nicht sagen können, wie er reagiert hätte, wenn Dhaôma seine Begleitung ablehnen würde. Dieser schien sogar froh zu sein, dass Mimoun bei ihm bleiben wollte, wenn der Geflügelte das sanfte Lächeln richtig deutete.

Was das Finden von Drachen betraf, erwähnte er besser nicht, dass er Dhaôma damals keine Chancen für seinen Traum eingeräumt hatte. Schließlich stützte sich alles, was er wusste, auf eine Legende. Auch jetzt glaubte er noch nicht vollständig an die Erfüllung des Traums. „Das macht nichts. Man sollte es zumindest versuchen.“
 

Zufrieden nickte Dhaôma. Dann war ja alles gesagt. Mit Schnee begann er das Feuer zu löschen, damit es nicht die hübsche Wiese abbrannte. Und irgendwo in dieses Zischen fragte er dann noch etwas, das ihn beschäftigte:

„Aber deine Schwester und deine Mutter werden nicht sauer auf mich, weil ich ihren Sohn bei mir habe, oder?“ Es war leichtes Misstrauen, das bei der Erinnerung entstand. Die zwingenden Augen der Schwester, die Worte der Mutter, sie würde es ihm nicht übel nehmen, dass er ihren Sohn zurückgebracht hatte. Aber jetzt zog er ihn von ihr weg. „Ich will nicht, dass sie mich dafür hassen.“
 

Mimoun spielte lächelnd mit dem Anhänger. Wie sollte er jetzt verständlich machen, dass es ausgerechnet diese beiden waren, die ihn wieder hier herunter geschickt hatten? Dass sie es gewesen waren, die ihm seine Gedanken und Gefühle richtig bewusst werden ließen.

„Mutter sagte, ich soll meinen Weg gehen. Und wenn der hier ist, akzeptiert sie es. Silia hat mir unter Androhung höchster Strafen gesagt, dass sie diesen Stein zurückhaben will. Ich habe also gar keine andere Wahl, als irgendwann gesund und munter zurückzukehren.“ Als ihm wieder etwas einfiel, lehnte er sich grinsend ein wenig vor. „Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass beide versichert haben, sie wüssten, dass ich bei dir sicher bin? Und dass das der einzige Grund ist, warum sie mich ohne Diskussion haben gehen lassen?“ Gut. Zumindest der letzte Teil stimmte so nicht ganz. Die beiden Frauen hatten ihn ja schon fast gedrängt, endlich abzuhauen.
 

Soweit vertrauten sie ihm? Das brachte ihn doch in eine Zwickmühle! Dhaôma zog die Nase kraus. „Ich hoffe wirklich, dass ich ihr Vertrauen nicht enttäusche.“, gab er zu bedenken. Immerhin suchten sie nach Drachen. Und wenn Drachen fliegen konnten, dann brachte es dem Hanebito auch nichts, seine Prothese zu haben. „Aber ich gebe mir Mühe.“

Er schulterte seinen Rucksack und hob den Speer mit seiner Last an. „Na komm. Wenn ich mich sowieso gedulden muss, bis ich weiter lesen kann, können wir auch genauso gut ein Stückchen in Richtung des nächsten Berges gehen. Vielleicht erreichen wir sogar den Osthang, dann haben wir Sonnenaufgang zum Erwachen.“
 

Nickend erhob sich der Geflügelte. Die Ruhephase und das Essen hatten gut getan. Er fühlte sich wieder kräftiger, dennoch entschloss er sich, so wie früher neben dem Magier herzugehen. Es war ein beruhigendes Gefühl, ihn wieder an seiner Seite zu haben.

„Wie ist es dir so ergangen im Winter? Ich meine, hattest du große Schwierigkeiten?“, fragte der Geflügelte, nachdem sie schon eine ganze Weile gewandert waren.
 

„Am Anfang schon. Jetzt nicht mehr.“ Dhaôma passte sich wieder dem Hanebito an. Auch wenn dieser schneller lief als damals, er war immer noch nicht sehr geübt. „Ich hatte zu wenig Zeit, mich vorzubereiten, und ziemlich gefroren, bis ich gelernt habe zu jagen. Aber jetzt hab ich eine Höhle, in der ich im Winter leben kann, und neue Kleider.“ Stolz präsentierte er sie. „Ich kann mich sogar aus Lawinen befreien, wenn sie die Höhle verschütten.“

Der braunhaarige Magier grinste. „Es war gut, dass ich von zu Hause weggegangen bin, auch wenn ich Angst hatte, dass ich sterben müsste.“ Immerhin hatte er eine Menge dazugelernt. Er konnte Wasser schmelzen, jagen, mit seinem Holz haushalten, schneidern und hatte etliche neue Samen seiner Sammlung hinzufügen können.
 

„Das tut mir Leid zu hören.“ Und er meinte es auch so. Wenn er daran dachte, dass er in seinem Heim mit gut gefüllten Vorratskammern und im Kreise seiner Familie und Freunde die kalte Zeit verbracht hatte, fühlte er sich schlecht. Zwar hatte Mimoun ab und zu an den Magier gedacht, aber er hatte ihm nicht wirklich beigestanden. „Aber jetzt bin ich ja da. Jetzt kann ich dir helfen, wenn du mich lässt.“
 

Dhaôma kicherte leise und strich sich ein paar braune Strähnen hinter das Ohr. Ein leichter Wind blies sie ihm sofort wieder ins Gesicht.

„Du bist wirklich seltsam, Hanebito.“, kommentierte er sowohl die Mitleidsbekundung, die er nicht verstand, weil es in seinen Augen doch gut gewesen war, als auch die Tatsache, dass er helfen wollte. „Warum solltest du nicht tun können, was du möchtest?“
 

Seufzend griff sich Mimoun an den Kopf. Hatte dieser Junge wirklich alles vergessen, was im letzten Sommer vorgefallen war?

„Ich spreche von Arbeitsteilung. Einer geht auf die Jagd, einer sucht derweil eine sichere Unterkunft. Zu tragendes Gewicht wird gleichmäßig auf uns beide verteilt, egal wem was gehört. Ich glaub nämlich nicht, dass dein ganzes Gehabe damals nur auf meine Verletzungen zurückzuführen war.“, brachte er es nun genauer auf den Punkt. „Und das seltsam gebe ich gern wieder zurück.“
 

Etwas erstaunt blickte der Magier seinen Weggefährten von der Seite an. Arbeitsteilung meinte er also mit helfen. Hatte er ihn nicht helfen lassen? Sie hatten doch zusammen Fische gefangen und Muscheln gesucht. Und den Kürbis hatte er auch ausnehmen dürfen.

„Du willst tragen helfen?“, versicherte er sich nun vorsichtig.
 

„Natürlich.“, gab Mimoun ohne zu Zögern zurück. „Ich finde es selbstverständlich, dass man sich gegenseitig unterstützt.“ Für ihn war es unbegreiflich, dass Dhaôma solche Schwierigkeiten damit hatte, sich auf andere zu verlassen. Mochte ja sein, dass er sich immer allein durchs Leben schlagen musste, aber er konnte es doch zumindest ausprobieren. Doch der Magier sträubte sich vehement selbst gegen Kleinigkeiten.
 

Nachdenklich blieb Dhaôma stehen. „Ich hab nur das eine Fell, um Fleisch zu tragen.“, erklärte er mit gerunzelter Stirn. „Wir können es ja aufbewahren für den Fall, dass wir noch mal so große Beute machen.“
 

„Darum geht es doch gar nicht.“ Nun war Mimoun fast zum Heulen. Wie konnte man nur so begriffsstutzig sein? Wie einfach sollte er es denn noch erklären? Sollte er wieder in die Babysprache verfallen, falls es nur die Worte und nicht der Zusammenhang war, den der Magier nicht begriff? „Ich meine nur, der Weg wird nicht einfach. Es kann zu steileren Anstiegen kommen oder Felsüberwindungen oder einfach nur ’ne längere Strecke, die wir hinter uns gebracht haben. Was ich sagen will, ist, dass du mir das Bündel ruhig geben kannst, falls dir das Tragen zu viel wird. Dass du dich nicht scheuen sollst, mich auch um Hilfe zu bitten, wenn du sie brauchst. Ich bin hier, um dir bei der Erfüllung deines Traums zu helfen, nicht um ein weiteres sperriges Anhängsel zu sein.“ Ob er nun endlich begriffen hatte, worauf Mimoun hinaus wollte? Der Geflügelte hoffte es inständig. Noch genauer ging es wirklich nicht.
 

Die kastanienbraunen Augen weiteten sich ein wenig. Hatte Mimoun nicht gesagt, dass er ein Abenteuer wollte? Und jetzt sagte er ihm, dass er gekommen war, um ihm seinen Traum zu erfüllen. War das sein Ernst? War er wirklich wegen ihm gekommen?

„Okay.“, sagte er schließlich glücklich. Für ihn hörte es sich so an, als wären sie jetzt Freunde. Echte Freunde. Und Freunde nannte man beim Namen. „Mimoun.“, fügte er an und grinste von einem Ohr zum anderen. „Klingt gut für mich, Mimoun.“
 

Er schien es verstanden zu haben. Mimoun atmete erleichtert auf. Doch mehrfach seinen Namen und nicht jenen, den er von dem Magier bekommen hatte, zu hören, ließ ihn stutzig werden. Prüfend betrachtete er seinen Begleiter. Und das überglückliche Lächeln ließ ihn unsicher werden.

„Was… klingt gut?“ Irgendwie wollte er die Antwort gar nicht wissen. „Mein Name oder mein Hilfsangebot?“
 

„Dass du jetzt mein Freund bist.“ Dhaôma setzte seinen Weg fort, noch immer strahlend. Plötzlich war der Tag wärmer, alles wirkte noch ein wenig strahlender, frischer.
 

Mimoun stockte kurz in seinem Schritt. Nicht, dass diese Annahme falsch gewesen wäre, aber wie kam der Magier darauf? Wann hatte er so was behauptet? In Gedanken ging er noch einmal seine Worte durch, soweit er sich noch daran erinnern konnte, doch da war nichts, was in irgendeiner Weise darauf hindeutete. Oder doch? Besser, er fragte nicht nach. Es war auch egal. Dhaôma sah glücklich aus. Und das war die Hauptsache. Nun fühlte sich der Magier nicht mehr allein.

Der restliche Abstieg verlief in einträchtigem Schweigen. Es war auch nicht wichtig, weitere Worte zu wechseln. Das Ziel war klar. Drachen finden. Und alles Wichtige war fürs Erste gesagt.

Der Weg führte durch Nadelgehölze und Schnee den Hang weiter hinunter immer in Richtung des nächsten Berges. Mimoun hatte ganz vergessen, wie es war, mit den Flügeln durch einen Wald zu wandern. Gut. Die Bäume waren nicht ganz so hinterhältig wie die Laubbäume, an die er sich erinnerte. Doch es war noch immer nicht so einfach, wie sich vom Wind tragen zu lassen.

Teamwork

Kapitel 10

Teamwork
 

Das Tal wurde von einem eigentlich kleinen Fluss gebildet, das wegen der Schneeschmelze jedoch um das doppelte angeschwollen war, weshalb eine Überquerung bedeutete, dass es eisig werden würde.

Unglücklich blickte Dhaôma ins Wasser und fröstelte. So gern er Wasser mochte, das da war ihm zu kalt! Hoffnungsvoll ließ er seinen Blick nach rechts und links schweifen. War da irgendwo eine Möglichkeit, hinüberzukommen? Ein umgestürzter Baumstamm oder so? Aber zu Dhaômas Unglück gab es keinen.

„Du hattest gesagt, dass du helfen willst.“, begann er schüchtern und spürte, dass seine Wangen anfingen zu brennen. „Kannst du alle Sachen da rüber fliegen, damit sie trocken bleiben?“
 

Entschlossen nickte der Geflügelte. Äußerlich ging er nicht auf diesen zögerlichen Tonfall ein oder die leicht geröteten Wangen, innerlich freute er sich riesig, dass Dhaôma ihn tatsächlich gefragt hatte.

Auch er besah sich den reißenden Strom. Es war nicht weit. Und seine Kräfte beurteilte er als ausreichend. Er ließ sich sämtliche zu transportierende Gegenstände aushändigen. „Bleib.“, befahl er. „Ich will was ausprobieren.“ Und schon verschwand er mit wenigen Flügelschlägen ans andere Ufer. Sorgsam legte er die Sachen ab und sah zu Dhaôma zurück.
 

Dieser hatte schon begonnen, sich auszuziehen, als der andere zurückkam. Aber das war okay, so konnte er seine Kleider auch trocken transportieren. Erneut fröstelnd legte er alles ordentlich zusammen. Gänsehaut. „Das wird ein unangenehmes Bad.“, erklärte er mit einem Blick in das leicht dreckige Wasser.
 

Mimoun schüttelte nur den Kopf. Aber was sollte er jetzt auch weiter dazu sagen? Ebenso gut konnten ihn seine Kräfte auch verlassen.

„Entspannen und nicht zappeln.“, wies er an, trat kurz entschlossen hinter den Magier. Ohne auf Antwort oder Gegenwehr zu achten, packte er ihn unter den Armen, sprang mit heftigem Flügelschlagen in die Luft und steuerte das andere Ufer an.
 

„Wa…was? Woah!“ Dhaômas Hände klammerten sich an die Arme, die ihn hielten, seine Augen leicht angstvoll aufgerissen, starrte er erst auf den sich entfernenden Boden, dann auf das schäumende Wasser unter ihm. Er flog! Wirklich! Die Füße nicht mehr am Boden, höher, als er springen konnte!

Die Angst war vergessen und durch ein Gefühl der Euphorie ersetzt worden. „Das hättest du mir auch sagen können, dass du mich tragen kannst, dann hätte ich mich nicht ausziehen brauchen!“, jubelte er fast.
 

Er hatte das Gewicht des Magiers ein wenig unterschätzt. Vielleicht hätte er ebenfalls seine Rüstung erst einmal ablegen sollen. Und nicht nur das. Nun schrie ihm Dhaôma auch noch fast ins Ohr.

„Woher soll ich das bitte wissen? Ich sagte, ich will es ausprobieren.“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Er versuchte einen Kräfte sparenden Gleitflug, doch dafür fehlten ihm hier unten so dicht über dem Boden die geeigneten Luftströmungen. Immer schneller verlor er an Höhe. Verzweifelt versuchte er sie durch Flattern zurückzuerlangen, doch ohne Erfolg. Im Gegenteil. Sie sackten noch ein wenig weiter ab und die Füße des Magiers schwebten nur noch wenige Zentimeter über dem Wasser.

Kurz bevor sie das andere Ufer erreichten, passierte es. Mimouns Arme erschlafften und der Magier rutschte ihm aus dem Griff. Hastig griff er mit den Händen nach und erwischte Dhaôma nur knapp. Der Geflügelte flatterte wieder angestrengter und erlangte sogar ein wenig mehr an Höhe. Doch schon hatten sie das andere Ufer erreicht. Mimoun ließ den Magier fallen und landete wenig elegant auf dem Bauch wenige Meter weiter.

Erschöpft hob er einen Arm. „Ich geh gleich.“, jappste er in den Schnee. Schließlich fror sich Dhaôma hier nun sonst was weg. Nur, Mimoun fühlte sich ausgezehrt, völlig erschöpft.
 

Der Junge fing sich ziemlich ungeschickt ab, aber wenigstens stand er noch. Die Position seines Begleiters war wesentlich ungünstiger. Eilig rannte er zu ihm. Eine Hand legte sich auf dessen Schulter.

„Ist dir was passiert?“, fragte er besorgt. „Mimoun!“ Was sollte er tun, wenn sich der Geflügelte wegen ihm verletzt hatte? „Bitte, steh auf!“
 

Obwohl sein Gesicht noch immer halb im Schnee lag, weil er nicht die Kraft aufbringen wollte sich zu drehen, spürte er doch die Sorge, die ihm galt. Darum versuchte Mimoun auch der Bitte nachzukommen. Der erste Versuch scheiterte an seinen Ellenbogen, die sich weigerten sich durchdrücken zu lassen. Beim zweiten Versuch kam er zwar in eine sitzende Position, doch seine zittrigen Arme verboten ein sicheres Abstützen.

„Keine Angst. Ich hab mich nur ein wenig überschätzt.“ Langsam löste er die Schnallen seiner Rüstung. Noch einmal musste er übersetzen, wenn Dhaôma seine Sachen nicht verlieren wollte. Er sah sich suchend um und drückte sich weiter hoch, als seine Suche von Erfolg gekrönt war. Die gelösten Rüstungsteile fielen automatisch von ihm ab. Wackelig steuerte er auf einen leicht zu erklimmenden hohen Baum zu. Von dort oben konnte er ohne große Mühe rüber segeln. Die Höhe reichte dafür aus.
 

Dhaôma hielt ihn fest. Nur ganz leicht am Ellbogen, gerade stark genug, dass er den Druck spüren konnte. Er wusste, dass Mimoun nicht schwimmen konnte. Wenn er ins Wasser fiel, dann würde er vielleicht sterben. „Nein. Ist schon gut.“

Das hatte er nun davon. Da hatte er ihn um etwas gebeten und damit diesen Erfolg erzielt. Hatte er nicht gewusst, dass Mimoun dazu neigte, seine Kräfte zu überschätzen und seine Schwächen zu ignorieren? Offenbar war sein Flügel noch immer nicht gesund genug.

„Warte einfach, bis du nicht mehr so wankst, ja?“ Denn seine Hilfsbereitschaft abzuschlagen würde in Streit enden. Er mochte keinen Streit. „Ich habe noch meine Decke. Du kannst dir also Zeit lassen.“
 

Mimoun sah ihn prüfend an. Er schien sich den Zustand des Geflügelten sehr zu Herzen zu nehmen. Darum schenkte er ihm ein sanftes aufmunterndes Lächeln.

„Du brauchst dir keine Sorgen machen. Es war nur ein Versuch und ich weiß, dass ich das nicht mehr machen kann. Egal wie sehr ich trainiere, mein Flügel wird wohl nie zu seiner ursprünglichen Stärke zurückkehren.“ Noch während er sprach, rollte er sich an der Stelle, an der er stand, im Schnee zusammen. Seufzend stieß er die Luft aus und entspannte sich völlig. Nur kurz, dachte er sich. Gleich geht’s wieder.
 

Beruhigt holte Dhaôma ihre Sachen und setzte sich dann neben ihn. Schweigend und in die Decke gewickelt, ließ er seinen Blick über den Fluss schweifen und genoss die schwache Sonne im Rücken. Nach einigem Zögern suchte er sich aus der Tasche des Hanebito wieder das kleine Buch und las darin, lies die Zeit verstreichen. Irgendwann aß er eine Kleinigkeit und bot auch Mimoun etwas an. Rohkost, natürlich.
 

Nur nebenbei registrierte er, dass Dhaôma in seiner Tasche wühlte. Er wusste, was der Magier suchte, doch da war irgendwas, das er vergessen hatte. Doch er kam nicht drauf. Erst als der andere ihm Essen anbot, kam der Geistesblitz. Sofort saß er senkrecht.

„Ich bin so ein Idiot.“ Peinlich berührt grinste er Dhaôma an. „In der Tasche müsste doch noch Wechselwäsche von mir sein. Vielleicht sind sie etwas eng für dich, aber fürs Erste müssten die doch reichen.“ Noch immer schüttelte er den Kopf. Wie konnte er so was Elementares vergessen?
 

Etwas überrascht hielt Dhaôma inne, dann lachte er. „Danke.“ Auffordernd hielt er ihm das Fleisch hin. „Los, iss.“ Danach konnte er sich immer noch um etwas zum Anziehen kümmern.
 

Dankend nahm Mimoun das Fleisch entgegen. Das ruckartige Aufsetzen hatte nicht den Schwindel ausgelöst, den er erwartet hatte. Vielleicht würde er demnächst schon die Kraft finden, erneut den Bach zu überfliegen. Und er würde aufs Segeln zurückgreifen. Er suchte sich schon jetzt auf der anderen Seite den passenden Baum für diese Aktion.
 

Dhaôma kramte die Sachen aus Mimouns Tasche und schlüpfte hinein. Dass der Rücken frei war, kam ihm seltsam vor, auch dass das Hemd so kurz und die Hose so eng waren, aber besser als nichts. Und das Leder war wirklich schön weich, nicht so derb wie das seiner Sachen.

„Wie schafft ihr es, dass es so weich ist?“, wollte er wissen und strich bewundernd darüber. Wenn er solches Leder herstellen könnte, dann wäre es perfekt. Es würde mit Sicherheit auch nicht so schnell kaputt gehen wie seine Seidensachen.
 

Ratlos zuckte der Geflügelte mit den Schultern und kaute auf dem Fleischbrocken herum. „Ich hab mich nicht damit beschäftigt. Wozu auch. Es stinkt, darum wird das nicht in den Dörfern gemacht, sondern auf weit entlegenen Inseln. Aus meiner Gemeinschaft hat sich niemand daran beteiligt. Wir haben es nur erworben und weiterverarbeitet.“

Er lehnte sich ein wenig vor und wackelte prüfend mit den Schwingen. Enttäuscht schüttelte er den Kopf. Sein linker Flügel fühlte sich leicht taub an. Das waren ungünstige Startbedingungen.
 

„Schade.“ Der Junge setzte sich wieder hin.

Dann betrachtete er sich die Lockerungsübungen. „Hey, Mimoun, wenn dein Flügel nicht okay ist, ich kann auch schwimmen. Es ist zwar kalt, aber es ist okay. Ich bin das gewohnt.“
 

„Ach was.“, winkte der Geflügelte ab. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, damit der Magier dann doch ins Wasser ging. Dieser fror doch schon bei kleinsten Temperaturschwankungen. „So schlimm ist das nicht.“

Wie zum Beweis erhob sich Mimoun. Kein Zittern war an ihm zu bemerken, als er dem bereits erwählten Baum entgegen strebte und, die Krallen tief in die Rinde gerammt, sich langsam bis hoch zur Spitze zog. Auch diese bog sich unter dem Gewicht des Geflügelten. Nach einigem Ausprobieren hatte er den perfekten Abflugwinkel gefunden, baute wieder Spannung auf und schnellte los. Wie beabsichtigt nutzte er keinen Flügelschlag für Auftrieb sondern konnte sich von der Luft bequem bis ans Ufer tragen lassen. Die Taubheit seines Flügels wirkte sich leicht negativ aus, da er das Gewicht nicht mehr spürte, sondern nur nach Erinnerung ausgleichen musste. Dennoch war die Landung leicht und sicher.

Erleichtert seufzte er unhörbar auf. Dieser Teil war tatsächlich einfach gewesen, doch auf dieser Seite des Baches hatte er keinen ausreichend hohen Baum ausmachen können. Langsam schritt er zu dem Kleiderbündel und schnürte es mit den Ärmeln des Hemdes zusammen. Seine linke Hand schob er unter den Knoten und hatte das Bündel nun am Arm hängen. So hinderte es ihn kaum, als er auf dieselbe Art wie eben einen Baum erklomm. Nicht nur, dass dieser nicht so hoch war, wie Mimouns vorherige Starthilfe, es ließ sich hier auch nicht so viel Spannung aufbauen. Dennoch blieb ihm nichts anderes übrig. Auch jetzt ließ er sich vom Baum schnellen und segelte, solange es ihm möglich war. Gegen Ende musste er noch ein wenig Flattern. Jetzt wurde das fehlende Gefühl schon eher zum Problem. Er kippte leicht nach links weg und schaffte es nur unter großen Mühen es wieder auszugleichen. Mimoun verkürzte den Flug so weit wie möglich und setzte nur wenige Finger breit hinter den reißenden Fluten auf.
 

Dhaôma rollte mit den Augen, als er sah, dass der Geflügelte stur blieb, aber er sagte nichts. Er hatte gelernt, jeden machen zu lassen, was er wollte. Sich dagegen aufzulehnen brachte wenig bis gar nichts.

Also wartete er am Ufer, um notfalls rettend einschreiten zu können, aber glücklicherweise klappte es auch so. Wortlos trat er zu ihm hin, hob die Hand und strich über die intakte Haut des kaputten Flügels, um sich das Konstrukt jetzt doch mal ansehen zu können. So viele Löcher. Das musste wirklich schmerzhaft gewesen sein. Aber wenigstens hatte er einen Teil seiner Freiheit zurückbekommen.

„Danke schön.“, sagte er etwas verspätet und nahm das Bündel entgegen.
 

Als die Hand seine Flügelhaut berührte, musste der Geflügelte bewusst ein Zurückzucken verhindern. Nicht nur, dass die Haut von Natur aus ein wenig empfindlich war. Durch die Überbelastung schmerzten die Verbindungsstellen zum Leder. Eine Weile würde er wohl wieder auf seine Füße vertrauen müssen.

„Gern. Gehen wir gleich weiter oder willst du deine Klamotten anziehen oder willst du noch ein wenig Pause machen?“ Mimoun selbst war das Einerlei.
 

„Ich ziehe mich um.“ Dhaôma lachte leise. Mimouns Kleider waren vielleicht schön weich, aber trotz allem eng. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie er da wieder rauskommen sollte, falls sie nass wurden. „Danach sollten wir weitergehen. Immerhin brauchen wir einen Unterschlupf, nicht wahr?“ Obwohl das nicht zwangsweise nötig wäre, denn er hatte gesehen, wie Mimoun auf freiem Feld ohne Decke geschlafen hatte.

Vorsichtig löste er die Knoten im Nacken und nahm das Hemd ab. „Hör mal, Mimoun. Ich bin nicht gut darin, Entscheidungen für andere zu treffen.“
 

Mit einem Lächeln zuckte Angesprochener mit den Schultern.

„Alles eine Frage der Übung. So lernt man eigene Wünsche auch mal auszusprechen, sich nicht ständig zurückzunehmen und in einer Gemeinschaft zu leben. Wenn ich dir die Wahl lasse, dann kannst du im Allgemeinen davon ausgehen, dass ich mit jeder Entscheidung voll einverstanden bin. Und wenn du dir über weitere Vorgehensweisen unsicher bist, mach es wie ich gerade. Zähle mehrere Möglichkeiten auf und frag mich, was mir lieber ist. Sollte es dann doch nicht mit dem von dir Gewünschten übereinstimmen, können wir ja darüber diskutieren.“ Er nahm das Hemd in Empfang, legte es zusammen und schob es in die Tasche zurück.
 

Mit einem letzten, nichts sagenden Blick zog sich Dhaôma um.

In seiner Familie hatte das Recht des Älteren bestanden – sprich, seine Mutter hatte alles entschieden. Es war kein Raum gewesen für eigene Wünsche oder Diskussionen. Irgendwann hatte er aufgehört, sich Hoffnungen zu machen oder Vorschläge zu äußern. Und jetzt kam dieser Hanebito, fragte ihn nach seiner Meinung und erwartete sogar, dass er sie äußerte!

Im Affekt band er schließlich sein Haar neu, um seine roten Wangen zu verbergen. Vielleicht wusste er noch nicht, wie er das umsetzen sollte, aber das Angebot war lieb.

Gleichberechtigung ausgerechnet von jemandem aus dem Feindeslager. Ohne es zu bemerken hatte er mit seinem Fund einen Glücksgriff gelandet.

„Ich versuche mein Bestes.“, nickte er schließlich, als er schon alles aufnahm und tragefertig machte.
 

Irgendwie war Mimoun stolz auf sich. Er hatte, was Erklärungen anging, wohl dazu gelernt. Der Jüngere hatte sofort begriffen, worauf er hinaus wollte.

Auch der Geflügelte sammelte seine Sachen zusammen und gemeinsam machten sich die zwei auf den Weg den nächsten Berg hinauf. Dabei wandten sie sich nicht exakt dem Gipfel zu, sondern versuchten ihn mehr gen Mittag zu umrunden. Da sich der Tag langsam seinem Ende zuneigte, tastete Mimouns Blick die Umgebung ab auf der Suche nach einem geeigneten Lagerplatz für die Nacht. Doch er konnte nichts entdecken, was seinen Ansprüchen genügen konnte.
 

Die Sonne näherte sich schon dem Horizont, als Dhaôma seufzend stehen blieb. Den ganzen Weg über hatte er darüber nachgedacht, wie man sich am besten ausdrückte, wenn man Wünsche äußern wollte. Er war zwar auf ein befriedigendes Ergebnis gekommen, aber mit der Umsetzung haperte es noch, wie er in einem imaginären Gespräch festgestellt hatte. Am Ende kam er doch wieder darauf zurück, die Wahl ganz Mimoun zu überlassen.

„Wir werden heute keine Höhle mehr finden.“, stellte er fest. „Mir macht das nichts. Ich kann auf dem Boden oder auf einem Baum schlafen, aber was ist mit dir?“ Seine braunen Augen fixierten den Hanebito mit einer Mischung aus zurückgenommener Entschuldigung und Unwohlsein.
 

Dieser Blick ließ Mimoun schmunzeln. Dhaôma hatte die Grundlagen gelernt und versuchte sie nun anscheinend umzusetzen, war sich aber ganz und gar nicht sicher in seinem Verhalten. Na ja. Er würde schon noch sicherer werden.

„Die letzte Zeit hab ich auch eher auf Bäumen verbracht. Ein einfacher Schutz gegen am Boden jagende Raubtiere.“, erwiderte der Geflügelte und ließ seinen Blick nun hoch zu den Bäumen schweifen. Na gut. Nadelbäume sagten ihm als Schlafstätte nicht wirklich zu, aber besser als nichts.
 

Der Junge nickte. „Ich habe einen effektiveren Schutz gegen Raubtiere, wenn die Äste da oben zu dünn für dich sind. Ah, warte… Vielleicht…“ Was, wenn es Mimouns Nase auch betäubte. Aber andererseits hatte er sich während der Reise zur Schlucht niemals beschwert, obwohl die Blumen immer geblüht hatten, wenn der Unterschlupf nicht ausreichend zu sichern war. Wenn er jetzt darüber nachdachte, hätte er das beim Bieberversteck auch leichter haben können. Es war schon erstaunlich, wie sicher er sich gefühlt hatte, nur weil der Bau rundherum abgeschlossen war.

Sein Blick kehrte zurück in die Gegenwart und entschlossen ging er weiter. „Ich brauche einen Ort, an dem ich ein Feuer machen kann, ohne dass der Boden Feuer fängt.“, erklärte er dieses Verhalten. „Deswegen muss ich noch weitergehen.“
 

„Wir können auch noch ein Stück gehen. Kein Problem.“, erwiderte Mimoun.

Die Gedanken des Magiers schienen schnell hin und her zu springen. Erst die Erwähnung des Schutzes, welchen auch immer er damit meinte, dann das Zurücknehmen dieses Vorschlags und schließlich der Wunsch nach Feuer. Der Geflügelte zuckte nur mit den Schultern. Darauf musste er sich wohl einstellen.
 

Es dauerte nicht mehr lange, bis sie eine kleine Lichtung fanden, die noch mit Schnee bedeckt war. Dhaôma ließ seine Sachen fallen und nickte zufrieden. Hier würde er keinen Schaden anrichten.

Mit sich ringend blickte er dann zwischen dem Hanebito und dem Wald hin und her. Mimoun sah erschöpft aus, hatte heute ja auch schon einiges geleistet. Andererseits hatte er um Hilfe gebeten. Nein, so war das nicht richtig, er hatte darum gebeten, helfen zu dürfen. Aber mit den Flügeln war er im Wald wie ein Hirsch mit zu großem Geweih. Überall blieb er hängen. Und mit Feuer schien er keine gute Beziehung zu pflegen.

„Was willst du jetzt machen? Schlafen? Oder helfen? Oder was anderes?“
 

Angesprochener rang mit sich selbst. Einerseits war er ein wenig müde und erschöpft. Andererseits hatte er auf Arbeitsteilung gedrängt und drohte nun schon am ersten Abend davon abzuweichen.

„Ich mach auch eine Kleinigkeit. Ich kann nicht zulassen, dass du schon wieder alles allein machst.“, sagte er widerstrebend. „Was gibt es denn zu tun?“

Mimoun legte seine Sachen zu denen von Dhaôma und streckte sich einmal ausgiebig. Die Müdigkeit ließ sich nur begrenzt vertreiben. Hoffentlich dauerte die Aufgabe nicht ganz so lange und hatte mit Bewegung zu tun.
 

„Holz suchen, Fleisch in Streifen schneiden, Feuer machen, Schnee schmelzen oder vielleicht einen Schneewall gegen eventuellen Wind bauen. Vom Kochen hältst du ja nichts.“ Er lächelte vergnügt. Natürlich hätte er es auch alleine geschafft, aber dieser Kerl war eben gerne hilfsbereit. Da sollte er sich nicht dagegenstellen.
 

Schnee schmelzen war, wenn er sich recht entsinnen konnte, eine Spezialität von Dhaôma. Feuer machen konnte man nur mit Holz, auf das er dann wahrscheinlich erst einmal warten musste. Fleisch in streifen schneiden, war nicht anstrengend und er würde vielleicht im Sitzen einschlafen. Das wäre wohl ein wenig ungünstig und peinlich.

„Ich such erst Holz und kümmere mich dann um den Schneewall.“ Gut. Das waren die langwierigsten Aufgaben, hatten aber mehr Vorteile als der Rest.

Bis auf die Armschienen mit den Klingen legte er auch alle Rüstungsteile zu dem Haufen. Er ging nicht davon aus, dass sich ausgerechnet jetzt irgendein Beutegreifer ihn zu seinem Abendessen auserkor. Und wenn würden die Klingen und seine Krallen schon ihren Dienst tun.

„Bin gleich zurück.“, sagte er noch und streunte schon Richtung Wald.
 

Wieder einmal irritiert blickte Dhaôma ihm nach. Da hatte er sich ausgerechnet die unpraktischsten Aufgaben ausgesucht. Seltsamer Kerl.

Achselzuckend machte er sich an die Arbeit. In einem kleinen Kreis, in dem er das Feuer haben wollte, schmolz er den Schnee zu Wasser, das schnell abfloss, danach machte er sich daran, das Fleisch in Streifen zu schneiden. Außen war es schon gut getrocknet, aber innen war es noch immer blutig und feucht. Es war notwendig, es zu trocknen oder zu räuchern. Und weil räuchern besser schmeckte und auch schneller ging, bevorzugte er diese Art des Konservierens.

Im Wald suchte er sich ein paar Stöcke, auf die er das Fleisch aufspießte. Damit war seine Arbeit soweit getan, also machte er sich daran, die Wind zugewandte Seite des Feuers mit Nadeln auszulegen. Der trockene Nadelteppich war weich und würde die Kälte von unten ein wenig abhalten.

Inzwischen dämmerte es. Bald war es dunkel.
 

Ohne Sinn streunte der Geflügelte kreuz und quer durch den Wald, nahm hier und da Holz auf, das er für geeignet hielt. Sein Weg führte ihn dort entlang, wo es für ihn am bequemsten schien. Hinterher konnte er nicht sagen, ob er oder was er in der ganzen Zeit gedacht hatte. Als die Dämmerung schließlich sein Bewusstsein erreichte, machte er sich auf den Rückweg. Mimoun hatte einen guten Arm voll Holz dabei, die er neben der freien Stelle im Schnee einfach fallen ließ, als er schließlich die Lichtung wieder erreichte.

Kurz sah er sich nach dem Magier um.
 

Dieser kam aus der entgegengesetzten Richtung. Er hatte auch noch ein wenig Holz gesucht und dabei gleich eine Stelle zum Schlafen frei geräumt, wo jetzt eine kleine braune, unauffällige Blume blühte.

Mit einem Willkommen heißenden Lächeln machte er sich daran, die Äste aufzuschichten und musste grinsen, als er sah, dass sie im Schnee lagen. „Es wird qualmen, wenn die Stöcke nass sind.“, informiert er den anderen neutral, bevor er mit einem Feuerstein ein paar Funken in trockenes Gras schlug. Es dauerte nicht lange, bis es brannte. Und qualmte. Aber auch das ging vorbei, immerhin waren nur die Oberflächen feucht.

Mit seiner Magie taute Dhaôma den Boden im Qualm auf, um seine Fleischspieße aufzustellen, dann setzte er sich vor das Feuer. Jetzt hieß es warten.
 

Gut. Das nächste Mal das Holz nicht in den Schnee legen. Mimoun würde sich das merken. Auch er wusste halt nicht alles. Jetzt gab es das nächste Problem. Seine zweite Aufgabe.

„Wie soll der Schneewall werden? Nur zum Schutz des Feuers? Oder für uns? Wo genau und wie hoch brauchst du ihn?“
 

Aus seiner Tätigkeit gerissen, starrte er ihn an, dann zuckte er mit den Schultern. „Es kommt darauf an, ob du dahinter schlafen willst oder nicht. Im Grunde benötigen wir ihn nicht, aber wenn du hier auf dieser Lichtung über Nacht bleiben willst, dann ist es sinnvoll sich gegen schneidenden Wind zu schützen.“
 

„Ach so.“, entfuhr es dem Geflügelten. „Falls die Schlafplätze auf den Bäumen für mich nicht geeignet sind, kann ich auch zwischen den ersten Bäumen am Rand schlafen. Da stört der Wind sicher auch nicht.“ Nicht dass Wind für ihn in irgendeiner Weise unangenehm werden würde. Er liebte ihn, versprach er doch Freiheit.

Also brauchte der Geflügelte nun nichts mehr tun und konnte sich zum Schlafen legen. Oder vorher noch ein wenig Essen. Obwohl die Müdigkeit den Hunger überwog. So lange war es ja nicht her, dass er etwas gegessen hatte. „Falls du mich nicht mehr brauchst, leg ich mich dann hin.“ Und schon erhob er sich und klaubte seine Sachen zusammen. Die Rüstung legte er wieder an zum zusätzlichen Schutz für die Nacht. Den Beutel und seinen Bogen würde er an einen der Bäume in der Nähe hängen. Unerreichbar für Getier.
 

Dhaôma nickte und winkte. „Schlaf gut.“

Er würde noch nicht schlafen. Zuerst wollte er den Proviant in Sicherheit wissen, danach konnte er immer noch schlafen. In seinen Mantel eingehüllt starrte er in die Flammen, legte immer wieder Holz nach und wartete. Bevor der Hanebito schlafen gegangen war, hätte er ihn nach dem Buch fragen sollen, aber das hatte er vergessen. Zu schade, denn so musste er noch länger warten, bis er wusste, was darin stand. Aber ihn dafür zu wecken kam genauso wenig in Frage, wie einfach an seine Sachen zu gehen, wenn er es nicht bemerkte.

Als das Feuer heruntergebrannt war, packte er das geräucherte Fleisch in Leder ein und hängte es in einen Baum, bevor er noch einmal nach seinem Begleiter sah. Still und leise ließ er die kleine Blume erblühen, die ihn aus der sensorischen Wahrnehmung der Raubtiere löschte. Dann rollte er sich in der Kuhle zusammen, die er vorher fleißig mit Nadeln ausgelegt hatte.

Es war ein langer Tag gewesen. Und noch immer wusste er nicht recht, was er von dem Besuch halten sollte. Zwar war es schön, jemanden da zu haben, einen Freund zu haben, aber es fiel ihm schwer, sich daran zu gewöhnen. Was genau wollte der Hanebito von ihm? Und was meinte er damit, dass er lernen sollte, Wünsche zu formulieren? Oder dass er ihm Arbeit abgeben sollte? Ob das vorhin in Ordnung gewesen war? Wirklich begeistert hatte der Schwarzhaarige nicht gewirkt, aber er hatte es getan, obwohl er gar keinen Nutzen daraus gezogen hatte. Weder hatte er sich am Feuer gewärmt, noch mochte er gegartes Fleisch.

Mit einem tiefen Seufzen zog er Umhang und Decke fester um sich. Hoffentlich verstand er es bald. „Hilfe annehmen.“, murmelte er. Auch ein Rat von Mimoun. Aber das war wirklich nicht so einfach.

Missverständnisse

Kapitel 11

Missverständnisse
 

Dhaômas kurzen Besuch hatte Mimoun nicht wahrgenommen. Zu sehr hatte er seine Kräfte beansprucht. Zu sehr war er noch das sichere Schlafen im Dorf gewohnt oder die Tatsache, dass der Magier alles tat, damit es ihm gut ging.

Und so erwachte der Geflügelte gut erholt am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang. Ausgiebig streckte er sich und schaute verwundert auf die kleine Blume, die neben ihm wuchs. Sanft stupsten seine Finger die Blüte an und er lächelte versonnen.

Suchend schaute sich Mimoun nach dem Magier um und erhob sich, ging einige Schritte auf die Lichtung hinaus.
 

Dhaôma war von der Sonne und der Kälte geweckt worden. Es sollte endlich warm werden, dann könnte er wenigstens wieder schwimmen gehen. Langsam erhob er sich, streckte sich, bevor er seinen Mantel ablegte und losrannte. Er musste warm werden, ganz dringend!

So kam er auch an Mimoun vorbei. Grinsend winkte er, bevor er einfach an ihm vorbei den Berg hinauf lief. „Frühstück ist in dem Beutel zu deiner Rechten!“, war alles, was er noch sagte, bevor er wieder im Wald verschwand.
 

Erstaunt schaute dieser ihm nach. Er begriff nicht, warum der Magier durch den Wald hetzte. Es gab keinen Grund. Vor allem, da er so fröhlich grinste.

„Magier sind halt seltsam.“, murmelte er achselzuckend und machte sich an dem bezeichneten Beutel zu schaffen. Das in Leder eingeschlagene Fleisch trug er zu der erloschenen Feuerstelle. Mit einem halb verbrannten Stock stocherte er in der Asche herum. Sie würden bald weiter ziehen. Da brachte es nichts, jetzt das Feuer wieder in Gang zu bringen. Da er nicht einmal wusste, wie der Magier es getan hatte. Gut, er hatte die Handgriffe mit dem Stein gesehen, doch ob er das auch schaffen würde, würde er ein anderes Mal austesten.

Während er selbst bereits auf einem trockenen Fleischstreifen herumkaute, suchten seine Augen den Waldrand auf der Suche nach dem Magier ab.
 

Dieser kam wenig später außer Atem zurück. Bergauf rennen war anstrengend. Aber wenigstens war er jetzt warm. Über dem Arm trug er seinen Mantel und die Decke.

Schnell nahm er sich etwas zum Essen und hielt Mimoun ein wenig Harz hin. Er mochte es. Es war süß und schmeckte nach Wald, selbst wenn es an den Zähnen klebte. „Isst du so was?“
 

Zögernd nahm er es entgegen und probierte vorsichtig. Süß und klebrig. Begeistert schob er es sich ganz in den Mund. Mit dem Resultat, dass seine Zähne zusammenklebten. Mit seinen Nägeln kratzte er an der Substanz herum, doch es half nur bedingt. Es wurde aber so langsam besser. Viel zu langsam für seinen Geschmack.

Also versuchte er sich mit Handzeichen verständlich zu machen. Erst eine Geste vom Fleisch zu Dhaôma mit schief gelegtem Kopf. Danach einen alle Gegenstände umfassenden Kreis und eine Geste den Berg hinauf. Der Gesichtsausdruck war noch immer fragend.
 

So auch Dhaômas. Was zum Teufel?

Er begann zu lachen, als er begriff. Laut, herzlich. „Davon musst du langsam essen!“, sagte er kichernd. „Das ist wie Zucker! Nicht zu viel auf einmal, damit eben genau das nicht passiert!“
 

Mimoun klatschte sich die Hand gegen die Stirn.

Dumpf grollte er, zumindest zu dieser Lautäußerung war er noch fähig, und fixierte dem Magier mit einem gespielt wütenden Blick. Doch hastig schüttelte er den Kopf. Ja, das hätte der Magier ruhig früher sagen können, aber es brachte nun nichts, sich darüber aufzuregen. Beim nächsten Mal wusste er es.

Noch einmal wiederholte er die gleichen Bewegungen, diesmal langsamer, das Fleisch sogar ein wenig in Dhaômas Richtung schiebend.
 

Dieser kicherte noch immer. „Nein, ich will nichts mehr.“, schüttelte er den Kopf. „Und ja, wir können weitergehen.“ Wieder lachend begann er seine Decke zusammenzurollen und unter den Rucksack zu schnüren, bevor er aufstand.

Auffordernd sah er seinen Begleiter an. Und wieder musste er lachen. Er konnte sich gar nicht dagegen wehren.
 

Nun wurde das doch langsam ein wenig viel. Ja gut. Er hatte sich dämlich benommen.

Gereizt verwarf er die Hände und stemmte sie dann in die Hüfte. Übertriebenes Kopfschütteln zeigte an, dass er mit der momentanen Situation nicht einverstanden war. Mit einer ruckartigen Bewegung drehte er sich um und holte seine Tasche und den Bogen.

Auf dem Rückweg kam ihm sein Verhalten albern vor. Wenn er es recht bedachte, würde er an Dhaômas Stelle sicher auch lachen müssen. Und es war sicher besser so, als den ganzen Weg nur in gedrücktem Schweigen nebeneinander herzutrotten.

Wieder an der Seite des Magiers entblößte er die völlig verklebten Zähne zu einem Grinsen und deutete mit einer einladenden Geste und einer leichten Verbeugung in die einzuschlagende Richtung.
 

Es hatte Dhaôma verwirrt und hatte das Kichern vertrieben. War er wirklich wütend? Oder war es gespielt?

„Es ist noch schwerer dich zu verstehen, wenn du nicht reden kannst.“, meinte er und folgte der Aufforderung. „Dabei verstehe ich dich sowieso nicht so richtig.“
 

Mit Gewalt versuchte der Geflügelte seinen Kiefer wieder auseinander zu zwingen, mit dem einzigen Ergebnis, dass ihm die entsprechenden Muskeln wehtaten.

Also doch noch auf Zeichensprache zurückgreifen. Vor allem während des Laufens war es schwierig, gefolgt von der Tatsache, dass er nicht wusste, wie er das, was er sagen wollte, auch umsetzen konnte.

Er deutete mit einer Hand die gesprochenen Worte von Dhaôma an, indem er mit dieser auf seine Lippen deutete und mit der anderen Hand auf diesen zeigte. Anschließend zeigte er dasselbe noch einmal bei sich. Ob das ankam? Mimoun bezweifelte es gerade stark.
 

„Ich soll auch Zeichensprache verwenden?“ Dhaôma hatte sich Zeit genommen, um zu verstehen, was Mimoun sagen wollte, doch er glaubte nicht, dass das, was er sich da zusammen gesponnen hatte, stimmte. „Ich habe keine Hand frei.“ Und weil er ihm Leid tat, fügte er noch sanft hinzu: „Warte einfach, bis sich das Harz gelöst hat. Es wird nicht für immer dort bleiben.“
 

Erneut klatschte seine Hand gegen die Stirn und ließ sie weiter über sein Gesicht bis zum Mund rutschen. Mimoun gab auf. So ließ sich allen Ernstes kein vernünftiges Gespräch führen.

Wieder versuchte er an dem Zeug an seinen Zähnen herumzukratzen, doch mit demselben Erfolg wie schon vorher. Er ließ ein abgrundtiefes Seufzen hören, schüttelte enttäuscht den Kopf und schritt dann weiter geradeaus. Was anderes konnte er ja nun nicht tun.
 

Schweigend lief der Braunhaarige hinter ihm her, bis ihm ein Gedanke kam. „Mimoun, warte, ja?“ Am Arm hielt er ihn fest. „Vielleicht kann ich dir helfen. Wenn du mir vertraust.“
 

Mimoun blieb stehen und sah den Magier verwundert an. Warum sollte er Dhaôma auch nicht vertrauen? Dieser hatte ihm nie die Möglichkeit für Gegenteiliges gegeben. Mit einem sanften Lächeln nickte er und schloss vertrauensvoll die Augen.
 

Der Junge lächelte. In ihm regte sich ein seltsames Gefühl. Glück oder so was.

Sanft legte er die Hand auf Mimouns Wange. Wenn er Pflanzen dazu bringen konnte, zu verrotten, dann konnte er vielleicht auch dieses Zeug schneller zerstören. Die Zeichen auf seinen Armen begannen zu leuchten, als er die Magie freisetzte. Er spürte auch die Resonanz, die Antwort des Materials, das langsam zerfiel. Sein Lächeln wurde breiter. Hoffentlich schmeckte es nicht seltsam, wo Erde und Asche doch meistens nicht schmeckten.
 

Das Lächeln verschwand, als er Dhaômas Hand an seiner Wange spürte. Noch immer mit geschlossenen Augen und völlig reglos wartete er ab, was geschah.

Nur langsam spürte er die Veränderung. Es kam nicht von einem Moment auf den nächsten. Erst war es nur ein Geschmack, den er anfangs nicht einordnen konnte. Doch es wurde stärker und Mimoun hatte das Gefühl, dass sich sein ganzer Mundraum mit Erde zu füllen schien. Missbilligend zog der Geflügelte die Stirn in Falten, doch er entzog sich nicht der Berührung des Magiers. Mit der Zunge versuchte er die sich ansammelnden Stückchen nach vorn zu den Zähnen zu schieben, doch das machte das Ganze irgendwie nicht besser.

Doch schließlich ging es nicht mehr. Mimoun drehte ruckartig den Kopf weg und spuckte aus. Nur nebenbei registrierte er, dass er seine Zähne wieder lösen konnte. Auch spürte er, dass noch immer Klebereste zusammen mit erdigem Geschmack in seinem Mund hafteten. Das Nachspülen mit seinem wenigen verbliebenen Wasser machte die Sache dann doch erträglicher.

„Vielen Dank.“, nuschelte er. Prüfend kaute er auf Luft, dann nickte er bekräftigend. „Wirklich besser.“
 

„Gut.“ Dhaôma nickte, bevor er seinen Weg fortsetzte. Man konnte diese Magie also auch durch lebende Materie hindurch wirken. War doch mal interessant zu wissen.

„Also, was wolltest du mir vorhin sagen?“
 

„Ganz einfach. Ich könnte das gleiche sagen wie du.“
 

Und was hatte er vorhin gesagt? Doch eigentlich, dass er ihn nicht verstand.

Zerknirscht seufzte er. „Du verstehst mich nicht?“
 

„Es ist zeitweise ziemlich schwer. Wir sind völlig verschieden aufgewachsen und ich muss aufpassen, dass ich dich mit meinem antrainierten Verhalten nicht vergraule oder etwas so kompliziert ausdrücke, dass du es nicht verstehst und mich dadurch wegdrückst.“ Er zuckte erneut mit den Achseln. „Aber es ist ja auch egal. Wir haben ja nun Zeit, uns kennen zu lernen.“ Er kratzte mit einem Fingernagel über seine Zunge. Aber der erdige Geschmack blieb erhalten.
 

Wenn er das sagte. Aber warum nicht. Es war Ewigkeiten her, dass er sich die Mühe gemacht hatte, jemanden kennen lernen zu wollen.

„Erzählst du mir davon, was oben passiert ist? Waren sie sehr sauer, dass du bei mir warst? Oder habt ihr es niemandem gesagt?“
 

Mimoun lachte herzhaft aufgrund der letzten Frage. „Entschuldige, aber wie naiv bist du eigentlich?“ Noch immer kichernd schüttelte er den Kopf und schaute gen Himmel. „Ich bin vielleicht der Erste, der es schwer verletzt und über Wochen hin geschafft hatte, dem Feind zu entkommen. Natürlich wollte jeder wissen, wie ich das geschafft habe.“

Seine Gedanken glitten wieder zurück zu seinen ersten Wochen in der Heimat. „Immer wieder kamen Geflügelte aus den entlegensten Dörfern und wollten meine Geschichte hören. Zu lügen wäre mir irgendwann zum Verhängnis geworden. So häufig musste ich die Wochen bei dir noch einmal beschreiben. Ein kleiner Fehler, die kleinste Abweichung und ich wäre vielleicht wegen Verrats hingerichtet worden. Am schlimmsten fand ich die Stunden vor dem hohen Rat. Mir war das Herz in die Hose gerutscht. Wenn mich die anderen nur mit Verachtung und Abweisung strafen konnten, so hätte deren Urteil meinen Untergang und den meiner Familie bedeuten können.“ Mimoun schauderte, als er sich noch einmal diese Stunden ins Gedächtnis rief. „Dennoch hab ich ihnen haargenau alles beschrieben. Deine Güte, deine Aufopferungsbereitschaft und deinen Willen, dein Wort, das du einem Feind gegeben hattest, nicht zu brechen. Danach hatten sie allerhand Fragen gestellt. Was ich an Wissenswertem aus dir rauspressen konnte und warum ich dich am Leben ließ. Ich antwortete knallhart, dass ich dir immerhin mein Leben verdanke, drehte mich um und ging.“ Er kicherte erneut. „Du glaubst gar nicht, wie zittrig ich danach war. Ich hatte echte Angst, dass das ein Nachspiel haben würde, doch sie meldeten sich nie wieder bei mir oder meiner Familie.“

Es vergingen einige Augenblicke im Schweigen, bevor er leise anfügte: „Und als klar war, dass ich dich suchen und dir folgen würde, hat mich mein ganzes Dorf ohne zu zögern oder zu fragen unterstützt. Es sind dir wirklich viele für meine Rettung dankbar.“ Das zu offenbaren, war ihm sehr unangenehm, aber wenn er gerade noch von gegenseitigem Kennen lernen predigte, sollte er wieder Dinge verheimlichen? Wäre doch nicht nett gewesen.
 

Am Anfang lauschte Dhaôma noch mit Faszination, doch je weiter Mimoun redete, desto mehr stieg die Röte in seine Wangen. Was sollte das heißen, Aufopferungsbereitschaft und Güte? Er hatte das doch nicht aus Aufopferungsbereitschaft getan! Und als er dann noch hörte, dass sie ihm dankbar waren, glühten seine Ohren und er sah zu Boden. Wie lange war es her gewesen, dass jemand ihm offen dankbar war? Außer Mimoun. Der kannte ihn ja auch.

„Was wird das heißen?“, hakte er leise nach. „Werden sie mich auch mögen? Ich meine… Ich…“ Er brach ab und rieb sich mit der freien Hand über die Wangen. So heiß! „Meinst du, sie können lernen, mich zu mögen?“
 

Erneut lachte Mimoun herzhaft. Diese hochroten Wangen, der beschämte Blick. Herrlich.

„Zuerst einmal heißt es, dass sie dich nicht sofort töten. Wenn ich dabei bin, zumindest. Da sie nicht wissen, wie du aussiehst, werden sie dich für einen ganz gewöhnlichen Magier halten. Dich mögen...?“ Er wiegte nachdenklich den Kopf. „Das würde dauern. Selbst wenn sie von mir zu hören gekriegt haben, dass du friedfertig bist, werden sie sich erst mit eigenen Augen davon überzeugen wollen. Mich würde es nicht wundern, wenn das ein wenig rabiater zur Sache gehen sollte. Provozieren und piesacken fürchte ich.“
 

Entmutigt nickte Dhaôma. Ja, das kannte er. Wenn er das so hörte, dann waren die Geflügelten nicht wirklich anders als die Magier.

„Ich werde nicht gerne gehänselt.“, meinte er. Das war, als wäre er weniger wert, als könnten die anderen nicht sehen, wer er wirklich war. Oder als könnten sie ihn eben nicht leiden. „Es ist besser, wenn sie mich nicht sehen.“ Dabei wollte er Mimoun und seine Mutter wirklich besuchen kommen. Aber sicher nicht um diesen Preis.
 

Die Stimmung kippte schneller, als ihm lieb war. Eben noch heiter-verlegen war der Magier nun niedergeschlagen. Und das nur wegen ein paar wahrer Worte.

„Damit wollen sie nur testen, ob es dir wirklich ernst ist. Du gehörst zum Feind, ob du nun willst oder nicht. Erwarte nicht, dass dir jeder sofort vertraut, nur weil du behauptest, nett zu sein. Wenn du vorher aufgibst, wirst du nie wissen, ob du es doch hättest schaffen können.“, ruderte er ein Stück zurück, versuchte die Situation zu retten. „Und hey. Am Anfang war es mit mir sicher auch nicht leicht.“
 

„Aber du warst nur einer.“ Dhaôma strich sich ein paar Strähnen hinter das Ohr und wandte sich ab. „Außerdem konntest du mir nichts tun. Du warst fiebrig und schwach und ich konnte dir helfen. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich mich nicht mal in deine Nähe getraut.“ Er schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Ich hätte dich aus der Ferne angesehen und mich versteckt gehalten. Weißt du, ich rede von Frieden und Vertrauen, aber in Wirklichkeit habe ich Angst. Weil ich sehe, wie erschüttert das Vertrauen in den Menschen ist, kann ich nicht darauf vertrauen, dass mir nichts geschieht. Und ich will nicht sterben.“
 

„Glaub mir. Das will niemand. Jeder zieht in den Krieg in der Hoffnung, den Feind zu töten, ohne selbst dabei draufzugehen. Ich fürchte sogar, für eine friedliche Lösung ist es schon lange zu spät. Dieser Krieg wird weitergären, bis eine der beiden Seiten ausgelöscht ist. Wir sind wie zwei kleine Lichter im Sturm. Es gibt nichts, was wir dagegen tun könnten.“ Mimoun spürte wie auch seine Hochstimmung so langsam den Bach runter ging. „Und außerdem hast du ja jetzt mich. Ich dulde nicht, dass dich auch nur einer von meinen Leuten anrührt oder verletzt. Auf welche Art auch immer.“
 

„Mimoun. Wenn es zwei einzelne kleine Lichter im Sturm sind, gehen sie beide aus.“ Dhaôma strich sich über die Nasenwurzel, dann legte er den Kopf in den Nacken. „Feuer ist nur stark, wenn es groß ist.“ Er sah ihn an. „Vielleicht sind wir am Ende die einzigen, die das überleben, weil wir zusammen leuchten können.“
 

„Das meine ich ja. Momentan bewegen wir uns weit ab des Kriegsgeschehens. Was glaubst du, würde passieren, sollten wir auch nur ansatzweise in die Nähe eines Schlachtfeldes geraten?“ Er schwieg einige Sekunden, bevor er hinzufügte: „Ich würde mir wünschen, dass meine Familie, meine Freunde und mein Dorf das auch überleben. Sie sind mir ebenso wichtig. Eigentlich wünsche ich niemandem, den ich kenne, den Tod. Doch ob sie einverstanden wären, das Feuer zu vergrößern, kann ich mir kaum vorstellen. Zu tief sitzt der Hass gegen dein Volk.“
 

„Ich weiß, was du meinst.“ Wenn man einen Magier fragte, was der am liebsten mit einem Hanebito machen wollte, dann war die Antwort zu hundert Prozent töten. Aber es musste doch noch andere geben, die nicht mehr kämpfen wollten. Mehr wie ihn und Mimoun.

„Ich will, dass keiner mehr stirbt. Das Leben ist zu kostbar, um es mit kämpfen zu verbringen. Denk doch mal, was die Kriegsmagier mit ihrer Kraft bewirken könnten, wenn sie sie nicht immerzu zum Töten einsetzen würden. Sie könnten Pflanzen wachsen lassen, mit dem Wasser dürre Gebiete zum Leben erwecken, mit Feuer Kälte vertreiben oder einfach sorgenfrei leben. Sie könnten die Welt verändern. Stattdessen kämpfen sie und rennen in den Tod.“ Weich schweifte sein Blick über die Nadelgehölze um sie herum. „Und ihr könntet ebenfalls besser leben. Du hast gesagt, dass eure Ernte nicht gut ist. Ihr könntet unten leben, wo die Sonne wärmer ist, wo alles besser wächst. Es wäre nicht mehr so hart oder kalt und es wären mehr, die bei der Ernte helfen könnten.“

Nachdenklich betrachtete er seinen Freund. „Mimoun, vielleicht sollten wir versuchen, sie umzustimmen. Den Grund für diesen Krieg herausfinden und ihn beenden. Ich möchte dich so gerne besuchen kommen und sehen, wie du lebst.“
 

Zwar ahnte er von Anfang an tief in sich, was der wahre Wunsch des Magiers war, doch dass dieser es tatsächlich schaffte, ihn auszusprechen, ließ den Geflügelten aus dem Tritt kommen und stolpern. Mimoun stürzte nicht, doch er strauchelte ein Stück vorwärts, bevor er sein Gleichgewicht wieder fand.

„Das ist eine schöne Illusion, aber ich glaube, ich erwähnte bereits, dass es für eine friedliche Lösung zu spät ist. Und selbst wenn. Wie willst du es anstellen? Vergessen? Wir sind zwei kleine Lichter im Sturm.“, wiederholte er übertrieben theatralisch. Wenn er so weitermachte und Hoffnungen des Magiers zerstörte, konnte er ihm auch gleich sagen, was er von seinem Plan, Drachen zu finden, wirklich hielt.
 

„Vielleicht sollte ich wirklich mitkommen und ein paar Monate bei euch leben, auch wenn es heißt, einsam unter vielen und gefangen zu sein.“ Dhaôma lächelte. „Sie könnten lernen, wer ich bin. Wenn ich wirklich ein Feind bin, kommen auch die vom – wie hast du sie genannt? – Rat? Und ich kann sie fragen, weswegen sie kämpfen. Vielleicht kann ich es schaffen, Zweifel gegen den Krieg zuerst in deinen Leuten zu säen. Und wenn es Hoffnung gibt, dann rede ich mit meinem Bruder, damit der mich zu seinen Freunden bringen kann.“

Er presste die Lippen zusammen. „Oder ich vernichte mit dem Drachen einfach alle Krieger, aber ich glaube, das könnte ich nicht, auch wenn dadurch unzählige andere Leben gerettet würden. Außerdem will ich nicht, dass Drachen als böse gesehen werden.“
 

„Das ist riskant. Nur der kleinste Fehler könnte unser beider Leben auslöschen.“, wies er seinen Freund noch einmal mit Nachdruck darauf hin. „Und ich allein werde dich im Notfall nicht gegen alle schützen können, wenn es hart auf hart kommt.“ Er seufzte. „Da brauchen wir wohl tatsächlich erst einmal einen Drachen zur Unterstützung.“ Wenn die Suche tatsächlich zu einem erfolgreichen Ende führte, dann konnte er auch daran glauben, dass Dhaôma den Krieg beendete. Und wenn nicht, war der Magier zumindest aus der Schussbahn.

„Und es ist gut, dass du niemanden töten kannst.“, fügte er sanft hinzu. „In diesen Zeiten ist das eine wertvolle und seltene Gabe.“
 

Dhaôma nickte. Es tat gut, das zu hören. Aber eine Sache musste noch gesagt werden: „Vergiss nicht, wenn ich es nicht riskiert hätte, dich nach Hause zu bringen, müsstest du immer noch unten im Reichswald leben. Manchmal zahlt sich Risiko aus. Aber ich bin nicht dumm. Ich werde nicht dein Leben riskieren.“ Dann zuckte er mit den Achseln. „Aber vorerst sind wir hier, da erübrigen sich alle Gedanken zur Rettung der Vernunft. Was meinst du, schaffen wir diesen Berg heute noch?“ Und er zeigte mit der freien Hand auf den Gipfel des Nachbarberges.
 

„Wärst du das Risiko nicht eingegangen, müsste ich mir um solche Dinge gar keine Gedanken mehr machen.“, korrigierte Mimoun lächelnd. „Außerdem sollst du nicht mein sondern dein Leben nicht unnötig riskieren.“

Auch er sah zu dem Nachbarberg auf. Es würde ein langer Fußmarsch werden, doch das war nichts, was ihm unbekannt war. Lange Fußmärsche zählten immer häufiger zu seinem Leben. „Wenn wir uns ranhalten, könnten wir es schaffen. Und wenn nichts Unvorhergesehenes dazwischen kommt.“ Sofort zog er sein Marschtempo ein wenig an.
 

Schweigend folgte der Braunhaarige ihm, verzichtete aber auf eine Erwiderung. Es war schon klar, dass er auf sein Leben ebenfalls Acht geben würde, aber es war immerhin sein Leben und nicht das von irgendjemand sonst. Es gehörte ihm. Aber das war es wohl nicht, was Mimoun bewegte.

Die nächsten Stunden wanderten sie erst bergab und später wieder bergauf, nur unterbrochen von ein paar kleinen Pausen und einem weiteren Bach, über den zum Glück eine Art natürliche Felsenbrücke führte. Nasse Füße waren da ein vertretbarer Preis.

Und auch am Abend hatten sie Glück. Sie fanden einen Felsüberhang, der von Bäumen umringt war. Wind- und Regenschutz, denn diese kamen schon zu Beginn der Nacht. Zuerst langsam und wenig, später wie aus Gießkannen.

Mit offenen Augen lehnte Dhaôma an der Felswand und sah hinaus in den Schleier aus Fäden. Es war wirklich lange her, dass er neben jemandem geschlafen hatte, aber weder wollte er draußen schlafen, noch wollte er Mimoun vertreiben, weshalb er geschwiegen hatte. Er machte sich Gedanken darüber, warum er nicht fähig war, Ruhe zu finden, wenn jemand anderes so dicht bei ihm war, und fand keine Antwort. Es gab keinen Grund dafür. Außer vielleicht, dass er niemals mit jemandem in einem Zimmer geschlafen hatte. Seit seiner Kindheit hatte er immer ein eigenes Zimmer gehabt, bei den Eltern durfte er nicht schlafen, bei seinen Geschwistern war es gefährlich gewesen, da man nie sicher sein konnte, ob man am nächsten Tag mit bemaltem Gesicht oder zerschnittenem Nachthemd oder abgeschnittenen Haaren erwachen würde. Aber der Hanebito würde so etwas wohl kaum tun.

Seufzend zog er die Beine an und schloss die Augen. Die Unruhe blieb. Und dennoch schlief er ein, viel zu spät, aber traumlos.
 

Mimoun hatte die Nacht friedlich geschlafen und nichts von der inneren Unruhe des Magiers gespürt. Der Marsch am Tag vorher hatte ihn zwar erschöpft, doch nicht in dem Maße, wie er es erwartet hatte und so fühlte er sich ausgeruht und voller Tatendrang.

Gähnend streckte sich der Geflügelte und sah sich um. Fast erwartete er den Magier wie sonst auch durch die Gegend wuseln zu sehen. Umso mehr erstaunte ihn die Tatsache, dass dieser noch schlief. Nun vorsichtiger und möglichst leise, erhob sich der Geflügelte, entledigte sich seiner Rüstung und trat in den noch immer anhaltenden Regen hinaus. Er ließ das kühle Wasser seinen Körper entlang fließen, genoss das Gefühl, wenn die Tropfen seine Haut trafen. Mit einem ruckartigen Kopfschütteln zwang er den Regen wieder aus seinen Haaren, doch sofort kam neuer hinzu, als er sich in der näheren Umgebung ein wenig umsah. Doch hier war nichts Sehenswertes. Nur Bäume und Felsen und Regen und Schnee. Mit geschickten Bewegungen erklomm er einen der Bäume, die Flügel eng an den Körper gelegt, und besah sich von dort oben die nächste Etappe.
 

Dhaôma erwachte spät. Das Rauschen des Regens machte ihn schläfrig und träge, wusste er doch, dass an solchen Tagen das Vorankommen erschwert und damit nicht gerade erstrebenswert war. Letztlich blinzelte er dann doch, weil Unregelmäßigkeiten in dem Rauschen und Plätschern ihn störten. Es hörte sich an wie Schritte in Matsch.

Welche sich dann auch erklärten, als er seinen Hanebito durch den Regen geistern sah. Kalter Regen, Nässe mitten im Winter. Diese Menschen hatten einfach kein Kälteempfinden. Wie konnte er das aushalten?

Fröstelnd zog er die Decke enger um sich.
 

Der Blick war ernüchternd. In Grau verhüllte Berggipfel, Bäume, Schnee. Der Winter hatte die Berge noch fest in seinem Griff. Da änderte auch der Regen nicht viel daran.

Mimoun sprang aus dem Baum und bremste seinen Fall erst kurz vor dem Boden durch ein ruckartiges Aufklappen seiner Schwingen. Frühzeitiges Nutzen hätte zur Folge, dass das Gewicht des Regens ihn noch zusätzlich nach unten drücken würde. So landete er zwar nicht federleicht wie sonst, zumindest aber ohne Schrammen. Dhaôma hätte ihn sonst umgebracht, befürchtete der Geflügelte und grinste still in sich hinein. Der Magier kümmerte sich mehr um andere, als um sich selbst.

Leise betrat Mimoun wieder den Unterschlupf. Sein erster Blick glitt zu Dhaôma. Ob dieser noch immer schlief? Zumindest lag er noch immer eng in seine Decke gewickelt.

Mimoun ließ den Magier ungestört dort liegen. Wenn er schlafen wollte, sollte er seine Ruhe haben. Ein wenig abseits machte er sich daran das überschüssige Wasser aus den Haaren, von der Haut und den Kleidern zu streichen. Danach bereitete er das Frühstück zu. Vorsichtig entnahm er das Fleisch der Tasche und legte es bereit. Da er selbst nicht wusste, wann der Magier erwachen würde, bediente er sich schon einmal. Immer wieder glitt sein Blick prüfend zu dem schlafenden Jungen in der Decke, doch dort regte sich so gut wie nichts und der Morgen schritt immer weiter voran. Schließlich schlich er vorsichtig näher an Dhaôma heran, um zu sehen, ob es ihm gut ging. Erstaunt begegnete er den braunen Augen, die ihm aus der Decke entgegen schauten.

„Oh.“, entfuhr es ihm leise, fast flüsternd. Irgendwie wusste er nicht, wie er mit dieser Information umgehen sollte. Der Magier war anscheinend wach, aber lieber hier liegen geblieben. „Alles okay bei dir? Fühlst du dich nicht gut?“
 

Dhaôma hatte dem Hanebito bei seinen Aktivitäten zugesehen, zumindest bei allem, was er von seiner Position ohne Aufwand sehen konnte. Es hatte ihn fasziniert, wie rücksichtsvoll er sein konnte, wenn er es darauf anlegte, ganz leise, beinahe geduldig.

Jetzt seufzte er und rollte sich auf den Rücken. „Mir wird kalt, wenn ich dich sehe.“, antwortete er und zog die Decke über den Kopf.
 

Verblüfft klappte Mimoun der Mund auf, doch ohne einen Laut schloss er sich auch wieder. Kurz räusperte er sich und versuchte erneut etwas zu sagen. Ohne Erfolg.

Was war das denn für eine Logik gewesen? Ihm war kalt, weil er den Geflügelten gesehen hatte? Toll. Sollte das nun heißen, dass er gehen sollte? Oder etwa dass es ihm generell zu kalt war und er neidisch beobachten musste, wie der Geflügelte ohne Schwierigkeiten in dünnen Kleidern durch die Gegend lief? Und was sollte Mimoun dagegen unternehmen können?

Da fiel ihm das Feuer wieder ein. Feuer strahlte Wärme ab. Vielleicht würde es dem Magier helfen?

Ohne ein weiteres Wort verschwand der Geflügelte wieder in den Regen hinaus und kehrte etwa eine halbe Stunde später mit mehreren Stöcken wieder. Angestrengt rief sich Mimoun die Einzelheiten wieder ins Gedächtnis. Nasse Stöcke würden qualmen. Also am Rand platzieren, dass der Rauch nicht in den Unterschlupf ziehen konnte. Was noch? Ach ja. Umgebung vor Ausbreitung des Feuers absichern. Suchend sah er sich um. Wie hatte der Magier das gemacht? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. In Ermangelung einer besseren Idee schob er alte Nadeln, Zapfen und Schnee großflächig beiseite. Doch ob das reichen würde? Müsste er halt aufpassen. Als nächstes das Holz platzieren. Da er wusste, dass der Magier wach war, gab er sich keine Mühe, das Knacken beim Zerbrechen der Stöcke zu verbergen.
 

Beim ersten Krachen hatte sich Dhaôma aufgesetzt, nun beobachtete er mit offenem Mund das Spiel, das Mimoun zu spielen schien. Stöcke zerbrechen. Sie waren nass. Genau wie er selbst.

„Aiya.“, murmelte er und fröstelte erneut.
 

Mimoun sah sich nach diesem Einwand kurz nach Dhaôma um. Dieser sah echt bemitleidenswert aus. Schnell führte er sein Werk zu Ende, ging dann zu dem Magier hinüber und ließ die Hand über dessen Tasche schweben.

„Hast du die Steine zum Feuer machen hier drin und darf ich sie mir rausnehmen?“, fragte er lächelnd. Er sprach leise, als würde sein Begleiter noch immer schlafen.
 

„Nimm sie dir.“ Er wollte also Feuer machen. War ihm doch kalt geworden? Oder tat er das für ihn? Aber warum nahm er nasses Holz dafür?

Neugierig geworden, erhob sich Dhaôma und folgte seinem Begleiter. Das würde er sich ansehen. Von nahem.
 

Das machte diesen nervös. Er hatte mit so was keine Erfahrung und dass Dhaôma ihm nun so direkt auf die Finger schaute, machte seinen Versuch nicht unbedingt viel versprechender.

Mimoun nahm die Steine in die Hand, wie er es bei dem Magier gesehen hatte, so glaubte er, und zögerte erneut. Ein unsicherer Blick flackerte zu dem neben ihm Hockenden, bevor er sich zwang, sich auf sein Vorhaben zu konzentrieren. Doch so sehr er es auch versuchte, es geschah nichts. Durch mehr Glück als Können gab es einmal einen Funken, doch dieser erlosch sofort am nassen Holz.
 

„Soll ich dir helfen?“, tastete sich Dhaôma vor.
 

Enttäuscht reichte Mimoun die Steine weiter. Gern hätte er Dhaôma einen Gefallen getan, doch was das Feuermachen betraf, musste er noch üben. Aufmerksam beobachtete er jede Bewegung des Magiers, sog jede noch so winzige Fingerkrümmung in sich auf, um es später richtig machen zu können.
 

Dieser drehte die Steine in der Hand und klopfte sie sachte zusammen, bevor er den Kopf schüttelte. „So meinte ich das nicht. Den Funken hast du schon geschlagen.“ Auffordernd hielt er ihm die Steine wieder hin. „Jetzt brauchst du noch ein wenig trocknes Material, in dem er sich fangen kann. Ohne das geht es nicht.“
 

„Oh.“, sagte Mimoun sehr intelligent und nahm die Steine wieder zurück. Also war das der einzige Fehler, den er gemacht hatte? Suchend sah er sich um. „Und was wäre geeignet?“
 

„Gras, Flechten, Laub, Rinde. Der schwarze Teil von Birkenrinde ist besonders gut geeignet.“ Dhaôma kicherte. „Jetzt ist es in dem Regen allerdings ziemlich schwer, etwas zu finden, was nicht voller Wasser ist. Was glaubst du, wo man da am besten guckt?“
 

Mimoun überlegte angestrengt. An einem Ort, wo nichts voller Wasser war? Aber wie Dhaôma bereits festgestellt hatte, regnete es draußen. Alles war nass. Sein Gesicht hellte sich auf. Draußen war es nass. Das hieß aber auch… Sein Blick glitt suchend durch den Unterschlupf und blieb an den trockenen Nadeln haften, die über den ganzen Boden verstreut lagen. Mimoun erhob sich und holte eine gute Handvoll davon direkt neben die Feuerstelle. Nach einem fragend-prüfenden Blick zu dem Magier machte Mimoun sich wieder an die Arbeit. Es dauerte wieder eine Weile, bis er einen Funken erzeugen konnte. Den Dreh hatte er noch nicht wirklich raus, aber es funktionierte wenigstens. Der Funke sprang in die trockenen Nadeln und Mimoun lehnte sich ein wenig vor und betrachtete sein Werk prüfend. Unzufrieden ließ er noch einen zweiten und einen dritten hineinspringen.
 

Leise lachte Dhaôma, bevor er aufstand und ein paar der Flechten von dem Felsen abkratzte. Es waren nicht viele und würden nicht reichen, aber wenn man dann noch ein wenig von dem Harz nahm, dann sollte es genügen.

„Also, Funke da rein, dann ganz dünne Zweige nehmen.“ Davon gab es hier drin genug, also hielt er ihm einige unter die Nase. „Wenn die brennen, größere drauf, den größten zum Schluss. Und Feuer braucht Luft zum brennen. Wenn es nicht gut genug brennt, dann solltest du pusten. Gefühlvoll.“
 

Mimoun überging das Lachen, auch wenn es ein wenig an ihm kratzte. Ja und? Dann war er halt nicht in der Lage, Feuer zu machen.

Aufmerksam beobachtete er, wie der Magier ein wenig Zeug von den Felsen kratzte und es ihm brachte. Ebenso aufmerksam lauschte er den Anweisungen. Hätte der Magier es nicht von Anfang an so ausdrücken können? Es wurmte den Geflügelten, dass er sich hier erst einmal so zum Idioten machen musste.

Erneut versuchte er einen Funken zu erzeugen. Diesmal ging es schneller. Prüfend besah er sich die Flechte und als er tatsächlich einen winzigen Rauchfaden aufsteigen sah, pustete er ganz vorsichtig an die Stelle. Gefühlvoll, hatte Dhaôma ihn schließlich angewiesen. Als sich ein größerer Funken auf der Flechte zeigte, nahm er die Zweige. Einen nach dem anderen legte er langsam und vorsichtig darauf. Vor jedem wartete er einen Augenblick, ob der Funken übersprang, pustete notfalls noch einmal hinein. So folgte langsam Holzstück für Holzstück, bis er tatsächlich ein ordentliches kleines, wenn auch qualmendes Feuer entfacht hatte.

Aufseufzend lehnte sich der Geflügelte zurück. Das war anstrengend gewesen. Aber er fühlte sich gut, zufrieden. Er hatte ein Feuer aus eigener Kraft entzündet.
 

Dhaôma war ebenfalls dankbar und streckte jetzt die Hände den Flammen entgegen.

„Danke.“, sagte er leise.

Dann robbte er ein Stückchen weiter, um sich etwas von dem vorbereiteten Frühstück zu nehmen. „Sag mal, ist es wahr, dass du immun gegen Kälte bist?“
 

„Nicht völlig.“, korrigierte er. „Je höher man kommt, desto kühler wird es, deshalb sind wir unempfindlicher, was das angeht. Aber völlig immun sind wir auch nicht. Hier unten geht es sogar noch. Aber wenn ich im tiefsten Winter auf dem höchsten Gipfel der Wolfsberge stehen würde, dürfte auch ich das spüren.“ Er stockte und legte sich grübelnd einen Finger ans Kinn. „Ach Moment. Dahin sind wir ja unterwegs. Sogar im Winter. Wie unpraktisch.“
 

„Es ist fast Frühling.“, murrte der Braunhaarige. „Sonst würde es schneien und nicht regnen, sonst würden die Blumen nicht aufwachen.“

Aber dass er wirklich so unempfindlich gegen Kälte war, war schon faszinierend. Etwas, das er durchaus beneiden sollte, schließlich war er es, der fror. Seufzend zog er den Umhang wieder enger um die Schultern und hielt die freie Hand dem Feuer entgegen. Mit der zweiten schob er sich Räucherfleisch zwischen die Zähne. Essen half auch, um warm zu werden.

„Ist es okay, wenn wir abwarten, bis der Regen nachlässt, bevor wir weitergehen?“
 

„Klar.“ Es sah schon ein wenig bemitleidenswert aus, wie der Magier sich an das Feuer drängte. „Aber wenn ich mich nicht irre, sind Blumen in deiner Gegenwart nicht wirklich ein Anzeichen für den beginnenden Frühling.“ Er stützte seinen Kopf auf den angezogenen Knien ab. „Ich erinnere mich da an eine in allen Farben stehende Wiese inmitten eines verschneiten Waldes oder diverse Bäume.“
 

Dhaôma verzog den Mund. Er hatte sie nicht im Schnee erblühen lassen, das hätte sie unweigerlich umgebracht. Der Schnee war schon weg gewesen. Und er hatte sie auch nur ein wenig unterstützt. Was konnte er dafür, dass es hier oben noch nicht so weit war?

„Du hast Recht. Vielleicht sollte ich üben, damit ich in der Lage bin, den Frühling ganz zu rufen.“
 

Mimoun lachte herzhaft.

„Ich meinte nur, dass in deiner Gegenwart ständig etwas blüht, ob es die Zeit dafür ist oder nicht. Da ist es auch egal, wie lange diese Pflanzen leben.“

Er legte sich auf die Seite, stützte den Kopf mit der Hand ab und fixierte den Magier grinsend. Sah sicher lustig aus, wenn dieser vorwärts schritt und bei jedem Schritt Pflanzen und Blumen aus der Erde sprossen.
 

Schweigend sah Dhaôma ins Feuer. Jetzt machte er sich über ihn lustig. So wie seine Geschwister es immer getan hatten, sobald er Magie vor ihren Augen gewirkt hat. Blumenkind hatten sie ihn genannt. – Im Nachhinein betrachtet hatten sie offenbar Recht gehabt, auch wenn er sich darüber immer aufgeregt hatte.

„Ich mag die Blumen.“, meinte er nach einiger Zeit. Immerhin beschwerten sie sich nicht und sie lachten ihn auch nicht aus. Im Gegenteil. Sie hoben seine Laune und schienen ihn anzufeuern, mit ihnen zu strahlen. Vielleicht waren sie ihm ja dankbar für das, was er ihnen schenkte.
 

Mimoun richtete sich wieder auf. Er schwieg. Betroffen beobachtete er, wie der Magier sich abzuwenden schien. Als er schließlich sprach, waren seine Worte kurz und knapp und wie zur Rechtfertigung aufgesagt.

Der Geflügelte verstand nicht warum. Was hatte er gesagt, was sein Gegenüber so sehr verletzt haben konnte? Es war doch nur eine Tatsache, die er offenbart hatte. Doch vielleicht traf genau dies einen wunden Punkt in dem Magier? „Ich…“, begann er leise und brach wieder ab. Erneut an diesem Punkt rühren und sei es nur des Verstehens willen, war etwas, das er seinem Freund gerade nicht antun wollte. Doch eigentlich sollte er Bescheid wissen, damit er sich das nächste Mal vorsehen konnte. Oder?

„Erzählst du mir, was geschehen ist?“, fragte er ruhig, beinahe sachlich.
 

Irritiert runzelte der Junge die Stirn. Was geschehen war? Wann denn? Bevor er losgegangen war?

„Ai, es ist Frühling geworden auf der Wiese, bei der meine Höhle liegt. Ich habe mich gefreut und geholfen. Habe den letzten Rest Schnee entfernt, das trockene Gras zum Heizen genommen und Magie benutzt, um sie wachsen zu lassen. In dieser Hinsicht hattest du schon Recht.“
 

Es ging schon wieder los. Der Kerl wollte ihn wohl zeitweise nicht verstehen.

Sanft schüttelte Mimoun den Kopf und überlegte sich genau, wie er es richtig formulieren musste, damit Dhaôma nicht mehr mit sinnlosen Antworten ausweichen konnte. „Du wirktest… ich weiß nicht… verletzt, als ich gelacht hatte. Und ich verstehe nicht warum. Ich hatte nicht vor, dich zu verletzen, deshalb wüsste ich gern die genauen Umstände, um es in Zukunft vermeiden zu können.“
 

Dhaômas Gesicht wurde eine Maske. Nein, davon wollte er nicht erzählen. Das tat weh und waren keine schönen Erinnerungen, noch dazu erinnerte es ihn daran, warum er im Wald war, warum er es genoss, allein zu sein.

„Ich mag es nicht, wenn jemand meine Magie gering schätzt.“, sagte er deshalb nur.
 

„Verzeih, wenn es so rübergekommen ist. Das war nicht meine Absicht.“ Nun schien sich der Magier völlig verschlossen zu haben. Vielleicht war es im Augenblick das Beste, wenn er ihn in Ruhe ließ. Doch hier drin war zu wenig Platz, um ihm seinen benötigten Freiraum zu geben. Darum erhob er sich und strebte raus in den Regen.

„Du kannst dir jederzeit das Buch nehmen.“, rief er über die Schulter zurück, bevor er auf den nächst besten Baum sprang und wieder an die Spitze kletterte. Vielleicht konnten ihn die Notizen ein wenig ablenken.

Mimouns Gedanken torkelten unkontrolliert durch seinen Kopf. Ohne klare Richtung, ohne Sinn. Er wollte also nicht, dass seine Magie gering geschätzt wurde. Zeitgleich nahm er es aber auch nicht ernst, wenn Mimoun ihm das Gegenteil bestätigte. Zählte sein Wort so wenig? Als der Geflügelte am Feuer versagt hatte, hatte der Magier auch gelacht und damit die Fähigkeiten seines Begleiters als unwürdig abgestempelt. War das etwas anderes? Hätte er auch so reagieren dürfen? Obwohl. Dem Magier wäre das sicher auch in irgendeiner Form aufgestoßen.
 

Nachdenklich blickte Dhaôma Mimoun nach, als er ging. Hatte er das etwa nicht gemeint? Ob er ihn beleidigt hatte? Aber so hatte er nicht gewirkt. Eher, als wäre es egal. Sein Blick glitt zu der Tasche, in der das Buch war, doch er bewegte sich nicht, starrte stattdessen ins Feuer und in den Rauch.

Jetzt gerade fühlte er sich schrecklich. Und er konnte nicht beschreiben, warum, bis ihm nach einiger Zeit auffiel, dass das Feuer herunterbrannte. Das Feuer, das Mimoun gemacht hatte, obwohl er sich nicht drangesetzt hatte. Für ihn.

Genau in diesem Augenblick begriff er, was in ihm schwelte: Angst. Verlustangst und die Angst vor Einsamkeit.

Seitdem er ihn vor einem halben Jahr bei sich gehabt und sich um ihn gekümmert hatte, war das Alleinsein einsamer gewesen, auch wenn er es nicht bemerkt hatte, weil ihn der Gedanke ans Überleben davon abgelenkt hatte. Aber die Angst, dass er ihn jetzt, nachdem er wusste, was es hieß, wirklich ganz alleine und auf sich gestellt zu sein, verlieren konnte, weil er nicht genügte, brannte in ihm wie dieses Feuer vor ihm. Es versengte seine Eingeweide, brannte wie Säure in seinem Magen.

Der Hanebito durfte nicht bemerken, dass er eigentlich schwach war, sonst würde er sicher gehen. Er hatte doch selbst gesagt, dass er nur hier war, weil alle glaubten, dass er bei ihm in Sicherheit war. Er wollte nicht, dass Mimoun ihn nicht mehr leiden konnte. Er wollte ihn nicht mehr verlieren.

„Alles, nur das nicht.“, wisperte er und vergrub das Gesicht in den Armen.

Nach einiger Zeit strahlte das Feuer kaum noch Wärme ab. Die Glut existierte noch, aber da es draußen auch immer noch regnete, war die Wahrscheinlichkeit, trockenes Holz zu finden, relativ gering. Schon gar nicht, ohne nass zu werden.

Gedankenverloren tippte Dhaôma einen Samen an, der zwischen den Nadeln am Boden lag. Ein kurzes Glühen, ein leises, knackendes Geräusch und aus dem Samen quoll ein Keim, wuchs und bildete Nadeln und eine Wurzel. Aber es war nicht das gleiche. Dieser kleine Baum konnte nicht das Gefühl ersetzen, das Mimoun ausmachte, die Präsenz eines denkenden Wesens.
 

Stumm und mit geschlossenen Augen lauschte der Geflügelte dem Regen. Sobald dieser aufhörte, wollten sie eigentlich weiter ziehen, doch für heute konnten sie das wohl vergessen. Der Tag neigte sich dem Ende zu und noch immer war kein Ende in Sicht.

Als ihm langweilig wurde, begann er die Spitze des Baumes Nadel für Nadel zu rupfen, doch auch das brachte ihn nicht auf andere Gedanken und er ließ es schnell wieder sein. Auch die kleine Schule Hirsche, die in größerer Entfernung vorbeizog, konnten ihn nicht ablenken. Sie hatten noch Fleisch und außerdem lag sein Bogen noch unten im Unterschlupf. Und ein wenig fliegen zum Training war bei diesem Wetter kaum möglich.

Ob er sich wieder dort blicken lassen konnte? Ob sich der Magier wieder ein wenig erholt hatte? Dennoch wartete der Geflügelte noch bis zum allerletzten Zeitpunkt, an dem er noch genug Helligkeit für seinen gewohnten Abstieg von einem Baum hatte. Zögerlich näherte er sich dem Unterschlupf, trat aber noch nicht ein. Sein Blick suchte nach dem Magier und besah ihn sich genau.

Dieser hockte noch immer vor dem längst heruntergebrannten Feuer. Neben ihm befand sich ein mittlerweile fast hüfthohes Bäumchen. Mimoun trat nun doch ins Trockene und besah sich misstrauisch die Stelle, an die das Gewächs im Laufe der nächsten Jahre oder Stunden, je nachdem, wer daran weiterarbeitete, stoßen würde. Der Geflügelte zuckte mit den Schultern. Ihm konnte es egal sein.

Noch immer wortlos betrachtete er sich den Magier. Dieser schien sich in der ganzen Zeit nicht von der Stelle gerührt zu haben. Und es schien ihm nicht wirklich besser zu gehen. Noch immer hockte er in seine Decke gehüllt da und piekste mit traurigen Augen den Baum an, der daraufhin noch einmal ein wenig an Größe zulegte. Doch was sollte der Geflügelte nun tun? Der Magier wollte ja nicht mit ihm reden oder sich helfen lassen.

Mimoun grinste leicht. Helfen lassen… Ob er es mal über diesen Aspekt versuchen sollte?

„Manchmal hilft es, darüber zu reden.“, bot er an.
 

Dhaôma sah erschrocken auf. Er war so tief in Gedanken gewesen, dass er ihn gar nicht bemerkt hatte.

Er sollte tatsächlich reden. „Ich will nicht, dass du gehst und mich alleine lässt.“, platzte es aus ihm heraus.
 

„Hatte… hatte ich nicht vor.“, stotterte Mimoun. Dieser Junge vor ihm sah mit verzweifelten Augen zu ihm auf und er wusste nicht, was er tun sollte. Er wusste nicht einmal, wie Dhaôma nun auf diese Idee gekommen war. Nur weil er den Nachmittag über weg gewesen war? Nur weil er gedacht hatte, der Magier brauche einige Zeit für sich?

Umständlich kniete er sich vor ihn. „Dhaôma.“, sagte er ernst und sah dem jungen Magier direkt in die Augen. „Hör mir gut zu. Ich verspreche dir, dass ich dich zu den Drachen bringe. Ich verspreche dir, dass ich dir helfe, diesen Krieg zu beenden, wenn es dein Wunsch ist. Du hast mein Wort, dass ich dich niemals allein lasse. Nur aus diesem Grund bin ich wieder zu dir gekommen. Damit du nie wieder allein sein musst.“
 

Mit offenem Mund lauschte der Junge den Worten, bevor er lächelte. Breit, glücklich, sein ganzes Gesicht hellte sich auf. Am liebsten hätte er ihn umarmt oder etwas in die Richtung, aber er traute sich nicht. „Danke.“ Und es kam aus tiefstem Herzen.

Wegen ihm war er gekommen. Damit er nicht mehr alleine war? „Woher wusstest du, dass ich alleine war?“, wollte er schließlich schüchtern wissen.
 

Erleichtert atmete der Geflügelte auf. Nun schien es dem Jungen wieder besser zu gehen. Die dunklen Gedanken schienen fürs Erste vertrieben zu sein. Doch niemand konnte vorhersagen, wann und unter welchen Umständen sie zurückkehren würden.

„Na ja.“, begann er vorsichtig. Nicht dass er schon wieder was Falsches sagte. „Du hast mir über Umwege mehrfach deutlich gemacht, dass deine Familie dich nicht leiden kann. Du hast versucht, dich mit dem Feind anzufreunden. Was glaubst du, wieso ich auf so eine Idee kommen konnte?“
 

Das stimmte. Dhaôma hatte ihm von seiner Familie erzählt. Er hatte es nur vergessen.

Aber eine Sache stimmte nicht. „Ich habe nicht versucht, mich mit einem Feind anzufreunden. Ich meine, ja, ich habe versucht, mich mit einem Geflügelten anzufreunden, aber das liegt nicht daran, dass du… ihr meine Feinde seid.“ Er kratzte sich am Kopf. „Ich war nur neugierig, wie ihr wirklich seid.“ Und dann erschrocken, weil er das Gefühl hatte, etwas Ungünstiges gesagt zu haben: „Aber ich will trotzdem mit dir befreundet sein!“
 

Mimoun lachte kurz auf.

„Das weiß ich doch.“, beschwichtigte er. „Aber wieso hätte ich dir auch damals glauben sollen? Du bist ein Magier. Ohne Nachzudenken oder auf Hinweise zu achten, hab ich dich einfach über längere Zeit als Feind bezeichnet, nur weil ich es so gelernt hatte. Aber lassen wir die Vergangenheit ruhen. Es ist gut so, wie es gekommen ist.“ Er erhob sich. „Wir sollten uns schlafen legen. Wenn wir Glück haben, hört der Regen morgen auf und dann können wir zeitig los. Dafür müssen wir ausgeruht sein.“ Kurz zuckte er mit den Achseln. „Und wenn nicht, sollte ich vielleicht noch Holz sammeln, dass es morgen früh wenigstens ein wenig trockener ist.“
 

„Nicht, dass du krank wirst, wenn du ständig nass bist.“, erwiderte Dhaôma, aber dann schüttelte er den Kopf. „Ich kann den Ölbaum auch hier wachsen lassen. Der schützt vor dem Regen. Und es ist besser, wenn wir weitergehen. Bewegung vertreibt die Kälte.“
 

Ein amüsiertes Funkeln trat in seine Augen, als ihm eine Idee kam, doch er verwarf sie schnell wieder. Dhaôma würde es ihm einerseits übel nehmen, andererseits reagierte er empfindlicher auf Kälte. Also machte er sich etwas abseits daran, den Regen aus den Haaren zu schütteln und sich das Wasser von den Kleidern zu streichen. Es war nicht mehr viel, was sich entfernen ließ, schließlich hockte er ja schon einige Augenblicke im Trockenen, aber besser als nichts.

Danach suchte er zusammen, was sie noch an Nahrung hatten und begab sich damit zu Dhaôma, reichte ihm das Bündel nachdem er sich selbst etwas genommen hatte. Obwohl der Magier es hätte holen können. Wäre ihm vielleicht warm geworden. Oder der Weg wäre zu kurz dafür. Egal. Ließ sich nicht mehr ändern.
 

Sie aßen, danach gingen sie schlafen. Wieder fiel es Dhaôma schwer, einzuschlafen, aber diesmal, weil ihn Gedanken beschäftigten. Über Freundschaft und die Tatsache, dass er nicht mehr alleine war. Gute Absichten, aber was sollte er tun, wenn Mimoun sich anders entschied, so wie sie sich früher alle anders entschieden hatten?

Der letzte Gedanke an diesem Tag war, dass er sich bemühen würde, schneller zu lernen, damit sein Begleiter in Zukunft weniger Probleme mit ihm hatte. Dazu gehörte, dass er sich auf ihn verließ und sich nicht mehr über Dinge aufregte, die dieser sagte. Und er würde sich nicht mehr dagegen wehren, wenn er helfen wollte. So wie er ihn heute das Feuer selbst machen ließ. Es hatte zumindest so gewirkt, als hätte es ihm gefallen.
 


 


 

Every time, the rain comes down

Close my eyes and listen

I can hear the lonesome sound

All the sky, as it cries
 

Feel the touch of tears that fall

They won't fall forever

In the way, the day will flow

All things come, all things gone
 

[Enya]

Der erste Hinweis

Kapitel 12

Der erste Hinweis
 

Am nächsten Tag hatte der Regen aufgehört und sie gingen weiter. Der Boden war zu Anfang glatt und wurde mit zunehmendem Tag matschig und schlüpfrig, aber das hielt sie nicht auf. Dhaôma fand es spaßig, sich auf den Beinen zu halten, während der Hang eigentlich der Meinung war, dass es unten viel schöner war und man seinen Besuchern doch helfen sollte, dorthin zu gelangen. Sein Rekord waren sechs Schritt in einem schlittern. Geradeaus, denn bergab wollten sie noch nicht. Das kam erst am Nachmittag und am Abend befanden sie sich bereits wieder im Aufstieg. Ein neuer Berg, den sie umrunden würden, ein neues Ziel, dem sie folgten. Hier waren die Bäume keine Nadelbäume sondern Eichen, die noch immer ihr altes Herbstkleid trugen. Obwohl um sie herum Pflanzen sprossen.

Sie suchten sich eine kleine Kuhle, die dank geologischer Besonderheiten trocken war, und schlugen ihr Lager auf. Das Fleisch war nun endgültig alle. Entweder jagten sie am nächsten Morgen oder Dhaôma kümmerte sich darum, doch bevor er dieses Thema anschneiden konnte, donnerte es in einiger Entfernung.

„Da, hörst du? Eine Lawine.“ Unwohl blickte der Braunhaarige in die Dunkelheit hinaus.
 

Mimoun merkte auf. Auch er hörte dieses entfernte Grollen. Es verursachte Unruhe in ihm, obwohl die Ursache nicht in ihrer Nähe war. Dass es dem Magier nicht besser erging, vereinfachte die Sache auch nicht. Sie mussten Acht geben. Nun im Frühling würden sich vor allem in den höheren Gebieten sicher reihenweise Schneebretter lösen und ins Tal rauschen. Er wusste nicht, was geschah, sollten sie unter solch eine Lawine geraten.

„Meinst du, es bringt etwas, wenn zur Sicherheit immer einer wach wäre?“, fragte er zögerlich.
 

Den Kopf schüttelnd, aß Dhaôma weiter. Und weil er sich vorgenommen hatte, seine Gedanken auszusprechen, damit Mimoun ihn in Zukunft besser verstand, erklärte er: „Wir würden höchstens weglaufen, bevor sie uns kriegt. Nein. Wir brauchen in Zukunft einen Unterschlupf, wo uns der Schnee nicht direkt erreichen kann. Selbst wenn der Eingang einer Höhle verschüttet wird, kommen wir da leichter wieder heraus, als wenn uns das Gewicht zu Boden drückt und die Luft wegnimmt.“
 

Mimoun schüttelte sich. Unter dem Schnee gefangen zu sein, war eine furchtbare Vorstellung. „Das klingt ja fast so, als wüsstest du es aus Erfahrung.“ Kurz stockte er und eine dunkle Erinnerung streifte durch seine Gedanken. Fast erschrocken wandte er sich Dhaôma zu. „Du hattest so etwas schon einmal erwähnt, wenn ich mich nicht täusche. Du warst schon einmal unter dem Schnee gefangen, nicht wahr?“
 

„Ja.“, bestätigte der Junge lapidar. „Deshalb werden wir das schön vermeiden. Ab morgen werden wir bei hohen Bäumen schlafen, die den Schnee fangen können, oder in Höhlen oder hinter großen Felsen. Zu dumm, dass wir diesmal kein solches Glück hatten.“
 

„Also ich find schon, dass wir Glück hatten. Die Lawine hätte auch genauso gut hier runtergehen können.“ Mit einem erneuten Schütteln beendete er sein Mahl. Für heute lohnte es sich nicht mehr, einen neuen Unterschlupf zu suchen. Sie mussten einfach hoffen. „Ich leg mich schlafen.“, kündigte der Geflügelte an und rollte sich genau dort, wo er saß, einfach zusammen.
 

Dhaôma nickte. Er hatte es vergessen, dass so etwas passieren konnte. Für ihn war schon Frühling, warum sollten da Lawinen kommen? Aber sie waren in den Bergen. Hier kannte er sich nicht aus. Und wenn hier die Gefahr von Lawinen noch im Frühling ausging, dann war das so. Vor allem, weil der Schnee taute. Wenn das Eis verschwand, konnte es auch nichts mehr halten.

Sie hatten wirklich Glück gehabt. Blieb nur zu hoffen, dass das auch so blieb.
 

Am nächsten Tag machten sie genau aus diesem Grund schon früher Rast. Sie hatten ein kleines Wäldchen gefunden, welches durch ein wenig Magie einen wundervollen Schutz gegen Lawinen bieten würde. Und weil es Mimoun leid war, noch mehr Gemüse zu essen, machte er sich auf die Jagd. So verbrachten sie dort einen weiteren Tag, um die Beute haltbar zu machen und sich ein wenig zu erholen.

Mit jedem weiteren Tag, drangen sie tiefer ins Gebirge vor.
 

Mimoun verzichtete in dieser Zeit fast völlig aufs Fliegen. Nur wenn er auf Bäumen nach einem einfacheren Weg gen Gipfel Ausschau hielt oder wenn er Dhaôma bei der Jagd half, nutzte er seine Flügel. Von oben war Wild einfacher zu entdecken. Dennoch entschied er für sich, dass Laufen dennoch niemals zu seiner Lieblingsbeschäftigung werden würde.

Durch den Frühling, der auch in dieser Gegend langsam Einzug hielt, löste sich der Schnee fast völlig auf. Nur hier und da an dunklen, geschützten Ecken fanden sich kleine, hartnäckige Reste, aber auch die verschwanden schließlich. Und der Magier brauchte kaum noch nachhelfen. Überall schossen kleine Blüten aus dem Boden und erfreuten die Welt mit ihrer Farbenpracht.

Doch das, wonach sie wirklich suchten, ließ sich nirgends entdecken. Egal wie weit sie auch ins Gebirge vordrangen, an keinem Ort ließ sich der kleinste Hinweis auf Drachen finden. Kein Fußabdruck oder sonst eine Spur, wohin sie auch kamen. Und es ließen sich erst recht keine am Himmel blicken.

Fast schon entmutigt ließ sich Mimoun am Ende eines Tages auf einen Felsen sinken. Sein Blick fixierte den höchsten Gipfel, dem sie schon deutlich näher gekommen waren. Doch so wirklich daran glauben, dass sie doch noch auf Drachen stoßen würden, konnte er nicht. Die beiden Suchenden hätten sonst schon längst einen Hinweis entdecken müssen.

„Möchtest du weiterhin durch das Gebirge irren? Ich glaube nicht, dass unsere Suche hier ein Ende haben wird. Nirgends eine Spur. Und ehrlich? Ich bin es langsam leid bergauf, bergab zu latschen.“, fragte Mimoun vorsichtig an.
 

Auch Dhaôma zweifelte inzwischen, aber das konnte er sich nicht anmerken lassen. Wenn er wirklich Drachen finden wollte, musste er Vertrauen haben. Und die Bücher waren ja auch nicht umsonst geschrieben worden.

Aber während sein Buch davon handelte, wie Drachenreiter lebten, erzählte Mimouns davon, wie jemand erfolglos nach Drachen gesucht hatte. Er hatte etwas davon geschrieben, dass sie ausgestorben waren, weil er nur noch letzte Überreste vorgefunden hatte. Es war entmutigend gewesen, aber letztlich hatte er das Buch einfach zugemacht und sich gesagt, dass dieser Autor einfach nicht gut genug auf der Suche gewesen war. Da sie zu zweit waren, konnten sie Hinweise nicht so leicht übersehen. Zumal sie am Boden vorwärts zogen und nicht wie der Autor in der Luft.

„Lass uns noch bis zum Gipfel da hoch gehen.“, deutete der Junge in die von Wolken verhangenen Berge. „Es sind doch nur noch zwei Berge bis zum höchsten. Und wenn wir schon keine Drachen finden, kannst du später wenigstens behaupten, das Gebirge durchquert zu haben, und das nur auf deinen Füßen.“
 

Mimoun ließ sich nach hinten kippen und lag nun auf dem Felsen, was mit der Zeit unangenehm wurde, da er sich dabei weit nach hinten bog. Doch das war gleich. „Hab ich schon mal erwähnt, dass ich Laufen hasse?“, umschiffte er geschickt die Tatsache, dass ihn so etwas nicht im Ansatz interessierte. Was brachte ihm dieser Umstand? Abgesehen von Blasen und Schmerzen? Nichts, rein gar nichts.
 

„Ja.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Trotzdem tust du es. Und ob du willst oder nicht, ich denke, es ist eine Leistung, auf die du stolz sein kannst, gerade weil du nicht gerne läufst.“ Er grinste ihn an. „Du kannst auch versuchen, hinüber zu fliegen. Das ist sicher kürzer, als die Strecke im Zickzack zu laufen.“ Und ein wenig leiser und wieder schüchtern fügte er an: „Ich will daran glauben, dass du irgendwann wieder richtig fliegen kannst, so wie deine Schwester. Vielleicht brauchst du nur mehr Übung.“
 

Mimoun schwieg dazu und starrte zu den Wolken hinauf. Mehr Übung? Er schnaubte verächtlich. Er hatte fast den ganzen Winter über trainiert, aber mittlerweile spürte er bei seinen Flügen keine Verbesserung mehr. Er war auf einem gewissen Stand seiner neu gewonnenen Fähigkeiten einfach stehen geblieben.

Seine Finger glitten zu dem Anhänger um seinen Hals und er lächelte versonnen. Der Magier war wirklich herzensgut, wenn er sogar an so was glaubte. Aber dieser suchte sich für seine Träume immer die unmöglichsten Sachen aus. Drachen, ein Ende des Krieges, ein richtiger Flug des behinderten Geflügelten. Und doch wünschte er sich insgeheim, dass sich die Träume Dhaômas doch erfüllen würden. Er wünschte es sich, aber er glaubte nicht daran.

„Du bist lieb.“, seufzte Mimoun und ließ sich von seinem Felsen auf den bequemeren ebenen Grund gleiten.
 

Mitleidig betrachtete Dhaôma seinen Freund, dann machte er sich auf die Suche nach Essbarem, das er wachsen lassen konnte.

Sie brauchten noch drei Tage, um den Leitwolf der Wolfsberge zu erreichen und es war wirklich ein unglaublicher Anblick. Schon auf halber Strecke den Hang hinauf wurde aus dem Wald mit seinen Wiesen und Lichtungen eine nahezu unüberwindbare Geröllhalde mit beinahe senkrechtem Anstieg. Es würde eine Kräfte zehrende Strecke werden und Dhaôma überlegte fieberhaft, ob es das wert war. Sie hatten noch immer keine Drachen gesehen und dort hochzuklettern war gefährlich. Gerade mit all dem Gepäck. Aber vielleicht war es genau der Grund, warum die Drachen dort oben lebten: damit sie niemand so leicht finden konnte. Aber warum flogen sie dann nicht herum?

„Das wird anstrengend.“, murmelte der braunhaarige Magier und strich sich die Haare zurück. „Vielleicht sollten wir uns einen kleinen Fluss suchen, der die Felsen wenigstens ein bisschen weniger steil geschliffen hat.“
 

Auch der Geflügelte betrachtete sich die vor ihm liegende Strecke mit gerunzelter Stirn.

„Ich sehe mich kurz nach einer Möglichkeit um.“, sagte Mimoun und legte all seine Sachen ab, um möglichst leicht zu sein. Mit einem kräftigen Sprung stieß er sich ab und gewann rasch an Höhe. Sein Blick glitt suchend über das Geröll, doch in der unmittelbaren Umgebung ließ sich kein geeigneter Weg finden. So zog ihn sein Flug gen Mittag am Rand der Geröllhalde entlang. Doch alles, was sich änderte, war der Grad der Steigung. Kopfschüttelnd machte er sich auf den Rückflug und sah sich noch ein wenig in der anderen Richtung um. Mit ebenso ernüchterndem Ergebnis.

Kopfschüttelnd landete er neben dem Magier und berichtete ihm von seinen Beobachtungen. „Ich könnt die Sachen tragen. Das würde es für dich einfacher machen.“, schlug er vor und atmete erst einmal tief durch.
 

„Ja und für dich schwerer.“ Dhaôma schüttelte den Kopf. Er wollte kein zweites Mal sehen, wie Mimoun abstürzte. „Ich schaff das schon. Meine Sachen insgesamt wiegen nicht so viel wie du.“ Und ihn hatte er schließlich auch schon mal eine Klippe hochgestemmt.

Schon vorher hatte er sich von unten eine Strecke überlegt, die einfacher als die anderen aussah, jetzt strebte er darauf zu und setzte den Fuß an. Sein Rucksack störte nicht, der Proviant war fast alle und sein Schlauch nur noch halb voll. Besser ging es nicht. Störend war der Umhang und er ließ noch einmal los, um einen Knoten hinein zu machen.
 

Ergeben zuckte Mimoun mit den Schultern und nahm seine Sachen wieder an sich. Stück für Stück flog er voraus und testete einzelne instabil aussehende Felskombinationen auf tatsächliche Beschaffenheit. Im Notfall lotste er seinen Begleiter an solchen Gefahrenquellen vorbei.

Auf halber Strecke suchte er sich stabiles Geröll und legte dort eine Pause ein. Mitfühlend sah er zu Dhaôma hinunter. Dieser hatte es bedeutend schwerer, schließlich kletterte er die gesamte Strecke den Geröllhang hinauf. Sein Blick glitt über die Strecke, die noch vor ihnen lag.
 

Als Dhaôma ihn erreichte, legte er sich einfach daneben. „Drachen haben’s gut.“, keuchte er. „Und du auch.“ Erschöpft schloss er die Augen und war innerhalb von Sekunden einfach eingeschlafen. Im Laufe der letzten Zeit hatte er sich daran gewöhnt, in der Nähe des Geflügelten zu schlafen. Es beruhigte ihn sogar.
 

Das glaubte ihm Mimoun gerne. Und so bedachte er den schlafenden Jungen nur mit einem sanften Lächeln. Vorsichtig erhob er sich, zog leise die Decke aus Dhaômas Gepäck und legte sie über ihn. Der Magier fror immer so schnell und hier auf offener Fläche fast an der Spitze des höchsten Berggipfels musste es für ihn ziemlich kalt sein.

So erschöpft, dass er am liebsten schlafen würde, war er nicht, doch er lehnte sich gegen einen Felsen und döste ebenfalls.

Zwei Stunden später befand der Geflügelte, dass es genug Pause war. Auch wäre es unklug, die Nacht, die früher oder später hereinbrechen würde, auf einem unsicheren Geröllfeld zu verbringen. Sanft schüttelte er den Magier an der Schulter.

„Komm. Dann schaffen wir es heute noch hoch.“
 

Gähnend setzte dieser sich auf, blickte sich einmal um und nickte dann. Die Decke glitt von seinen Schultern und er blickte verwirrt auf sie hinab, bevor er zu lächeln begann. Wenn er es nicht gewesen war, der sich die Mühe gemacht hatte, die Decke herauszuholen, musste es Mimoun gewesen sein. So lieb!

Jetzt richtig wach, verstaute er die Decke wieder und grinste den anderen an. „Weiter geht’s. Ich wollte doch gar nicht schlafen.“ Uh, seine Arme taten bei jeder Bewegung weh. Nicht schön.
 

„Aber es hat dir gut getan.“, befand der Geflügelte und ohne auf eine Reaktion zu warten, drehte er sich um und flog schon ein Stückchen voraus. Wieder sicherte er den Weg für den Magier ab und suchte einfach zu begehende Wegstücke. Doch die Gefahrenquellen nahmen ab, je höher sie stiegen, da wahrscheinlich frühere Abgänge nur noch die fest blockierten Brocken übrig gelassen hatten. Und so entschloss sich Mimoun oben auf den Magier zu warten. Nach einem kurzen Hinweis an den Kletterer flog er dem Gipfel entgegen.

Federleicht landete er am Rand eines leicht abgesenkten Plateaus. Sein Blick schweifte über das Gebiet und in Mimoun krampfte sich alles zusammen. Sie hatten Drachen gefunden. Doch was sich hier zeigte, glich einem Friedhof. Überall waren nur Knochen und ein oder zwei halbverweste Leichen. Langsam schritt er auf einen der Schädel zu und strich vorsichtig über die Schnauze während sein Blick über die einzelnen Knochen wanderte. Das würde dem Magier ganz und gar nicht gefallen.
 

Dhaôma brauchte wesentlich länger und verfluchte sich dafür, dass er nicht auch als Geflügelter geboren worden war. Als er oben ankam, legte er sich erstmal flach auf den Rücken, atmete tief durch und sah in den blasser werdenden Himmel. Die Dämmerung stand kurz bevor. Zum Glück hatte er es rechtzeitig geschafft. Seine Muskeln brannten vor Schwäche und Überanstrengung. Recht viel länger hätte er das nicht mehr durchgehalten!

Er setzte sich wieder auf, um sich nach Mimoun umzusehen, und erstarrte. Erst wurden seine Augen groß, dann sprang er auf. Das konnte nicht sein! Ein paar hastige Schritte und er stockte wieder, strauchelte.

Knochen. Wo er hinsah, Knochen. Ungewöhnliche, riesenhafte Knochen. Von Drachen? Waren sie etwa alle tot? Alle tot? Keiner mehr übrig?

Der Junge spürte die Tränen aufsteigen, aber er konnte nichts mehr dagegen tun, als er wieder auf die Knie sank. Und zu allem Überfluss beschloss die Sonne just in diesem Moment unterzugehen und tauchte damit die Szene in ein brennendes, verstörendes Rot.
 

Mimoun war in der Zwischenzeit durch die Knochenberge gestreift. Flügel, an denen Reste von Haut klebten, einzeln herumliegende Zähne, zersplitterte Knochen. Die Schädel waren von unterschiedlicher Größe und Form, mit Hörnern oder ohne.

Als sich die Sonne von dieser grausigen Szene abwandte, machte sich der Geflügelte auf zu der Stelle, an welcher der Magier hier herauf kommen musste. Sein Schritt stockte, als er diesen bereits hier oben im Staub knien sah. Dieser Anblick musste für ihn ein größerer Schock gewesen sein als für Mimoun, der sowieso nicht damit gerechnet hatte, noch auf lebende Drachen zu stoßen. Zögerlich trat er näher und hockte sich neben Dhaôma. Doch was sollte er sagen? Was konnte er tun, damit der Magier nicht völlig in die Verzweiflung abrutschte?

„Komm mit.“, sagte er leise und zog den Jungen an der Hand hinter sich her zu einem der noch nicht skelettierten Kadaver. „Siehst du. Dieser ist noch nicht lange tot. Vielleicht…“ Er stockte. Was sollte er auch sagen? Du hast den Untergang dieser Rasse um wenige Wochen verpasst? Besser nicht. „Du hattest doch mehrere Hinweise. Gib wegen so etwas nicht auf.“
 

Durch den Tränenschleier in den Augen nahm Dhaôma eigentlich nur den entsetzlichen Geruch von Verwesung war, sobald sie den Friedhof betraten. Ihm wurde schlecht. Sie konnten von Glück sagen, dass es hier oben so kühl war. Er wollte gar nicht wissen, was hier im Sommer für ein Geruch herrschte.

Mit einer fast weichen Bewegung entzog er sich dem Geflügelten und wich zurück, bevor er sich umdrehte und zurück zum Rand der Knochenhalde strebte. Er trank ein paar Schlucke Wasser, dann zog er die Beine an den Körper und sah der Sonne dabei zu, wie sie irgendwo hinter den Bergen versank.

Er war überfüllt mit Gedanken und diese stritten darum, wer als erster zu Ende gedacht wurde, so dass es schien, als wäre sein Kopf vollkommen leer. So viele Fragen, keine Antworten. Die Sonne verschwand, es wurde kalt und hölzern machte sich Dhaôma daran, seinen Umhang zu entknoten und die Decke rauszuholen.

„Mimoun, ich will ans Große Wasser. Vielleicht leben sie da noch.“ Immerhin hatte das Buch davon gesprochen, dass es auch dort Drachen gab.
 

Dhaôma wirkte völlig neben sich, wie er zum Rand strebte und mit steifen Bewegungen rumhantierte. Doch er schien noch nicht völlig aufgegeben zu haben, stellte Mimoun mit einer Spur von Erleichterung fest. Jetzt galt es nur zu überlegen, wie sie weiter vorgehen sollten.

Sein Blick glitt über das Plateau und folgte der untergegangenen Sonne. Bei Dunkelheit abzusteigen kam einen Selbstmord gleich. Also mussten sie die Nacht hier verbringen. Das behagte ihm gar nicht. Der Magier sollte diesem deprimierenden Anblick lieber nicht länger als nötig ausgesetzt werden. Doch das ließ sich nun nicht mehr ändern.

Mimoun legte sich ganz dicht neben Dhaôma zur Nachtruhe, versuchte diesem durch seine bloße Anwesenheit ein wenig Trost zu spenden. Doch schlafen konnte er nicht. Zu viele Gedanken streiften durch seinen Geist. Er rief sich noch einmal die Karte ins Gedächtnis, um den einfachsten Weg zum Wasser zu finden, doch zu sehr lenkte ihn der Ort ab, an dem sie nun übernachten mussten. Die Gebeine unzähliger Kreaturen mahnten wie stumme Zeugen.
 

Es war kalt, da half es auch nicht, dass er viele Decken hatte und Mimoun den Wind ein wenig abschirmte. Aber es half dabei, nachzudenken. Nacheinander kehrten all die Gedanken zurück, die er vorher einfach nicht hatte beachten können.

Warum waren hier so viele tote Drachen? Sie lagen nicht nebeneinander, als wären sie gleichzeitig an einer Krankheit oder so gestorben, sondern durcheinander. Als hätte es einen Kampf gegeben. Aber das ergab keinen Sinn, denn warum waren dann einige noch nicht ganz verwest? War es vielleicht doch eher so, dass sie nacheinander gestorben waren? Aber was suchten sie hier oben, dass sie dafür das Risiko eingingen, zu sterben? Und warum starben sie überhaupt? Selbst er konnte hier oben existieren, auch wenn die Luft dünn war und kalt. Und Drachen, die ja fliegen konnten, sollten das erst recht aushalten.

Es blieb eigentlich nur eine Möglichkeit: Sie kamen her, um zu sterben.

Davon hatte in dem Buch nichts gestanden. Und er konnte sich auch nicht vorstellen, was einen Drachen dazu bewegen könnte, zum Sterben an einen bestimmten Ort zu gehen. Oder war es vielleicht wie bei den Lachsen? Dass sie starben, sobald sie Eier abgelegt hatten? War das hier vielleicht ihr Nest?

Es war eine unruhige Nacht für ihn, aber sobald die Sonne den Himmel wieder golden färbte, stand er auf und suchte nach Hinweisen auf Drachengelege. Doch wohin er auch ging, wie sehr er sich zusammenriss, um sich den verwesenden Leichen zu nähern, er fand keine Dracheneier. War es nicht ihr Nest? Oder waren die Eier vielleicht irgendwie getarnt?

Seufzend kehrt er zu seinem Begleiter zurück.
 

Mimoun war erst spät zur Ruhe gekommen und eigentlich wollte er auch zeitig wieder auf sein, um diesen Ort so schnell wie möglich verlassen zu können, doch als der Schlaf nun langsam von ihm abfiel und er sich gähnend reckte, sah er den Magier nicht mehr neben sich. Nun hellwach, sprang er auf und sah er sich hastig nach diesem um. Nur wenige Schritte von ihm entfernt sah ihn zwischen den Knochenbergen auf sich zustreben.

Wieder ruhiger setzte sich der Geflügelte hin und kramte in den Taschen nach dem Frühstück. Ein wenig sollten sie sich stärken, bevor sie sich an den Abstieg machten. Auch wenn dieser Anblick nicht unbedingt Appetit anregend wirkte. Fragend hielt er seinem Begleiter etwas davon hin. Zwingen konnte er ihn nicht dazu. Dhaôma musste es selbst wissen.
 

Dankend nahm der Junge an, setzte sich im Schneidersitz vor ihn und sah über das Knochenfeld der Sonne entgegen. „Was denkst du, warum sie hier gestorben sind?“, fragte er leise. „Es gibt keine Anzeichen darauf, dass sie hier gelebt hätten. Es gibt auch keine Knochen von anderen Tieren, soweit ich das beurteilen kann.“
 

Völlig verblüfft starrte der Geflügelte sein Gegenüber an und war nicht fähig zu antworten. Da glaubte er, dass der Magier noch völlig durch den Wind war wegen dieser Entdeckung, da suchte er nach Erklärungen und die Szene hinter ihm schien ihn fast kalt zu lassen.

Ratlos zuckte er mit den Schultern.
 

„Ich denke, dass sie dafür einen Grund haben. Aber hier leben sie nicht. Das heißt, sie sind nicht ausgestorben, sondern leben irgendwo anders. Und diesen Ort werden wir finden. Vielleicht können wir dann herauskriegen, warum dieser Ort hier existiert.“

Dhaôma schenkte seinem Freund ein weiches Lächeln. „Du willst nicht hier bleiben, nicht wahr? Da hinten entspringt eine Art Quelle. Sie fließt dorthin, wo die Sonne niemals steht, also Richtung Blauer Mond. Du hattest doch gesagt, dass das große Wasser irgendwo in der Richtung liegt, nicht wahr?“
 

Mimoun schüttelte lächelnd den Kopf. Emotional schien dieser Junge nie Ruhe zu finden. Ständig sprang er zwischen Freude, Leid, Verzweiflung, Glück und anderem hin und her und das innerhalb weniger Augenblicke. Dieser Magier war echt ein Phänomen.

Der Geflügelte stopfte sich die letzten Reste seines Frühstücks in den Mund und wischte sich hastig die Finger an der Hose ab, bevor er in seiner Tasche nach der Karte zu kramen begann. Vorsichtig faltete er sie auf und bettete sie auf seinen Knien, um sie nicht mit dem dreckigen Boden in Kontakt kommen zu lassen. Dann besah er sich den Stand der Sonne und richtete sowohl sich als auch die Karte in die Richtung des Blauen Mondes aus. Noch einmal prüfte er nach und nickte dann zufrieden. Nun besah er sich die Karte genauer und fuhr mit dem Finger einige Punkte entlang. Die Schlucht, die ebenfalls in Frage kam, befand sich zwar nicht auf direktem Wege zum großen Wasser, doch es würde auch keinen allzu großen Umweg bedeuten. Noch immer kauend tippte er fragend auf die Stelle auf der Karte.
 

Dhaôma hatte noch immer nicht den Bogen raus, wie man so eine Karte richtig las, aber wenn er jetzt von oben nach unten über das Land blickte, verstand er einigermaßen, wovon Mimoun gesprochen hatte. Sein Finger folgte der seltsamen Struktur, auf die der Schwarzhaarige zeigte, dann schlängelte er sich bis zum Meer.

„Und wo sind wir jetzt?“
 

„Hier.“ Mimoun umkreiste das Gebiet auf der Karte. „Das sind die Wolfsberge. Wir müssten uns in etwa in dieser Region aufhalten.“ Er grenzte das Gebiet noch weiter ein, indem er auf eine ganz bestimmte Stelle innerhalb der Berge tippte.
 

Nachdenklich nickte Dhaôma und suchte wieder den Punkt auf, den ihm Mimoun als erstes gezeigt hatte. Wenn man von dort aus genau zu den Bergen ging, musste man sich nach Sonnenaufgang wenden. Bedeutete es nicht, dass sie wieder ein Stückchen zurück mussten?

„Zeig mir, wo die Karge Zone ist. Und wo der Wald, in dem wir uns getroffen haben. Und wo deine Schwester uns überrascht hat. Ist die Schlucht der gleiche Punkt, wie der da?“ Wieder tippte er auf die längliche Struktur.
 

Nachdenklich überflog Mimoun die Karte und kramte in seinen Erinnerungen.

„Wenn ich mich nicht allzu sehr irre, befand ich mich zu der Zeit des Angriffs etwa in diesem Bereich. Und wir bewegten uns bei der ersten Reise etwa in diese Richtung.“ Zögerlich fuhr er den Weg, den sie wahrscheinlich genommen hatten, nach. Tippte wieder auf den ersten Punkt und zog den Weg noch einmal nach. Bekräftigend nickte er. „Ich kann nicht genau den Weg, den wir beschritten haben, nachvollziehen, doch hier stürzte ich ab und hier hat mich meine Familie nach Hause geholt. Als ich dich gesucht habe, folgte ich diesem Weg. Das heißt, hier ist das Karge Land.“ Sein Finger zeigte nun auf den trostlosen Flecken Erde, der auf der Karte verzeichnet war.
 

Aufmerksam folgte Dhaôma den Ausführungen, dann nickte er. Es war nicht die gleiche Schlucht. Aber das machte nichts. Offenbar führten sie beide zum Großen Wasser. Was wiederum bedeutete, dass sie einfach die andere Schlucht zurückgehen mussten, um nach Hause zu kommen.

„Also gehen wir jetzt dorthin?“, fragte er noch einmal, während er auf Mimouns ersten Punkt zeigte. „Wie kommt man am besten dorthin? Können wir dem Bach, den die Quelle speist, folgen oder kommen wir da nicht weiter?“
 

Mimoun lachte.

„Ich war noch nie dort. So genau kenn ich mich dort also nicht aus. Und die Karte kann uns leider nicht die genaue Beschaffenheit des Weges sagen. Es kann immer wieder zu unvorhergesehenen Änderungen in der Natur kommen und diese Karte ist schon ein wenig älter. Aber wenn sie stimmt, ist es am einfachsten, wenn wir erst einmal dem Bach folgen und sehen, wohin er führt. Zumindest bräuchten wir uns um Wasser dann vorläufig keine Sorgen mehr machen. Und eine Richtungsänderung dürfte auch nicht so schwierig sein, oder?“
 

„In Ordnung.“ Der Braunhaarige aß ebenfalls auf, dann erhob er sich und ließ seinen Blick über die weiten Lande streifen. „Es ist schon toll, soweit oben zu sein.“, sagte er. „Und wir haben sogar Glück. Sonst ist der Gipfel hier, oft in den Wolken verborgen.“ Aber an diesem Tag war der Himmel klar. Als wollte er ihnen sagen, dass sie nicht aufgeben sollten.

Wieder schweifte sein Blick über die Drachengerippe. Manche waren riesengroß, andere klein und schmächtig, aber ausnahmslos hatten sie Flügel und krallenbewehrte Klauen. Faszinierender Anblick. Auch wenn es noch so traurig war, dass so viele von ihnen gestorben waren. Einige waren schon uralt, wie man daran sehen konnte, dass sie mit Moos bewachsen waren.

Dhaôma beschloss, einen Zahn mitzunehmen. Für den Fall, dass er noch mal ins Zweifeln geriet, damit er sich beweisen konnte, dass sie wirklich existierten. Und als Andenken. Und mit ein wenig Geschick brach er aus einem der kleinen Schädel einen der spitzen Beißer heraus und ließ ihn in seiner Tasche verschwinden. Er war so lang wie sein kleiner Finger. Wenn er ein wenig Zeit übrig hatte, würde er ein Loch hineinbohren und einen Anhänger daraus machen.

„Also gehen wir?“, wollte er wissen und begann seine Sachen zusammenzupacken. „Diesmal wird die Reise leichter. Wir können uns irgendwann ein Boot bauen und dann brauchen wir nicht mehr zu laufen, wenn wir wirklich dem Fluss folgen.“ Vorher jedoch musste er mit seinen verkaterten Armen diese Felswand wieder hinunter. Er spürte sie doch jetzt schon, bei jedem Handgriff.
 

Mimoun verzog misstrauisch das Gesicht. Nicht mehr zu laufen war ein verführerischer Gedanke, aber sich dafür auf einen schwankenden Untergrund auf einem Fluss zu verlassen, behagte ihm nicht.

„Schauen wir mal.“, wich er diesem Vorschlag aus. Das würden sie dann ausdiskutieren, wenn es wirklich so weit kommen würde. Auch er kramte seine Sachen zusammen und machte sich abmarschbereit.
 

Die Kletterpartie bergab wurde noch schrecklicher als die bergauf. Erstens sah Dhaôma nicht, wohin er seine Füße setzen konnte, zweitens taten ihm die Arme weh, drittens waren die Felsen dank des Sprühnebels vom doch ganz schön hohen, wenn auch dünnen Wasserfall schlüpfrig. Jede sich bietende Gelegenheit zum Ausruhen nutzte er, während er seinen Umhang nun doch dem Geflügelten anvertraute. Dieses Ding störte und zog ihn in die Tiefe.

Am Ende des Tages war er völlig erschöpft und nicht einmal ansatzweise aus dem Geröllfeld heraus. Wenn er morgen den Schnee erreicht hatte, würde er sich auf seinen Umhang setzten und einfach bergab rutschen. Dann hatte er definitiv mehr Strecke geschafft, als wenn er lief. Zum Glück war der Winter noch nicht lange vorbei und der Hang lag auf der der Sonne abgewandten Seite.
 

Mimoun blieb auch jetzt wieder in Dhaômas Nähe, um notfalls eingreifen zu können. Diesmal ging jedoch zum Glück alles gut. Dass der Magier jede Gelegenheit zum Ausruhen nutzte, bereitete ihm ein wenig Sorgen. Wo er die Strecke gestern in etwas mehr als einem halben Tag hinter sich gebracht hatte, zeichnete sich nun ab, dass er bei weitem länger brauchen würde. Das war dem Geflügelten nicht recht. Dies war keine Umgebung, um sicher die Nacht zu verbringen. Zwar drohte hier weniger Gefahr von ausgehungerten Raubtieren, dafür aber der eines Genickbruchs, sollte man sich im Schlaf einmal ungünstig drehen. Aber wie schon am letzten Abend musste er einsehen, dass ein Abstieg bei Nacht noch gefährlicher war.

Missmutig landete er neben dem Magier. Das würde eine unbequeme Nacht werden. Den Umhang reichte er an Dhaôma zurück. So hatte dieser es ein wenig bequemer und es wärmte ihn. Der Geflügelte selbst rollte sich nach dem Essen wie immer neben ihm zusammen. Und befand gleich mehrere Steinchen als störend. Mit einem leisen Fluchen schmiss er sie den Hang hinunter. Das Klacken, wenn sie irgendwo dagegen stießen, war noch eine Weile zu hören.
 

Dhaôma lauschte dem Klacken, dann lächelte er unsicher. „Na, hoffentlich wendet das unser Schicksal ab.“, meinte er. Ein Opfer an den Gott der Schwerkraft, so kam es ihm vor.

Es war wirklich wenig Platz, aber dennoch suchte er in seinem Beutel ein paar Samen hervor. Geisterhaft bläulich leuchteten seine Arme auf, als er ein paar kräftige Ranken wachsen ließ, die er so um die Felsen dirigierte, dass sie im Notfall einen rollenden Körper daran hinderten, den Weg in den Tod zu nehmen. Und weil er wusste, dass die Blüten einen schönen Duft hatten, ließ er auch diese noch ein wenig gedeihen.
 

So häufig er es auch sah. Es war jedes Mal aufs Neue ein faszinierendes Schauspiel, wenn innerhalb weniger Minuten aus winzigen Samenkörnern große Pflanzen wurden. Stumm beobachtete er, wie sich die Ranken um die Felsen schlangen und sie so stabilisierten. Die Blüten fand er dann aber doch ein wenig übertrieben.

„Du solltest dich ausruhen. Du wirst deine Kraft morgen brauchen.“, wies er ihn darauf hin.
 

„Sicher.“ Vergnügt kuschelte sich Dhaôma in seinen Umhang und die Decke. Der sanfte Blumenduft gefiel ihm. Viel zu lange hatte er darauf verzichten müssen.

„Sag mal, Mimoun. Warst du schon mal am Großen Wasser?“
 

Dieser ließ sich wieder zurück sinken und schloss die Augen, ließ die anderen Sinne alles in sich aufnehmen. Den leichten Wind auf der Haut, der pfeifende Töne erzeugte, wenn er durch enge Löcher und Ritzen strich. Der leichte Duft, den die Blüten verströmten.

„Nein.“, antwortete er schließlich. „Aber ich hab es aus der Ferne gesehen. Als ich beim hohen Rat vorstellig werden musste. Als ich dort ankam, wollte ich hinterher dorthin. Ich wollte es sehen. Aber als ich dort endlich raus war, wollte ich einfach nur noch nach Hause.“ Leise kicherte er. Warum er sich damals solche Sorgen gemacht hatte, wunderte ihn heute. Es war doch alles gut gegangen.
 

Aus der Ferne war schon mal ein Anfang. „Ist es wirklich so groß, wie alle sagen? Kann man das andere Ufer wirklich nicht sehen?“
 

Erneut kicherte Mimoun.

„Es war zu weit weg. Ich konnte gerade mal sehen, dass dort Wasser anfing. Wie sollte ich da sehen, wie groß es tatsächlich ist? Oder gar das andere Ufer sehen? So gute Augen haben wir dann doch nicht.“ Er drehte sich leicht zu dem Magier um. „Warum wartest du nicht einfach ab und überzeugst dich dann mit eigenen Augen? Sei nicht so ungeduldig.“
 

Dhaôma kicherte. Er war schon immer ungeduldig gewesen. Deswegen blühten die Blumen ja auch schon vor ihrer Zeit. „Dann sollten wir uns beeilen.“, sagte er. „Bevor ich vor Ungeduld platze.“ Dann schloss er die Augen und kuschelte sich tiefer. Ein befreiender Seufzer und er schlief ein.
 

Der Geflügelte bedachte Dhaôma mit einem spöttischen Blick, der glücklicherweise unbeachtet blieb. Er erwähnte besser nicht, dass die Reise Wochen wenn nicht gar Monate dauern würde. Der Magier würde so oder so vor Ungeduld platzen, wie er es so schön ausgedrückt hatte.

Da Mimoun sich nun keinerlei Gedanken über Abstürze oder sonstige Leben verkürzende Ereignisse machen musste, streckte er sich noch einmal ausgiebig und schlief dann ebenfalls ein.
 

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Tora hatte ein ganz süßes Bild zum Drachenfriedhof gemalt. Aber sie kommt einfach nicht dazu, es zu colorieren. Feuert sie mal ein bisschen an, bitte. *zwinker*

Rettende Magie

Kapitel 13

Rettende Magie
 

Mimoun erwachte schon kurz nach Sonnenaufgang, wobei davon kaum etwas zu sehen war, da diese noch immer hinter den Bergen blieb. Es war nur heller als nachts und das hatte ihn aus seinen Träumen gerissen. Doch noch wollte er nicht aufstehen. Irgendwie war er heute faul. Träge drehte er sich auf die andere Seite und döste weiter.
 

Sein Begleiter hatte da nicht solche Skrupel. Sobald Dhaôma wach war, setzte er sich auf und sah über die Schneelandschaft, die im Schatten lag. Wenn er das richtig sah, dann würde er noch etwa drei Stunden klettern müssen, bevor er unten ankam, aber ab da würde es schneller gehen. Zum Glück.

Mit einem lockeren Schwung aus dem Handgelenk ließ er die Blüten, die der Kälte nicht hatten trotzen können, wieder erblühen und trieb sie dann weiter, bis aus ihnen Früchte geworden waren. Die Trauben ergaben eine schöne Ergänzung zu dem inzwischen doch recht zähen Fleisch.

Mimoun schien noch zu schlafen, also holte Dhaôma seinen Drachenzahn hervor und kratzte mit seiner Nadel daran herum, bis eine kleine Delle auf beiden Seiten entstanden war. Inzwischen stand die Sonne hoch genug, damit aus den unförmigen Ungetümen der Felsen Schatten hervortraten und ihnen Struktur gaben. Er stand auf, streckte sich und grinste.

„Ich werde euch finden!“, brüllte er in die weite Welt hinaus, hörte sein Echo zurückkommen und antwortete ihm, so laut er konnte. „Ich verspreche es euch! Ich finde euch! Und ich finde das Große Wasser!“
 

Mimoun saß vor Schreck senkrecht, als der erste Satz gebrüllt wurde. Als dann das Echo zurückkam und sich ein Wortgefecht entwickelte, da Dhaôma weiter rief, hielt sich der Geflügelte mit einem gequälten Stöhnen die Ohren zu und ließ sich wieder zu Boden sinken. Seine Flügel faltete er um sich und sah ein wenig aus wie ein in Leder gepacktes Bündel.

„Du mieses Aas.“, zischte er leise. Das war die absolut fieseste Art aus seinen Träumen gerissen zu werden. Irgendwann würde er die Rechnung dafür zu zahlen haben.
 

Zufrieden mit sich drehte sich Dhaôma wieder um und setzte sich hin. Während er sich etwas zu Essen nahm, betrachtete er sich den Geflügelten, der jetzt dalag wie eine überdimensionale Schmetterlingspuppe. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er ihn womöglich geweckt hatte und wurde leicht rot. Das tat ihm Leid. Aber es hatte wirklich gut getan, mal herauszuschreien, was er sich vorgenommen hatte.
 

Die Geschäftigkeit des anderen ließ ihm nun keine Ruhe mehr. Mimoun faltete sich wieder auseinander und setzte sich grummelnd auf. Wortlos, und ohne den Magier zu beachten, nahm er sich ebenfalls zu essen. Sein Blick ging den Weg hinunter, den sie noch zu bewältigen hatten. Das würde sicher nicht lange dauern, wenn Dhaôma sich ran hielt.
 

„Guten Morgen.“, grüßte dieser nun. „Entschuldige, dass ich dich geweckt habe. Aber sag mal… Sind diese Flügel wirklich ein effektiver Lärmschutz? Oder machst du das, wenn dir kalt wird?“
 

„Weder noch.“, murrte Mimoun noch immer, ohne den Magier anzusehen. Dann kam ihm sein Verhalten kindisch vor und er schnaubte belustigt über sich selbst. „Aber einen Versuch war es zumindest wert.“
 

Dhaôma nickte und lächelte dann.

Nach dem Essen machte er sich fertig für den letzten Teil des Abstiegs. Er hatte sich vorgenommen, nicht soviel Zeit zu brauchen.

Eine Stunde ging das gut, bevor er doch wieder eine Pause brauchte. Seine Arme schmerzten. Seine Finger und Handballen fühlten sich wund an und die Gelenke waren von der Kälte und den vorangegangen Tagen noch steif und unerfreut bei Bewegung. Eigentlich würde er es für diesen Tag dabei belassen, wäre er alleine, aber da er dem Hanebito nicht zur Last fallen wollte, der ja die ganze Zeit über fliegen musste und auf ihn warten, zwang er sich schon nach kurzer Zeit weiter.

Das Resultat war, dass seine Konzentration und seine Kraft nachließen. Irgendwie kam alles zusammen. Sein Kopf wusste schon, dass er fallen würde, bevor sein linker Fuß bemerkte, dass ihm der Halt fehlte. Durch die unerwartete Gleichgewichtsstörung krallten sich seine Finger reflexartig in Felsen und hatten doch nicht genug Stärke, um das Gewicht abzufangen.

„Nein!“, keuchte er erstickt und griff erneut zu, ohne etwas zu erreichen. Es war wie im Wasserfall damals, kurz war er schwerelos, bevor es wirklich abwärts ging. Aber Gestein war härter als Wasser!
 

Genau in diesem Moment war Mimoun schon wieder ein Stück voraus, um nach dem Rechten zu sehen. Als er das Krachen der abwärts rollenden Felsen vernahm, drehte er sich ruckartig um, um zu sehen, was geschehen war und ob es Dhaôma gut ging. Ihn inmitten der talwärts stürzenden Steine zu entdecken, war nicht das, was er gehofft hatte.

Ohne nachzudenken, handelte der Geflügelte. Am Rande seines Bewusstseins wusste er, dass es verrückt war, was er da tat, doch er beachtete dieses winzige Stimmchen nicht. Ohne auf sich oder seine geringen Kräfte zu achten, schoss er auf die Gerölllawine zu und griff nach dem Magier. Er bekam ihn zu fassen, doch der unerwartete Ruck riss ihn ein Stück nach unten und der Pelz, den er in den Fingern hielt, entglitt ihm wieder. Ein Stein weiter oben prallte von einem Widerstand ab und knallte dem Geflügelten an die Stirn. Kurz geriet er ins Straucheln, doch er verbiss sich den Schmerz und setzte erneut an. Diesmal bekam er die Hand des Magiers zu fassen. Mit heftigem Flügelschlagen versuchte er verzweifelt an Höhe zu gewinnen und Stück für Stück riss er seinen Freund aus der Umklammerung der Felsen. Immer wieder wurde er dabei selbst von kleineren Trümmerstücken erwischt und die Staubwolke erschwerte die Orientierung. Und Mimoun spürte, wie ihn immer schneller die Kräfte verließen.

Da die abwärts stürzenden Steine auf ihrem Weg immer neue Felsen losrissen, verbreiterte sich der Strom immer weiter und für den Geflügelten wurde es eine Tortur, den Magier aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Und für die Landung fehlte ihm schlussendlich die Kraft. Mit einer letzten Anstrengung zog er den anderen Körper dicht an sich und ließ sich fallen. Es fühlte sich an, als würden seine Beine in den Bauch gerammt werden und er hatte nicht die Kraft sich abzufangen, weshalb er stürzte. Hastig schlang er die Flügel schützend um den Freund, bevor er wenige Schritte ins Tal schlitterte. Zwar löste er keine zweite Lawine aus, doch er schlug mit dem Kopf gegen einen Felsen, was sein Bewusstsein auslöschte.
 

Es war eine gefühlt endlose Zeit, bis sie zum Liegen kamen, und auch dann rollte und donnerte hinter ihm immer noch die Lawine ins Tal. Dhaôma hatte gespürt, wie er eingefangen worden war, hatte sich bemüht, sich so leicht wie möglich zu machen, doch das Unausweichliche war passiert. Mimoun konnte ihn nicht tragen, das hatten sie schon früher festgestellt. Sie waren abgestürzt. Und jetzt bewegte er sich nicht mehr!

Panik erwachte in seinen erstarrten Gliedern und möglichst vorsichtig befreite er sich aus den Flügeln und den Armen, die ihn umfingen. Es gab keinen Widerstand. Die letzten Augenblicke der Rettungsaktion hatte er Dank der Schwingen nicht visuell mitbekommen, jetzt fing er bei dem Anblick fast an zu heulen. Mimoun lag da wie tot. Seine Flügel waren wieder gerissen, seine Beine hatten einen seltsamen Knick und Blut war überall an seinem Kopf, lief über sein Gesicht.

„Mimoun!“ Mit zittrigen Händen schüttelte er ihn, hinterließ überall Blutspuren auf der Rüstung, doch er nahm die Schmerzen nicht wahr, die in seinen Fingern erwachten. „Hanebito, sag doch was!“

Vorsichtig rollte er ihn auf die Seite. Und wurde schlagartig kalkweiß. Der Oberkörper drehte sich ohne den Unterkörper. Seine Wirbelsäule hatte etwas abbekommen! „Nein!“ Jetzt tropften wirklich Tränen von seinen Wangen. Mit so einer Verletzung würde er nicht einmal mehr gehen können! „Nein, nein, nein! Mimoun!“ Das durfte nicht sein! Es war doch sein Fehler gewesen! Seiner! Er war doch abgestürzt, nicht der Geflügelte. Warum musste dieser darunter leiden, dass er sich nicht richtig festhalten konnte?

Wieder versuchten seine Hände, den Schwarzhaarigen wach zu bekommen, doch es kam keine Reaktion. War er etwa…

Braune Augen weiteten sich angstvoll und hektisch beugte sich Dhaôma vor und spürte dem Atem nach. Mit angehaltener Luft harrte er des Lebenszeichens, welches nach Sekunden bangen Wartens ungewöhnlich flach kam.

Im Kopf des Braunhaarigen wurde es still. Er wusste, dass Mimoun sterben würde. Oft genug hatte er diese Anzeichen bei Tieren gesehen, die er gejagt hatte. Sein Freund würde sterben. Weil er ihn gerettet hatte. Das durfte nicht passieren!

„Das kannst du nicht machen! Du hast es deiner Schwester versprochen! Du hast es mir versprochen!“, wisperte er. „Wenn überhaupt, dann sollte ich sterben!“

Wieder kam ein zittriger, kaum wahrnehmbarer Atemstoß und wie mechanisch hob Dhaôma seine Hände wieder. Er legte sie auf Mimouns Brust, weich und federleicht. „Ich lasse dich nicht gehen.“, sagte er mit tonloser Stimme, als die Magie sich unaufhaltsam in ihm sammelte. Er fühlte, wie sie unter der Haut floss wie warmes Wasser, wie sie seine Finger zum Kribbeln brachte und Schauder über seinen Rücken schickte, wie sie ihn einlullte und versuchte, ihn dazu zu überreden, ihr die Kontrolle überlassen. Mit all seinem noch vorhandenen Bewusstsein wünschte er sich, dass sie Mimouns Leben retten möge. So wie er in der Lage war, einen sterbenden Baum zurückzuholen, so sollte die Magie diesmal Mimoun zurückholen.

Seine Sicht verschwamm, wurde milchig, während sein Instinkt die Führung übernahm. Zuerst waren es nur die kleinen Kratzer auf der Haut des Geflügelten, die wie ein Wunder verschwanden, dann fand die Magie ihren Kanal endgültig. Unter seinen schmalen Händen richteten sich Knochen, Sehnen und Nerven. Die Platzwunde am Kopf verschwand, ließ nur Blut als Beweis ihrer Existenz zurück, die Risse in den Flügeln schlossen sich, als würden sie zuerst durch Wasser ersetzt, bis die Haut unversehrt war. Längst war die Magie außer Kontrolle. Wie damals in der Bieberhöhle, als er tote Pflanzen zum ersten Mal ins Leben gerufen hatte, kanalisierte sich Dhaômas ganze Kraft in einem Moment. Sie machte auch nicht vor den kleinen Löchern halt, die Silia gestochen hatte, ließ uralte Narben verschwinden und ersetzte sie durch heile Haut. Die störenden Sehnen, die die künstliche Flughaut hielten, und das Leder in unmittelbarer Umgebung zerfielen zu Staub, als wären sie schon Jahrzehnte alt. Im gleichen Maße wurden tote Hautzellen von neuen ersetzt, wurden kraftlose Muskeln mit Energie und Wärme gefüllt und überbeanspruchte Sehnen erneuert.

Bis das Leuchten plötzlich erlosch. Dhaômas Kraft war aufgebraucht. Er kippte einfach zur Seite und schlief schon, bevor er den Boden endgültig berührte.
 

Es dauerte einige Zeit, bis Mimoun das Bewusstsein wieder erlangte. Zögerlich sah er sich um. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hier hergekommen war. Dhaôma lag neben ihm und schlief. Verwirrt registrierte er die Schrammen und Kratzer, die Risse in den Kleidern des anderen und plötzlich fiel es ihm wieder ein. Ruckartig setzte er sich auf und griff sich ins Gesicht, als die Bilder noch einmal vor seinen Augen vorbeizogen. Der Absturz des Magiers, seine eigenen Versuche, diesen zu retten, sein eigener Absturz und dann nichts mehr. Seine letzte Erinnerung waren Schmerz und Dunkelheit, die ihn umhüllten.

Vorsichtig löste er seine Hand wieder vom Gesicht und wollte erneut den Magier betrachten, in der Hoffnung der Schlafende würde ihm Antwort geben, doch sein Blick blieb an dem Blut hängen, das nun an seinen Fingern klebte. Er erinnerte sich wieder an den Stein, der ihn dort getroffen hatte. Erstaunt wischte er sich erneut über die Stirn, doch dort war nur Blut. Kein Kratzer, der eigentlich brennen müsste.

Vorsichtig erhob er sich. Mit Erstaunen sah er aus dem Augenwinkel seinen Flügel ohne Leder. Das Erstaunen wurde zu Entsetzen, als die Erkenntnis in sein Bewusstsein drang, dass er durch diese Aktion die Arbeit seiner Schwester zunichte gemacht hatte, er nun wieder nicht fliegen konnte. Voller Verzweiflung sah er auf den Flügel, doch dieses Gefühl änderte sich wieder in Erstaunen, als er diesen völlig unversehrt vorfand. Keine Löcher, keine Risse.

Und dann ging ihm auf, dass er einen ABSTURZ gehabt hatte. Er müsste verletzt sein. Er müsste erschöpft sein, geschwächt! Doch nichts. Er fühlte sich besser als jemals zuvor.

Erneut glitt sein Blick über Dhaôma. Vorsichtig näherte er sich dem Magier und wischte ihm sanft über die zerschrammte Wange. Sein Blick und die Fingerspitzen wanderten über die Zeichen, die sich nun auch in dessen Gesicht ausgebreitet hatten.

„Was hast du getan?“, fragte der Geflügelte leise und mit gerunzelter Stirn. Doch der Schlafende gab ihm keine Antwort. Er rührte sich nicht, reagierte nicht einmal auf diese Berührung. Vorsichtig strich er ihm einige Fransen aus der Stirn. Es war wie damals, als der Magier das letzte Mal zusammengebrochen war und auf nichts reagiert hatte.

Hastig sah sich Mimoun um. Hier konnten sie nicht bleiben. Die Spur, die die Gerölllawine gezogen hatte, zeichnete sich dicht neben ihnen ab. Und der Geflügelte befürchtete jederzeit eine weitere. Und das Ende der Geröllhalde war noch weit entfernt.

Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe herum. Er fühlte sich frisch und ausgeruht. Sein Flügel, seine Verletzungen waren komplett geheilt, warum auch immer. Er suchte die nähere Umgebung nach ihren Habseligkeiten ab, die sie bei ihrem Sturz verloren hatten. Der Wasserbeutel, den er immer am Gürtel trug, war bei seinem Sturz geplatzt und nun nutzlos. Seine eigene Tasche fand er ein wenig oberhalb von ihrem unfreiwilligen Lager. Sie wies einige kleinere Löcher und Schlitze auf. Nichts, was sich nicht irgendwie reparieren ließ. Der Bogen steckte zwischen zwei Felsen, schien aber völlig intakt. Behutsam löste er ihn aus der Spalte. Die Pfeile waren zerbrochen und verloren. Dennoch packte er die Spitzen mit ein. Die Schäfte würde er bei Gelegenheit neu schnitzen.

Doch Dhaômas Tasche konnte er nirgends finden. Er stand direkt neben der Spur aus Steinen, die sich talwärts zog und sah betrübt hinunter. Er lief einige Schritte abwärts, konnte sie aber nirgends ausmachen. Und dabei hing Dhaôma doch so daran. Sein Blick glitt wieder zu dem Magier. Erst würde er dafür sorgen, dass dieser einen sicheren Ort zum Ausschlafen hatte, bevor er sich auf die Suche danach machen konnte. Er nahm seine Sachen auf und schob seine Arme unter den schlaffen Körper. Sorgsam achtete er darauf, dass der Kopf des Magiers bequem auf seiner Schulter ruhte, bevor er sich auf den Weg aus dem Geröllfeld machte. Einige Meter legte er zu Fuß zurück, bevor er grübelnd stehen blieb und probehalber mit den Flügeln schlug. Der Flügel war wieder intakt, er war im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte. Mit einem kräftigen Sprung stieß er sich ab und suchte sich eine Luftströmung, die ihm auf dem Weg nach unten half, seine Kräfte zu schonen. Es ging besser, als er erwartet hatte, dennoch zerrte das Gewicht des Magiers gewaltig an seinen Armen.

Das Ende der Geröllhalde kam schneller, als er erwartet hatte. Im Flug ging alles viel schneller und einfacherer. Und Entfernungen spielten kaum noch eine Rolle. Nun wieder zu Fuß stapfte er durch den Schnee und suchte sich eine geeignete Stelle: einen Felsen, der tief im Boden verankert Schutz gegen herabfallende Steine bieten würde. Vorsichtig trat er den Schnee dort fest, da er darunter Felsen befürchtete und er den Schnee deshalb nicht wegschieben wollte. Sacht bettete er den Magier im Schatten des Felsens und legte sämtliche Fundstücke neben ihn. Mit den Wechselkleidern sorgte er für eine angenehme Kopfstütze. Doch er hatte nichts, was er Dhaôma zum Schutz gegen die Kälte anbieten konnte. Er blieb noch einige Augenblicke neben dem Magier hocken, bevor er sich wieder zur der Geröllhalde aufmachte und nun gründlich nach den Habseligkeiten des Magiers zu suchen begann.

Es vergingen Stunden. Mimoun drehte immer wieder vorsichtig, um keine weitere Lawine auszulösen, Steine um und suchte tiefer. Doch nichts. Erschöpft setzte er sich auf einen Felsen in der Nähe und zog ein Bein an, um seinen Kopf auf dem Knie abzustützen. Erstaunt blickte er auf nackte Haut und besah sich noch einmal genauer, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach. Was auch immer der Magier getan hatte, hatte nicht nur das Leder des Ersatzflügels zerstört, sondern auch seine Kleider. Nur am Rande wunderte er sich, dass seine Rüstung noch intakt war, bestand sie doch auch aus Leder, doch die Lösung dieses Rätsels verschob er lieber auf später. Dass ihm das aber auch nicht aufgefallen war!

Als eine Erinnerung sein Bewusstsein durchzuckte, gefror sein Gesichtsausdruck und zögerlich glitten seine Finger zu seinem Hals hoch. Weg. Das Lederband, das den Stein gehalten hatte, war ebenfalls weg. Und mit ihm der Stein.

„Sie bringt mich um. Sie bringt mich um.“, murmelte er immer wieder und rannte zu der Stelle, an der er aufgewacht war. Der Magier hatte das Leder aufgelöst. Dort, wo das geschehen war, musste auch der Stein sein. Dass er sich auch bei seiner Rutschaktion den Hang hinunter gelöst haben konnte, verdrängte er aus seinen Gedanken. Er ließ sich an der blutgetränkten Stelle auf die Knie fallen, ignorierte die Schrammen, die die Felsen auf seiner ungeschützten Haut hinterließen und suchte immer verzweifelter nach dem kleinen, grünen Stein. Je mehr Zeit verstrich, umso panischer wurde der Geflügelte. Einige scharfkantige Splitter rissen seine Hände auf, doch auch das erreichte sein Bewusstsein nicht. Er musste den Stein finden. Er hatte es Silia doch versprochen. Aus dem Augenwinkel sah er etwas Grünliches schimmern und hektisch kroch er darauf zu. Vor Erleichterung zitternd fischte er den Anhänger aus einer kleinen Spalte eines Felsens. Fest in seiner Hand verborgen, drückte er den Stein an seine Brust und atmete tief durch.

Mit seinem Fund begab er sich sofort zum provisorischen Lager. Er entledigte sich seiner Rüstung und zog unter Dhaômas Kopf seine Ersatzhose hervor, in die er schlüpfte. Auch sein Hemd nahm er an sich, aber nur, um vom unteren Bund ein dünnes Lederband abzutrennen. Danach schob er es wieder unter den Kopf des Magiers. An dem neuen Band befestigte er den Stein und hängte ihn sich um. Sicherheitshalber hielt er den Stein dennoch weiterhin in seiner Hand verborgen.

Noch einmal ließ er seinen Blick über den Magier gleiten. Dessen Zustand war noch immer unverändert. Seine Finger glitten über die Stirn des Jungen. Fieber schien er keines zu haben. Wenigstens etwas.

Aufmerksam sah er sich um. Die Sonne neigte sich schon wieder stark dem Horizont zu und es wurde Zeit, dass er etwas Nahrung heranschaffte. Sein eigener Wasserschlauch war nutzlos geworden und Dhaômas sowie der Proviant waren noch immer unter der Gerölllawine verschüttet.

Doch die klägliche Ausbeute nach zwei Stunden Jagd war ein mageres Kaninchen. Alle anderen Tiere schienen sich aus dieser Region verzogen zu haben. Dafür brachte er aber einiges an Holz mit. Und ein wenig Rinde. Da die Decke des Magiers verschollen war, brauchte er eine andere Möglichkeit, Dhaôma warm zu halten. Das Kaninchen legte er ein wenig abseits hin, darum würde er sich später kümmern. Erst musste er das Feuer in Gang bringen. Er richtete alles so her, wie er es gelernt hatte, doch die Steine waren in der Tasche, die unter dem Geröll vergraben lag. Wahllos griff er sich zwei kleine Steine und probierte es damit. Doch so sehr er es auch versuchte, es ließ sich damit kein Funken erzeugen. Frustriert warf er sie in den Schnee und wandte sich im letzten Licht des Tages seiner Beute zu. Fell abziehen, Innereien entfernen, ausbluten lassen. So dass auch der Magier später davon essen konnte, sollte er aufwachen und Hunger verspüren. Doch es blieb noch immer die Frage, wie er ihn vor der Kälte schützen konnte. Da ihm sonst nichts anderes einfiel, legte er sich neben Dhaôma und zog ihn in seine Arme, legte einen Flügel über seinen Freund, um ihn vor dem Wind zu schützen. Er erlaubte sich nur einen leichten Schlaf. Mit halbem Ohr lauschte er auf die Geräusche der Nacht und eventuelle Räuber.
 

Dhaôma erwachte am nächsten Morgen. Irgendwie war ihm kalt. Aber nur an einigen Stellen. Sein Oberkörper und Rücken waren warm, seine Füße bereiteten ihm Probleme. Sachte bewegte er sich. Schmerzen und Hindernisse hielten ihn davon ab. Das war die Wärmequelle – Mimouns Arme, wie er nach einem Blick feststellte. Was war denn jetzt kaputt? Und warum waren seine Augen und seine Glieder so schwer?

Müde ließ er die Lider wieder sinken und seufzte. „Was ist denn los?“, fragte er schwach.
 

Mimoun wurde von der leisen Stimme aus seinem dösigen Zustand gerissen und hob sacht Flügel und Arm, so dass der Magier sich von ihm lösen konnte, wenn er wollte. Es blieb ihm natürlich auch die Möglichkeit, weiter liegen zu bleiben. Er schien noch immer müde zu sein. Und wenn es so ablief wie bei dem letzten Zusammenbruch, würde er es noch eine Weile bleiben.

„So genau kann ich mich daran nicht erinnern.“, antwortete er leise. „Du bist von einer Gerölllawine mitgerissen worden und bei dem Versuch dich zu retten, sind wir abgestürzt. Ich erinnere mich erst wieder, seit ich aus meiner Bewusstlosigkeit erwachte und dich schlafend neben mir fand.“, fasste er es kurz zusammen. Der Magier schien nicht für längere Erklärungen aufnahmefähig.
 

Deswegen taten ihm also die Hände, Arme und Beine so weh. Ja, das ergab Sinn. „Bist du verletzt?“, fragte er und fröstelte. Die Wärmequelle war verschwunden. Nicht gut.
 

„Nein.“, erwiderte der Geflügelte schlicht. Alles Weitere würden sie klären, wenn der Magier wieder bei Kräften war. Als er das Zittern des Jungen sah, legte Mimoun wieder Arm und Flügel um Dhaôma. „Besser?“
 

Dieser nickte beruhigt. Die innere Unruhe, die ihn beherrscht hatte, seit er einigermaßen wach war, legte sich. Keine Verletzung, keine Probleme und ihm war wieder warm am Bauch. „Mir ist kalt.“, murmelte er dennoch und versuchte umständlich die Beine an den Bauch zu ziehen.
 

„Verzeih.“, murmelte der Geflügelte leise. „Ich konnte deine Tasche nicht mehr finden. Und die Steine zum Feuermachen sind auch verloren.“ Er rutschte ein Stück zurück, um dem Magier seinen Positionswechsel zu erleichtern. Nun hatte er die Beine des Jungen am Bauch und doch konnte er nicht sagen, ob es das für ihn besser machte. So würde der Rest sicher wieder kälter werden. Also änderte auch er seine Lage. Er setzte sich an die angezogenen Beine Dhaômas und lehnte sich über ihn drüber. Die eine Hand schob er unter den Kopf des Magiers, die andere legte er an dessen Rücken und stützte sich auf den Ellenbogen ab. Sein eigener Kopf kam an der Schulter des Jungen zur Ruhe. Nun spannte er seine Flügel zu beiden Seiten dicht um sie.
 

Dhaôma bekam sowohl die Erklärung als auch die Bewegungen nur am Rande mit. Nachdem er jetzt wusste, dass Mimoun sicher und unverletzt war, kehrte die Schläfrigkeit zurück. „Ist das nicht unbequem?“, fragte er murmelnd und schob seine Hände unbewusst zwischen Hemd und Haut.
 

Mimoun zuckte kurz zurück, als die Finger an seiner Brust entlang glitten. Es kam zu unerwartet und überraschend. Mit einem amüsierten Schnauben rollte er sich ein wenig zusammen, zog den Jungen noch enger an sich, um ihm besser Wärme spenden zu können. Dass er es in seiner Situation noch schaffte, sich um den Geflügelten Sorgen zu machen, war unglaublich.

„Nein. Überhaupt nicht.“ Noch stimmte es, aber es würde auf Dauer seine Schultern belasten. „Ruh dich einfach nur aus.“
 

„Hmhm.“ Zufrieden kuschelte sich Dhaôma tiefer und schlief augenblicklich wieder ein. Es war wärmer jetzt, die Angst war weg und sein Körper forderte sein Recht.

Aber diesmal war der Schlaf nicht traumlos. Er verarbeitete den Schrecken vom Absturz und die Angst um Mimoun, die Enttäuschung wegen der Drachengerippe, die Kälte und die Umarmung. Und was dabei herauskam, war so wirr, dass man den Schlaf beim besten Willen nicht als gut bezeichnen konnte.
 

Mimoun spürte die Bewegungen unter sich. Leise flüsterte er ihm beruhigende Worte ins Ohr. Dass alles in Ordnung sei und Ähnliches. Irgendwann begnügte er sich damit, ein Schlaflied zu summen, das seine Mutter früher immer für sie gesungen hatte. Ab und zu stützte er sein Gewicht nur auf einen Arm, um die andere Schulter zu entlasten und ein wenig kreisen zu lassen. Dabei achtete er besonders darauf, nicht das Gewicht auf Dhaôma abzustützen. Es war nicht einfach. Fast war er versucht, den Magier einfach wieder auf den Arm zu nehmen und weiter talwärts in wärmere Gefilde zu tragen. Doch er wollte noch eine letzte Suchaktion wegen der Tasche starten. Einige Dinge darin waren nun einmal wichtig. Und so hielt er durch.
 

Der Braunhaarige wurde kurz nach Mittag wieder wach. Er fühlte sich ausgeruht und warm. Als er die Augen öffnete, sah er dunkles Haar, eine Schulter und ein bisschen von Mimouns Flügel. Irritiert bewegte er sich ein wenig, was in seinen Muskeln zog, aber das war nebensächlich. Er war vollkommen eingekesselt. Das war zwar nicht unangenehm, aber einfach seltsam.

„Mimoun?“, fragte er leise und versuchte ihn anzusehen.
 

Dieser setzte sich halb auf, um im Notfall sofort wieder die Wärme spenden zu können, die der andere vorhin so dringend gebraucht hatte.

„Wie fühlst du dich?“, wollte er wissen und beobachtete jede Bewegung des Magiers.
 

„Gut. Müde, aber gut.“ Dhaôma lächelte ihn an, setzte sich auf und streckte sich wie eine zufriedene Katze, nur um im nächsten Moment inne zu halten. Sein ganzer Körper fühlte sich zerschlagen an. Himmel, was war das nur? „Du bist schön warm. Warum haben wir gekuschelt?“
 

Amüsiert verzog der Geflügelte das Gesicht. Es war gut, dass er vorhin keine Erklärungen verschwendet hatte.

„Gekuschelt kann man das auch nennen. Ich würde das eher als überlebenswichtige Maßnahme gegen Erfrieren bezeichnen.“ Da sich der Magier aufgerichtet hatte, ließ es sich auch Mimoun nicht nehmen sich ausgiebig zu strecken und seine Schultern zu massieren. Einmal tief durchatmen. „Um es kurz zu machen. Du bist mit einer Gerölllawine talwärts gerutscht, ich hab dich rausgefischt und bin abgestürzt. Als ich schließlich erwachte, hast du neben mir geschlafen. Da deine Sachen trotz intensiver Suche noch immer unter dem Schutt begraben liegen, also Decke und die Steine zum Feuermachen, gab es nur eine Möglichkeit, dich warm zu halten.“ Er setzte eine künstlerische, genau abgepasste Pause ein, bevor er schelmisch grinsend fortfuhr: „Kuscheln.“
 

Wärme stieg dem Jungen in die Wangen, als er das hörte. Maßnahme gegen das Erfrieren. Ihm hatte es gefallen. „Danke.“ Eigentlich hatte er noch mehr sagen wollen, aber ihm kam, was der Hanebito danach gesagt hatte. Seine Sachen waren weg. Seine Samen! All die kleinen Samen, die er über Jahre hinweg gesammelt hatte! Die schon soviel mit ihm durchgemacht hatten!

„Nicht doch.“, wisperte er und stand ächzend auf. „Wo war das?“ Suchend sah er sich um, aber er konnte nichts entdecken, was einer Lawine ähnlich sah.
 

Mimoun zog ihn am Ärmel wieder zurück auf den Boden und reichte ihm Teile des Kaninchens. „Du isst jetzt erst einmal etwas.“, befahl er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Du hast seit gestern Mittag nichts zu dir genommen und wir haben schon wieder etwa Mittag. Die Sachen werden schon nicht wegrennen. Ich bring dich nachher hin.“
 

Dhaôma nickte brav und setzte sich. Er hatte wirklich lange geschlafen. Lag wahrscheinlich an dem Absturz. So schnell verkraftete man das wohl nicht.

Seine Hände waren wund und blutig verkrustet, seine Arme zerkratzt und seine Beine ebenfalls. Und seine Klamotten völlig zerrissen. Dem Gefühl nach waren auch überall Prellungen zu finden. Er wollte wirklich nicht wissen, wie er gerade aussah. Dazu kam der Muskelkater vom Klettern. „Ich hätte wirklich mehr Wechselkleider mitnehmen sollen.“, murmelte er und zupfte an seinem Ärmel, bevor er begann, seine Hände abzulecken. Es brannte, aber es war besser so, als wenn der Dreck in den Wunden blieb, denn Wasser hatte er nicht gesehen, als er sich umgesehen hatte.
 

„Ja, ich auch.“, seufzte Mimoun leise. „Was mich zu der Frage bringt, was du eigentlich gemacht hast, während ich bewusstlos war.“
 

Was er gemacht hatte? Mimoun war bewusstlos gewesen? Ach ja, hatte er ja gesagt. Dass er aufgewacht wäre und ihn schlafend gefunden hatte.

Nachdenklich hielt er inne, nuckelte an seinem kleinen Finger. Da war etwas, das tief in ihm verborgen war. Eine Erinnerung, die er nicht so recht fassen konnte. Da war Angst, dass Mimoun sterben konnte. Und das Bild von Blut.

Dhaôma rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. „Ich weiß nicht.“ Da war ein seltsames Gefühl. Er hatte Magie gewirkt, nicht wahr? Aber warum? Jetzt noch spürte er das unwiderstehliche Gefühl, diese Magie erneut einzusetzen. Aber dann würde er bloß wieder müde werden. „So wie ich mich fühle, habe ich wohl eine neue Kraft entwickelt.“, sagte er schließlich und drehte seine Arme, ohne etwas Neues zu entdecken. „Aber daran erinnere ich mich nicht. Das ist immer so. Es ist nur noch ein Gefühl vorhanden, das mir sagt, dass es passiert ist.“
 

Eine neue Kraft entwickelt also? Ob es daran lag? Prüfend musterte er den Magier, um seine Reaktion zu sehen. Im Schneidersitz, die Arme verschränkt, saß er vor ihm und streckte beide Flügel weit aus. Ob es ihm wohl auffiel? Er schien nicht bemerkt zu haben, dass Mimoun völlig unverletzt war.

„Woran erkennt man, welche Magie ihr wirken könnt? Ich weiß bisher nur, dass diese Zeichen dann leuchten.“
 

„An den Zeichen.“ Dhaôma seufzte und begann zu essen. Langsam kaute er darauf herum. Rohes Fleisch. Damit konnte er noch immer nicht viel anfangen. „Weißt du, die Zeichen wirken wie ein Filter. Sind sie erst einmal da, ist die Kontrolle einfacher und verhindert, dass man zuviel von dieser Kraft einsetzt. Aber bevor sie da sind, also das erste Mal, kann ich es nicht kontrollieren. Vielleicht liegt es daran, dass die Magie selbst die Zeichen in die Haut brennt. So genau weiß ich das nicht.“
 

Es fiel ihm also nicht auf. Er schien immer noch nicht ganz wach zu sein.

„Also bedeuten die Zeichen auf den Armen, dass du Pflanzen wachsen lassen kannst. Und die Striche im Gesicht symbolisieren die neue Kraft?“, hakte der Geflügelte sicherheitshalber nach.
 

„Gesicht?“ Die Hand, die Kaninchenfleisch zum Mund führen wollte, sank wieder herab. Dafür hob sich die andere. „Wo?“ Aufregung kribbelte in seinen Fingerspitzen, überlagerte das dumpfe Pochen des Schmerzes. Würde er etwa gleich wissen, was er gelernt hatte?
 

Mimoun beugte sich ein wenig vor. „Nicht bewegen. Ich zeig es dir.“, wies er an, bevor er seine Hand hob und vorsichtig mit dem Zeigefinger jede einzelne Linie, die er sehen konnte, nachzog.
 

Dhaôma schloss die Augen und spürte den Bewegungen nach. Vom Augenwinkel zum Ohrläppchen, von unter dem Auge bis zum gleichen Punkt. Vereinigten sich die Linien dort? Die warmen Finger folgten seinem Hals bis zum Nacken und ein Stück in den Kragen hinein.

Sein Bauch flatterte. Er wusste, was das hieß. Er kannte den Verlauf dieser Linien, wusste, dass sie noch bis hinunter auf den Rücken zogen und wie Pfeile ausliefen. Es war das, was seine Eltern sich von ihm erhofft hatten, als sie ihm seinen Namen gegeben hatten. Heilkraft.

„Es bedeutet, dass ich jetzt heilen kann.“, lächelte er. Seine Wangen färbten sich rot vor Freude. Und einfach, weil er es ausprobieren wollte und die Schmerzen in den Händen und den Armen ihn nervten, aktivierte er die Kraft doch noch. Auch wenn es bedeutete, dass er müde sein würde, er wollte es probieren!

Vor seinen Augen schlossen sich die Abschürfungen, heilten die Kratzer und Prellungen. „Wahnsinn!“, hauchte der Junge glücklich und im nächsten Moment schnippte sein Kopf wieder hoch. „Mimoun, jetzt kann ich deinen Flügel reparieren!“
 

„Also doch.“, meinte er nur trocken, als sich sein offensichtlicher Verdacht bestätigt hatte. Mit dem Fingerknöchel klopfte er kurz gegen Dhaômas Stirn. „Dummkopf. Hör mir zu, wenn ich mit dir rede. Ich erwähnte, wenn ich mich nicht irre, dass ich abgestürzt bin. Hat es dich echt nicht verwundert, dass ich hier ohne Kratzer vor dir sitze?“ Gespielt beleidigt schüttelte Mimoun den Kopf und öffnete erneut seine Flügel.

„Danke.“ Das Wort kam aus tiefstem Herzen.
 

Sprachlos starrte Dhaôma erst seinem Freund ins Gesicht, dann auf den Flügel. Er begann zu lächeln. Das war also der Grund, warum die Magie erwacht war. In seinem Inneren erinnerte er sich an Angst. Schreckliche Angst. Und wenn er Mimoun instinktiv geheilt hatte, hatte er wohl ziemlich was abbekommen.

„Funktioniert er denn?“, fragte er.
 

„Ja.“, lachte Mimoun amüsiert. „So gut wie vor diesem Zwischenfall.“ Er erhob sich und klopfte sich Schmutz und Schnee von der Hose. „Was aber nicht bedeutet, dass ich dich stundenlang durch die Luft tragen kann.“, schränkte der Geflügelte sofort ein. Lächelnd streckte er eine Hand nach dem Magier aus. „Aber es reicht zumindest bis zur Absturzstelle.“
 

„Du kannst mich ehrlich tragen? Und wenn du wieder abstürzt?“ Wenn er daran dachte, wie schwer es für ihn gewesen war, über den Fluss zu kommen, dann wollte er eine solche Belastung lieber vermeiden.
 

„Erstens hätte ich ja dann jemanden, der mich wieder zusammenflickt.“, antwortete er leichthin, ergriff den Magier am Handgelenk und zog ihn langsam aus dem Schutz des Felsens hervor. Mit der anderen deutete er den Geröllhang hinauf. Auch von hier unten war die Spur gut zu erkennen, die die Lawine gerissen hatte. „Zweitens hab ich dich von dort oben hier herunter getragen.“ Schultern zuckend grinste er seinen Freund von der Seite an. „Die Gefahr, dass du beim Aufstieg eine weitere Lawine auslöst, ist höher als die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Absturzes.“

Die Sorge des Magiers tat dem Geflügelten gut. Es zeigte ihm, dass das, was er hier tat, das Richtige war.
 

„Einverstanden.“, nickte Dhaôma. „Aber bitte sei nicht unvorsichtig. Ich weiß nicht, wie gut das mit der Heilung ist. Wie und was ich damit alles machen kann. Und meine Kraft ist auch erschöpflich.“

Vertrauensvoll streckte er ihm beide Arme entgegen.
 

„Werde ich nicht.“, versprach Mimoun und trat näher. Er dirigierte Dhaômas Hände so, dass dieser sich nun an seinem Hals festhielt, und umschlang seine Hüfte mit einem Arm. Die zweite Hand schob er unter die Knie des Jungen und hob ihn hoch. Noch einmal überzeugte er sich davon, dass sich Dhaôma richtig festhielt, bevor er sich abstieß und der deutlichen Spur den Hang hinauf folgte. Es war anders als auf dem Flug nach unten. Damals konnte er die abwärts strömenden Winde nutzen. Und nun trug er nicht das zusätzliche Gewicht der Rüstung und seines Gepäcks.

Für die Landung suchte er sich eine Stelle etwas unterhalb der Blutlache aus und setzte federleicht auf. Die Strecke den Hang hinauf hatte er schon durchsucht. Dort konnte die Tasche des Magiers eigentlich nicht sein. Vorsichtig stellte er seinen Fluggast wieder auf die Füße. Er hielt ihn noch so lange umschlungen, bis er sicher war, dass Dhaôma festen Stand hatte.
 

„Du bist großartig.“, übermittelte ihm dieser voller Bewunderung, erfüllt von dem Gefühl des Fliegens. Es war besser gewesen als beim ersten Mal. Freier, weniger gezwungen. Ein schier unglaubliches Gefühl!

Dann lief er los, ließ seine Augen über die Trümmer schweifen und begann darüber zu klettern, soweit ihm die übrig gebliebenen Prellungen das erlaubten. Alles war locker und lose und ließ sich auch leicht bewegen. Immer wieder grub er ein Stückchen tiefer und ließ probehalber seine Magie nach den Samen rufen. Würden sie wachsen, würde er das spüren. Stunden vergingen so und Dhaômas Müdigkeit wuchs rapide. Gerade, als er aufgeben wollte, um sich auszuruhen, fand er sie. Unter einem schlammigen Felsmatsch kam eine Reaktion und er grub glücklich seine Tasche aus. Die Decke war mit Wasser voll gesogen und schmutzig, aber noch einigermaßen intakt. Aber den Fellumhang konnte er nicht finden. Nirgendwo. Außerdem stand die Sonne schon sehr tief.

„Mimoun! Ich hab die Tasche gefunden!“, rief er und winkte. Wackelig kletterte er über die lockeren Felsen in die Richtung, in der er aufgewacht war. Dass Mimoun ein Lagerfeuer vorbereitet hatte, hatte er gesehen. Er musste es nur noch entzünden.
 

Sofort war Mimoun an der Seite des Magiers und berührte ihn sacht am Arm. Schon während der gesamten Suchaktion hatte er, während er selbst zwischen den Felstrümmern grub, immer ein wachsames Auge auf Dhaôma und seine Schritte gehabt. Ihm war nicht entgangen, dass dieser erschöpft war. Der Magier hatte gestern seine Kräfte mehr als überstrapaziert und nutzte nun schon wieder seine Magie, um nach seinen Habseligkeiten zu suchen.

Wortlos und mit einem aufmunternden Lächeln breitete er einladend sowohl seine Arme als auch seine Flügel aus. Es war zwar nicht mehr weit bis zum Rand der Halde, doch immer noch weit genug. Der Geflügelte schätzte Dhaômas Kräfte momentan nicht als ausreichend ein. Vor allem, da der Kerl selten zeigte, wie schlecht es ihm wirklich ging.
 

Ein Strahlen ging durch die braunen Augen, als Dhaôma die Einladung annahm. Fliegen war toll und der Untergrund hier einfach heikel. „Der Wasserschlauch ist kaputtgegangen.“, sagte er leise, ohne dass wirkliches Bedauern in seiner Stimme lag. Viel lieber sah er zu, wie der Boden sich ein Stück entfernte und Wind seine Haare durchlüftete. Sie waren klebrig und es fühlte sich nicht wirklich gut an, aber der Wind machte vieles wett. „Wir sollten den Bach wieder finden.“ Dort würde er sich auch waschen können.
 

Sicher trug Mimoun seinen Freund wieder zu dem provisorischen Rastplatz. Auch er sah nach dem Stand der Sonne und runzelte die Stirn. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es dunkel wurde. Einerseits wäre es gut, frisches Wasser in der Nähe zu haben. Dort ließ sich auch gute Jagdbeute finden, da jedes Tier Wasser brauchte. Doch ob es sich nun lohnte auf die Suche nach dem Bach zu machen und all ihre Sachen dort hinzuschleppen, war die Frage. Ebenso, ob sie dort auf die Schnelle einen geschützten Unterschlupf finden würden.

Sein Blick glitt wieder über die Gestalt des Magiers und dessen unsicheren Stand, nachdem er wieder auf dem Boden abgesetzt wurde. „Heute nicht mehr.“, entschied er für sich. „Du solltest dich noch ein wenig ausruhen. Und dich wärmen.“ Mit den letzten Worten streckte er die Hände nach Dhaômas Tasche aus, um sich die Feuersteine aushändigen zu lassen. Doch schnell zog er sie wieder zurück. „Du kümmerst dich um das Feuer, ich treib noch schnell etwas zu Essen auf. Und Dhaôma.“, begann er scharf. „Schone deine Kräfte. Heute kein Gemüse.“
 

Der Junge runzelte die Stirn und nickte. Den Inhalt des Rucksacks schüttete er auf den Boden, sobald er saß, dann öffnete er den Beutel mit den Samen. Viele waren zerstört, hatten die mahlenden Kräfte der Lawine nicht überstanden. Es war wirklich frustrierend. Es würde ihn einiges an Zeit kosten, sie wachsen zu lassen und neue zu ernten.

Seufzend zog er den Riemen wieder zu und ließ den Beutel in seinem Schoß liegen. Der Rucksack war an einer Seite gerissen und musste erst einmal genäht werden, bevor er darin wieder etwas transportieren konnte, der Wasserschlauch war sogar ganz kaputt. Man konnte diese Blasen nicht so nähen, dass sie wieder dicht waren. Wenigstens waren die Feuersteine noch intakt, so dass er sich daran machte, das Feuer zu entzünden. Mimouns Arbeit war gut, so dass es nicht lange dauerte, bis ein Feuer brannte und willkommene Wärme spendete.

Als nächstes untersuchte er die anderen Dinge aus dem Beutel. Sein Messer hatte eine kleine Scharte. Alles andere war unversehrt. Schließlich hängte er die Decke über den Felsen, damit sie trocknen konnte, bevor er einen Stock suchte, mit dem sich Fleisch grillen lassen würde. Kurz vor Sonnenuntergang kehrte er zurück und kauerte sich ans Feuer. Ihm war wieder kalt und mit dem mitgebrachten Feuerholz heizte er noch ein wenig mehr an.
 

Der Geflügelte kehrte im letzten Licht des Tages zurück. Über der Schulter trug er ein kleines, stämmiges, an eine Ziege erinnerndes Tier. Auf der letzten Strecke orientierte er sich an dem Schein des Feuers, da der Berghang nun völlig in Dunkelheit getaucht war. Zufrieden stellte er fest, dass der Magier auf ihn gehört und keine weitere Magie benutzt hatte. Doch trotz des Feuers schien ihm noch kalt zu sein. Kurz glitt Mimouns Blick zu der Decke, die über dem Felsen trocknete. Auf die musste der Magier wohl auch in dieser Nacht verzichten.

Das Tier ließ der Geflügelte neben dem Feuer fallen und machte sich daran, es von seinem dichten, weichen Fell zu befreien. Bevor er die Eingeweide entfernte, trennte er ein Stück aus der Flanke und reichte es dem Magier, damit dieser es für sich essbar machen konnte. Von den Innereien nahm er das Leckerste an sich und setzte sich hinter Dhaôma, lehnte sich an dessen Rücken. Der Magier hatte selbst festgestellt, dass der Geflügelte schön warm war. Nun hatte er eine zweite Wärmequelle im Rücken.
 

Einvernehmliche Stille herrschte bei ihnen am Lagerfeuer. Sie aßen, dann schlief Dhaôma recht schnell ein, seinen Beutel mit den Samen fest in der Hand haltend. Er holte sich zurück, was er an Kraft verloren hatte.

Boot

Kapitel 14

Boot
 

Am nächsten Morgen war Dhaôma schon bei Sonnenaufgang wieder auf den Beinen. Voller Tatendrang schnitt er das Fleisch in Streifen und hängte es zum Trocknen über einen geschälten Zweig, während er abseits aller Verschmutzung sauberen Schnee suchte. Einen großen Teil nutzte er, um sich zu waschen. Blut, Erde und Staub klebten ihm zu sehr. Selbst die Haare behandelte er mit einer Pflanze, die er als Seifenkraut bezeichnete. Frisch und mit einer sauberen Portion Schnee kehrte er zurück, stillte seinen Durst damit und legte den Rest für Mimoun in Leder gewickelt neben den Felsen. Seine Decke war immer noch nass, aber das würde sich spätestens in zwei Tagen sicher gegeben haben.

Als der Hanebito wach wurde, grinste er ihn an. „Ich hab ein Schneefeld gefunden.“, teilte er ihm mit. „Heute reise ich per Schlitten, wenn ich den Pelz der Gämse da haben kann.“
 

Ihm war das gleich und er zeigte es durch ein Schulterzucken an. „Ich brauch es nicht. Aber mach es besser nicht kaputt. Vielleicht brauchst du es später noch. Als Teil eines neuen Umhangs.“, schlug er vor. Gähnend streckte er sich. Es erfreute ihn zu sehen, dass es Dhaôma wieder gut ging. Dieser war wieder weit vor ihm wach gewesen und werkelte schon in der Gegend herum.

Der Geflügelte nahm sich einen der zum Trocknen aufgehängten Fleischstreifen und kaute darauf herum, während er begann, seine Sachen zusammenzupacken. Das Hemd, das in der vorherigen Nacht als Kopfkissen für den Magier gedient hatte, wurde kurz ausgeschüttelt und abgeklopft. Schnell schlüpfte er hinein, bevor er sich daran machte, seine Rüstung wieder anzulegen. Dabei fiel ihm auch das Lederbündel auf. Als er den angeschmolzenen Schnee darin entdeckte, stillte er dankbar seinen Durst. Sein Blick suchte den des Magiers.

„Machen wir uns auf den Weg?“
 

Es war nicht weit zu dem Schneefeld, von dem Dhaôma gesprochen hatte. Und dann ging es rasant talabwärts. Die flauschige Seite nach oben setzte sich der Braunhaarige auf den Pelz und dank der kalten Nacht war der harschige Schnee glatt und eisig. Die ersten paar Meter hinterließ Dhaôma eine blutig rosige Spur, als die letzten Fleischreste abgerieben wurden, doch das bemerkte der Junge nicht. Johlend vor Freude rauschte er talwärts, seine Beine lenkten nicht besonders viel dagegen, so dass er eine gehörige Geschwindigkeit aufnahm.
 

Mit Faszination beobachtete Mimoun die kindliche Begeisterung des Magiers, als dieser auf dem Fell talwärts schlitterte. Immer schneller und schneller wurde er und der Geflügelte musste sich ranhalten, die restlichen Habseligkeiten zu schultern und dem Davonflitzenden zu folgen. Hoch stieg er in die Luft, um durch einen Sturzflug Geschwindigkeit aufzunehmen und neben dem Magier dicht über dem Boden zu gleiten. Er streckte eine Hand aus und pflügte durch den Schnee. Staub und kleine Eiskristalle wirbelten auf und zogen eine deutlich sichtbare Spur hinter ihm. Mit wenigen Flügelschlägen beschleunigte Mimoun noch mehr und kreuzte vor dem Magier dessen Bahn, überschüttete diesen dadurch mit Schnee, bevor sein Tempo wieder drosselte und auf dessen Höhe weiterflog.
 

Dhaôma quietschte laut auf, als ihm der Schnee in den Ausschnitt und ins Gesicht geriet und er war versucht, auszuweichen, doch rechtzeitig erinnerte er sich daran, dass dieses Verhalten katastrophale Auswirkungen haben konnte. So ertrug er es stoisch. Er konnte sich später rächen.

Eine ganze Zeit dauerte die Talfahrt und der Junge war dankbar, dass es der Nordhang war, der noch dazu von anderen hohen Bäumen eingefasst war, so dass der Schnee lange liegen blieb. Dann, urplötzlich endete das Schneefeld. Und dieses Ende kam so plötzlich, dass Dhaôma sich einfach nur noch zur Seite fallen ließ, um rechtzeitig abzubremsen. Nur einen Meter vor dem Wald kam er zum Stehen und begann nach einem kurzen Schreckmoment zu lachen.

„So ein Mist!“ Sich aufrappelnd und allen Schnee von sich schüttelnd kam er auf die Füße. „Wieder laufen!“ Aber immerhin war er gut einen halben Tagesmarsch gerodelt. Ein guter Erfolg, fand er.
 

Mimoun sah den Wald schon früher kommen und bremste immer weiter ab, bis er sich einfach auf alle Viere fallen lassen konnte und noch wenige Meter im Schnee vorwärts schlitterte. Wieder zog er tiefe Furchen und wirbelte Schnee auf. Als Resultat sah er danach aus wie gepudert. Wie ein Hund begann er sich zu schütteln und schnaubte. Ein wenig Schneestaub war ihm in die Nase geraten. Wie genau abgepasst, landete er bei seiner Aktion direkt neben dem Magier.

Und so drangen auch die enttäuschten, völlig unmotivierten Worte an sein Ohr und er ließ es sich nicht nehmen, noch einmal im selben Tonfall in dieselbe Kerbe zu hauen. „So ein Mist. Wieder Wald.“
 

„Wald ist doch nett.“, warf Dhaôma ein. „Obwohl ich dir zustimmen muss. Diese Art Wald ist in der Tat ein wenig langweilig.“ Immer die gleichen, hohen Nadelbäume. Auch wenn der Geruch klasse war, ihm missfiel die Eintönigkeit. „Aber da wir im Grundtonus einig sind, sollten wir uns einfach beeilen, um da wieder herauszukommen.“

Das Fell zusammenrollend nahm er eine Hand voll Schnee auf und warf ihn auf Mimoun.
 

Mimoun sah die Bewegung, sah etwas auf sich zu fliegen und versuchte auszuweichen, doch war die Entfernung zu kurz und seine Reaktion kam zu spät. Der Schnee traf ihn noch an der Schulter und bestäubte eine Gesichtshälfte.

„Hey.“, protestierte der Geflügelte und wischte ihn weg. „Das ist nicht fair. Hinterhältige Angriffe zählen nicht. Stell dich lieber offen zum Kampf.“ Und schon klaubte er selbst eine Handvoll Schnee auf, wog ihn in der Hand.
 

„Das war lediglich die Retourkutsche für vorhin.“, gab der Braunhaarige zurück und hob eine Augenbraue. „Was hast du damit vor?“, zeigte er auf Mimouns Hand.
 

Mimoun blickte Stirn runzelnd auf den Schnee in seiner Hand. Ja, er hatte ihn vorhin eingepudert. Er erinnerte sich noch gut an dieses lustige Quietschen, das der Magier dabei von sich gegeben hatte. Und er hatte das Recht, sich dafür zu rächen, was er ja damit auch getan hatte.

„Womit?“ Schnell warf er den Schnee über die Schulter. Sie sollten aufhören, sich wie kleine Kinder zu benehmen, und die Durchquerung des Waldes in Angriff nehmen. Noch einmal schüttelte er sich, um sich von lästigen Schneeresten zu befreien, und trat dann zwischen die ersten Bäume, die Flügel eng an seinen Körper gezogen. Wie er Wälder hasste.
 

Dhaôma kicherte und folgte.

Im Wald war es still und das gedämpfte Licht wirkte leicht unheimlich, aber gleichzeitig war es auch beruhigend. „Du könntest fliegen, wenn dir der Wald so sehr widerstrebt.“, schlug der Junge vor. Seine Augen glitzerten mit dem Schnee um die Wette.
 

Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Ist schon okay.“, wiegelte er ab. „Schließlich muss ich hier ja nicht meinen Lebensabend verbringen.“

Stunde um Stunde führte ihr Weg sie durch den Wald, immer auf der Suche nach dem Bach, dem zu folgen sie sich vor ein paar Tagen auf dem Gipfel des höchsten Berges entschieden hatten. Ein paar Mal stieg der Geflügelte auf einen Baum, um danach Ausschau zu halten und insgeheim ein wenig Freiheit abseits der bedrückenden Enge zu schnuppern. Doch es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihn schließlich fanden. Dieser hatte auf seinem Weg wohl einige Biegungen gemacht und sich einen anderen Weg als erwartet gesucht. An seinem Ufer legten sie eine Rast ein.

Nachdem Mimoun seinen Durst gestillt hatte, streckte er erleichtert seufzend seine Beine aus. Nun, da sie den Bach gefunden hatten, würden sie ihm wie geplant folgen können. Hier standen die Bäume nicht mehr ganz so dicht beieinander und würden ihm das Vorankommen nicht mehr ganz so schwer machen.
 

Sie übernachteten in einer Felsspalte, kurz nachdem der Bach über eine kleine Klippe gesprudelt war. Ein kleines Feuer trocknete die Gischt von ihren Kleidern und Dhaôma konnte seine Decke endlich zu Ende trocknen. Er funktionierte sie am nächsten Morgen auch gleich zu einem Umhang um, damit er dem aufkommenden kalten Wind besser trotzen konnte.

Der Fluss wurde breiter, je weiter sie ihm folgten. Immer wieder vereinigten sich kleine Bäche mit ihm und trugen so zu seinem steigenden Volumen bei. Und je weiter sie nach Norden und damit zu den tiefer gelegenen Bergen kamen, desto schneller wurde es Frühling. Wie im Zeitraffer wurde es wärmer und das Grün hielt mit Macht Einzug. Schon nach einer Woche Wanderung fanden die beiden kaum noch einen Baum, der nicht schon winzige Blättchen trieb. Zwar war es nachts immer noch empfindlich kalt, aber tagsüber war die zum Umhang umfunktionierte Decke nur noch lästig.

Dhaôma freute sich über den Frühling mehr als über das Vorankommen. Immer wieder musste er sich sagen, dass er jetzt besser weitergehen sollte, damit er nicht in diesem Wald blieb, denn sie hatten die Nadelwaldgrenze hinter sich gelassen. So viel Neues gab es zu entdecken. Pflanzen, die ihm unbekannt waren oder anderen ähnelten, aber besser rochen oder schmeckten. Oder andere, die ganz fürchterlich schmeckten, obwohl sie denen, die er gerne aß, so ähnelten.

Fast vier Wochen später standen sie auf dem letzten Hügel hinter dem Gebirge und sahen in die Ferne, wo der Fluss sich, inzwischen träge und groß, dahinschlängelte. Seit der Quelle waren unzählige Bäche und Flüsse zu ihm gestoßen und hatten den Geflügelten davon überzeugt, dass es der richtige war. So groß, wie er geworden war, musste er einfach die Schlucht bilden, die die beiden für die Schlucht des Todes hielten. Es fragte sich nur, wie lange sie noch brauchen würden, bis sie dort ankamen.

„Wir sollten uns wirklich ein Boot bauen.“, meinte Dhaôma nachdenklich und kaute auf einem Gänseblümchen herum. „Es sieht nicht so aus, als ob der Fluss irgendwelche gefährlichen Abgänge hätte, also sollte es die sicherste und schnellste Fortbewegung sein.“ Wieder schweiften seine Augen durch das weite Flusstal, welches zu beiden Seiten üppige, wiesenreiche Vegetation bereithielt. Hier und da mal ein Baum, oder ein kleiner Auwald, aber ansonsten viel Wiese und dementsprechend weidende Herden von Hirschen oder Muffelwild oder Wisenten. „Was sagst du dazu?“

In den letzten Wochen hatte der Junge gelernt, sich mehr auf Mimoun zu verlassen. Er fragte ihn öfter nach seiner Meinung und hatte verstanden, dass er sich auf ihn auch verlassen konnte, dass er Hilfe, die angeboten wurde, annehmen konnte, ohne ihn damit zu verärgern.
 

Mimoun stand mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen neben dem Magier und ließ sich den Wind um die Nase wehen.

„Ich brauch keins. Aber es wäre praktisch. Du würdest nicht mehr so schleichen und ich weniger tragen.“, grinste er. Langsam öffnete er die Augen und ließ seinen Blick schweifen. Über die Wiesen und Weiten, die sich unter ihnen erstreckten und zu den Inseln hoch. Von hier aus konnte man wieder vereinzelt welche erkennen. Einerseits vermittelten sie dem Geflügelten ein Gefühl von Geborgenheit und Heimat. Doch andererseits bedeuteten sie Gefahr. Freies Land war Jagdrevier der Geflügelten. Und dieses Land wollten sie nun durchqueren. Die Gefahr, dass man sie und vor allem den Magier entdeckte, war groß. Und sie stieg, je länger sie für die Durchquerung brauchten. Ein weiterer Punkt, der für ein Boot sprach. „Hast du schon einmal eins gebaut?“
 

„Nee.“ Der Braunhaarige grinste verlegen und kicherte. „Kann aber nicht so schwer sein. Unten ein Kiel, oben stabile Wände, damit das Wasser nicht eindringen kann, irgendwo Paddel, damit ich steuern kann.“ Er zuckte mit den Achseln. „Sollte doch zu machen sein, nicht wahr?“ Immerhin konnte er Holz formen. „Bist du sicher, dass du da nicht auch drin sitzen willst? Es ist toll, sich einfach nur treiben zu lassen. Sehr entspannend.“

Dann bemerkte er den Blick hinauf und seine Stimme wurde mitfühlend. „Hast du Heimweh?“
 

Sein erster Reflex wäre ein amüsiertes Schnauben gewesen, doch er konnte sich noch knapp davon abhalten. Stattdessen wurde sein Blick leicht abwesend und es dauerte eine Weile, bis er antwortete.

„Ja. Das auch. Ein wenig.“ Entschlossen wandte er sich vom Anblick der Inseln ab, fixierte den Magier ernst. „Es ist eher so, dass sie für mich Heimat und für dich den Tod bedeuten. Wir sollten uns nicht zu lange auf der Ebene aufhalten.“ Dann wurde sein Blick weicher. „Und ich weiß, wie toll es ist, sich einfach treiben zu lassen. Nur nutze ich dafür ein anderes Element.“ Weit streckte er die Flügel aus, spürte, wie der Wind an der Flughaut zerrte. Fast verspürte er das Verlangen, dem Ruf zu folgen, sich einfach von der Luft tragen zu lassen.
 

Ja, das konnte er verstehen. Und die Sache mit dem Tod…

„Mimoun, du musst dir keine Sorgen machen. Ich lasse mich nicht fangen. Aber wenn du so besorgt bist, wirst du wohl mitfahren müssen.“ Zufrieden nickte er. „Dann sitze ich unter der Decke, während da Hanebito fliegen, und du musst steuern, damit sie nicht misstrauisch werden.“
 

Mimoun lachte herzhaft und faltete die Flügel wieder ein. „Und du glaubst allen Ernstes, dass ein Geflügelter, ein Wesen der Lüfte, der ein Boot steuert, nicht für Misstrauen sorgt? Welchen Grund hätte ich für eine solche Aktion?“
 

„Ai. Spaß?“ Dhaôma kam sich ein wenig dumm vor. „Tut ihr niemals Dinge, weil sie Spaß machen?“ Und weil er schon wusste, dass es das nicht war, fragte er vorsichtig: „Und wenn ich dem Boot Blätter wachsen lasse? Dann ist es ein treibender Baum.“
 

„Natürlich. Aber warum sollte ich mich freiwillig dem Wasser aussetzen?“ Über die Sache mit den Blättern konnte man reden. Das war keine schlechte Idee. „Aber nicht übertreiben. Dort unten wachsen kaum Bäume. Wie sollte ein in voller Pracht stehender Baum über so eine weite Strecke unbeschadet eine Flussfahrt überstehen? Aber darüber können wir noch diskutieren, wenn es soweit ist.“
 

Dhaôma lächelte still. In den letzten Wochen hatte er schon begriffen, dass die Geflügelten zuweilen etwas kritisch neuen Dingen gegenüberstanden. Sie flogen gut und gerne, aber sie konnten Wasser nicht ausstehen, was sie davon abhielt, schwimmen zu lernen oder eben Boot zu fahren.

„In Ordnung.“ Der Junge setzte sich wieder in Bewegung. „Aber du darfst dir nicht von deinesgleichen vorschreiben lassen, was du zu mögen hast. Immerhin bist du mein Freund und hast dich damit schon weit über sie gestellt, was das freie Denken betrifft.“
 

„Und du willst uns Frieden bringen?“, fragte Mimoun scharf und bebte vor Zorn. „Indem du meinesgleichen abwertest? Ja, ich bin dein Freund. Aber ich bin vor allem immer noch ein Geflügelter.“
 

„Nein.“ Die Wut in der Stimme ließ ihn ernst werden. „Ich werte nicht die Geflügelten ab. Ich werte alle ab, die nur nach dem leben, was vorgeschrieben ist. In erster Linie sind das meine Mutter und mein Bruder. Aber wenn du es so willst: ja, auch deine Leute sind mir entschieden zu engstirnig.“
 

„Wie soll man nach etwas leben, was man nie kennen gelernt hat?“, fragte Mimoun jetzt ruhiger. Dass der Magier seine eigene Familie in dieser Angelegenheit noch vor den Geflügelten genannt hatte, hatte seinen Zorn weitestgehend verrauchen lassen. „Ich hatte das Glück, dass du mich zu einem friedlichen Zusammenleben mit einem Magier gezwungen hattest. Und das zweifelhafte Glück, dass ich mir durch meinen zerstörten Flügel die Freiheit nehmen konnte, nach den Antworten auf meine Fragen zu suchen. Doch wie sollen die anderen das können? Wie sollen sie versuchen in Frieden zu leben, wenn es bedeutet, sich dem Feind zu unterwerfen und von ihm ausgelöscht zu werden? Wir wollen leben, Dhaôma. Verstehst du das nicht?“
 

Doch, natürlich verstand er das. Aber das hatten sie schon bis zum Erbrechen durchdiskutiert. Viel wichtiger war der eine Satz, den Mimoun gerade mehr nebenbei gesagt hatte. „Was meinst du damit, du konntest dir dank deines Flügels die Freiheit nehmen, nach Antworten zu suchen?“ Dhaôma blieb stehen und sah ihn an. „Meinst du, weil wir geredet haben?“
 

„Ich habe noch nicht auf alle Fragen eine Antwort.“, erwiderte er leise und wich einen halben Schritt zurück, bevor er sich umwandte und seinen Weg fortsetzte. „Komm. Wir haben noch einiges vor uns.“
 

Der braunhaarige Magier blickte ihm hinterher. Sollte das etwa heißen, dass sie bloß Zeit brauchten, um sich zu informieren? Dass sie bloß in Ruhe darüber nachdenken mussten, um zu begreifen, was sie sich da antaten, wenn sie kämpften? Sollte das bedeuten, dass auch seine Leute eigentlich nur eine gewisse Zeitspanne benötigte, um sich Gedanken machen zu können?

Fieberhaft begann Dhaôma auf seinen Fingerknöcheln zu kauen. Wenn er das bewerkstelligen könnte, beiden Seiten eine Ruhepause zu erzwingen, dann hätten sie doch die Zeit. Und wenn er ihnen einen leisen Tipp geben könnte, worüber sie nachdenken mussten, dann…

Das Problem lag also dabei, wie er diese Zeit erkämpfen konnte. Reichte die kalte Jahreszeit? Oder wäre es besser, das in der Sommerhitze zu starten? Und wie brachte er sie dazu, nachzudenken?

Ohne sein Zutun setzte er sich in Bewegung und folgte dem Schwarzhaarigen, noch immer tief in Gedanken versunken.
 

Auch Mimoun versank in Gedanken und achtete nur noch am Rande auf den Weg. Er kam sich ein wenig schäbig vor, dass er sich über die Worte des Magiers aufgeregt hatte, obwohl Dhaôma das Recht zustand, seine eigene Meinung kund zu tun. Oder lag es daran, dass dieser in gewissem Sinne Recht hatte? Die Geflügelten hielten stur an ihrer Lebensweise fest, da sie für sich beschlossen hatten, dass es die beste Möglichkeit war, zu überleben. Doch sie hatten sich frei für diesen Weg entschieden. Niemand hatte sie dazu gezwungen.

Der Geflügelte verschränkte die Arme und sein Blick wurde düster. Doch. Die Magier hatten sie in diese Situation gezwungen. Weil diese seinem Volk keinen Frieden gönnten, sie in diesen Krieg gerissen hatten.

Kurz huschte sein Blick zu Dhaôma zurück. Auch das stimmte nicht, rief er sich zur Ordnung. Der Magier hatte es ihm begreiflich gemacht. Keiner wusste wer und aus welchem Grund dieser Krieg ausgelöst wurde. So sehr er sich auch gegen den Gedanken sträubte, dieser Krieg hätte auch genauso gut von seinem Volk ausgelöst worden sein können.

Entschlossen blickte er nach vorn. Das war eine der Hauptfragen, die er sich entschlossen hatte zu klären.
 

Sie erreichten den Fluss viel zu bald. Dhaôma hatte noch immer keine wirkliche Antwort auf seine Fragen gefunden, denn egal, was er früher versucht hatte, seine Familie hatte ihm niemals zugehört. Um das zu schaffen, musste er sie irgendwie provozieren und darin war er nicht besonders gut.

Seufzend konzentrierte er sich auf das Nahe liegende. Ein Boot. Und dazu suchte er sich einen Baum. „Ich werde hier einige Zeit brauchen.“ Ja, er wusste nicht einmal, ob er es an einem Tag schaffte. „Möchtest du jagen gehen?“ Denn auch wenn er den Finger nicht auf den Grund legen konnte, schien Mimoun sich abgekapselt zu haben, als bräuchte er einige Zeit für sich.
 

Abwesend nickte der Geflügelte und wandte sich ab. Mit einem Sprung katapultierte er sich in die Luft und jagte über die letzten paar Baumwipfel davon. Noch immer war er innerlich aufgewühlt. Solange er keine zufrieden stellende Antwort auf diese Frage gefunden hatte und mit der Nase voran immer wieder aufs Neue auf dieses Thema gestoßen wurde, würde er keine Ruhe finden. Doch das ließ sich nicht auf einer einsamen Reise durch die Welt klären. Er musste dafür Fragen stellen, Bibliotheken durchforsten und das nicht nur auf der Seite der Geflügelten. Dadurch würde er sicher wieder nur einen einseitigen Blick auf die Geschehnisse erhalten. Doch Dhaôma war kein gewöhnlicher Magier. Er konnte ihm keine befriedigende Antwort geben.

Entschieden unterband er weitere Gedanken in diese Richtung und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Er nutzte eine kleine Lichtung, um sicher zwischen den Bäumen zu landen und begann durch den Wald zu streunen, folgte Spuren, übte sich in Geduld.
 

In der Zwischenzeit formte Dhaôma einen der kleinen Bäume am Ufer um. Unter seinen geübten Fingern schien das Holz zu schmelzen und passte sich dann seiner Vorstellung getreu der neuen Form an. Es forderte Unmengen an Geduld und fast genauso viele Pausen und war Kräfte zehrend ohne Ende. Bei seiner Höhle hatte er dafür Wochen gehabt, hier wollte er so schnell wie möglich fertig werden. Und er konnte sich ja dann im Boot ausruhen, während es dahin trieb.

Am Ende des Tages war das Boot zwar noch nicht fertig, aber es hatte in etwa die richtige Form und Tiefe. Die Wände mussten noch dünner werden, weil es sonst zu schwer war, aber daraus konnte er die Äste und Blätter zur Tarnung wachsen lassen, wenn er wieder genug Kraft hatte.

Da es Fleisch geben würde, suchte Dhaôma Feuerholz und Zunder und wartete dann auf seinen Freund, während er in der Frühlingssonne döste.
 

Mimouns Suche führte bald zu einem Erfolg. Er fand ein Tier, doch keines, das er zu jagen bevorzugte. Ein kleines braunes Fellknäuel tapste in seine Richtung und wurde von einer zweiten Plüschkugel umgeschubst, die urplötzlich aus dem Gebüsch schoss. Sich balgend rollten die beiden Bärenkinder über den Waldboden und der Geflügelte entschloss sich, sich auf einen Baum zurückzuziehen, bevor das Muttertier auftauchte. Diese ließ auch nicht lange auf sich warten. Schnuppernd reckte sich ihre Nase in seine Richtung und er entschied sich, noch einige Äste nach oben zu klettern, als sich das Tier zu seiner vollen Größe aufrichtete. Es vergingen noch einige Augenblicke, bis sich die Mutter umwandte und die beiden Jungen fortführte. Auch als sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren, wartete er geduldig ab. Nicht dass sie sich doch durch seine Anwesenheit provoziert fühlte.

Sein Weg führte ihn in die entgegengesetzte Richtung und es verging noch über eine Stunde, bevor er auf jagdbares Wild stieß. Er wählte sich einen Hirsch aus, um nicht einem Jungtier die Mutter zu nehmen. Mit diesem kehrte er zu Dhaôma zurück.

„Wir sollten aufpassen. Hier treibt sich eine Bärenfamilie herum.“, warnte er seinen Freund vor dieser potenziellen Gefahr. Neugierig ließ er seinen Blick über die Arbeit des Magiers schweifen. Dem Blick folgten Finger, die über das Holz strichen.
 

„Bären sind ungünstig.“ Dhaôma runzelte die Stirn. Es bedeutete, dass sie mehr Feuerholz brauchten, denn Feuer würde auch eine Bärenmutter davon abhalten, zu ihnen zu kommen. Vorausgesetzt, es roch nicht zu deutlich nach Futter. „Was machen wir mit deiner Beute? Hängen wir sie in einen Baum?“
 

„Das wird das Beste sein.“, nickte der Geflügelte. „Und wir übernachten wohl heute auch ein wenig höher.“ Er wandte sich ab und begann das Wild ganz dicht am Fluss auszunehmen. So wurde das meiste Blut von der Strömung fort gewaschen.
 

Das war natürlich auch eine Idee. Einfach auf einem Baum schlafen. Von denen es an diesem Ort definitiv zu wenig gab. Der Wald, in dem Mimoun gejagt hatte, war doch ein gutes Stück entfernt wieder den Hügel hinauf. „Ich gehe noch mal Feuerholz suchen.“, teilte der Junge mit und verschwand in dem Birkenhain.
 

Am nächsten Tag konnten sie gegen Mittag aufbrechen. Dhaômas Boot hatte ihn den gesamten Vormittag gekostet, aber danach war es leicht und seetüchtig. Er hatte sogar genügend Platz eingeplant, dass Mimoun auch hineinpasste, falls er doch noch wollte, auch wenn es dann sehr eng wurde. Tragen konnte es sie. Die Blätter würde er in den nächsten Tagen anfügen, wenn er wieder konnte.

All ihre Habseligkeiten verstaute er gleichmäßig vor und hinter sich, dann stieß er sich ab und versuchte in die Mitte des Flusses zu kommen. Ewigkeiten hatte er nicht mehr auf dem Wasser verbracht und es dauerte eine ganze Zeit, bis er den Bogen wieder raus hatte, aber schließlich klappte es. Das Boot richtete sich in Fahrtrichtung aus und er begann zu strahlen, als er spürte, wie die Strömung daran zerrte. „Das ist toll!“, rief er und stuckte die Paddel erneut ins Wasser.
 

Kritisch betrachtete Mimoun diesen Start vom sicheren Ufer aus. Es sah anfangs ein wenig ungelenk aus, was der Magier da trieb, doch ihm schien es großen Spaß zu machen, wie sein strahlendes Gesicht bewies.

Der Geflügelte ließ seinen Blick wie schon so häufig, seit er sich hier unten aufhielt, hoch zu den Inseln schweifen und so vergingen noch einige Augenblicke, bevor er sich in die Luft erhob und dem Boot zu folgen begann. Es einzuholen war nicht sonderlich schwierig. In diesem langsamen Tempo zu fliegen, ohne den Halt in der Luft zu verlieren, war schon schwieriger.

„Rutsch mal ein Stück.“, sagte er schließlich und landete federleicht auf dem Rand zu beiden Seiten dicht hinter Dhaôma. Dieses Tempo zu fliegen würde mehr Aufwand kosten, als das Boot ihnen ersparen würde.
 

Der Braunhaarige grinste und rutschte soweit es ging nach vorne. Seinen Rucksack nahm er sogar auf den Schoß. „Du wirst sehen, das macht Spaß.“ Zuversichtlich hielt er beide Paddel ins Wasser, um das doch recht wackelige Boot zu stabilisieren.
 

Ein missmutiges Schnauben war alles, was der Geflügelte darauf erwiderte. Dieser schwankende Untergrund wirkte nicht sonderlich Vertrauen erweckend auf ihn. Und es war eng. Kein Platz, an dem er bequem mit seinen Schwingen sitzen konnte.

Umständlich, langsam und vorsichtig nahm er alles, was hinter ihm war, zwischen seine Beine und setzte sich ans hintere Ende. Die Knie angewinkelt, den Oberkörper nach vorn gebeugt, konnte er seine Flügel auf dem Rand des Bootes ablegen, ohne dass sie Dhaôma bei seiner Tätigkeit beeinträchtigen konnten.

Und so was sollte Spaß machen? Er bezweifelte es gerade stark.
 

Dhaôma wartete geduldig, bis der Schwarzhaarige saß, bevor er mit den Paddeln ein wenig Fahrt aufnahm. Sie kamen gut voran, wie die vorbei treibenden Ufer ihm mitteilten. Eine Herde Wisente starrte sie hohläugig an, während sie im Wasser standen und tranken, ein Otter schimpfte sie aus und tauchte und sprang eine Weile neben ihnen her. Das schönste war aber die Sonne, die ihnen auf die Haut schien und sie wärmte.

Einmal musste Dhaôma einigen Felsen ausweichen, um nicht mit ihnen zu kollidieren, aber dank der Stromschnellen wurden sie noch um einiges schneller.
 

Mimoun musste sich stark zusammenreißen, sich bei dem ganzen Geschaukel nicht einfach wieder in die Luft zu erheben. Doch zu starten würde bedeuten, noch mehr Unruhe in das Boot zu bringen. Krampfhaft klammerte er sich an den Rand des Bootes. Das war definitiv nichts für ihn. Es hatte zwar seine guten Seiten. Sie brauchten nicht laufen, nicht ihr Gepäck tragen und kamen trotzdem vorwärts, doch es war eng und es schaukelte bedrohlich bei unachtsamen Bewegungen.

Kaum waren sie aus den Stromschnellen raus, erhob er sich langsam. „Ich fliege wieder ein wenig.“, kündigte er an und räumte schon mal die Sachen im hinteren Bereich des Bootes wieder um. Dann stellte er sich wieder auf den Rand des Bootes und wartete, dass der Magier bereit war.
 

Dieser paddelte in ruhigere Strömungen, bevor er ein Zeichen gab.

Es schaukelte gewaltig, als Mimoun sich abstieß und zum ersten Mal bekam Dhaôma einen Eindruck davon, wie viel Kraft benötigt wurde, um die Schwerkraft zu überwinden. Verzweifelt kämpfte er um Gleichgewicht und war glücklich, als das Boot wieder gerade lag und nicht voll mit Wasser gelaufen war.

„Nächstes Mal suchen wir vorher einen Ort, an dem ich mich festhalten kann.“ Aufatmend ließ er sich zurücksinken. Zumindest diesmal war alles gut gegangen.
 

„Verzeih.“, rief Mimoun von oben. Er hatte gesehen, welche Auswirkungen sein Abflug gehabt hatte. Es war zwar zu erwarten gewesen, doch hatte er gehofft, dass die Folgen nicht ganz so heftig werden würden. Der Geflügelte würde es sich beim nächsten Mal zweimal überlegen, bevor er einen Start vom Boot aus tätigte. Er hatte gewusst, dass dieses Ding instabil war. Zumindest erfüllte es seinen Zweck.

Durch ein Handzeichen zeigte er an, dass er voraus fliegen würde. Er besah sich den weiteren Flussverlauf, achtete auf weitere offensichtliche Felsen und zu erkennende seichte Gebiete. Sein Flug führte ihn in höhere Regionen und sein Blickfeld wurde größer. Wo befanden sich genügend Bäume als Deckung dicht am Ufer? Wo wären gute Rastplätze? Wurden sie von einer der Inseln aus bemerkt?

Als er zurückkehrte, flog er mehrere Schleifen über Dhaôma, um nicht wieder in ein zu langsames Tempo fallen zu müssen. Knapp teilte er ihm seine Beobachtungen und Einschätzungen mit.
 

Es half, um einen Rastplatz zu finden. Kurz vor Einbruch der Dämmerung steuerte der Junge in eine ruhige Bucht. Es platschte laut, als er mit steifen Beinen aus dem Boot wankte und es dann aus dem Wasser zog. Laut gähnend reckte er sich, versuchte eingeschlafene Glieder wieder wach zu bekommen. Eigentlich war er ausgeruht, hatte er doch außer ein paar Ruderschlägen zwischendurch wenig getan, aber trotzdem verlangte es ihn danach, sich schlafen zu legen.

„Dir gefällt es nicht, dass ich auf dem Wasser bin, nicht wahr?“, sprach er seine Gedanken aus, als er in warmem Sand lag und den Himmel mit seinen unterschiedlichen Orangetönen betrachtete. Mimoun war so unruhig gewesen und immer wieder hatte er nach oben gesehen.
 

„Es ist deine Entscheidung.“, wich der Geflügelte der Frage aus. Es hätte nichts geändert. In der freien Ebene wäre der Magier auch wie auf einem Präsentierteller gewesen. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass er dort seine Pflanzen bezaubern konnte. Was sollte er mit Wasser schon großartig ausrichten können? Während er Pflanzen rufen konnte, die ihm Schutz boten, so konnte sich Mimoun nicht vorstellen, dass mit Wasser ein wirkungsvoller Schutz aufgebaut werden konnte. Es reichte allemal zu Angriffszwecken. Und das würde er nie einsetzen. Zu sehr wünschte er sich Frieden.

Ein Feuer zu entfachen, davon sah der Geflügelte ab. Es dürfte selbst für den Magier nicht mehr so kalt sein. Und der Schein würde in der Nacht Geflügelte aufmerksam machen, wenn auch nur einer zufällig nach unten schauen würde. Zwar würde niemand das Risiko eingehen, in der Nacht hier herunter zu kommen, doch am nächsten Morgen könnte es hier schon sehr früh von Seinesgleichen wimmeln. Diesen Rat gab er auch Dhaôma, als er sich Fleisch nahm und sich ein wenig abseits von dem Magier in das Gras legte.
 

Unglücklich sah ihm dieser nach. Er fühlte sich wie ein Schwerverbrecher, der sich überall verstecken musste. Natürlich verstand er, dass es gefährlich war, wenn die Hanebito ihn fanden, aber im Grunde genommen, war das feige. Er wollte Frieden schaffen, aber wie sollte er das erreichen, wenn er den anderen nicht zutraute, ihn am Leben zu lassen?

Und Mimoun war auch seltsam. Es war fast, als wäre er wirklich nur gekommen, um ihn zu beschützen. Sein Beschützerinstinkt war so stark ausgebildet, dass er nicht einmal bemerkte, dass er sich selbst dadurch zurücknahm.

Still fragte er sich, ob der Hanebito seine Freunde dort oben besuchen wollte und nur aus Rücksichtnahme bei ihm blieb. Das wollte er eigentlich nicht. Er wollte Mimoun nicht einengen. Und er wollte nicht eingeengt werden. Er wollte sich nicht verstecken müssen.

Erinnerungen an die Begegnung mit Mimouns Familie stieg in ihm auf und er wusste, dass es besser so war, ganz egal was er sich wünschte.

Dhaôma zog die Decke über den Kopf und rollte sich zusammen. Hoffentlich war er bald wieder frei.
 

Mimoun riss einige Grashalme aus dem Boden und streuselte sie einzeln in den Wind. Träge wandte er seinen Kopf und ließ seine Gedanken mit ihnen davon treiben. Er wusste hinterher nicht zu sagen, worüber er sich Gedanken gemacht hatte, ob er überhaupt gedacht hatte.

Wasserfall

Kapitel 15

Wasserfall
 

Es war ihm am nächsten Morgen auch nicht möglich zu bestimmen, wann er eingeschlafen war. Der Geflügelte konnte nur sagen, dass bald die Sonne wieder aufgehen würde. Müde, aber nicht mehr fähig, sich noch einmal umzudrehen und weiterzuschlafen, erhob er sich und machte sich daran, das Frühstück zu bereiten. Als er alle Vorbereitungen abgeschlossen hatte, entledigte er sich seiner Rüstung und seiner Kleider und genehmigte sich ein ausgiebiges Bad.
 

Dhaôma erwachte erst mit der Sonne, als das Lied der Vögel sich änderte und das ungewohnte Plätschern von Wasser in seine Gedanken drang. Neugierig setzte er sich auf und beobachtete dann den Geflügelten im Wasser. Es war jedes Mal ein lustiger Anblick, denn die Flügel konnte er nicht lange eintauchen. Sicherlich war es unglaublich schwer, sie wieder herauszuheben. Versonnen lächelnd legte er das Kinn auf die Hände.
 

Die Blicke blieben dem Geflügelten nicht verborgen. Mimoun richtete sich auf und sah den Magier fragend über die Schulter hinweg an. Er versuchte sich noch ein wenig weiter zu drehen und auf seinen Rücken zu schauen.

„Hab ich da irgendwas?“ Für ihn war es schleierhaft, dass Dhaôma ihn so anstarrte.
 

„Nein.“

Vergnügt bewegte der braunhaarige Junge die Beine, so dass die Decke wackelte.
 

Noch einige Augenblicke vergingen, in denen er den Magier einfach nur ansah, bevor er sich wieder umdrehte und sein Bad beendete. Der Junge schien heute wieder besonders guter Laune zu sein. Das zu sehen tat ihm gut.

Nach seinem Bad legte er sich in den Sand und ließ sich von der Morgensonne trocknen. Nebenbei bediente er sich an dem vorbereiteten Frühstück.
 

Nach dem Frühstück setzte sich Dhaôma wieder in sein Boot und während Mimoun voraus flog und die Gegend auskundschaftete, ließ der Magier Äste und Zweige mit Blättern an seinem Boot wachsen. Das war gar nicht so einfach, weil es die Dynamik und das Gleichgewicht durcheinander brachte.

Er war so damit beschäftigt, dass er gar nicht wahrnahm, dass die Inseln bald direkt über ihm schwebten und ihre Schatten auf den Fluss warfen. Längst hatte er sich darin verloren, die Äste in eine ästhetisch ansprechende Form zu bringen.
 

Mimoun kehrte von einem seiner Erkundungsflüge zurück und schüttelte nur lachend den Kopf. Himmel, das konnte doch nicht wahr sein.

„Wie war das mit einfach und schlicht und unauffällig?“, fragte er amüsiert. „Du sollst kein Kunstwerk daraus machen, so nett ich die Idee auch finde.“ Ihm waren die Inseln nicht entgangen und seine Anspannung war in der letzten Zeit gestiegen. Doch was Dhaôma hier trieb, ließ ihn sich entgegen aller Logik ein wenig entspannen. Für jemanden, der nach eigenen Aussagen immer verborgen die Geflügelten beobachtet hatte, gerieten seine Verstecke irgendwie leicht auffällig.
 

Der Braunhaarige streckte den Kopf aus dem Blätterbaldachin. „Wieso nicht? Kann man von außen denn sehen, dass es ein Kunstwerk ist?“, wollte er wissen und sah sich um. „Oh, na gut, ist vielleicht alles ein wenig zu grün.“ Einmal atmete er tief ein und beim Ausatmen leuchteten seine Arme erneut. Die Blätter um ihn wurden gelblich und welkten. „Besser?“
 

„Ein wenig.“, lenkte der Geflügelte noch immer lächelnd ein. Zwar sah dieses filigrane Gebilde von Nahem noch immer sehr auffällig aus, denn kein Baum würde so wachsen, doch ein halb vertrockneter Baum, der den Fluss hinunter trieb, würde keinen Geflügelten dazu bewegen, sich die Sache aus der Nähe anzusehen.

Aufmerksam hielt er nach einer Stelle Ausschau, auf der er landen konnte, um eine kurze Rast einzulegen. Das erwies sich nun mit all dem welken Geflecht als schwieriger. Nur an der Spitze war Platz, aber den benötigte der Magier, um zu sehen, wohin ihn der Fluss trieb. Dennoch ließ er sich dort nieder, breitbeinig auf beiden Rändern stehend. Nur langsam trug er immer weniger Gewicht mit den eigenen Schwingen und verlagerte es aufs Boot. Abschätzig beobachtete er den Abstand zum Wasserspiegel, der schrumpfte.
 

„Mehr darfst du wirklich nicht wiegen.“, grinste Dhaôma. Bewundernswert, wie schnell der andere gelernt hatte, sanft zu sein. „Ich habe nachgedacht, Mimoun. Kennt ihr so was wie Briefe? Also, habt ihr Hanebito, die Nachrichten von einem Ort zu einem anderen bringen?“
 

Zögerlich nickte er. Irgendwie hatte er gerade ein ziemlich ungutes Gefühl. Und genauso misstrauisch war auch der Blick, der nun dem des Magiers begegnete.
 

„Dann könntest du deiner Mutter einen Brief schreiben. Dann wüsste sie zumindest für den Zeitpunkt, dass es dir gut geht.“ Er lächelte ihn an, kratzte sich verlegen am Kopf. „Sie hatte sich doch so schreckliche Sorgen um dich gemacht, als du verschwunden warst.“
 

Mimoun hatte echt Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Der Magier war immer für eine Überraschung gut. So konnte man eigentlich ziemlich sicher sein, dass, wenn man vom Schlimmsten ausging, etwas ganz Banales dabei heraus kam.

„Ja. Das werde ich.“, lächelte er zurück und war bester Laune. Es war wirklich eine gute Idee. Nur schade, dass er keine Antwort darauf erhalten würde. Wie sollte ihn ein Bote auch aufspüren können?
 

„Wenn du ihr sagst, wo du zurzeit bist, dann kann sie dich besuchen kommen. Ich verspreche auch, dass ich ganz weit weg und versteckt sein werde.“ Dann runzelte er die Stirn. „Wenn es nicht zu weit weg ist.“
 

„Du bist wundervoll.“ Ein Gefühl von Wärme und tiefster Zuneigung durchflutete den Geflügelten bei diesen Worten. Schon wieder wollte er ihm die Möglichkeit bieten, seine Familie zu sehen.

Und in ihm erwachte das Bedürfnis, den Magier noch mehr zu unterstützen als ohnehin schon. Bei der Suche nach den Drachen konnte er nur als Begleiter und Beschützer helfen. Doch was die Beziehung zu den Geflügelten anging, war ihm gerade eine Idee gekommen. Nervös kaute er auf der Unterlippe herum. Die Frage war nur, ob es nicht zu riskant war.

„Als du…“ Er stockte. Seine Stimme klang selbst in seinen Ohren klein und zittrig. Tief atmete er ein und fing dann noch einmal mit fester Stimme an. „Als du vorhin nach den Boten gefragt hattest, hatte ich eine Befürchtung, die du so wundervoll mit Einfachheiten zerschlagen hast.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich befürchtete, du wolltest einen Brief an den hohen Rat schicken mit der Bitte um Audienz oder zur Durchquerung unseres Territoriums. Wenn du offiziell eingeladen wirst, wenn sie dir gestatten mit ihnen zu reden, dürfte dich für diese Dauer niemand anrühren. Aber niemand kann voraus sehen, was danach geschehen wird.“
 

Dhaôma starrte ihn entgeistert an. „Ich soll mit Diplomaten reden?“ Denn genau das war für ihn dieser Hohe Rat. Eine Gänsehaut kroch über seinen Rücken. „Wenn man das so nennen kann. Die meisten hochgestellten Menschen hören gar nicht richtig zu. Und wenn, dann ist ihre Meinung doch schon fest.“ Unglücklich schüttelte er den Kopf.
 

Weich lächelte Mimoun. Einerseits beruhigte es ihn, dass der Magier vor einer Konfrontation mit ihnen scheute. Doch andererseits…

„Warst du es nicht, der den Krieg beenden wollte?“, fragte er vorsichtig. „Dann solltest du oben anfangen, weil sie es sind, die den Krieg am schnellsten unterbinden können. Den Hass muss dann jeder für sich in einem langsamen Prozess bewältigen. Würdest du unten in der Hierarchie anfangen, würde es Ewigkeiten dauern und du müsstest jedes einzelne Dorf abklappern. Das kann ich dir nicht abnehmen. Es ist besser, wenn der Versuch und die Erklärung von einem Magier selbst kommen. Mich würden sie nur als von Magie manipuliert betrachten im schlimmsten Fall.“
 

„Und was soll ich ihnen sagen? Dass ich nicht weiß, was meine Leute denken? Dass ich nie mit ihnen über dieses Problem geredet habe, weil keiner zuhören will?“ Verzweifelt rang Dhaôma die Hände. „Ich kann mit ihnen reden. Ich würde es sogar tun! Aber Mimoun, ich habe Angst. Davor, dass sie dich mit reinziehen. Davor, dass sie meinen Versuch als Mittel sehen, mein Volk zu vernichten. Davor, dass meine Einmischung keinen Frieden schafft, sondern nur noch Öl ins Feuer gießt.“ Bittend blickte er ihn an. „Was soll ich tun, wenn ich alles nur noch schlimmer mache?“
 

Mimoun hockte sich hin, um nicht mehr völlig auf den Magier herabsehen zu müssen. Seine Flügel gerieten dabei ins Wasser und in die Strömung, doch es war kein störendes Gefühl.

„Dann sollte es so sein.“, erwiderte der Geflügelte ernst. „Dann wünschen sie wirklich den Krieg und wir können nichts daran ändern. Doch das werden wir erst wissen, wenn wir es versucht haben.“ Wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht. „Das ist eine Möglichkeit, die wir uns für später aufheben, einverstanden? Erst einmal suchen wir dir deinen Drachen. Und mit seiner Hilfe werden wir uns und alle, die uns wichtig sind, in Sicherheit bringen, wenn alle Stricke reißen.“
 

Alle, die ihm wichtig waren? Das wäre einfach. Mimoun einfach fesseln und irgendwo verstecken, aber das würde er ihm wohl nicht so leicht verzeihen. Außerdem hatte der Hanebito viele Menschen, die ihm viel bedeuteten. Die wollte er sicher nicht verlieren.

Er nickte leicht. „Schick ihr trotzdem einen Brief.“, kam er auf den Ursprung ihres Gesprächs zurück. „Wer weiß schon, wann du das nächste Mal die Gelegenheit dazu hast. Immerhin wollen wir ans Große Wasser und das ist sehr weit weg.“ Seine Mundwinkel zuckten leicht. „Und wenn du weiter dort vorne sitzen willst, dann dreh dich bitte um, weil es schon seltsam ist, wenn ein Hanebito mit einem Baum voller Blätter redet. Oder auch nur, wenn er so interessiert in sein Blattwerk schaut.“
 

„Vielleicht hab ich ja ein interessantes Tierchen entdeckt, das es zu retten gilt.“, schmunzelte der Geflügelte und erhob sich langsam wieder, immer auf das Gleichgewicht des Bootes bedacht. „Ich mach mich am Besten gleich auf den Weg. Du kannst schon mal weitertreiben. Ich hole dich sicher bald ein.“

Mit heftigem Flattern erhob er sich wieder in die Luft. Es war Kräfte zehrender, als sich einfach abzustoßen, doch er erinnerte sich gut daran, was das letzte Mal beinahe passiert war. Der Geflügelte schenkte dem Magier ein aufmunterndes Lächeln, bevor er sich umwandte und die am nächsten gelegene Insel anstrebte. Bei dieser handelte es sich um eine größere, auf der ein wenig angebaut wurde. Viele Geflügelte befanden sich dort und er wurde herzlich begrüßt. Man bot Mimoun Nahrung und Wasser an, die er dankend entgegennahm, und neugierige Fragen wurden gestellt, die er gern, so weit er konnte, beantwortete. Es dauerte eine ganze Zeit, sich von ihnen zu lösen, vor allem als ihnen klar wurde, wer er war. Verlegen kratzte er sich am Kopf. Nun war er wohl wirklich bis in die letzten Ecken bekannt. Das war ungünstig. So konnte man ihm leicht folgen.

Da ihm auf dieser Insel niemand bei seinem Vorhaben helfen konnte, wurde ihm der Weg zum nächsten Dorf gewiesen. Dort ging das ganze Spiel von vorne los. Neuigkeiten und Geschichten waren immer gern gesehen. Doch hier ließ sich wenigstens jemand finden, der gerne bereit war, ihm diesen Gefallen zu tun.

Viel konnte Mimoun seiner Familie nicht schreiben. Zwar rührte ihn das Angebot, dass Dhaôma gemacht hatte, doch es wäre für alle Beteiligten riskant. Und von ihrer Suche konnte er genauso wenig berichten. In einem Nebensatz vermerkte er die vollständige Genesung seines Flügels und richtete noch einmal tiefsten Dank für die zwischenzeitliche Unterstützung an alle Beteiligten aus.

Fast vier Stunden, nachdem er den Magier verlassen hatte, konnte er sich wieder auf den Weg zurück zu ihm machen.
 

Dhaôma hatte Mimoun nachgesehen und sich dann wieder seiner Magie gewidmet. Wenn er einige der Äste noch ein wenig umformte, dann hätte er eine Lehne.

Irgendwann nickerte er ein, angelehnt an seinen jetzt wirklich bequemen Sitz. Er hatte sich verausgabt und bekam nur am Rande mit, dass ein paar Stromschnellen ihn packten und mitrissen. Es zauberte aber ein Lächeln in sein Gesicht, als es vorbei war, bevor er ganz einschlief.
 

Sein Flug führte ihn auf schnellstem Weg zu dem Fluss herunter. Einzelne Windungen ignorierte er und folgte nur der Hauptrichtung. Mimouns Augenmerk lag die ganze Zeit auf den Fluten unter ihnen und als er endlich den treibenden Baumstamm sah, legte er noch einmal an Tempo zu. Wieder landete er vorsichtig an der Spitze des Bootes und lugte zwischen die Blätter und Zweige. Amüsiert erkannte der Geflügelte, dass der Magier eingeschlafen war. Völlig sorglos schlummerte er inmitten der welken Blätter.

Vorsichtig testete er, ob das Dachgeflecht sein Gewicht tragen konnte. Es knackte bedrohlich und er ließ es bleiben. Stattdessen erhob er sich wieder in die Luft und flog erneut voraus.

Was er dieses Mal entdeckte, behagte ihm überhaupt nicht. Wie erstarrt schaute er auf die Szene, die sich ihm bot, bevor er herumfuhr und all seine Kraft dazu nutzte, so schnell es ging zu dem Magier zurückzufliegen. „Wach auf!“, rief er und landete auf dem Boot. Zwar lagerte er nicht sofort sein komplettes Gewicht darauf, doch es reichte, um das Boot zum Schwanken zu bringen. „Du hast ein Problem!“
 

Das Schwanken weckte Dhaôma tatsächlich. Verschlafen rieb er sich die Augen. „Was ist los?“, nuschelte er und versuchte, selbige zu öffnen, was ihm nur bedingt gelingen wollte.
 

„Du solltest dieses Teil sofort ans Ufer bringen. Es dauert zwar noch ein wenig, aber da ist ein Wasserfall voraus.“ Misstrauisch beäugte er den Magier. Hatte er sich etwa schon wieder überanstrengt oder gab es einen anderen Grund für seine offensichtliche Müdigkeit? Er war doch sonst immer so schnell wach.
 

Ein Wasserfall?

Sofort war die Müdigkeit vergangen und er starrte erschrocken zwischen Mimouns Beinen hindurch. „Das wird das Boot sicher zerstören, wenn es einen Wasserfall runterstürzt!“, rief er und griff sich die Paddel. Das bisschen Raum, das unter den Ästen noch vorhanden war, reichte kaum, um sie großräumig zu bewegen, aber zumindest die Richtungsänderung klappte gut.
 

Mit einem zufriedenen Nicken nahm Mimoun zur Kenntnis, dass der Magier sofort reagierte. Es lohnte sich nicht, erneut in die Luft zu steigen, und so blieb er an seinem Platz, balancierte Schwankungen aus, die entstanden, als der Magier das Boot aus dem Strom manövrierte. Er schien dabei ein wenig Schwierigkeiten mit dem Platz innerhalb des Flechtwerks zu haben. Vielleicht merkte es sich dieser Junge für das nächste Mal. Praktisch, nicht künstlerisch denken. Aber das waren alles Erfahrungswerte, die jeder für sich sammeln musste.
 

Es kostete eine Menge Anstrengung, um das Boot ans Ufer zu manövrieren und in den letzten Zügen spürte Dhaôma auch schon die zunehmende Strömung. Am Ende lief er auf ein paar flachen Felsen im Wasser auf, so dass sich das Boot vorerst nicht bewegen würde.

Dhaôma krabbelte zum offenen Teil des Bootes, wartete, bis Mimoun abgestiegen war, dann kletterte er selbst heraus, um sich den Wasserfall anzusehen. Er war höher, als er befürchtet hatte, aber nicht so hoch, wie der, von dem er im letzten Herbst gestürzt war. Was schlimmer war, waren die Stufen, die gleich mehrere große, aufgewühlte Bereiche bildeten. Selbst wenn sein Boot nicht sank, war nicht gesagt, dass es aus diesen Becken wieder herauskam.

„Warum kann es kein normaler sein?“, fragte er frustriert. Er hatte sich soviel Mühe gegeben mit seinem Gefährt, da wollte er es nicht so einer Laune der Natur opfern.
 

„Das Leben gibt einem nur selten das, was man sich wünscht. Es ist so grausam.“, lächelte Mimoun. Er trat an Dhaômas Seite und sah ebenfalls auf die wirbelnden Wasser hinab. „Du bist ja ausgeruht. Bringen wir erst unsere Sachen nach unten und schleppen dann irgendwie das Boot drum herum.“ Es war nur ein Vorschlag und würde Kraft kosten. Aber es würde das Ding schonen, an dem sein Freund so zu hängen schien.
 

Nicht besonders begeistert von diesem Gedanken runzelte Dhaôma die Stirn. Das Boot was schwer. Das hatten sie schon bei der Jungfernfahrt festgestellt, aber er nickte. Besser, als die Arbeit dreier Tage den buchstäblichen Bach runtergehen zu sehen.

Seufzend richtete er sich auf und streckte sich. „Frisch ans Werk.“ Er war wieder wach. „Wenn ich das Wasser mehr beherrschen könnte, als nur Eis zu Wasser zu machen, dann wäre es so einfach…“ Er grinste und stupste Mimoun an. „Zum Glück warst du rechtzeitig wieder da, sonst wäre ich vielleicht ertrunken.“
 

„Hey. Ich hab dir das Leben gerettet. Schon wieder.“, stellte er gespielt erstaunt fest. Mit einem kurzen Haare wuscheln bei Dhaôma fügte er an: „Lass das nicht zur Gewohnheit werden.“ Dann beugte er sich in das Boot und fischte alles Erreichbare an Habseligkeiten zusammen. Manchmal waren seine Flügel auch wirklich hinderlich.
 

„Lass mich.“, Wieder krauchte der Junge in das Boot und schob dann alles nach vorne. Rucksack, Decke und ein Teil des Proviants behielt er und verschnürte alles fachgerecht, den Rest überließ er Mimoun.

Der Abstieg war nicht so schwer wie in den Wolfbergen. Es war flacher und dank ausreichender Vegetation gab es genügend Stellen, an denen er sich festhalten konnte. Schon kurz nach Start der Kletterpartie stand er unten und lud seine Sachen ab. Natürlich war Mimoun schneller gewesen, aber das ließ sich nicht ändern. Auf jeden Fall konnte er von unten besser beurteilen, ob ein Weg zum Tragen des Bootes ungefährlich genug war. Weit hinten gab es einen begehbaren Wildwechsel.

„Das wird ein Umweg.“, zeigte Dhaôma in Richtung des schmalen Weges.
 

Sein Blick suchte den Weg, den Dhaôma entdeckt hatte, und nickte zustimmend.

„Na, dann nehmen wir jetzt eine Abkürzung.“ Kurz entschlossen griff er den Magier wieder unter den Armen und flog ihn zum oberen Rand der Kaskaden. Dicht neben dem Boot ließ er ihn aus wenigen Handbreit Höhe fallen und landete grinsend neben ihm.
 

Lachend fing sich der Junge ab. „Du!“, schimpfte er und streckte ihm die Zunge raus. „Nur weil ich hilflos bin, kannst du dir so was erlauben!“

Insgeheim freute er sich, dass Mimoun ihn wirklich wieder tragen konnte, ohne selbst zu schwanken.
 

Aus dem Grinsen wurde ein Lachen. „Und ich brauch bei dir auch keine Konsequenzen fürchten. Du bist ja schließlich hilflos. Was willst du mir schon antun?“

Er wandte sich dem letzten zu bewältigenden Teil ihrer Ausrüstung zu. Während er vorne anpackte, griff Dhaôma am hinteren Ende zu und gemeinsam bugsierten sie das Boot den Wildwechsel entlang. Immer wieder setzten sie das schwere Holz ab und gönnten sich eine kleine Verschnaufpause. Für Mimoun war es schwer, da er das Gefühl hatte, dass das Boot ihn aufgrund der Schwerkraft immer nach unten drücken wollte, ihn schneller vorwärts schob, als ihm lieb war.

Nach Ewigkeiten, wie es ihnen schien, kamen sie unten an. Kaum lag das Boot wieder im Wasser, ließ sich Mimoun ins Gras sinken. Fest entschlossen nahm er sich vor, das nächste Mal die Klappe zu halten, keine dusseligen Vorschläge zu machen und das Teil einfach über die Kante zu schubsen.
 

Mindestens ebenso erledigt warf sich Dhaôma neben ihn und ließ alle Luft aus sich entweichen. „Jetzt ist es amtlich. Ich übe, das Wasser zu beherrschen!“, knurrte er.

Die Augen geschlossen vertrieb er alle Spannung aus seinem Körper und begann irgendwann wieder zu lächeln. Die warme Sonne ließ Probleme und Sorgen schmelzen wie Eis. Entschlossen setzte sich Dhaôma auf. „Ich fange gleich damit an!“, rief er, riss sich die Klamotten vom Leib und sprang in den Fluss. Das Wasser war kalt, aber das machte gar nichts. Es belebte seinen Geist und Körper, als er tauchte und schwamm. Sein erstes vollwertiges Bad seit dem Herbst. Ein tolles Gefühl.
 

Der Geflügelte hob träge den Kopf und sah dem Magier hinterher. Wie konnte der jetzt schon wieder so fit sein? Und er selbst sich so ausgepumpt fühlen?

Mimoun ließ den Kopf wieder sinken und döste in der Sonne. Egal. Er würde sich keinen Fingerbreit von der Stelle bewegen.
 

Sein Bad endete, als der Junge seine Kleider gewaschen hatte. Nach dem Absturz vor einigen Wochen hatte er das Blut nur provisorisch heraus gewaschen, aber nun waren sie sauber. Während er die Seidensachen wieder anzog, legte er seinen Kaninchenpelz auf einen Stein in die Sonne und aß erstmal was.

„Ai, Mimoun. Willst du auch was? Und ich muss wissen, ob wir heute noch weitergehen.“ Sonst würde er ein vollwertiges Lager errichten.
 

„Ja ja.“, murmelte Mimoun, hielt dem Magier auffordernd seine Hand entgegen und ließ sich etwas Fleisch reichen. Noch immer in Rückenlage kaute er auf dem Essen herum. Sie könnten noch ein gutes Stück schaffen, wenn sie wieder aufbrachen. Der Tag war schon fortgeschritten, doch es gab nichts, was hinderlich für eine Fortsetzung der Reise war.

„Wenn du das Dach verstärken würdest, könnte ich mich da oben drauf ausstrecken. Wäre bequemer als vorne zusammengequetscht zu sitzen.“, merkte er an.
 

Dhaômas Augen wurden weit, dann lachte er. „Wenn wir da mal nicht aus dem Gleichgewicht geraten, aber ich kann es gern versuchen.“ Nachdenklich betrachtete er sich seine Konstruktion und überlegte, wo er was ändern musste, damit das Boot nicht einfach sank. Wenn sie beide hinten saßen, dann könnte es durchaus sein, dass Wasser hineinlief. Und wenn er die Wände noch dünner machte, würden sie bald nicht mehr halten.

Als er beschloss, dass er es versuchen konnte, hatte er auch sein Essen beendet. „Es wird ein wenig dauern, aber ich kann ja ein Stück vorfahren, dann musst du auch nicht immer auf mich warten.“ Und schon belud er das Boot und schob es ins Wasser.
 

Mimoun sah dem Magier nach und rollte sich auf den Bauch, um auch von der anderen Seite gewärmt zu werden. Es würde nicht schwer sein, Dhaôma wieder einzuholen. Gähnend reckte er sich und grub seine Finger in den Ufersand. Könnte er ja noch ein kleines Nickerchen halten. Nur kurz.
 

Milde lächelnd sah Dhaôma noch vom Ufer zu ihm, bis ein Felsen ihn bedeckte. War ja kein Wunder, dass er müde war. Immerhin war er bis zu den Inseln hochgeflogen und zurück und hatte dann auch noch das Boot getragen. Da hatte er sich eine Pause verdient.

Vorsichtig belastete er die kunstvoll geformten Zweige, bevor er begann, sie zu stabilisieren, indem er einfach immer mehrere zusammenschmolz. Es war fürchterlich anstrengend, nachdem er schon den ganzen Vormittag diese Magie gewirkt hatte, aber Mimoun bat ihn so selten um etwas, dass er diese Aufgabe möglichst schnell erledigen wollte.

Als die Sonne sank, hatte er kaum etwas geschafft. Außerdem sah der Baldachin, egal, wie sehr er es versuchte, nicht mehr wirklich natürlich aus. Unglücklich steuerte er das Ufer an und zog das Boot an Land. Sein Pelz war wieder trocken und so zog er ihn über, schließlich durfte er kein Feuer machen. Müde rollte er sich zusammen und schlief bald darauf ein.
 

Die Sonne neigte sich schon stark dem Horizont zu, als der Geflügelte wieder erwachte. Irritiert sah er sich um. Es dauerte einen Augenblick, bis er sich wieder daran erinnerte, dass der Magier bereits vorgefahren war. Ausgiebig streckte er sich und schwang sich wieder in die Lüfte. Er wusste nicht, wie weit der Magier gekommen war, und ob er es bei dem immer mehr schwindenden Licht schaffen würde, ihn noch einzuholen, dennoch strengte er sich an. Wirklich mit dem letzten Gruß der Sonne sah er das Boot am Ufer ruhen und die zusammengerollte Gestalt daneben. Leise landete er etwas abseits und näherte sich zu Fuß. Vorsichtig, um den Schlafenden nicht zu wecken, suchte er in ihren Habseligkeiten nach etwas zu Essen und setzte sich neben den Magier. Er hatte gerade erst ausgiebig geschlafen und fühlte sich frisch und ausgeruht. Doch es gab kaum etwas, was er bei Dunkelheit zu seiner Beschäftigung tun konnte. Leise löste er die Schnallen seiner Rüstung und kramte in seiner Tasche. Er konnte sich mal wieder an die Pflege seines wertvollsten Besitzes machen. Das hatte er in der letzten Zeit ein wenig vernachlässigt.

Weit nach Mitternacht legte sich der Geflügelte endlich ebenfalls zum Schlafen nieder.
 

Es gab Geschrei am Fluss. Davon wachte Dhaôma auf. Ein paar Otter bekriegten sich gegenseitig und machten einen solchen Radau, dass an Ruhe unmöglich zu denken war. Der Junge beobachtete das sich streitende Pärchen mit Amüsement, bis der eine laut zeternd die Flucht ergriff.

Dann erst sah er, worum sie sich gezankt hatten: ihren Proviant. Das Ledertuch war zerfetzt und der Inhalt über den ganzen Boden verteilt. Gerade stürzte sich auch noch eine Krähe auf die Reste, als Dhaôma hochfuhr.

„Verdammt!“, rief er aus tiefstem Herzen und die Krähe, sowie der zurückgebliebene Otter machten, dass sie davonkamen. „Mistviecher!“ Den Mund verziehend hob er den Beutel auf. „Der ist auch hin. So was dummes aber auch.“
 

Mimoun wurde wie schon einige Wochen vorher durch einen lauten Schrei geweckt.

„Das darf doch nicht wahr sein.“, flüsterte er in seine Hände, die er vor das Gesicht schlug. Er war nicht müde, dafür hatte er genug Schlaf abbekommen, doch es war eine Unart des Magiers seinen Begleiter auf solch drastische Art und Weise zu wecken. Fluchend rappelte er sich auf und hielt Ausschau nach dem Grund für Dhaômas Ausbruch. Die Flüche, die er dem Magier um die Ohren hauen wollte, blieben ihm im Halse stecken, als er sah, was diesen so aufregte.

„Na prima.“, seufzte er und griff sich an den Kopf. Der Geflügelte sammelte den verstreuten Proviant wieder ein und schaute, was davon noch zu retten war. Das Frühstück würde wohl karg ausfallen.
 

„Es wird wirklich Zeit, dass wir mal längere Pause machen, damit wir ein paar Dinge erneuern können.“, meinte Dhaôma leise, als er sich neben Mimoun fallen ließ. „Ein neuer Wasserschlauch wäre auch nicht das Schlechteste.“ Und es würde eine sehr blutige Sache werden. Allerdings war dafür keine Zeit, solange über ihnen die Schwebenden Inseln drohten.

„Was hältst du von Erdbeeren?“ Schon kramte er in den verbliebenen Samen.
 

Erfreut nickte Mimoun. Er erinnerte sich noch daran wie er diese leckeren Beeren auf seiner ersten Reise vorgesetzt bekommen hatte. Und es wäre eine willkommene Abwechslung.

Die zusammengeklaubten Fleischreste trug er zum Fluss und versuchte sie von dem Sand und Gras zu reinigen. Er war mit dem Ergebnis nur bedingt zufrieden. „Soll ich schnell noch etwas jagen? Oder sollen wir während der Mittagsrast gemeinsam gehen?“
 

„Ich hätte ja Fisch vorgeschlagen, aber ohne Feuer ist mir das zu eklig.“ Entschuldigend sah der Junge auf. „Und nachdem ich hier so herumgeschrieen habe, ist es schwieriger, etwas zu finden.“

Er suchte weiter und fand endlich auch den winzigen grünenbraunen Samen, den er suchte. Schnell steckte er ihn in die Erde. „Ich hab auch den Baldachin ein wenig stabilisiert. Vielleicht kannst du dich dort oben hinsetzten und den Bogen einfach gespannt halten und auf Beute warten. Ich bin gestern an so vielen Tieren vorbeigefahren, ohne dass eines mich bemerkt hätte.“ Dass der Baum jetzt nicht mehr natürlich aussah, verschwieg er. Sicherlich hatte Mimoun das längst bemerkt und es war nutzlos, darauf herumzureiten. „Vielleicht muss ich aber auch noch ein wenig daran arbeiten.“
 

Das Wasser war ihm im Munde zusammen gelaufen, als der Fisch erwähnt wurde, und Enttäuschung kroch in ihm hoch, nachdem der Magier noch im selben Satz ablehnte. Und es wäre unfair nur für sich einen zu erbeuten. Musste er halt noch warten. Irgendwann bot sich ihm sicher noch die Möglichkeit Fisch zu essen.

„Solange du mich nicht in die Zweige mit einwebst, stört es mich nicht, wenn du weiterarbeitest. Und ich werde ja auch häufig voraus fliegen, um Ausschau zu halten. Oder nebenbei zu jagen und das Wild ausnehmen.“ Er stockte und ließ sich das durch den Kopf gehen. „Irgendwie finde ich, dass du ein sehr gemütliches Leben hast. Ich jage, ich achte auf den Weg und deine Sicherheit und du lässt dich vom Wasser treiben.“ Er grinste, um den Worten die Schärfe zu nehmen. Ihn störte dieses Leben überhaupt nicht. Er fühlte sich wohl so.
 

Der braunhaarige Junge zuckte gleichmütig mit den Schultern. Wenn es möglich wäre, würde er sofort mit ihm tauschen. Außerdem konnte Mimoun auch im Boot sitzen, wenn er das wollte.

In diesem Moment hörte Dhaôma ein leises Geräusch, das in seinem Hinterkopf Warnung auslöste. Ein kurzer Blick und er sah sie kommen. Eine Handvoll Hanebito mit direktem Kurs auf sie zu.

Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, als er sich umsah und feststellte, dass kein adäquater Sichtschutz in der Nähe war. Also tauchte er lautlos unter die Blätter seines Boots, das ihn verdecken würde. Von dort aus war es nur noch ein Schritt ins Wasser, in dem er entkommen konnte. Natürlich nur, wenn sie ihn noch nicht gesehen hatten.
 

Mimoun sah den schnellen Abgang von Dhaôma und sah sich hastig um. Nun sah auch er sie kommen. Fünf Geflügelte auf direktem Kurs. Das Herz rutschte ihm in die Hose. Seine Rüstung hatte er noch nicht wieder angelegt. Es jetzt zu tun, könnte als Provokation betrachtet werden. Dennoch wünschte er sich, er hätte sie bereits wieder an.

Langsam erhob er sich und sah ihnen aufmerksam entgegen. Alles, was er nun tun konnte, war abwarten. Hastig ballte er seine Hände zusammen und rammte sich die Fingernägel in den Handballen, um sein Zittern zu unterdrücken.

Wie zufällig wählten sie ihre Landeplätze so, dass sie im Halbkreis um ihn herum standen, hinter ihm der Fluss. Die Anspannung in dem jungen Geflügelten wuchs. Nicht eines der Gesichter kannte er. Von keinem konnte er sagen, wie sie reagieren würden. Und sie alle waren gerüstet und bewaffnet. Ihre Blicke wanderten suchend über den Lagerplatz und bei nicht wenigen ruhte er etwas zu lange auf dem Boot.

„Mimoun?“

Dieser wandte sich dem Sprecher zu, einem Mann fortgeschrittenen Alters, augenscheinlich der Anführer der kleinen Gruppe. Zögerlich nickte der Angesprochene. Er fühlte sich unwohl unter dem bohrenden Blick, der ihm direkt in die Seele zu blicken schien.

„Ich sehe, deinem Flügel geht es wieder gut.“, eröffnete der ältere Geflügelte das Gespräch.

Erneut nickte Mimoun. Schon jetzt fühlte er sich klein und verloren. Und es wurde nicht besser, als ein beinahe grausames Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenübers erschien. Nun konnte der junge Geflügelte den Anflug eines Zitterns nicht mehr verbergen.

„Du weißt, warum wir hier sind?“

„Nein.“ Seine Stimme klang nicht ganz so fest, wie er es sich gewünscht hatte.

„Den Magier.“, verlangte der Ältere und streckte fordernd die Hand aus. Wie zufällig glitt sein Blick über das trockene Gestrüpp hinter Mimoun.

„Bitte?“ Das Beste würde es sein, sich erst einmal dumm zu stellen.

Der Gesichtsausdruck seines Gegenübers wurde spöttisch. „Der Hohe Rat wollte dir einen Auftrag erteilen, doch du warst nicht zu finden. Und deine Familie wollte nicht sofort mit der Sprache rausrücken, wo du abgeblieben bist.“, erklärte er und sprach dabei in einem Tonfall mit Mimoun, der diesen wie ein dummes, uneinsichtiges Kind wirken ließen. Er löste seinen Blick von dem jungen Geflügelten, der schlagartig blass geworden war, und begann einige Schritte vor ihm auf und ab zu gehen. „Du solltest den Magier auftreiben und zum Hohen Rat geleiten. Sie sind neugierig. Sie wollen ihn sehen. Kannst du dir vorstellen, wie erfreut ich war, als ich schlussendlich erfuhr, dass du dich bereits auf die Suche nach ihm gemacht hast?“ Er wandte sich wieder Mimoun zu. Dieser biss sich auf die Innenseite der Lippen und lauschte weiter schweigend. „Aber es war schwer, dich aufzutreiben. Es war ein Glücksfall, dass du dich mit deiner Familie in Verbindung setzen wolltest.“

„Und wie glaubt ihr, dass ich ihn gefunden habe?“ Mimoun verschränkte die Arme und ließ seinen Blick über die anderen vier schweifen, die sich bisher weder geregt, noch irgendein Wort gesagt hatten. Der junge Geflügelte wusste, dass Dhaôma Angst davor hatte, dem Hohen Rat gegenüber zu treten. Er würde es so weit wie möglich hinauszögern.

„Was ist das?“

Mimoun folgte dem Fingerzeig des Älteren und sah auf die Erdbeeren hinab. Wenn es eine Steigerungsstufe zu blass gab, hatte er sie jetzt erreicht.

„Erdbeeren.“, erklärte er locker. „Wollt ihr welche?“

„Mir ist hier so etwas noch nie untergekommen.“, erklärte der Anführer. Sein Ton war lauernd und jagte Mimoun einen Schauer über den Rücken. Dennoch konnte er sich zu einem Schulterzucken durchringen.

„Vielleicht hat sie der Fluss angetrieben.“

Der alte Geflügelte seufzte und rieb sich die Nasenwurzel.

„Ich habe keine Lust mehr, mit dir zu spielen. Rück den Magier raus.“ Sein Ton war eindeutig befehlend und fast zwingend.

„Ich weiß nicht, wovon du redest.“, erwiderte Mimoun fest. Was danach kam, war zu schnell, als dass er darauf richtig reagieren konnte. Die zwei zu seinen Seiten sprangen vor, packten ihn an den Armen und verdrehten sie mit einem harten Ruck auf den Rücken. Mit einem erstickten Keuchen ging er in die Knie. Zeitgleich griff der Älteste nach einem von Mimouns Flügeln. Mit Schrecken spürte der junge Geflügelte die kühle Klinge an seinem Flügelansatz anliegen.

„Das ist deine letzte Chance für eine friedliche Lösung.“, hörte Mimoun die gezischten Worte an seinem Ohr. „Wir können ihn uns auch einfach holen.“
 

In dem Moment, in dem Dhaôma hörte, dass es um ihn ging, glitt er ins Wasser. Es war wahrlich besser, sie fanden ihn nicht. Dann konnten sie Mimoun nicht deswegen bestrafen, dass er mit ihm reiste.

So leise er konnte, verdeckt von den Blättern des Bootes, watete er in die kühlen Fluten, in denen es zu seinem Glück sehr schnell tief wurde, dann holte er noch einmal tief Luft und tauchte unter. Erdbeeren waren das letzte Wort, das er hörte, bevor das kalte Wasser ihn vollständig umspülte. So kräftig er konnte stieß er sich ab, um in die Mitte des Flusses zu kommen. Inbrünstig wünschte er sich, das Wasser möge ihn schnell davon tragen, damit sein Freund in Sicherheit war.

In ihm erwachte eine Erinnerung. An eine ähnliche Situation, in der er im Wasser gewesen war, vollkommen von diesem eingehüllt. Damals hatte er Magie gewirkt, die nun unter seiner Haut brannte. Dhaôma ließ sie frei in der Hoffnung, dass sie etwas bewirken mochte. Sofort spürte er, dass der Fluss stärker an ihm zerrte.
 

Mimoun schluckte mehrfach schwer, bevor er auch nur ansatzweise in der Lage war, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Sie wussten doch offensichtlich, wo Dhaôma steckte. Warum holten sie ihn sich nicht einfach? Der Magier hatte sich zum Glück noch immer verborgen gehalten. Es war gut, dass er nicht den Kopf verlor.

Ernst und entschlossen sah er dem Anführer der kleinen Gruppe ins Gesicht, erwiderte den Blick nun ohne Furcht. „Warum zögerst du?“, fragte er eisig. „Ich überlasse ihn euch nicht. Da könnt ihr mir noch so sehr drohen. Es bringt euch rein gar nichts, mir meine Flügel zu nehmen. Er wird zum Hohen Rat gehen, wenn er selbst bereit dazu ist. Richtet ihnen das aus.“

Es vergingen einige Augenblicke vollkommener Stille, in denen Mimoun nichts außer dem rasenden Klopfen seines eigenen Herzens hörte. Schließlich zog sein Gegenüber die Klinge zurück und musterte den am Boden Knienden voll unverhohlener Wut über diese Widersetzung und Spott über den Versuch, einen wertlosen Magier zu schützen. Mit einem Ruck wandte er sich ab und strebte auf das Boot zu. Mimoun wehrte sich gegen seine Bewacher, doch gegen zwei und in seiner ungünstigen Position konnte er nichts ausrichten. Hilflos musste er zusehen, wie der Kerl sich hineinbeugte und mit der Hand den Hohlraum in dem Geflecht abtastete. Er griff nach etwas.

Mimoun biss sich auf die Lippen. Es gab nichts, was er tun konnte, um Dhaôma nun noch zu helfen. Umso größer war sein Erstaunen, als die Hand nur den Rucksack des Magiers zum Vorschein brachte, begleitet von einem unbändigen Wutschrei.

„Wo ist er?“ Mit Schwung landete die Tasche im Dreck vor Mimoun.

Dieser ließ alle Anspannung aus seinen Muskeln verschwinden und ein leises Lächeln erschien auf seinen Lippen, das sich bald zu einem Kichern ausweitete. Dieser Magier hatte es tatsächlich geschafft zu entkommen. „Viel Glück.“, murmelte der junge Geflügelte in den Wind. Er wusste, dass er nun nicht mehr so schnell zu seinem Freund zurückkehren konnte.

„Sucht ihn!“, herrschte der Alte seine Gruppe an. Sofort wurde Mimoun losgelassen und alle vier erhoben sich ohne Widerspruch in die Luft. Der junge Geflügelte selbst blieb dort hocken, wo er war. Mit einem zufriedenen Lächeln sah er zu seinem Gegenüber hinauf.
 

Dieser rotzfreche Blick war es, der den Mann letztlich dazu brachte, der unterdrückten Wut Freiraum zu lassen. Unwillkürlich holte er aus und schlug dem Aufsässigen ins Gesicht, dass ihm der Kopf herumflog. Mit Genugtuung bemerkte er, dass Blut aus seiner Nase tropfte.

Unterdessen waren zwei der Männer flussaufwärts und zwei flussabwärts geflogen. Erstere konnten freilich keinen Erfolg haben, doch letztere suchten das Wasser ab. Dem logischen Menschenverstand war es zu schulden, dass sie keine Zeit damit verschwendeten, die nähere Umgebung abzusuchen, die doch nur aus halbhohem Gras und vereinzelten Büschen bestanden. Sie hatten den Magier gesehen, bevor er unter den Blättern des toten Baumes abgetaucht war, also musste er zwangsweise entweder dort oder im Wasser sein.

Als Dhaôma zum Luftholen auftauchte, waren sie in Sekunden bei ihm. Einer packte den Jungen an seiner Tunika und hob ihn aus dem Wasser. Der gellende Schreckensschrei ging schnell in ein heftiges Zappeln und Fluchen über. Vor Schreck ließ der Mann ihn wieder los, befürchtete einen magischen Angriff, der nicht erfolgte. Der Braunhaarige verschwand nur mit einem weiteren Schrei im Wasser, bevor er prustend und planschend wieder an die Oberfläche kam.

„Es wäre besser, du gibst auf, sonst passiert deinem Freund noch Schlimmeres!“, rief der eine, während der andere seinen Bogen spannte.

Dhaôma war sofort ruhig, seine dunklen Augen angstvoll geweitet. Mit ruckartigen Schwimmbewegungen hielt er sich an der Oberfläche, bevor er schließlich nickte und ans Ufer schwamm. Schon als er triefend aus dem Wasser trat, waren die beiden da.

„Keine Mätzchen!“ Ein Bogen zielte auf seine Brust und Dhaôma verzichtete darauf, sich trocken zu schütteln. Er hob nicht einmal die Hände, um seine Haare aus dem Gesicht zu streichen, senkte nur den Kopf.

„Ich mache nichts. Lasst dafür Mimoun in Ruhe. Er hat nichts getan.“

Die beiden Hanebito wechselten einen zweifelnden Blick. Na, ob man dem glauben konnte? Warum sollte sich ein Magier tatsächlich damit erpressen lassen, einem seiner Feinde zu schaden? Oder sollte etwa wahr sein, was Mimoun erzählt hatte? Sollte dieser Junge tatsächlich pazifistische Veranlagung haben?

Der kleinere von beiden kam näher. Er ging Dhaôma gerade bis zur Schulter, war aber wesentlich breiter gebaut. In seiner Hand hielt er einen Dolch. „Los!“, fauchte er und deutete flussaufwärts. Es hätte nicht der Drohung mit dem Messer bedurft. Der Magier setzte sich in Bewegung. „Wage es nicht, deine Magie gegen uns einzusetzen!“, sagte der Mann dennoch und Dhaôma nickte.

Er hatte Angst. Viel schlimmere Angst als damals, als er Mimouns Mutter kennen gelernt hatte. Sie hatte keine Mordlust gezeigt und war nicht bewaffnet gewesen. Diese Männer aber hatten schon getötet, das konnte er in ihren Augen sehen. Und nur der Sorge um Mimoun war es zu verdanken, dass er noch gehen konnte und der Schwäche in seinen Beinen nicht nachgab.

Es war nicht weit zu ihrem Lagerplatz zurück. Dreihundert Meter hatte die Strömung ihn gerade mal getrieben, bevor er Luft brauchte und aus dem Wasser musste. Das war einfach keine geeignete Fluchtmöglichkeit, wenn man nicht unter Wasser atmen konnte. Schon von weitem sah Dhaôma Mimoun am Boden knien und Wut stieg in ihm auf. Was sollte das? Seine Stirn legte sich in Falten.

„Liebt ihr Gewalt so sehr, dass ihr selbst eure eigenen Leute auf die Knie zwingt?“, fragte er und seine Schultern strafften sich.

In der Klemme

Kapitel 16

In der Klemme
 

Nachdem der Schlag erfolgt war, wischte sich Mimoun noch immer lächelnd über das Gesicht. Genugtuung über den Zorn erfüllte ihn, doch sein Gesicht erfror zur Maske, als er den ersten Schrei hörte. Entsetzt ruckte sein Kopf herum und so sah er den zufriedenen Ausdruck des Ältesten nicht. Beunruhigt irrte sein Blick über die Fluten. Als der zweite Schrei nur Sekunden später erklang, krampfte sich alles in dem Geflügelten zusammen. Sie durften ihm kein Leid zufügen!

Halb hatte er sich schon erhoben, um in die Richtung der Schreie zu eilen, doch sein Gegner vertrat ihm mit einem schnellen Schritt den Weg. „Wage es nicht!“, drohte er mit eisiger Stimme und der junge Geflügelte ließ sich wieder auf die Knie herabsinken. Was hätte er auch tun können? Allein kam er nicht gegen alle an.

Voll verzweifelter Hoffnung hielt er seinen Blick in Richtung der Schreie, die brutal zerschlagen wurde, als er Dhaôma auf sich zukommen sah. In hilfloser Wut gruben sich seine Finger tief in den Grund. Langsam, um sein Gegenüber nicht noch einmal zu Gewalt zu provozieren, erhob er sich auf seine Füße. Ein kalter Blick warnte ihn davor, auch nur eine unbedachte Handlung zu begehen. Und so blieb ihm nichts als abzuwarten, bis sein Freund bei ihm war. Traurigkeit lag in seinem Blick, den er ihm zuwarf. Und stumme Furcht vor dem Kommenden.
 

Dhaôma schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Sie hatten doch gesagt, dass sie ihn nicht töten sondern zum Hohen Rat bringen wollten. Vielleicht lief es nicht ganz so wie geplant, aber er hatte eh mit ihnen reden wollen. Sie hatten es ausgemacht. Nur der Fluchtplan war nicht ganz so einfach wie mit Drachen.

Er wandte sich an den Anführer, sofort wieder ernst. Abwartend sah er ihn an.
 

Der Blick, der den Magier traf, war voller Verachtung und Hass. Kurz spuckte er aus und wandte sich ab. Knapp wies er den Abflug an und erhob sich schon selbst in die Luft. Zwei seiner Untergebenen wollten nach dem Magier greifen, als Mimoun dazwischen trat.

„Rührt ihn nicht an!“, zischte er. Wie ein schneller Blick ihm zeigte, klaubten die beiden letzten, die aufgrund der deutlich hörbaren Schreie ebenfalls zurückgekehrt waren, ihre Habseligkeiten zusammen. Es beruhigte ihn ein wenig, dass die Sachen hier nicht zurückgelassen wurden.

„Werde bloß nicht frech, Bengel.“, erklang eine Stimme über ihnen. Mimoun ersparte es sich, zu dem Sprecher aufzuschauen, sondern ließ Dhaôma Zeit sich an seinem Hals festzuhalten, bevor er ihn hochhob und dem Kerl folgte. Beruhigend drückte er den Magier fester an sich. „Ich bleibe bei dir.“, versprach er leise.
 

„Mimoun, du bringst dich in Schwierigkeiten.“, wisperte der Junge genauso leise. „Mir wäre es lieber, das würde nicht passieren.“

Andererseits musste der Schwarzhaarige spüren, wie er zitterte und wie seine Muskeln sich verkrampften. Und er war beruhigt, wenn er daran dachte, gleich nicht völlig allein unter Fremden zu sein.

„Da gibt es noch etwas, das du wissen solltest.“, sagte er leise. „Ich bin nicht gut darin, viele Menschen um mich zu haben.“
 

Mimoun lachte leise. „Ich könnte meiner Mutter nie wieder unter die Augen treten, sollte ich dich wegen einiger Schwierigkeiten im Stich lassen.“ Bei dem anderen Problem konnte er ihm nur bedingt helfen. Er wusste selbst, wie es war, allein im Ring des Hohen Rates zu stehen. Wie versprochen würde er an seiner Seite bleiben und ihm emotionalen Halt geben. Mehr konnte er nicht tun. Mit gleich fünf Verfolgern und dem kompletten Gewicht des Magiers auf seinem Armen konnte er nicht fliehen. Er brauchte es erst gar nicht versuchen.

In einer ganz kleinen Ecke seines Bewusstseins war er froh, dass Dhaôma seine Tasche und damit seine Samen nicht bei sich trug. Er konnte sich lebhaft daran erinnern, was das letzte Mal geschehen war, als der Junge in seinen Armen voller Angst den Beutel umklammert gehalten hatte.

Ihre Bewacher schienen den gesamten Weg durchfliegen zu wollen. Ohne Gnade schwebten sie an einer Insel nach der anderen vorbei. Der junge Geflügelte konnte sich schon denken, was sie bezweckten. Sie wollten ihn ermüden. Niemand konnte so lange allein einen ausgewachsenen Mann tragen. Doch es gab eine Sache, mit der er eine Pause erzwingen konnte. Das Zittern des Magiers war stärker geworden. Konnte man dies anfangs noch auf Furcht zurückführen, war es das nun sicher nicht mehr.

„Wartet.“, rief Mimoun und steuerte die nächstgelegene Insel an. Sie war klein und eignete sich weder zum Bewohnen noch zur Nahrungsbeschaffung. Beinahe sofort waren zwei an seiner Seite und wollten ihn in die ursprüngliche Bahn zurückdrängen. „Wenn wir weiterfliegen, bringt ihr dem Hohen Rat nur eine Leiche. Ich freu mich schon auf eure Erklärung.“ Schon hatte er sein Ziel erreicht und setzte Dhaôma auf dem felsigen Grund ab. Klitschnass war der Junge, obwohl sie schon mindestens zwei Stunden geflogen waren. Er zwang ihn gerade sanft, den nassen Pelz auszuziehen, als der Anführer sich knapp neben ihm fallen ließ.

„Weiter! Der Rat tagt heute!“, herrschte er die beiden am Boden Hockenden an, doch Mimoun schüttelte nur den Kopf. „Das würde ihn umbringen. Magier sind empfindlicher als wir.“ Er ließ sich die Decke reichen und wickelte besagten Magier fest darin ein.
 

Dhaôma sagte dazu nichts, weil er nicht konnte. Damit seine Zähne nicht klapperten, biss er sie zusammen. Er war Mimoun dankbar, dass er daran gedacht hatte. Wenn er sich aber daran erinnerte, dass er ihm einmal gesagt hatte, dass er ihn eben nicht den ganzen Tag tragen konnte, schloss er entmutigt die Augen. Mimoun durfte auf keinen Fall abstürzen. Weder mit noch ohne ihm.

„K-k-kannst d-du mi-ch noch t-tr-tragen?“, stotterte er und nun schlugen seine Zähne doch aufeinander. Fest zog er die Decke um sich. „Ü-übernimm-m dich n-ni-nicht.“
 

Weich lächelte der junge Geflügelte bei diesen Worten. „Mach dir keine Sorgen. Ich überlasse dich nicht diesen Geiern. Wir machen eine Pause bis…“ Weiter kam er nicht, denn ein fester Griff an seinem Kragen zwang ihn nach oben.

„Ich habe kein Interesse, dieses Pestgeschwür länger als nötig in meiner Nähe zu haben. Nach ihm wird verlangt, nicht nach dir.“, zischte der Ältere. „Also. Weiter!“

Mimouns Hände glitten zu der Hand an seinem Kragen und er lächelte überlegen, als er jeden Finger einzeln von dem Leder löste. „Sie werden sehr begeistert sein, wenn ihr ihnen eine Leiche präsentiert. Jetzt noch weiterzufliegen, bringt ihn um.“

Er bekam einen tiefen Schlag in den Magen verpasst, der ihn von der Insel stieß.
 

Das Begreifen der Situation brauchte viel zu lange, um durch seinen von der Kälte betäubten Geist zu gelangen, doch Dhaôma zögerte keine Sekunde, als er verstand, dass Mimoun fiel. Während die anderen Mimoun hinterher sahen und zwei sogar lachten, duckte er sich unter einem der Arme hinweg, die mehr prophylaktisch gehoben waren, denn keiner rechnete damit, dass er wirklich springen würde. Als er es tat, war der Kleine der erste, der reagierte, doch auch er griff nur noch ins Leere.

Noch während er fiel, wusste Dhaôma, dass er soeben eine Dummheit begangen hatte. Wenn Mimoun sich noch abfangen konnte, dann würde er richtig Probleme bekommen, falls er versuchte, ihn auch noch zu fangen. Tränen traten in seine Augen. Was sollte er denn jetzt tun?
 

Es dauerte einige Augenblicke, bevor er den Schmerz bekämpft hatte und sich abfangen wollte. Er musste so schnell wie möglich zurück, bevor diese Bastarde sich an dem Magier vergriffen!

Erstaunen und Angst ergriffen ihn, als er diesen ebenfalls von der Insel fallen sah. Er spannte noch in Rückenlage die Flügel auf, um seine Sturzgeschwindigkeit zu verringern. So hatte der Magier ihn schon nach wenigen Augenblicken erreicht. Noch während er seine Arme um den zitternden Körper schlang, sah er vier Schatten von der Insel abheben und ihnen folgen. Mimoun schlang die Flügel beschützend um den Magier, während er seine Position in der Luft änderte. Langsam versuchte er den Sturz abzubremsen. Stück für Stück bot er dem Wind mehr Widerstand. Ein ruckartiges Abbremsen wäre zuviel für die Flügel gewesen. Nur wenig später spürte er Hände, die sowohl an ihm zerrten, um seinen Sturz zu verlangsamen, als auch an dem Magier, um ihn Mimoun aus den Armen zu nehmen. Doch dieser schlang die Arme nur fester um den Körper. So begnügten sich die anderen damit, sie aufzufangen. Danach zwangen sie ihn sofort zur Rückkehr auf die Insel. Keuchend landete er auf dem sicheren Grund und bettete seinen Kopf auf der Schulter des Magiers.

„Dummkopf.“, murmelte er erschöpft.
 

Dhaôma nickte, bevor er tief durchatmete. Das Adrenalin hatte die Kälte kurzfristig aus seinen Gliedern vertrieben. Mit bitterem Blick straffte er sich.

„Ihr werdet aufhören, Mimoun zu foltern, sonst werde ich nicht mit euch kommen.“, sagte er und seine braunen Augen versprühten eine Härte, die er selten zuvor so empfunden hatte. „Ich kann es nicht leiden, wenn jemand sinnlos Gewalt einsetzt. Ihr braucht euch auch nicht so anstellen. Ihr habt so lange nach mir gesucht, da werden ein oder zwei Stunden mehr oder weniger keinen großen Unterschied machen.“
 

Mimoun begann zu kichern. Ohne hinzusehen, konnte er sich denken, was für Gesichter ihre Begleiter machten. Wütende, da dieser Magier anscheinend seine Position noch nicht begriffen hatte und es wagte, Forderungen zu stellen. Ungläubige, da dieser Magier erneut alles daran setzte, einen Feind zu verteidigen.

Der junge Geflügelte richtete sich wieder auf. „Sie wollen dich.“, erklärte er sanft. „Ich bin ihnen völlig egal. Für sie bin ich nicht mehr wert als Abfall.“ Mimoun tat viel, um die Geflügelten um sie herum aus seiner Wahrnehmung zu streichen. Sie existierten nur als dunkle Bedrohung am Rand.
 

„Aber du gehörst zu ihrem Volk. Wie können sie jemals Frieden wünschen, wenn sie wahllos töten?“ Dhaôma schüttelte den Kopf und wandte sich wieder an die anderen. „Wie schon gesagt, werde ich mitkommen, wenn ihr Mimoun in Ruhe lasst. Er ist ein guter Mensch und solche muss man schützen.“
 

„Das ist so ähnlich wie mit deiner Familie.“, flüsterte er in Dhaômas Ohr, indem er sich wieder vorbeugte, während hinter ihm verächtliches Schnauben erklang. Danach setzte er sich wieder bequemer hin, um ausreichend entspannen zu können. „Für sie bin ich wertlos, weil ich mich nicht mehr am Krieg beteilige.“

„Irrtum.“ Mimoun wandte leicht den Kopf und sah den Sprecher über die Schulter hinweg an. „Da dein Flügel ja augenscheinlich wieder in Ordnung ist, gibt es keinen Grund für dich, der Front fern zu bleiben.“

Mimoun schenkte ihm nur ein überlegenes Lächeln. Er kannte sich gut genug in der Wildnis unterhalb der Inseln aus, um zu flüchten und zu überleben. Niemand würde ihn ständig im Blick behalten, um ihn als Schlachtvieh zu verwerten. Er würde nicht lange an der Front bleiben.

Seine Hand fuhr durch die Strähnen des Magiers, rieb sie zwischen seinen Fingern, um den Feuchtigkeitsgrad zu testen. Er zog die Decke des Magiers höher und über den Kopf.

„Ruh dich aus.“, verlangte er von seinem Freund.
 

Die fünf Wachen tauschten Blicke, bis der Anführer schließlich nachgab und eine Stunde Ruhe erlaubte. Für Dhaôma machte es das kein bisschen besser. Es war und blieb kalt, aber für Mimoun war es wichtig, seine Kräfte beisammen zu halten.

Dhaôma war wütend. Auf diese Männer. Warum sollte er mit den Diplomaten reden, wenn der Grund für seine Kooperation nicht mehr vorhanden war? Diese Leute wollten keinen Frieden. Warum auch immer, aber sie kämpften gerne. Sie waren wie sein Bruder. Und die anderen Geschwister, die schon gestorben waren, hatten auch so gedacht. Was bedeutete es überhaupt, wenn sie neugierig auf ihn waren? Sahen sie ihn als leichte Beute an, von der sie alles über den Feind erfahren konnten? Oder waren sie ernsthaft an seiner Person und seinen Gedanken interessiert?

Die Sonne war noch keine Stunde weiter gezogen, da befahl der Älteste die Weiterreise. Inzwischen behandelte er den Magier eher wie ein Ding denn wie einen Menschen. Ein Ding, das Mimoun zu tragen hatte.

Sicher im Arm des Hanebito ging die Reise weiter. Am Boden, weit unter ihnen, sah er, wie der Fluss sich entfernte. Ihr Reiseziel, die Schlucht des Todes schien in weite Ferne zu rücken. Und sein schönes Boot lag am Ufer dieses Flusses und würde dort verrotten. Diese Hanebito waren echt Barbaren.

Der Braunhaarige beschloss, sie ebenfalls als nichts weiter als Gegenstände zu betrachten und sie zu ignorieren. So wie er die Diener in seinem Haus hatte ignorieren müssen. Genug Übung hatte er ja damit. Wenn er bei den Diplomaten war, würde er sie fragen, warum dieser Krieg stattfand, dann würde er wieder gehen und seine Drachen suchen. An diesen Gedanken klammerte er sich, während er versuchte, die Kälte unter Kontrolle zu halten.
 

Dhaôma war still geworden und auch Mimoun sprach kein Wort. Es gab nichts zu sagen. Nichts, das sich durch Worte ändern ließ. Sie waren Gefangene.

Mimoun drückte seinen Freund fest an sich und versuchte Kräfte sparend zu fliegen, nutzte häufig Luftströmungen, um darauf zu gleiten, denn auch wenn die Ratsinsel glücklicherweise gerade nahe war, war es ein weiter weg. So war sein Kurs nicht unbedingt zielgerichtet, doch nach den anfänglichen Befehlen zur Kurskorrektur an den jungen Geflügelten sahen sie die Sinnlosigkeit ihrer Bemühungen ein. Zwei klemmten sich direkt hinter ihn und folgte seiner Spur. Mimoun schnaubte verächtlich. Als ob er fliehen könnte unter diesen Bedingungen!

Doch alle Bemühungen brachten nichts. Zu sehr zehrte das Gewicht des Magiers von seinen Kräften. Sein Atem ging schwer und seine Bewegungen wurden nach weiteren zwei Stunden zittrig und unsicher. Fast hatte er seinen Stolz und seine Aggressionen gegen ihre Bewacher überwunden, um eine erneute Pause zu erbitten, als er spürte, wie sich Dhaôma in seinen Armen bewegte. Dieser zog die Decke dichter um sich und barg sein Gesicht an Mimouns Schulter. Es musste entsetzlich kalt für ihn sein und er setzte schon an, nach einer Pause zu verlangen, als er die Finger spürte, die über seine Brust krochen. Mitfühlend schaute er dem Magier ins Gesicht. Doch es wandelte sich in Erstaunen, als er dessen Zeichen glühen sah. Nahezu gleichzeitig spürte er seine Kräfte zurückkehren. Er begriff, was sein Freund da tat und es erfüllte ihn mit tiefster Dankbarkeit.

„Schlaf ruhig. Ich passe auf dich auf.“, flüsterte er Dhaôma zu, als das Leuchten erlosch. Dieser wirkte müde und erschöpft und es dauerte nicht lange, bis er tatsächlich in seinen Armen eingeschlafen war.

Erleichtert und nach einer weiteren Pause sah der junge Geflügelte schließlich ihr Ziel vor sich auftauchen. Es war schon fast Abend. Die Insel war größer als die umliegenden und schwebte leicht über ihnen. Aufgrund der Höhe, in der sie schwebte, war es nur dünnem Gras und niedrigen, krüppeligen Sträuchern möglich, sich hier zu halten. Auf dieser Insel lebte niemand. Hier traf sich nur der Rat in regelmäßigen Abständen. Für diesen Zweck wurde in der Mitte ein großer Platz von allen Pflanzen befreit und in gleichmäßigen Abständen erhoben sich die dreißig Steinsäulen, auf denen die Würdenträger zu sitzen pflegten. Waren Versammlungen anberaumt, wurde der Platz von Lederbahnen umrahmt, um neugierige Blicke und Wind fern zu halten. So war es auch dieses Mal. Vorsichtig landete Mimoun bereits am Rand und ließ seinen Blick über die Insel schweifen. Es waren viele Neugierige hier. Nachrichten verbreiteten sich schnell. Und so schnell wie sich die Geschichte seiner Rettung verbreitet hatte, wurde auch die Nachricht verbreitet, dass genau dieser Magier nun hier herkam.

Mimoun drückte das schlafende Bündel in seinen Armen noch fester an sich und strebte dem verborgenen Ratsplatz entgegen. Möglichst schnell weg von hier, bevor Dhaôma aufwachte. Das wäre vielleicht zu viel für seine Nerven.
 

Der Junge erwachte durch die Änderung im Rhythmus. War es vorher ein sanftes Wiegen gewesen, war es nun Geschaukel. Sofort war er hellwach. Er konnte die geflügelten Gestalten sehen, die alle ihn anstarrten. Er hörte das Gewisper im Wind und spürte Mimouns Herz schnell unter seinen Fingern schlagen. Der Hanebito war genauso aufgeregt wie er.

„Du hast mich genug getragen.“, sagte er leise. „Lass mich runter. Ich kann gehen.“
 

„Bist du sicher?“ Zweifelnd sah er auf seinen Freund herab und schüttelte dann den Kopf. „Es ist okay. Es ist nicht mehr weit. Bleib noch unter deiner Decke.“ Er erhöhte den Druck des Griffes um den Körper in seinen Armen minimal, um anzuzeigen, dass Dhaôma sich nicht herauswinden sollte. Zügig schritt er weiter aus.
 

„Es macht einen schlechten Eindruck, wenn ich nicht einmal alleine laufen kann.“, wandte Dhaôma ein. „Der erste Eindruck ist wichtig.“ Fast hatten sie das komische Lederzelt erreicht.
 

Das sah der junge Geflügelte ein und stellte den Magier vorsichtig auf die Füße. Zur Stütze ließ er eine Hand auf dem Rücken seines Freundes ruhen. Tief atmete er ein und führte Dhaôma dann zu dem Zelt. Er stemmte eine der schweren Lederbahnen beiseite und ließ den Magier eintreten. Kurz ließ er ihm die Zeit sich auf dem großen Platz umzusehen und zeigte schließlich mit einer Handbewegung auf das Zentrum des Kreises.

Es waren alle anwesend. Nicht einer hatte es sich nehmen lassen, diesen ungewöhnlichen Magier selbst in Augenschein zu nehmen. Die Augen von jedem Einzelnen ruhten mit teils neugierigen, teils misstrauischen und auch dem zu erwartenden verabscheuenden Ausdruck auf den Eingetretenen.
 

Kaum berührten Dhaômas Füße den Boden, machte er eine Wandlung durch. Die angedrillte Erziehung zog, als sein Rücken gerade wurde und er seine Schultern zurückzog. Auf seine Lippen legte sich ein schmales Lächeln, freundliche Distanzierung, die zum Glück die Angst verbarg. Die Decke war nun mehr ein Umhang, vorne komplett offen, wehte sie hinter ihm her, als er selbstbewusst in den Kreis schritt. Die abgerissenen, nicht wirklich standesgemäßen Kleider minderten den Eindruck, den er vermittelte: nämlich, dass er nicht irgendwer war.

Seine Augen tasteten über die Anwesenden, bevor er sich den ältesten Hanebito auserkor, einen gebrechlichen Alten, der auf der höchsten der Säulen saß, und vor ihm eine formvollendete Verbeugung tätigte. Ob es bei diesen Menschen genauso viel bedeutete, wie bei ihnen, konnte er natürlich nicht sagen, aber das tat nichts zur Sache.

„Mein Name ist Dhaôma en Finochinu en Regelin.“, ließ er mit lauter Stimme verlauten. „Ihr habt nach mir gerufen?“
 

Uff. Das war ja ein komplizierter Name, befand Mimoun für sich, schwieg aber. Die Wandlung, die sein Freund eben durchgemacht hatte, hatte ihn erstaunt. Kein Anzeichen mehr für seine Angst, die sicher noch irgendwo tief in ihm schwelte.

Der Älteste neigte kurz sein Haupt zur Begrüßung. „Mein Name lautet Addar Maral. Es freut uns zu sehen, dass du unserer Einladung gefolgt bist.“ Der Blick des Alten richtete sich auf den jungen Geflügelten, der an der Seite des Magiers stand. „Geh nun.“

Mimoun straffte sich ebenfalls. „Verzeiht meinen Ungehorsam, aber ich werde bleiben.“, erwiderte er schlicht und mit allem gebührenden Respekt in der Stimme. Was er zu der Sache mit der Einladung zu sagen hatte, behielt er lieber für sich.
 

Dhaôma musste ein Lachen unterdrücken. Hätte er das bei seiner Mutter gewagt, hätte er eine Tracht Prügel bezogen. Und den Blicken der alten Herren nach zu urteilen war das hier nicht anders. Sein Lächeln wurde ein wenig breiter.

„Es wäre freundlich von Euch, würdet Ihr ihm erlauben, bei mir zu bleiben.“ Der braunhaarige Junge sah seinen Begleiter einen Moment lang warnend an, dann wandte er sich wieder an den Alten. „Er wurde von Euren Boten nicht gerade freundlich behandelt und es wäre mir lieber, sie bekämen keine weitere Möglichkeit, ihre Gefühle an ihm abzureagieren.“
 

Mimoun nickte leicht. Er würde ab jetzt den Mund halten und Dhaôma machen lassen. Seine einzige Aufgabe war es nun, seinem Freund emotionale Rückendeckung allein durch seine Anwesenheit zu geben.

Prüfend ruhte der Blick Addars auf dem Magier, bevor sein Blick zu Mimoun glitt. Dieser hatte den Kopf leicht gesenkt und stand vertrauensvoll mit geschlossenen Augen neben der Person, die eigentlich zu seinen Todfeinden zählte. Mit einem knappen Nicken erklärte sich der betagte Geflügelte einverstanden, was ein protestierendes Stimmengemurmel zur Folge hatte, das mit einer einfachen Handbewegung zum Schweigen gebracht wurde.

„Du scheinst dir große Sorgen um unseren Jungen zu machen.“, stellte er ruhig und sachlich fest.
 

„Verständlich, denn er ist mein Freund.“ Es fiel ihm nicht einmal schwer, das zuzugeben. Viel schwerer fielen ihm die Worte, die er folgen ließ, denn sie waren ein Angriff auf dieses Volk. „Aber es bereitet mir Kummer, dass es nötig ist, mir hier an diesem Ort Sorgen um ihn zu machen. Sagt, ist ein Leben in den Augen dieses Volkes wirklich so wenig wert, dass man jemanden, der seinen Tag erst begonnen hat, ohne einen besonderen Grund tötet?“ Das war reines Interesse. Je nachdem, wie die Antwort ausfallen würde, wusste er, ob er weiter mit ihnen sprechen musste oder ob sich das einfach nicht lohnen würde.
 

Auf Addars Stirn erschienen zu seinen üblichen Falten noch Falten des Unmuts. Doch im Gegensatz zu seinen Ratsmitgliedern blieb er stumm. Erneut musste er sie mit einer Handbewegung zum Schweigen bringen.

„Das sind schwerwiegende Anschuldigungen, junger Magier. Was treibt dich zu dieser Annahme?“
 

„Verzeiht, falls ich Euch beleidigt haben sollte, aber auf meiner Reise hierher musste ich mit ansehen, wie Mimoun von einer der Inseln gestoßen wurde, indem man ihn halb bewusstlos schlug.“ Ehrerbietig senkte er den Kopf, so dass seine Haare nach vorne fielen.
 

„Von einer Insel zu fallen ist eigentlich nichts, was einen gesunden Geflügelten töten könnte.“, erklärte der Alte nachsichtig. „Doch wenn das mit den Schlägen stimmt, wird dies Konsequenzen haben. Ihr solltet mit allem nötigen Respekt behandelt werden, der einem Gast des Hohen Rates zusteht. Dies bezog sich nicht nur auf dich.“ Langsam neigte er sein greises Haupt. „Verzeiht bitte die Unannehmlichkeiten, die euch widerfahren sind.“
 

Erleichtert lächelte Dhaôma und richtete sich wieder auf. „Schon vergessen.“, antwortete er. Und weil er nicht wusste, wie er fortfahren sollte, kratzte er sich am Hinterkopf, was er, als er es bemerkte, sofort unterband. Er wurde sogar leicht rot, aber unter der Kälte seiner Nase fiel es kaum auf.

„Aber diese Frage war doch sicherlich nicht der Grund, weshalb Ihr mich eingeladen habt?“, fragte er schließlich, einerseits, um seine Verlegenheit zu überspielen, andererseits, um es dem Rat leichter zu machen, Fragen zu stellen.
 

„Wir waren neugierig auf diesen Magier, der es wagte, sich gegen sein eigenes Volk zu stellen und einen unserer Jungen zu retten.“, gab Addar offen zu. „Wir wollten erfahren, welche Gründe dich dazu trieben. Natürlich glauben wir dem Wort eines der Unseren, der bereits viel von dir berichten konnte. Doch verzeih, aber diese Geschichte klingt in unseren Ohren ein wenig… unglaublich.“
 

Ja, Mimoun hatte ihm gesagt, dass er über ihn hatte Bericht erstatten müssen. Das bedeutete, diese Männer wussten schon einiges über ihn. Oder eigentlich wussten sie gar nichts.

„Der einzige Grund ist, dass ich es nicht einsehe, jemanden als böse oder Feind zu brandmarken, wenn ich diesen jemand nicht kenne.“, antwortete er ein wenig verlegen. Dieser Grund klang in seinen eigenen Ohren unglaubwürdig und dennoch war es nichts als die Wahrheit. „Außerdem kann ich schlecht tatenlos daneben stehen, wenn jemand verletzt ist und demnächst verbluten wird.“
 

„Maral?“ Mimoun wandte leicht den Kopf, um den Sprecher zu mustern, der nun um Erlaubnis bat, sprechen zu dürfen. Es war ein alter Kriegsveteran, der sich nicht scheute, seine Narben zu zeigen. Auch nicht die seines linken Armstumpfes.

Mit einem knappen Nicken wurde ihm diese Erlaubnis erteilt.

Der Blick, den der Mann dem Magier zuwarf, sprühte vor Hass, doch klang seine Stimme ruhig und berechnend. „Und durch diese vagen Aussagen sollen wir dir Vertrauen schenken? Wie sollen wir glauben, dass du dich völlig ohne Hintergedanken zwischen die Fronten stellst? Was, wenn du uns nur in Sicherheit wiegen willst?“
 

Dhaôma runzelte die Stirn. „Ich habe nicht darum gebeten, dass Ihr mir vertraut.“ Er schüttelte den Kopf. „Und ich habe mich auch nicht zwischen die Fronten gestellt. Ich habe mich nicht todesmutig dazwischen geworfen, um Mimoun zu retten, ich habe lediglich dafür gesorgt, dass die anderen ihn nicht finden können. Davon weiß keiner etwas außer mir, ihm und jetzt euch.“
 

„Das heißt, du würdest dich nicht offen gegen dein Volk stellen, um den Jungen zu schützen, wie dieser es anscheinend tut?“, fragte Addar. Er hatte sich von seiner Säule erhoben und hielt auf den Magier zu, blieb kurz vor ihm stehen und sah aus wachen grünen Augen zu diesem auf. Der Blick war forschend, neugierig, ohne eine Spur von Hass oder Abneigung.
 

„Inzwischen schon.“ Dhaôma begegnete diesem Blick völlig furchtlos. Er hatte nichts zu befürchten, wenn er die Wahrheit sagte. „Für ihn. Ich werde mich im Kampf nicht auf Eure Seite schlagen und Euch und Eure Männer gegen die Magier verteidigen.“
 

„Das hätte ich auch nicht erwartet.“, gab der alte Mann schmunzelnd zu. „Was würdest du tun, ließen wir dich wieder nach unten? Was hätten wir von dir zu befürchten? Dass dieser Junge anscheinend sicher bei dir ist, finde ich erstaunlich, aber nicht besorgniserregend. Doch was ist mit uns?“
 

Wieder runzelte der Junge die Stirn. „Ich werde nicht helfen, gegen euch zu kämpfen, wenn Ihr das meint. Ich möchte gar nicht kämpfen.“ Die vielen Falten in dem alten Gesicht waren auf eine unerklärliche Weise beruhigend. Dieser Hanebito war wirklich alt. Vielleicht alt genug, um zu wissen, warum die Kämpf begannen. „Sagt, Addar Maral, was ist der Grund für diesen Krieg? Wisst Ihr das?“ Ehrliches Interesse klang in seiner Stimme mit.
 

Der alte Geflügelte schwieg lange, während er noch immer aufmerksam den jungen Mann vor sich musterte. „Niemand kennt mehr den wahren Grund. Zu lange liegt der Anfang zurück. Heute geht es nur noch darum, die zu schützen, die man liebt und zu überleben.“, antwortete er nach langem Überlegen. Er wandte sich ab und ging wieder zu seiner Säule zurück. Mit einem erleichterten Seufzen ließ der alte Geflügelte sich wieder darauf nieder.

Erneut meldete sich der Kriegsveteran zu Wort. „Wie kommt es, dass du dich nicht am Krieg beteiligst?“ Schnell hob er eine Hand, um eine vorschnelle Antwort zu unterbinden. „Abgesehen von der Tatsache, dass du nicht kämpfen willst. Ich schätze die Magier als minderwertiges Ungeziefer ein, die auf jede einzelne Schabe zurückgreifen müssen, um gegen uns bestehen zu können. Warum nicht auf dich?“
 

Dhaôma überging die Spitze auf sein Volk geflissentlich und auch die Frage, ob es nicht klüger wäre, einfach mit dem Kämpfen aufzuhören, und lächelte den Mann vergnügt an. „Weil ich in ihren Augen wertlos bin.“, gab der Junge die gleiche Antwort, wie er sie damals Mimoun gegeben hatte. Und weil das inzwischen nicht mehr stimmte, fügte er nach kurzem Zögern hinzu: „Zumindest war ich das, bevor ich losgegangen bin. Jetzt sähe die Sache vermutlich anders aus. Ein guter Grund, um nicht zurückzugehen.“
 

„Was ist nun anders?“, wollte der Veteran wissen. Er lehnte sich ein wenig vor und fixierte den Magier mit bohrendem Blick.
 

„Ich habe gelernt, wie man heilt.“, gab der Braunhaarige ohne zu zögern zurück. „Diese Kraft ist selten und begehrt. Hätten sie gewusst, dass ich die Gabe tatsächlich in mir trage, hätten sie niemals zugelassen, dass ich gehe.“ Nun, in erster Linie hatte er sie nicht gefragt, aber sie hätten ihn wohl auch nicht so ungnädig behandelt all die Jahre über.
 

Ungläubiges Gemurmel erhob sich rings um die beiden in der Mitte Stehenden und wie zufällig schüttelte Mimoun in diesem Moment seine Flügel ein wenig. Der junge Geflügelte warf dem Magier neben sich erneut ein dankbares Lächeln zu.

„Ach darum.“, erhob wieder Addar seine Stimme. „Ich hatte mich schon gefragt, wie es möglich war, dass dieser zerstörte Flügel nun wieder intakt ist. Du hast ihm damit einen großen Dienst erwiesen. Einen größeren vielleicht noch, als sein Leben zu retten.“

Nun ergriff ein noch relativ junger Geflügelter zur Rechten des Ältesten das Wort. „Steht nicht von Anfang fest, wozu ihr fähig seid?“, fragte er ungläubig.
 

„Nein.“, war alles, was Dhaôma darauf erwiderte.

Von schräg hinter ihm kam eine weitere Stimme. „Und wozu bist du fähig?“

„Ihr meint, im Moment?“ Geduldig drehte sich der Junge um und sah den Mann an. Graues Haar, ein Auge fehlte. Offenbar war auch er ein Kriegsopfer. Aber es war der größte Hanebito, den er je gesehen hatte. Selbst ihn überragte er noch um gut zwei Köpfe. Was für ein Koloss. „Ich lasse Pflanzen wachsen und verdorren und kann Eis schmelzen. Und natürlich das mit der Heilkraft.“ Irgendetwas hatte er mit dem Fluss auch gemacht, aber das konnte er nicht genau benennen.
 

Bei der Erwähnung von Pflanzen wachsen lassen, musste Mimoun wieder an die Erdbeeren denken, die weit entfernt von hier unangerührt vor sich hin wuchsen. Das hatte ein leises Grummeln seines Magens zur Folge, schließlich hatten sie sowohl Frühstück als auch jede weitere Mahlzeit auffallen lassen müssen wegen unvorhersehbarer Vorkommnisse. Doch bevor er sein Bedürfnis stillen konnte, mussten sie dieses Gespräch hinter sich bringen. Geduldig wartete er ab.

„Könntest du uns das zeigen?“, riss ihn die Stimme des jungen Geflügelten neben Addar aus seinem Selbstmitleid. Mimouns Kopf ruckte zu Dhaôma herum und verneinte wortlos. Dieser hatte doch erst Magie eingesetzt. Der Geflügelte wusste nun, wie Kräfte zehrend das war.
 

Dhaôma ignorierte das. Eine Bitte, die zeigen konnte, dass Magie nicht durchgehend schlecht war, wollte er nicht abschlagen.

Mit offenem Gesicht wandte er sich an Addar. „Darf ich denn? Ich musste einem Eurer Boten versprechen, nicht zu zaubern. Und es sieht so aus, als wäre es eine Menge Arbeit gewesen, diesen Ort hier von Pflanzen freizumachen.“
 

Mimoun rieb sich über die Augen und die Nasenwurzel. Der Blick, den er Dhaôma zuwarf, sprach eindeutig ‚Dummkopf’.

Der Älteste der anwesenden Geflügelten sah diesen kleinen Disput mit leisem Amüsement. Er hätte nie erwartet, dass es möglich war, dass sich zwei Jungen der verfeindeten Völker anfreunden konnten. „Dein Freund scheint nicht damit einverstanden zu sein.“, wies er lächelnd auf Mimoun. „Aber so lange du nicht den kompletten Ratsplatz überwucherst, sondern dich auf einen kleinen Bereich beschränkst, sei es dir gestattet.“ Er war neugierig dies zu sehen. Ein Magier bei der Anwendung seiner Fähigkeiten, ohne dass etwas zu befürchten stand.

Seine Ratsmitglieder waren von seinem Einverständnis teilweise nicht begeistert, wie erneut anschwellendes Stimmengemurmel deutlich machte. Ihnen wäre es lieber, dieser Kerl würde seine Magie nicht einsetzen.
 

Nickend ging Dhaôma in die Hocke. Er würde sich später bei Mimoun entschuldigen, aber jetzt war das hier wichtig. Mit ein wenig Bewegung der Schultern entfernte er die Decke, bevor er nach einer Antwort auf seine Magie im Boden suchte. Fast sofort meldeten sich kleine Grassamen und Wurzeln, die nur darauf warteten, dass sie wieder keimen durften.

Ein weicher Ausdruck erschien auf dem jungenhaften Gesicht, als er endlich wieder ein wenig Sicherheit empfand. Das hier kannte er. Das hier war seine Welt. Die Zeichen auf seinen Armen begannen zu leuchten, um seine Hände sprossen grüne Triebe, die schnell zu ausgewachsenen Gräsern wuchsen. Eine gelbliche Staubwolke erhob sich mit einem sanften Luftzug, als die Pollen freiwurden.

Damit stoppte Dhaôma. Hier oben waren so wenig Pflanzen, dass diese hier ruhig bleiben durften. Mit einem Kichern stupste er einen der Grashalme an, dann erhob er sich wieder, nahm in der gleichen Bewegung die Decke mit hoch und legte sie sich wieder um die Schultern. Mit Herzklopfen wartete er auf die Reaktion, die er zuvor ausgeblendet hatte.
 

Mimoun unterdrückte sein Bedürfnis, dem Magier einmal mit der flachen Hand an den Hinterkopf zu klapsen. Misstrauisch suchte er nach irgendeinem Anzeichen, dass es Dhaôma nicht gut ging. Nicht nur, dass er Magie wirkte, er hatte auch noch kurzfristig die Decke weggelegt, das einzig Wärmende, das er bei sich trug. Zwar hielten die Lederbahnen den scharfen Wind fern, doch es musste noch immer empfindlich kalt für seinen Freund sein. Das Kichern, das zu ihm drang, beruhigte ihn ein wenig. Es schien ihm gut zu gehen. Er schien nicht mehr ganz so große Angst zu haben wie zum Beginn ihres Fluges hierher.

„Hinter meinem Heim wächst ein altes Bäumchen. Es trug letztes Jahr keine Früchte mehr und dieses Jahr scheint er nicht einmal mehr Blätter treiben zu wollen.“, begann Addar, als er auch schon von mehreren aufgebrachten Stimmen unterbrochen wurde. Da sie alle durcheinander redeten, war ein genaues Herausfiltern einzelner Worte und Sätze schwierig. Diesmal unterbrach er sie nicht durch eine Handbewegung sondern stellte sich auf seine Säule und überragte damit alle. „Ich habe fast hundert Sonnenläufe vorübergehen sehen. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, eine ausgezeichnete Menschenkenntnis zu besitzen. Dieser Junge mag zwar ein Magier sein, doch er hat nicht einmal gelogen und ohne zu zögern alle unsere Fragen beantwortet.“

„Soll das heißen, Ihr wollt ihn wieder nach unten schicken?“, kam ein empörter Ruf von der anderen Seite des Rundes.

„Nein.“, beschwichtigte Addar. Er ließ sich wieder nieder und wandte sich erneut dem Magier zu. „Verzeih. Versteh bitte, dass ich dich nicht gehen lassen kann. Keiner meiner Leute würde dies gutheißen.“

Mimoun spannte sich unmerklich an. Ihm behagte die Richtung nicht, die sich zu entwickeln begann.
 

„Soll das heißen, ich werde den Frühling verpassen?“, fragte Dhaôma mit einem Gesicht, das tiefes Entsetzen ausdrückte. Bis ihm klar wurde, was es wirklich hieß: Er war ein Gefangener. Das, was er sich am meisten wünschte, wurde ihm genommen: seine Freiheit.

Enttäuschung stieg in ihm auf. Was sollte er denn hier oben? Es war kalt und unwirtlich und er konnte nicht wie die anderen einfach die Inseln wechseln. Egal auf welcher der Inseln sie ihn ließen, er käme nicht mehr weg. Was wohl der Grund war, weshalb sie ihn nicht wieder hinunter ließen.

Aber er nickte niedergeschlagen. Er verstand es. Selbst wenn es aus seiner Sicht völlig übertrieben war, aus ihrer Sicht war er eine Gefahr. Das war bittere Realität. „Kann ich dann bei Mimoun bleiben?“
 

„Natürlich. Dieser Junge wird für alle deine Aktionen verantwortlich sein.“

Mimoun entspannte sich. Mitleid erfüllte ihn, dass sein Freund nun hier oben gefangen war. Erleichterung gesellte sich dazu, da er sicher und in seiner Nähe war. Sacht legte er eine Hand an den Rücken des Magiers und bot ihm emotionale Stütze. Für diesen musste diese Tatsache schwer zu ertragen sein.

„Aber nun geht. Ich kann mir vorstellen, dass das ein schwerer Tag für euch beide war. Wir werden dich bei Gelegenheit noch einmal bitten, hier herzukommen.“
 

Dhaômas würdevolle Haltung spannte sich noch einmal, als er sich verneigte, wie er es gelernt hatte, dann sah er Mimoun bittend an. Er wollte hier weg. Ganz weit weg. Er wollte wieder auf die Suche nach den Drachen gehen, aber da das nun nicht mehr möglich war, würde es ihm schon genügen, dass er nicht mehr hier in diesem Kreis aus Anführern stehen musste. Was würde werden?
 

Mimoun nickte verstehend und wandte sich nach einem kurzen Gruß an den Ältesten ab und führte seinen Freund nach draußen. Dort standen noch immer die Neugierigen, die dennoch einen angstvollen Abstand hielten. Längst hatte sich der Himmel rot gefärbt und hinter dunklen Wolken verschwand langsam die Sonne. Mimoun blickte über die Menge und suchte ihre Häscher. Doch bevor er sie sah, sah er einen Schatten auf sich zu fliegen. Im buchstäblich letzten Augenblick war es ihm möglich, den Körper auf- und auch abzufangen, bevor er durch die schiere Wucht aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnte.

„Mimoun.“, hauchte eine vertraute Stimme an sein Ohr.

„Silia.“, keuchte er erschrocken, bevor er seine Arme um seine Schwester schlang. Wie kam sie so schnell hierher? Seine Heimatinsel musste wirklich nah sein, sonst hätte sie es niemals rechtzeitig geschafft. Doch er hielt sie nur kurz. Schnell schob er sie wieder von sich. „Bleib bitte kurz bei Dhaôma. Ich bin sofort wieder da.“ Erneut sah er sich nach ihren Häschern um. Kaum hatte er sie erspäht, ging er zu ihnen und forderte ihre Habseligkeiten. Diesmal ließ Mimoun es sich nicht nehmen seine Rüstung sofort anzulegen. Die restlichen Sachen in der Hand kehrte er zu seinem Freund zurück und sah nun auch seine Mutter bei ihm stehen.
 

Im Gegensatz zu Mimoun verdaute Dhaôma diesen Schreck nicht so schnell. Die letzte Begegnung mit diesem Mädchen war bezeichnend schlecht für ihn gelaufen. Erst hatte sie ihn angegriffen, dann hatte sie ihm gedroht und was sie getan hätte, hätte seine Magie nicht verrückt gespielt und sie verschreckt, wollte er gar nicht wissen. Auch damals hatte Mimoun sie abgefangen.

Panisch wollte er seinem Freund hinterher laufen, doch dessen Mutter schüttelte nur lächelnd den Kopf, so dass er wieder einen Schritt zurück machte. Die Decke enger um sich ziehend, sagte er misstrauisch: „Es geht ihm gut. Ihm ist nichts passiert!“
 

„Das sehe ich.“, sagte sie sanft und wandte sich ihrem Sohn zu, zog ihn kurz in ihre Arme. „Dein Flügel.“

Mimoun wandte sich grinsend an Silia und klappte ihn leicht auf, da sie darauf zustürzte und grob die Flügelkanten anpackte. Ungläubig blickte sie auf die unversehrte Flughaut und auch seine Mutter strich kurz mit den Fingerspitzen darüber. Doch schnell entzog er sich wieder ihren Händen.

„Bitte lasst uns alles weitere Zuhause besprechen.“ Mit einem traurigen Blick auf Dhaôma fügte er hinzu: „Wir haben ja nun viel Zeit.“ Er drückte den Frauen ihre Habseligkeiten in die Hand und schlang seine Arme um den jungen Magier. „Fliegen wir.“, sagte er leise und hob ab, strebte seiner Heimatinsel zu, als ihm ein Gedanke kam. Sofort stieg er ein wenig höher und wandte sich einer bestimmten Richtung zu. „Dhaôma. Sieh. Dort hinten.“
 

Der braunhaarige Junge folgte dem Blick, während er sich an ihm festhielt. Was er sah, überstieg seinen Verstand. Es sah aus wie eine Luftspiegelung. Es war blau und grau und blutrot und glitzerte ganz weit in der Ferne. Daneben oder dahinter war nichts außer Himmel.

Fragend sah er Mimoun an.
 

Traurig lächelte dieser, als er erklärte, worum es sich bei dem blau glitzernden Streifen handelte. „Das Große Wasser.“
 

Die braunen Augen weiteten sich ungläubig und er sah noch einmal in die Richtung. Das war das Große Wasser? Es war riesig! Niemals hätte er sich das vorstellen können! Hitze stieg in seine Wangen und Aufregung kribbelte in seinen Fingern.

„Das ist noch unendlich weit weg!“, rief er. „Viel zu weit, um in einem Jahr dorthin zu laufen!“ Das bedeutete, er würde es in diesem Jahr nicht schaffen. Gerade, weil ihm die schönste Zeit des Jahres geraubt wurde. Vorausgesetzt, er durfte irgendwann wieder hinunter.

Müde kuschelte er sich enger an den Schwarzhaarigen, war es dort doch wärmer. „Irgendwann komme ich dahin.“, murmelte er. „Immerhin habe ich es den Drachen versprochen, nicht wahr?“
 

„Ja. Das hast du.“, bestätigte Mimoun seinem Freund leise. „Du wirst dorthin gehen.“

Die Pause, die ihm bei dem Rat vergönnt war, hatte ihm einen Teil seiner Kräfte zurückgegeben. Doch nun mit der Rüstung trug er zusätzliches Gewicht und so beeilte er sich, seinen beiden Frauen zu folgen. Dass sie noch bei Dämmerung losflogen, bedeutete wahrscheinlich, dass die Insel zur Zeit wirklich ganz nah an der Ratsinsel war. Das passierte selten genug. Was für ein Glück für sie, dass es in diesem Jahr der Fall war.

Noch eine ganze Weile wurden sie von Neugierigen verfolgt, die noch einen letzten Blick auf den Magier erhaschen wollten, aber auch die Hartnäckigsten zerstreuten sich schließlich.
 


 

Sag mir, was ist geschehen,

was ist bloß los, mit unserer Welt?

Wann werden wir verstehen,

es geht um uns und das ist was zählt.

Keine Angst es ist niemals zu spät,

solang’ die Hoffnung in uns weiter lebt.

Wir warten nur auf den Augenblick,

wir sind bereit, es gibt kein zurück!
 

[Frei wie der Wind - Monsterrancher]

Trautes Heim

Kapitel 17

Trautes Heim
 

Als sie knapp drei Stunden später ihre Heimatinsel erreicht hatten, fühlte sich Mimoun wieder erschöpft und ausgelaugt und es war stockdunkel. Dennoch war fast das ganze Dorf zusammengekommen, um den lange abwesend gewesenen Wanderer zu begrüßen und ebenfalls neugierige Blicke auf den Magier zu erhaschen.

„Hey. Aufwachen.“, sagte der junge Geflügelte und versuchte, seine Finger durch die Decke zu pieken. „Du bist schwer.“
 

Schlaftrunken öffnete Dhaôma die Augen und ließ sich dann absetzen. Eigentlich hatte er an diesem Tag ziemlich viel geschlafen, aber dennoch fühlte er sich noch immer müde.

Das änderte sich schlagartig, als er erkannte, wo er war und dass schon wieder so viele Hanebito um sie herum versammelt waren. Hörte das mit denen denn nie auf? Stumm straffte er sich und sah sich um. Das vereinzelt wachsende, karge Leuchtmoos spendete ein wenig Licht, gerade genug, um etwas zu erkennen. Viele neugierige, verschattete Gesichter, viele davon freundlich und erfreut. Das galt sicherlich Mimoun.
 

Sie befanden sich auf einer der kleineren Inseln, die sich aber gut zum Bewohnen eignete. Auf der Insel verteilt standen zwölf aus Steinquadern erbaute Hütten unterschiedlichster Größe und Höhe, die von etwa fünfzig Geflügelten bewohnt wurden, welche alle versammelt um sie standen. Die Lederplanen, die im Winter den zentralen Platz vor dem Wind geschützt hatten, waren mittlerweile wieder verschwunden und irgendwo sicher verstaut. An dem von ihnen am weitesten entfernten Punkt dieser Insel standen einige krüppelige Obstbäume, schon vor Jahren vertrocknet. Was von oberhalb der Insel nicht zu erkennen war, war der seitlich an der Insel befindliche Eingang zu dem unterirdischen Labyrinth, das sowohl die kleine Bibliothek dieser Insel als auch die Vorratskammern für den Winter beherbergte.

Ein älterer Geflügelter trat einen Schritt aus der Menge auf Dhaôma zu. „Willkommen in unserem Dorf, Magier.“, begrüßte er ihn förmlich. Dies erwiderte Angesprochener nur mit einem höflichen Lächeln.

„Oldon ist unser Dorfvorsteher. Den Rest stell ich dir morgen vor.“, erklärte Mimoun kurz seinem Freund, bevor er sich wieder an die Versammelten wandte. „Entschuldigt bitte. Ihr könnt Dhaôma morgen kennen lernen. Wir würden uns gerne ein wenig erholen.“

Bereitwillig wurde ihnen der Weg zu Mimouns Heim frei gemacht. Doch zerstreuen wollten sie sich nicht und blickten den beiden tuschelnd nach, als sie in einer der kleineren Hütten verschwanden.

Als die zwei Freunde eintraten, waren die Frauen gerade am umräumen. Wortlos hatten sie akzeptiert, dass der Magier ab nun bei ihnen wohnen würde. Darum verlegten sie Silias Schlafplatz in den Raum der Mutter, damit die beiden Jungen einen separaten Rückzugsraum hatten, und richteten dort ein zweites Lager ein. In diesen geleitete Mimoun seinen Freund, bevor er sich den Frauen zuwandte. Von ihnen ließ er sich aus der Rüstung helfen. Er fühlte sich zu zerschlagen, um dies allein zu bewerkstelligen.

„Ihr seid die Besten.“, dankte er ihnen und drückte sie fest an sich. Er fühlte sich wohl, wieder zu Hause zu sein, doch tief in ihm brannte das Mitgefühl für Dhaôma und dessen Situation.

„Ruht euch aus.“, verlangte seine Mutter. Mimoun nahm sich ein wenig Essen aus dem hauseigenen winzigen Vorratsraum und verschwand nach einem erneuten, dankbaren Nicken in dem kleinen Raum, den er von nun an mit Dhaôma zusammen bewohnen würde. Er reichte seinem Freund kleine getrocknete Früchte, ein wenig Fleisch und den Wasserkrug.
 

Wortlos und dankbar nahm dieser alles entgegen. Als erstes stillte er seinen Durst. Einen ganzen Tag ohne einen Tropfen Wasser hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Danach aß er, was sein Magen fassen konnte. Noch immer wortlos rollte er sich schließlich unter seiner Decke ein und schloss die Augen.

Eigentlich hatte er gedacht, niemals schlafen zu können, doch als ihn ein Gedanke streifte, musste er lächeln. „Jetzt konnte ich dich doch noch besuchen kommen.“, murmelte er, bevor er einschlief.
 

„So kann man das natürlich auch sehen.“, lachte der junge Geflügelte leise. Auch er hatte sein Mahl beendet und rollte sich auf seinem Lager zusammen. Doch obwohl er gern geschlafen hätte, blieb er noch eine ganze Zeit wach und betrachtete den Magier im Halbdunkel des Raumes. Dass dieser nun hier war, war allein Mimouns Schuld. Nur aufgrund des Briefes war es ihnen möglich gewesen, sie aufzutreiben. Nur weil er das Bedürfnis gehabt hatte, seiner Familie Gewissheit über sein Schicksal zu verschaffen, hatte er Dhaôma ans Messer geliefert. Niemand konnte nun sagen, was geschehen würde. Niemand konnte sagen, ob die Geflügelten ihn je freiwillig ziehen lassen würden.

„Vergib mir.“ Leise verklangen die geflüsterten Worte in dem stillen Raum. Dann wurde auch Mimoun vom Schlaf übermannt.
 

Dhaôma war am nächsten Morgen schon früh wach. Er musste auf das Stille Örtchen, doch er hatte gar keine Ahnung, wo das war. Noch bevor er die Augen ganz geöffnet hatte, wusste er, wo er war. Unter Hanebito. Und wer wusste schon, wie die reagierten, wenn er alleine umherstromerte.

Vorsichtig und leise setzte er sich auf und lauschte in die Dunkelheit hinein. Es war alles ruhig. Keiner regte sich. Offenbar war er der erste, der wach war. Wenn er Glück hatte, würde er niemandem begegnen und wieder zurück sein, bevor jemand wach wurde. Lautlos erhob er sich und schlich aus dem Haus.

Was er sah, als er hinauskam, ließ ihn sein Vorhaben vergessen. Niemals hatte er einen solchen Sonnenaufgang gesehen. Die Farben waren reiner und klarer als selbst auf dem Gipfel des Wolfsberges! Sie strahlten in einer unbeschreiblichen Harmonie und ließen sein Herz hüpfen vor Freude. Erst als ein Frösteln seinen Rücken und die Haut an seinen Armen hinab rann, erinnerte er sich wieder, dass er sich eigentlich nur kurz erleichtern wollte.

Reichlich verloren sah er sich um. Und rannte schließlich über den ganzen Platz zu den Obstbäumen hin. Dort, verdeckt von den knorrigen Stämmen, erledigte er sein Geschäft, bevor er sie ansah. So trockene Bäume waren wirklich selten. Es war zu schade um sie. Sachte strich er über die bröckelige Rinde. „Du würdest Kirschen tragen, nicht wahr?“, fragte er leise. „Ist es hier oben schon warm genug, damit deine Blüten es überleben?“, sprach er weiter und lächelte. „Ich werde Mimoun fragen und dich dann wecken, ja? Er freut sich vielleicht, wenn du wieder blühst.“

Genauso schnell huschte er zurück zu der kleinen Hütte und hinein. Kurz lauschte er, doch es war noch immer alles still. Und so kroch er wieder unter seine Decke und wartete darauf, dass die Bewohner erwachen würden, damit er fragen konnte, was er durfte und was nicht. Heimlichkeiten waren nicht unbedingt sein Ding.
 

Schon kurz nach Sonnenaufgang erwachten die beiden Frauen des Haushalts und verließen die Hütte. Als sie einige Zeit später zurückkamen, bereitete Silia das Frühstück vor, während die Mutter einen vorsichtigen Blick in den Raum mit den beiden Jungen warf. Der Magier war bereits wach und starrte an die Decke, stellte sie erstaunt fest. Dabei hatte sie damit gerechnet, dass sie aufgrund der gestrigen Ereignisse noch länger schlafen würden.

„Guten Morgen.“, begrüßte sie ihn höflich. „Möchtest du etwas essen?“ Ihr Blick wanderte über ihren Sohn, der noch friedlich zu schlummern schien, und er wurde sanft und liebevoll.
 

Dhaôma hatte fast schon erwartet, dass sie kommen würde. Vor Neugier oder Sorge oder sonst etwas. Aber dass sie ihn ansprach, erschreckte ihn. Vorsichtig setzte er sich auf und blickte sie misstrauisch mit seinen braunen Augen an. Sie sah nicht böse oder genervt aus. Ob er es wagen konnte, das Angebot anzunehmen?

„Wenn es Euch keine Umstände macht…“, wagte er es schließlich und sah sich dann nervös um. Er sollte aufstehen, um Mimoun nicht zu wecken, aber ob er das durfte?
 

„Du bist unser Gast. Es macht uns keine Umstände.“, erklärte sie leise. Ihr war der Blick des Magiers nicht entgangen. Auch seine Nervosität war offensichtlich. Dieser Magier würde sich hier so schnell nicht wohl fühlen können. Langsam ging sie um Dhaôma herum und kniete sich neben ihren Sohn. Sanft strich sie ihm über die Stirn. „Steh auf, großer Beschützer. An die Arbeit.“, verlangte sie mit leisem Lachen.

Missmutig brummend reagierte dieser auf die Störung. Die Augen weiterhin geschlossen haltend wischte er die Finger beiseite. Doch erneut wurde er angestupst. „Ja.“, murrte er verschlafen und stemmte sich in die Höhe. Müde rieb er sich die Augen und gähnte herzhaft.

„Es gibt gleich Frühstück, macht euch fertig.“, wies die Frau an und erhob sich, verließ den Raum wieder.

Mimoun nickte verstehend und kaum war seine Mutter wieder weg, ließ er sich wieder nach vorne kippen. Er hatte sich gestern einfach zu sehr verausgabt. Er wollte eigentlich nur schlafen.
 

Kichernd sah Dhaôma ihm dabei zu. Die Frau war aber auch gemein, ihn einfach zu wecken. Das hatte Mimoun nicht verdient. Aber er konnte kaum etwas dagegen sagen, wenn die Mutter es anordnete, nicht wahr?

Schnell kroch er neben ihn und beugte sich zu ihm hinunter. „Was meint sie mit ‚macht euch fertig’?“, flüsterte er leise.
 

„Blase entleeren, waschen, notfalls umziehen.“, wurden die Anweisungen in die weiche Unterlage genuschelt. „Vor allem aber wach sein.“ Noch immer rührte sich der Geflügelte nicht. Dass ihn nun der Nächste unverschämt von der Seite anquatschte, erschwerte sein erneutes Einschlafen gewaltig. Er ließ seinen Kopf zur Seite kippen und blinzelte müde zu seinem Freund hinauf. Dieser schien ja schon wieder sehr munter zu sein. Na wenigstens einer von ihnen hatte dieses Glück. Erneut stemmte er sich in die Höhe und strebte nach draußen, achtete nur am Rande darauf, ob der Magier ihm folgte. Er führte ihn außerhalb des Dorfes an einen Platz, einer kleinen Senke, wo man sich ungestört erleichtern konnte. Träge schlurfte er als nächstes zum Rand der Insel und deutete auf eine dicht unter ihnen Schwebende.

„Neben den Höhlen befinden sich zwei Seen. Dort kann man bei Bedarf baden. Da sie keinen Fischbestand beherbergen, sind sie für nichts anderes geeignet. Verzeih. Ich bring dich später hin und dann überlegen wir uns einen Weg, wie du ohne Hilfe dorthin gelangen kannst.“ Mimoun gähnte herzhaft, bevor er sich schlurfend wieder auf den Rückweg machte. Seine Kleider sahen gut aus, befand er, ohne sie sich angesehen zu haben, und setzte sich in den mit Pelzen ausgelegten Vorraum. Noch einmal gähnte er.
 

Dhaôma war ihm gefolgt, wie ein Kalb seiner Mutter in neues Gebiet folgt. Eingeschüchtert, dicht an ihn gedrängt, sich umsehend. Mimoun schien es nicht zu stören, wenn ihn die anderen ansahen. Vielleicht war er auch noch nicht wach genug.

Zurück in dem kleinen Haus fühlte er sich fast schon wieder besser, bis er sah, dass das Mädchen, Silia, auch dort saß. Kaum merklich zögernd beschloss er, einen Bogen um sie zu schlagen, der auffälliger war, als er beabsichtigte, bevor er sich halb hinter Mimoun setzte. Die Decke, die er wieder mitgenommen hatte, zog er dichter um sich, denn trotz Steinwände und Lederverdeck war es in der Hütte nicht wirklich warm.
 

„Ich beiße schon nicht.“, kommentierte das Mädchen diese Aktion pikiert. Als wenn es für sie einfacher war, dass sie nun mit einem Magier unter einem Dach leben musste.

Mimoun selbst war zu müde gewesen, um auf die Aktionen und Reaktionen seines Freundes zu achten und besah sich die Szene nun ein wenig irritiert. Doch er konnte nichts tun. Wie er bereits einmal festgestellt hatte, musste jeder für sich diese Grenze aus Furcht und Hass überwinden, die die zwei Völker trennte. Schläfrig rieb er sich über die Augen.

Um seine Schwester von Dhaôma abzulenken, nahm er den Anhänger ab und reichte ihn ihr zurück. Ihr Gesicht strahlte glücklich, als sie den Stein endlich wieder in den Händen hielt, doch ihr Blick wurde misstrauisch. „Das ist aber nicht das Band, das den Stein früher gehalten hat.“, stellte sie mit unheilschwangerer Stimme fest und fixierte ihren Bruder.

„Ist zerstört worden, als er meinen Flügel geheilt hat.“, meinte Mimoun mit einer trägen Handbewegung auf Dhaôma. Silias Kopf ruckte zu dem Magier herum. Und schlagartig war der junge Geflügelte wach. Ups. Das hätte er jetzt vielleicht nicht sagen sollen. Beschwichtigend hob er die Hände. „Es ging nicht anders. Sei nicht böse. Der Stein ist ja nicht verloren gegangen.“
 

Unter ihrem Blick zuckte der Braunhaarige zurück. Er selbst wusste nichts davon, dass irgendein Band von dem Stein zerstört worden war. Dementsprechend verzweifelt war er. Hätte er es gesehen, hätte er sich entschuldigen können, aber bis gerade eben hatte er keine Ahnung gehabt, dass er irgendwas damit getan haben könnte! Verunsichert suchte er stummen Rat bei Mimoun.
 

Mimoun wandte sich zu seinem Freund um. „Stimmt ja. Das hatte ich gar nicht erwähnt. Als ich damals wieder aufwachte, waren die künstliche Flughaut, meine Kleider und halt das Lederband zerfallen. Alles was aus Leder war. Warum meine Rüstung intakt blieb, weiß ich nicht, aber ich bin froh darüber.“

Er wandte sich wieder seiner Schwester zu, um sie weiter zu beschwichtigen, doch nun betrat schlussendlich auch seine Mutter den Raum und mahnte mit wortlosen Blicken ohne Streit zu frühstücken. Ohne Widerworte beugte sich der junge Geflügelte ihrem Wort, aber die Blicke, die er seiner Schwester zuwarf, baten deutlich um Nachsicht und Gnade.
 

Also hatte er auch die Zerstörung tierischer Materialien gelernt?

Fröstelnd zog Dhaôma die Decke enger um sich. Ihm war plötzlich kälter. Wenn seine Leute davon erfuhren, stand außer Frage, dass er mit sofortiger Wirkung an die Front geschickt wurde! Eine bessere Technik, um zu töten, gab es nicht.

Mit einem dankbaren Nicken nahm er das Essen an, bevor er wieder zu Boden sah. Diesen Schreck musste er erst einmal verdauen. Und dann hatte er noch Mimouns Kleider zerstört! „Es tut mir Leid.“, sagte er leise.
 

„War doch nicht mit Absicht.“, beschwichtige Mimoun. Da hatte er ja was angerichtet. Bevor er das nächste Mal im Halbschlaf das Wort ergriff, sollte er seinen Kopf einmal lange unter Wasser halten, um vielleicht vorher klar zu werden.

Silia hielt den Stein mit einer Hand umklammert und durchbohrte ihren Bruder mit missgelaunten Blicken. Er würde bluten müssen, um diesen Frevel zu bereinigen.

Als sie ihr Mahl beendet hatten, half Silia ihrer Mutter beim Aufräumen und Mimoun wandte sich Dhaôma zu. „Kommst du mit raus? Soll ich dir das Dorf vorstellen?“
 

Dhaôma nickte. Alles war besser, als bei dem Mädchen zu bleiben. Sie war ihm entschieden zu unberechenbar.

„Mimoun, wann blühen die Bäume normalerweise?“, fragte er, als sie gerade das Haus verließen. „Ist ihre Zeit schon gekommen?“
 

Mimoun blieb stehen und sah den Magier fragend an, bevor er auf die Bäume blickte.

„Sie blühen schon lange nicht mehr.“ Erst dann ging ihm auf, wem er das gerade gesagt hatte. Dem Magier dürfte das durchaus aufgefallen sein. Und noch etwas ging ihm auf. „Du würdest sie wieder blühen lassen?“, fragte er hoffnungsvoll.
 

„Ich wollte. Aber dazu muss ich wissen, ob sie das auch überleben.“, nickte der Braunhaarige. „Es sind so schöne Bäume. Es wäre schade, wenn sie im nächsten Winter zu Feuerholz würden.“
 

„Ja. Sie müssten jetzt anfangen zu treiben.“, antwortete Mimoun erfreut. Es wäre so schön, alte Erinnerungen aufzufrischen. Dann schnippte er mit den Fingern, als wäre ihm etwas eingefallen. „Feuerholz.“, platzte es aus ihm heraus. „Und wärmere Sachen. Vor allem intakte.“ Sie näherten sich zwar nun immer mehr dem Sommer, doch bei den Magiern wusste man nie. Und er brauchte Feuer, da er sich nicht so gern von Rohkost ernährte. Irgendwie musste er es schaffen, jede Menge Holz dafür aufzutreiben, ohne seinen Freund zu lange allein zu lassen und sein Dorf unnötig zu belasten.
 

Amüsiert legte Dhaôma den Kopf schief. Irgendwie kam er sich vor, als wären ihre Rollen vertauscht worden. Hatte er bei ihrem Kennen lernen alles für Mimoun getan, dann war es jetzt genau umgekehrt.

„Ist mein Pelz denn nicht endlich trocken?“, fragte er. „Der würde schon reichen, denke ich.“

Sehnsüchtig ging sein Blick zu den Bäumen. Wenn das Jahr schon so weit fortgeschritten war, dass sie treiben würden, dann konnte er sie auch gleich blühen lassen. Es würde eine wundervolle Harmonie mit dem Sonnenaufgang vom Morgen ergeben.
 

„Ich weiß nicht.“, gestand Mimoun. Gestern waren sie einfach nur umgekippt und hatten geschlafen. Er hatte sich nicht darum gekümmert, dass der Pelz vernünftig trocknen konnte. Genauso wenig konnte er bestimmen, ob die Frauen, die ja ihre Habseligkeiten getragen und verstaut hatten, sich darum gekümmert hatten.

„Es tut gut dich zu sehen.“

Mimoun drehte sich zu der Stimme um, die hinter ihm erklungen war. Dort standen acht vornehmlich ältere Männer des Dorfes mit Bögen bewaffnet. Sie würden sich gleich auf die Jagd machen, das sah der junge Geflügelte.

„Ich freue mich, wieder hier zu sein.“, erwiderte Mimoun, trat auf die Gruppe zu und begrüßte jeden Einzelnen erfreut.

„Verzeih.“, wandte sich der Sprecher von eben an den Magier mit einem höflichen Nicken. „Aber wir brauchen ihn. Zwei unserer Jäger sind verhindert und uns fehlt tatkräftige Unterstützung.“

Mimoun trat einen Schritt zurück und sah unglücklich zwischen den beiden Parteien hin und her. Einerseits war es schon ewig her, dass er sich an einer großen Jagd beteiligt hatte, andererseits wollte er Dhaôma vor allem in seiner Anfangszeit hier nicht allein lassen.
 

„Das ist in Ordnung.“ Es beruhigte ihn, dass er hier nicht die gleiche Missachtung erfuhr wie beim Hohen Rat. „Ich wollte sowieso zu den Bäumen.“ Dhaôma deutete auf die Gerippe, die traurig im Wind standen. „Und Mimoun ist gut im Jagen.“
 

Prüfend musterte er seinen Freund. Es schien ihn wirklich nicht zu stören. Also nickte er zum Zeichen seines Einverständnisses. „Ich komme sofort.“, wandte er sich an die Jäger. An Dhaôma gewandt, sagte er: „Ich erkundige mich schnell wegen dem Pelz. Und ich komm so schnell es geht zurück.“

Schnell schlüpfte er wieder in seine Hütte und kramte Pfeil und Bogen hervor. Suchend glitt sein Blick durch den Raum und entdeckte den Pelz knapp unter der Decke. Prüfend fuhren seine Finger über das Material. So gut wie trocken. Es waren nur noch wenige Stellen feucht. Kurz teilte er dem Magier den Aufbewahrungsort des Pelzes und seinen Zustand mit und verließ dann mit den Jägern zusammen die Insel.

Es war ein berauschendes Gefühl gemeinsam mit seinen Freunden durch die Luft zu gleiten, sich von dem Wind tragen zu lassen und als tödlicher Schrecken von oben auf ihre Beute herabzustoßen. Ein Pfeil nach dem anderen traf sicher sein Ziel und es dauerte nicht lange, bis sie genug Beute für das gesamte Dorf hatten. Während sich die anderen Jäger hektisch daran machten, alles Unverwertbare der Tiere zu entfernen, um die Last zu verringern, entschuldigte sich Mimoun kurz, um noch etwas für den Magier zu tun. Eine halbe Stunde später kehrte er mit einem kleinen Bündel Holz im Arm zurück. Mehr ließ sich auf die Schnelle in der Ebene nicht auftreiben.

Schnell half er seinen Freunden bei der Erledigung der letzten Handgriffe und schnürte alles in den Fellen zusammen. Gemeinsam begaben sie sich auf den Rückweg. Das Fleisch, die Felle, Knochen und Hörner, die komplette Beute wurden den bereits wartenden Frauen übergeben, die sich sofort an ihre Arbeit machten.

Mimoun ließ das Holz neben den Eingang seines Heims fallen und begab sich zu den Bäumen.
 

Dhaôma winkte, bis sie nur noch kleine Punkte waren. Hinter ihm standen zwei Kinder. Das eine bohrte in der Nase, das andere gaffte einfach so. Sie schienen wenig Angst vor ihm zu haben.

Mit einem freundlichen Lächeln nickte er ihnen zu, dann wandte er sich ab. Zu gerne hätte er mit ihnen gespielt. Kinder waren auf eine erfrischende Weise unverfälschter als Erwachsene. Aber es hätte als Bedrohung aufgefasst werden können, also ließ er es bleiben. Er wollte keinen Ärger haben.

Die Bäume waren im Sonnenlicht in einem noch schlechteren Zustand als bei Morgendämmerung. Der erste war so verfallen, dass für ihn kaum noch Hoffnung bestand und Dhaôma beschloss, diesen entweder als letzten oder gar nicht zu behandeln. Die beiden dahinter schienen erst vor kurzem ganz gestorben zu sein. Ihr Stamm klang noch nicht hohl und sie waren vergleichsweise jung.

Es war ein schönes Gefühl, helfen zu können. Sanft strich er über den Stamm nahe der Wurzel, kitzelte sie mit seiner Magie und spürte, wie die durstigen Wurzeln Wasser aufsogen, das in den Tiefen schlummerte. Sanft gab er mehr Energie, zog das Wasser auch in die Äste hinauf. Selbst die Farbe des Stammes änderte sich, als einer der Äste einfach abbrach. Er war zu kaputt, um noch gerettet zu werde. Dafür sah man den anderen an, dass sie widerstandsfähiger wurden, je länger er sie bearbeitete. Knospen sprossen an den Zweigen, solche, die sich jetzt schon öffneten und schneeweiße Blüten hervorbrachten, und solche, die noch warten würden, bis ihre Zeit gekommen war.

Die Sonne war schon ein gutes Stück fortgeschritten, als Dhaôma beschloss, dass es genug war. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Wenn die Hanebito sich diesmal besser um sie kümmerten, würden sie sicherlich noch lange leben. „Willkommen zurück.“, sagte er freundlich, bevor er sich abwandte, um den nächsten Baum ebenfalls zu wecken.

Als Mimoun zurückkehrte, hatte er drei dieser Bäume ins Leben zurückgerufen und mehr Zuschauer als die zwei Kinder, die noch immer mit offenem Mund staunten. Das Geschnatter der Frauen und Männer, die die Jagdbeute beurteilten, drang bis zu ihm und er wusste, dass Mimoun gleich kommen würde. Er wollte sein Gesicht sehen.

Kritisch sah er noch einmal hinauf in die weiße Blütenpracht. Ob er mal wieder übertrieben hatte?
 

Dieser ahnte, was diese kleine Ansammlung von Zuschauern bedeutete. Dhaôma hatte sich ausgetobt. Doch er war selbst neugierig auf das Ergebnis und so schritt er schneller aus, schob sich an den Dorfmitgliedern vorbei und erstarrte. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass die Bäume weiß geblüht hatten. Und so war leises Erstaunen die erste flüchtige Reaktion. Dann hellte sich sein Gesicht zu unbändiger Freude auf.

„Dhaôma. Du bist großartig!“ Der junge Geflügelte strich um die drei Bäume herum, berührte jeden von ihnen am Stamm und streichelte die kleinen Blüten. „Danke.“, flüsterte er ergriffen. Erinnerungen durchfluteten ihn. Bilder, wie er mit seiner Schwester um die lebendigen Bäume herum Fangen gespielt hatte oder erneut Bilder der Ernte.
 

Zufrieden ließ Dhaôma ihn. Er konnte sich vorstellen, dass ihm das viel bedeutete. Immerhin war es wirklich hübsch. Und sie würden etwas ernten. Das war sicher viel wert.

„Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn man ihre Erde erneuern würde.“, sagte er nebenbei, als Mimoun einmal an ihm vorbeilief.

Ein erschrockener Schrei ließ ihn herumfahren. Eine junge Frau fing gerade das kleine Kind ein, das vorhin in der Nase gebohrt hatte, weil es zu ihnen hatte laufen wollen.

Dhaôma überging dieses Verhalten, als wäre nichts gewesen, aber innerlich tat es weh. Vielleicht war er ein Magier, wie er gerade sehr eindrucksvoll bewiesen hatte, aber das bedeutete nicht, dass er gefährlich war.
 

Auch Mimoun war aufgrund des Schreis herumgefahren. Auf seiner Stirn wurden Zornesfalten sichtbar, doch er sagte nichts. Das Misstrauen mussten sie selbst bereinigen. Er würde es vielleicht nur verschlimmern, sollte er sich mehr als ohnehin schon auf die Seite des Magiers stellen.

Mimouns Mutter trat nun ebenfalls aus der sich noch immer stetig vergrößernden Menge heraus. Wer keine Arbeit mehr hatte, strömte zusammen, um diesem Schauspiel beizuwohnen. Sie trat an einen der Bäume heran und sah mit feuchten Augen in die Krone. Ein leises Lächeln zierte ihre Lippen.

Auch der junge Geflügelte lächelte wieder, als er das sah und drehte sich zu seinem Freund um. „Wie fühlst du dich? War das zu viel?“
 

Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich habe viel Übung. Du erinnerst dich an die Wiese?“ Und nach einem kurzen Blick zu Mimouns Mutter fügte er leise, so dass nur sein Freund es hören konnte, hinzu: „Ich mache die anderen auch noch lebendig. Morgen.“ Und innerlich hoffte er, dass er dann alleine war und keine lästigen Zuschauer gafften. Die Kinder konnten ruhig. Die kleinen Flügel waren wirklich putzig.
 

Natürlich erinnerte er sich an die Wiese. Wie sollte er auch nicht, war sie doch der erste Hinweis auf den Verbleib des Magiers gewesen. Dennoch machte er sich Sorgen, dass der seelische Druck sich auf den Körper seines Freundes auswirken konnte. Das wollte er um jeden Preis verhindern.

„Ich hab ein wenig Holz mit hochgebracht.“, begann er und bückte sich nach dem abgebrochenen Ast. Sehr schön. Ein Stück mehr, das sich vielleicht verwenden ließ. „Du kannst dir also nachher dein Essen braten, wenn du magst.“ Er führte ihn fort von der Menge, die nun, da der Magier nicht mehr da war, die Bäume aus der Nähe bestaunten und berührten. Er führte ihn an den Rand der Insel an die Stelle, an der sich an der Seitenwand der Eingang zum unterirdischen Labyrinth befand. Er deutete nach unten. „Dort befinden sich die Vorratsräume und unsere Büchersammlung. Wenn du magst, bring ich dich da hin. Dann bist du fürs Erste ungestört. Oder ich bring dich zu den Seen.“
 

Beides war für Dhaôma eigentlich egal. Er fühlte sich überfordert mit allem. Und wenn er bedachte, dass er in einer Höhle eingeschlossen war oder wahlweise Mimoun an selbige fesselte, graute es ihn.

Er ließ sich zu den Seen bringen. Sie waren kalt und algenreich. Wenn man es richtig anstellte, dann könnte man dort auch Fische ansiedeln. Tief genug waren sie, dass sie im Winter nicht ganz zufroren. Obwohl das bei der Höhe schlecht zu sagen war.

Nachdenklich blickte er auf seine Füße, die im kalten Wasser standen. „Mimoun, wir haben Teiche, die nur im Sommer Wasser führen. Wir ziehen dort Fische auf und holen sie im Herbst raus, bevor die Teiche austrocknen oder zufrieren. Kann man das hier nicht auch machen?“
 

Ratlos zuckte dieser mit den Schultern. „Wir haben es nie ausprobiert oder sind auf so eine Idee gekommen. Wir lassen der Natur ihren Lauf und bedienen uns an dem, was sie uns schenkt.“

Innerlich fühlte sich der Geflügelte immer elender. Was sollte er tun, um seinem Freund hier die Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten? Dieser wirkte immer unglücklicher, was Mimoun nachvollziehen konnte. Doch die Situation ließ sich nun nicht mehr ändern. Sie mussten einfach das Beste daraus machen.

Sein Blick glitt zum Dorf hinauf und er überlegte, wie es sich bewerkstelligen ließ, dass Dhaôma nicht ständig auf seine Hilfe angewiesen war und sich so weit wie möglich frei bewegen konnte.
 

„Bald laichen die Karpfen und Salme. Wenn die anderen damit einverstanden sind, dann bring einfach ein paar von den Glasfischen mit hoch und setze sie hier aus. Sie würden auch die Algen ein wenig unter Kontrolle halten.“ Wobei ihm etwas einfiel. „Darf ich denn Algen mit hochnehmen?“, wollte er wissen.
 

„Fühl dich ganz wie Zuhause.“, stieß Mimoun hervor, nachdem er durch einen Lachanfall auf die Knie gezwungen wurde. Da machte er sich Sorgen um den Kerl und dieser gestaltete bereits die komplette Welt der Geflügelten nach seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen um. „Ich meine, mach es dir gemütlich.“, korrigierte er sich als ihm wieder einfiel, dass sich dieser Junge in seinem eigenen Zuhause nicht so ganz wohl gefühlt haben dürfte. Und was die Sache mit den Fischen betraf, würde er mit dem Dorf reden und ihnen Dhaômas Idee präsentieren.
 

Sofort warf Dhaôma seine Decke an Land und watete dann durch das Wasser, um Algen einzusammeln. „Ihr braucht die nicht zum Essen oder so?“, fragte er noch, während er schon überlegte, wie man sie am besten transportieren konnte, ohne selbst am Ende nach dem Zeug zu riechen. Die Antwort war ganz einfach: Netz draus flechten – was er auch kurzerhand tat.

Am Ende war es ein ganzer Berg und trotzdem war der See noch immer gut gefüllt. Sehr gut, das zu wissen. „Kannst du das hochbringen?“
 

Natürlich konnte er das. Dieses bisschen Grünzeug stellte keine Herausforderung dar. Nur…

„Was willst du eigentlich mit dem Zeug?“, fragte Mimoun und griff bereits danach.
 

„Pflanzen wachsen besser, wenn man ihnen frische Erde gibt.“, erklärte Dhaôma bereitwillig. „Ich werde nicht ewig hier bleiben, also brauchen eure Bäume bessere Bedingungen, damit sie nicht wieder sterben.“
 

„Aber das…?“, begann er und beäugte sich kritisch die Algen. Dann fiel ihm wieder ein, was mit dem Harz passiert war, das ihm den Mund verklebt hatte und das Dhaôma hatte altern lassen. Wenn Pflanzen verrotteten, wurden sie zu Erde. „Ach so. Verstanden. Warte kurz, ich bin gleich zurück.“ Kräftig stieß er sich ab und trug die Algen zu den Bäumen, um die noch immer einige Geflügelte versammelt waren und ihn und seine Last erstaunt ansahen. Mimoun grinste nur belustigt und kehrte zurück, um auch Dhaôma zu holen. Vorsichtig stellte er ihn neben dem Algenhaufen ab. Die Dorfmitglieder waren sofort wieder ein Stück zurückgewichen.
 

Dhaôma hatte beschlossen, sie zu ignorieren. Es war nicht wichtig. Er war auch früher immer alleine gewesen und hier hatte er sogar noch Mimoun. Geschäftig begann er die Algen um die Bäume zu verteilen, machte aus ihnen einen dichten Teppich glitschigen Grüns, das er schließlich mit beiden Händen berührte. Wie in einer Welle verdorrten die Algen, wurden erst braun, dann zerfielen sie und hinterließen eine unberührte braune Fläche frischer Erde. Beim nächsten Regen würden die Nährstoffe in den Boden gewaschen und die Bäume hätten etwas davon.

Danach wusste er nicht mehr, was er noch tun sollte. Mimoun schien auch nicht so recht zu wissen, was als nächstes kam. Nachdenklich verzog Dhaôma den Mund. „Was macht ihr hier überhaupt den ganzen Tag?“, wollte er wissen. Viele waren damit beschäftigt, die Beute zu zerlegen, aber ansonsten konnte er nirgendwo offensichtliche Aktivitäten feststellen.
 

„Wir sind nur eine kleine Insel. Viel können wir nicht zusammentragen, was Früchte betrifft. Unsere Bäume haben uns schon vor langer Zeit im Stich gelassen und brachten sowieso nicht genug Ertrag. Darum sind wir hier eher auf die Jagd spezialisiert. Wir erjagen das Wild, sammeln die Felle und das Fleisch. Was wir nicht benötigen, tauschen wir in anderen Dörfern gegen Früchte ein. Die überzähligen Felle, die wir selbst nicht verarbeiten können, tauschen wir in den entsprechenden Dörfern gegen gefertigtes Leder. Dieses verarbeiten wir dann je nach Bedarf weiter. Kleider, Häuser. Je nachdem, was benötigt wird und welche Qualität das Leder hat. Darüber hinaus müssen die Häuser regelmäßig Instand gesetzt werden, damit das Leder nicht brüchig und unbrauchbar wird. Wir finden immer eine kleine Beschäftigung.“, schloss er lächelnd. „Aber genauso häufig lassen wir uns auch einfach nur ohne besonderes Ziel vom Wind tragen.“
 

Das bedeutete im Großen und Ganzen, dass Dhaôma nicht viel helfen konnte. Natürlich konnte er seine Magie einsetzen, damit die anderen etwas zu essen hatten, aber das dauerte nicht lange. Seufzend ließ er sich auf den Boden fallen, legte sich rücklings in ein paar dürre Grashalme und schloss die Augen.

„Das ist ein schönes Leben.“, meinte er irgendwann. „Hart, aber schön.“
 

„Ja.“, stimmte Mimoun zu. „Ich würde es gegen nichts eintauschen wollen.“ Er überdachte diese Worte und schränkte sie doch noch ein: „Fast nichts.“ So sehr er sein Leben hier liebte, so sehr wünschte er sich auch, wieder mit Dhaôma auf der unteren Ebene zu sein und sich weiter auf die Suche nach Drachen machen zu können. Das würde ihr beider Leben um Vieles vereinfachen.

Mimoun setzte sich neben seinen Freund und beschirmte seine Augen, um nach dem Stand der Sonne zu schauen. Diese hatte ihren Höchststand fast erreicht. Wäre er allein würde er sich nun dem Wind anvertrauen oder mit einigen Freunden durch die Luft toben. Zu lange hatte er darauf verzichten müssen. Doch er konnte Dhaôma nicht allein lassen. Also machte er sich an die geistige Bewältigung der Aufgabe, die er sich gestellt hatte. Wie sollte der Magier ohne fremde Hilfe auf die untere Insel gelangen oder in die Höhlen? Ihm fiel das Netz wieder ein, das aus den Algen geflochten worden war.

„Wie stabil sind die Algen, wenn sie getrocknet sind? Könnten sie dein Gewicht tragen?“, fragte er in die Stille, die sich um sie gelegt hatte.
 

„Nein.“, antwortete Dhaôma einsilbig.

Die Sonne auf der Haut hatte ihn träge gemacht und da er viel Magie gewirkt hatte, tat sie ihr Übriges, ihn müde zu machen. Außerdem tat es gut, einmal komplett warm zu werden. Wenn er hier im Gras lag, konnte der Wind ihn nicht erreichen, aber die Sonne heizte ihn auf. Da er Angst davor hatte, Silia allein zu begegnen, war er nicht in die Hütte gegangen, um seinen Pelz zu holen. Dementsprechend hatte er die meiste Zeit des Tages mit oder ohne Decke gearbeitet.
 

Mimoun erkannte mittlerweile die Anzeichen bei seinem Freund und es störte ihn auch nicht, wenn dieser sich ausruhte. Dennoch war es vielleicht nicht unbedingt der geeignetste Platz zum Schlafen. Sanft legte er seine Hand auf dessen Schulter.

„Möchtest du dich nicht lieber rein legen?“
 

„Ist das notwendig?“, brummte der Junge schläfrig.
 

Der Geflügelte lachte leise. „Wenn es dir nicht zu kalt ist, kannst du natürlich auch hier schlafen.“ Mimoun streckte sich. Er hatte das dringende Bedürfnis sich zu bewegen. „Soll ich bleiben und auf dich Acht geben?“
 

„Nicht nötig. Sie trauen sich eh nicht her.“, meinte der Junge und wedelte mit der Hand. Es sollte heißen, dass Mimoun machen sollte, wozu er Lust hatte.
 

„Es ist mir egal, was sie treiben. Es ist mir wichtig, dass es dir gut geht.“, antwortete Mimoun leise und erhob sich dann. Es sah nicht so aus, als würde er hier noch gebraucht werden.
 

Er bekam sogar noch mit, dass der Hanebito sich verabschiedete, bevor er einschlief.

Die Leute aus dem Dorf sahen, wie Mimoun verschwand, und jeder wusste, dass der Magier jetzt allein war. Nur wusste keiner, wo er war. Man konnte ihn nicht auf den ersten Blick bei den Bäumen sehen und nachsehen wollten sie nicht. Vielleicht lag der Feind auf der Lauer und wartete nur auf ein Opfer. Man mied also den Ort, an dem die Bäume ihre weiße Pracht zeigten, und widmete sich den alltäglichen Aufgaben oder der Entspannung.

Weniger berechnend war eines der Fanras. Das weiche, dichte Fell wurde vom Wind gezaust, als es, angelockt von dem unbekannten Duft, den Bäumen zustrebte. Frische Erde und Blumen hatte es hier noch nie gegeben. Und der Geruch eines Fremden war auch nicht alltäglich. Das Tierchen landete dicht neben Dhaôma und beschnupperte ihn. Und es befand, dass es schön war an diesem Ort. Es war warm, die Sonne schien, es roch gut und die Stimmung war harmonisch. Perfekte Voraussetzungen für ein Nachmittagsschläfchen. Nach einem kräftigen Räkeln rollte es sich in Dhaômas Kniekehlen zusammen, die Nase versteckte es unter dem langen Schweif.

Die Kinder hatten das beobachtet. Auch wenn ihre Eltern sagten, dass dieser Junge gefährlich war, sie konnten das nicht glauben. Im Gegenteil. Das war doch spannend! Ein Fremder! Jemand, der keine Flügel hatte! Wo gab’s denn so was, wenn nicht in den Schauergeschichten der Erwachsenen? Und dann machte dieser jemand auch noch, dass Bäume blühten, obwohl sie es nie getan hatten. Oder er ließ Pflanzen zu Erde werden. Vielleicht konnte man noch mehr Außergewöhnliches sehen, wenn man ihn beobachtete.

Dass das Fanra sich neben dem Magier zusammengerollt hatte, ohne dass dieser sich bewegt hatte, konnte eigentlich nur heißen, dass er schlief. Das kannten sie von ihren Eltern. Wenn die schliefen, konnte man sich frei bewegen. Vielleicht konnten sie sich den Magier jetzt mal aus der Nähe ansehen!

Ein Junge, etwa sieben Jahre alt, machte den Anfang. Mutig schritt er vor, versuchte dem raschelnden Gras auszuweichen und machte Fußspuren in der frischen Erde deswegen. Er achtete auch darauf, dass seine Flügel keinen Schatten auf den Schlafenden warfen. Als er nahe genug dran war, beugte er sich über den Braunhaarigen. Er kicherte. „Vielleicht ist das ein Mädchen!“, zischte er und winkte seine Freundin herbei.

Diese, ungläubig, weil alle immer von einem Mann sprachen, folgte ihm. „Tatsächlich.“, sagte sie. „Aber Mädchen kämpfen doch nicht, oder?“

Der Junge schüttelte den Kopf. Dann streckte er zaghaft die Hand aus und berührte das braune Haar, das wie ein wirrer Fächer um den Kopf verteilt war. „Es ist ganz weich.“, flüsterte er.

„Die Kleider auch.“ Sie hatte es ausprobiert und ihr hatte das Gefühl gefallen, die Seide zwischen den Fingern zu spüren. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet. „Du, wenn es ein Mädchen ist, ist es dann Mimouns Mädchen?“

„Vielleicht.“, nickte der Junge.

„Und wenn es ein Mädchen ist, dann greift sie uns doch bestimmt auch nicht an.“

„Mama sagt, dass sie gefährlich ist.“

„Sie kann Blumen wachsen lassen. Das ist nicht sehr schlimm.“

Wieder nickte er.

Inzwischen war noch ein drittes Kind angekommen. „Was wollt ihr machen, wenn er aufwacht?“ Angst schwang in der Stimme mit.

„Dann laufen wir schnell weg.“

„Ich glaube nicht, dass sie böse ist.“

„Das ist ein Mädchen?“

„Ja.“ Das Kind nickte. „Und siehst du, Kalil schläft bei ihr.“ Sie zeigte auf das Fanra.

Das überzeugte ihn. „Vielleicht kann sie auch unseren Garten wachsen lassen, dann hätten wir mehr von den roten Beeren.“, überlegte er.

Der erste Junge, Haru, ließ sich ins Gras sinken und betrachtete versonnen das kleine Tierchen. Diese Faulheit war ansteckend. Und er hatte heute noch keinen Mittagsschlaf gemacht. Stattdessen war er aus dem Haus ausgebüchst, um den Magier zu beobachten. „Glaubt ihr, sie würde mit uns spielen?“

„Vorhin hat sie gelächelt.“

„Und ist gegangen.“

„Vielleicht hat sie Angst vor uns.“, schlug ein Kind vor, das gerade angekommen war. Längst waren die Stimmen kein Flüstern mehr. Dennoch schlief Dhaôma tief.

„Dann würde sie nicht schlafen, ohne dass Mimoun bei ihr ist.“ Das kannte er. Wenn er Angst hatte, dann schlief er bei seinen Eltern.

Das Mädchen mit den roten Locken setzte sich neben ihn und streichelte erneut über den Stoff an Dhaômas Arm. Murrend zog er den Arm beiseite und versteckte ihn unter der Brust.

Entsetzt über diese Bewegung spritzten die Kinder auseinander, aber als Dhaôma sonst nichts tat, kamen sie wieder zurück.

„Ich glaube, Mama übertreibt.“, sagte der erste Junge wieder. Er setzte sich wieder neben den Magier und meinte: „Ich warte einfach, bis sie aufwacht, dann frage ich sie, ob sie mit mir spielt.“

Die anderen waren von diesem mutigen Plan tief beeindruckt und nach einiger Zeit schlossen sie sich ihm alle an. Es war wie eine Mutprobe.

Eine sehr langwierige Mutprobe und es dauerte nicht lange, bis sie in der Nachmittagssonne dösig wurden. Weil kein Wind sie erreichte, wurde es auch noch warm. Und schließlich forderte die Sonne von ihnen den gleichen Tribut wie von Dhaôma. Sie schliefen ein.
 

Mit schnellen Flügelschlägen gewann Mimoun ein wenig an Höhe und stürzte sich an der Flanke der Insel hinab, spürte den Wind, der an ihm zerrte. Bereitwillig vertraute er sich ihm an und zog mehrere Spiralen, die ihn wieder in die Höhe trugen. Immer wieder, wenn sich eine Möglichkeit offenbarte, warf er einen sichernden Blick auf den Magier.

Aus dem Augenwinkel sah er einen Schatten auf sich zuschießen und warf sich herum. Dieser spielerische Angriff ging weit ins Leere und Mimoun sah sich nach dem Täter um. Samos. Ein noch junger Bursche von fünfzehn Jahren, mit wachen braunen Augen und braunem Haar, wollte seine Kräfte anscheinend gegen einen erprobten Krieger testen. Nur zu gern nahm Mimoun die Herausforderung an. Sein eigener Angriff war wohl gezielt und beide stürzten ineinander verkrallt mehrere Meter in die Tiefe. Jeder versuchte den anderen in den Schwitzkasten zu kriegen oder sonst wie die Oberhand zu gewinnen. Als dies nicht möglich war und der Erdboden mit immer höherer Geschwindigkeit näher kam, trennten sie sich und schossen wieder in die Höhe. Mimoun gelang es, Vorsprung zu seinem jugendlichen Gegner zu gewinnen, und schob sich so vor ihn, dass Samos in die Sonne schauen musste. Geblendet wandte er seinen Blick ab. Diese Chance nutzte Mimoun und ließ sich wieder herabfallen. Nun hinter ihm packte er seine Handgelenke und bog sie auf den Rücken, fixierte sie mit nur einer Hand, während er die andere flach auf die Stelle zwischen den Flügeln drückte. Seine eigenen Flügelschläge passte er denen seines Gegners an. Die Berührung am Rücken war eine stumme Geste, die völlige Überlegenheit demonstrierte. Eine falsche Bewegung und die Nägel seiner Finger würden die Flughäute verletzen.

„Ich gebe auf. Ich gebe auf.“, keuchte der Junge und Mimoun ließ lachend wieder los.

„Du musst noch viel lernen, Junge.“

Dieser nickte nur und gemeinsam suchten sie sich eine Insel, auf der sie sich richtig austoben konnten. Er ließ dem Knaben keine Chance. Immer wieder zwang er ihn in die Verteidigung oder gleich ganz zu Boden. Als sie dieses Training beendeten, fühlte sich Mimoun auf angenehme Art ermattet. Die Sonne war schon ein ganzes Stück weiter gezogen und der junge Geflügelte entschied sich, zu Dhaôma zurückzukehren. Nur am Rande nahm er sich vor, nichts von seinem kleinen Kämpfchen zu verraten. Sein Freund hieß es sicher nicht gut, wollte er doch zwischen allem und jeden Frieden stiften.

Mit einem dankbaren Nicken verabschiedete er sich von dem Burschen und strebte der Stelle zu, an der er den Magier zurückgelassen hatte. Erleichterung und Glück durchfluteten ihn, als er die Szene beobachtete. Das Tierchen an seinen Freund gekuschelt, die Kinder drum herum verstreut, ebenfalls schlafend. Suchend sah er sich um. Den Eltern schien das Verschwinden ihrer Sprösslinge noch nicht aufgefallen zu sein. Auf Zehenspitzen schlich er zu Dhaôma und berührte ihn vorsichtig an der Schulter.

„Sei leise. Nicht bewegen.“, flüsterte er ihm ins Ohr.
 

Brummend hatte Dhaôma dem Störenfried ausweichen wollen, doch als er erkannte, dass es Mimoun war, der ihn warnte, hielt er still und spannte sich. Vorsichtig öffnete er die Augen, kneistete die Augen vor der Sonne zusammen und sah sich um. Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf.

Staunend setzte er sich auf, wobei er das Plüschvieh weckte, das ihm gähnend entgegenblinzelte. Kinder? Wie niedlich!

Fragend blickte er den Hanebito an und deutete auf die Kleinen.
 

„Ich bin unschuldig.“ Abwehrend hob er die Hände, seine Stimme noch immer ein Flüstern. „Sieht so aus, als hättest du neue Freunde.“ Mimoun streckte sich aus und machte es sich neben dem Magier bequem. Ja, ein Weilchen in der Sonne zu dösen, war eine wundervolle Idee.

„Mag sein, dass du oben beginnen musst, um den Krieg zu beenden. Aber so wie es aussieht, musst du ganz unten anfangen, um den Hass zu beenden.“ Wohlig streckte er sich und gähnte herzhaft. Er war heute Morgen so ungünstig früh wach geworden und das kleine Kämpfchen hatte ihn erschöpft. Und die Sonne war angenehm und der Duft der Blüten hing hier überall in der Luft. So ließ es sich leben, dachte er noch, bevor er wegdämmerte.
 

Zustimmend nickte Dhaôma, bevor er die Knie an den Leib zog und zuerst seinen Freund, dann die Kinder betrachtete. Wann waren die gekommen? Und warum hatten sie sich zu ihm gelegt, um zu schlafen? Das war doch nicht normal.

Aber niedlich waren sie. Diese winzigen Flügelchen! Wie wohl Mimoun ausgesehen haben mochte, als er noch so klein war? Hatte der Schwarzhaarige auch solche Stummelflügelchen gehabt?

Er fröstelte, da er in sitzender Position wieder dem Wind ausgesetzt war, und legte sich wieder hin. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt sah er zum strahlendblauen Himmel hinauf und lächelte zufrieden. Die Kinder waren süß. Nicht so voller Vorurteile wie ihre Eltern. Aber er wollte sich gar nicht vorstellen, was es für ein Geschrei geben würde, wenn die anderen das hier sahen.

Etwas trampelte auf ihm herum. Als er schwach den Kopf hob, um zu sehen, was es war, spiegelten kohlschwarze Augen ohne weiß seinen Blick. Das flauschige Tierchen mit dem dichten Pelz hatte wohl beschlossen, dass jetzt, wo er auf dem Rücken lag, sein Schoß einen besseren Schlafplatz abgab.

„Meinetwegen.“, erlaubte ihm Dhaôma den Wunsch, bevor er den Kopf wieder sinken ließ und die Augen schloss. Wenn er ehrlich darüber nachdachte, war er nicht mehr müde, aber um des lieben Friedens Willen blieb er liegen. Es war Balsam, einmal nicht mit Hass betrachtet zu werden.

Zusammenprall

Kapitel 18

Zusammenprall
 

Die erste, die das sah, war eine Frau mit fast weißblondem Haar und olivfarbener Haut. Sie wurde bleich, als sie ihren Sohn so nahe dem Magier liegen sah, und ihre erste Reaktion war der Wunsch, hinzurennen und ihn von dort fortzuzerren. Doch gleich zwei Dinge versagten es ihr: die Tatsachen, dass die Kinder einschließlich Mimoun dalagen wie tot, und dass sie dazu zu dem Magier hingehen müsste. Ihre Angst war so groß, dass sie schon nach den ersten zwei Schritten zitternd stehen blieb. Was, wenn sie ihn mit ihrer unbedachten Reaktion weckte und er aus Gewohnheit doch die Kinder tötete, falls sie noch am Leben waren?

Entsetzt wich sie zurück. Tränen rannen über ihre Wangen, als sie den Weg zu Mimouns Mutter Cerel wählte. Neugierig geworden, was sie denn zum Weinen gebracht haben könnte, folgten ihr einige der anderen Geflügelten.

Cerel saß in der Sonne vor ihrem Haus und besserte einige Felle aus. Nichts, wobei man sie nicht stören durfte! „Cerel, was hat dieser Magier mit unseren Kindern gemacht?“, platzte sie heraus. Wut, Angst und Sorge spiegelte sich in ihrer lauten Stimme wider.

Die Zuschauer begannen zu flüstern. Was war denn mit den Kindern? Wenn sie ehrlich darüber nachdachten, hatten sie sie heute gar nicht viel gesehen. Oder waren sie nur nicht auffällig gewesen?
 

Cerels Kopf fuhr hoch. Verwirrt sah sie in das tränennasse Gesicht Aulees. Dieser Magier hatte selbst zu viel Angst vor ihnen, um irgendetwas zu tun, was die Dorfbewohner provozieren konnte. Vor allem, wenn ihm hier keine Fluchtmöglichkeiten blieben. Mimouns Mutter hatte es an diesem Morgen selbst erlebt, als er völlig verschüchtert auf ihre Einladung zum Frühstück reagiert und Zuflucht bei ihrem Sohn gesucht hatte.

„Wo?“, fragte sie nur. Bevor sie ein falsches Urteil fällte, würde sie sich mit eigenen Augen überzeugen. Zwar fiel es ihr selbst schwer, einen Feind nun in ihrer Mitte zu wissen, doch wenn ihr Sohn ihm vorbehaltlos zu vertrauen schien, sollte sie ihm zumindest eine Chance geben.

Cerel ließ sich von Aulee zu den Bäumen führen. Auch die Zuschauer schlossen sich an, so wie jeder andere, der bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Stumm oder hinter vorgehaltener Hand ängstlich flüsternd schaute die Gruppe auf das Bild, das sich ihnen bot und das Aulee in Panik versetzt hatte. Auch in Cerel begann Sorge zu nagen. Aber ihr Sohn hatte die letzten Wochen in seiner Gegenwart verbracht. Warum sollte ihm der Magier ausgerechnet hier, zwischen all den Geflügelten Schaden zufügen?

Dhaôma lag mit offenen Augen im Gras. Langsam näherte sie sich ihm und sah auf ihn herab, dann schlich sie um die reglosen Körper herum und näherte sich Mimoun. Sanft strich sie ihm über die Stirn.
 

Dhaômas Ruhe war dahin, als sich das Gesicht von Mimouns Mutter vor die Blüten schob, die er betrachtet hatte. Auch die entspannte Sorglosigkeit hatte sich verflüchtigt. Mit verkrampften Muskeln setzte er sich auf, während sie zu Mimoun ging. Aus den Augenwinkeln sah er die Hanebito, deren Gesichter mehr Abneigung denn je ausdrückten, und er wusste, dass es irgendwelche unangenehmen Folgen haben würde, dass die Kinder hier bei ihm waren. Er hätte gehen sollen, als er es bemerkt hatte.

Unbewusst strich er über den Kopf des Fanra, das nicht gewillt war, seine Beine zu verlassen, spiegelte damit die Geste Cerels bei ihrem Sohn.
 

Schon wieder waren da störende Finger. Grummelnd wischte Mimoun sie weg. Konnte man denn nirgends in Ruhe schlafen?

„Steh auf.“, verlangte eine leise Stimme ernst und unnachgiebig. Seine Mutter.

Sofort war er schlagartig wach. Er spürte die drückende Stimmung um ihn herum und ruckartig setzte er sich auf. Schnell überflog er die Szene. Die Kinder schienen nichts von alledem mitbekommen zu haben. Da keiner die Stimme erhoben hatte, schlummerten sie noch friedlich in der Sonne. Dhaôma saß verkrampft neben ihm und streichelte das Fanra. Seine Mutter hockte vor ihm und sah ihn voller Sorge an, die er nicht verstand. Und dann die Dorfmitglieder. Ihre Haltung zeigte nun offene Ablehnung und große Angst.

Seufzend griff sich der junge Geflügelte an den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein. „Geht nicht immer sofort vom Schlechtesten aus. Versucht wenigstens, ihm eine Chance zu geben.“ Er langte zu Dhaôma hinüber und pflückte das Tierchen am Nacken von ihm herunter. Nachdem er sich erhoben hatte, streckte er seinem Freund hilfreich eine Hand entgegen. „Gehen wir.“
 

Nickend griff der Junge sie, doch Mimouns Worte schienen die Leute nicht beruhigt zu haben.

„Was machen sie dann hier?“, rief eine Frau. Sie klang schrill und anklagend.

„Sie schlafen bei einem Feind! Wer sagt uns, dass er sie nicht verzaubert hat?“

„Was hast du getan, damit sie zu dir kommen?“ Ein Mann baute sich hinter Aulee auf, die kaum stehen konnte vor lauter zittrigen Knien. „Hast du sie bezaubert?“

„Nein.“, antwortete Dhaôma ruhig, wollte sich aber auch nicht wirklich verteidigen. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass es nichts bringen würde. Diese Masse aus Ablehnung konnte mit ein paar Worten nicht durchbrochen werden.

Langsam begannen die Kinder sich zu regen. Die lauten Stimmen hatten sie aufgeweckt. Das Mädchen mit dem roten Haar setzte sich auf und rieb sich verschlafen die Augen. Und fing angesichts der Stimmung und des wütenden Gesichts, das die Mutter machte, zu weinen an.
 

Mimoun sah ein, dass es das Beste wäre, die Konfrontation hier und jetzt durchzuführen. Beschützend und eindeutig in aggressiver Haltung stellte er sich neben den Magier und spannte in einer eindeutigen Geste einen Flügel um ihn. „Wenn er in der Lage wäre, jemanden in dem Maße zu verzaubern, so dass dieser ihn als Freund betrachtet und seine Nähe sucht, warum habt ihr mich damals gehen lassen? Warum glaubt ihr, dass er mich nicht auch mit solch einem Zauber belegt hatte?“

Zögerliche, unsichere Blicke wurden getauscht. „Du bist erwachsen. Du kannst dich im Notfall verteidigen. Das da sind Kinder.“

Triumphierend grinste Mimoun. Es war wirklich erstaunlich wie einfach man ihm in die Hände spielte. „Richtig.“, erwiderte er in einem ausgesprochen heiteren Tonfall. „Es sind Kinder. Neugierige, kleine Kinder, die alles tun, nur nicht auf ihre Eltern hören. Erinnerst du dich noch daran, Laru? Weißt du noch, wie Elin sich fort geschlichen hatte, kaum dass sie fliegen konnte. Du hattest ihr so viele Geschichten von den weiten Ebenen unter uns erzählt, dass sie es selbst mit eigenen Augen aus der Nähe sehen wollte. Wie häufig hast du ihr gepredigt, dass sie noch nicht kräftig genug sei, wie häufig ihr gesagt, dass es gefährlich wäre? Weißt du noch was geschehen ist?“
 

Sie war abgestürzt und einer der Jäger hatte sie durch Zufall gefangen. „Aber das tut hier gar nichts zur Sache!“

Das Brüllen weiterer Kinder gesellte sich zu dem des rothaarigen Mädchens. Das braune Fanra fauchte sie an, bevor es eindeutig beleidigt abzog. Eines der Kinder stand daraufhin auf und lief zu seiner Mutter, die anderen blieben, wo sie waren.

„Es kann nicht angehen, dass ihr die Kinder in diese Gefahr bringt! Sie wissen noch nicht, wie gefährlich diese Magier sind. Wie könnten sie auch? Sie haben sie nie gesehen!“, ereiferte sich eine andere Frau.

Dhaôma schloss schmerzlich die Augen. Inzwischen bereute er es wirklich, dass er nicht doch fliegen könnte, dann könnte er jetzt einfach davonlaufen und diesen Ort meiden.

„Einen Wolf würdest du auch nicht frei auf der Insel herumlaufen lassen, egal wie zahm er ist. Belian hat es versucht. Jeder hat gesehen, was daraus geworden ist!“
 

„Du kannst Dhaôma nicht mit einem Tier gleichsetzen! Er hat genauso Gefühle wie ihr!“, fuhr Mimoun auf. Er zitterte heftig vor Wut. „Und bei dem Wolf habt ihr es versucht, weil ihr Belians Worten Vertrauen geschenkt habt. Gilt mein Wort weniger als seins?“ Er wartete die Antwort darauf gar nicht erst ab. Mimoun wandte sich Dhaôma zu und hob ihn auf seine Arme. Bevor jemand reagieren konnte, hatte er sich schon abgestoßen. Fest drückte er seinen Freund an sich.

„Ich suche uns eine angenehmere Unterkunft.“, versprach er und hielt Ausschau nach einer unbewohnten Insel, die zwar in der Nähe lag, aber dennoch Abstand zu seinem Dorf bot. Dort sollte auch Wasser vorhanden sein und die Möglichkeit eine Hütte darauf zu errichten. Für die Pflanzen würde Dhaôma schon selbst sorgen. Des Weiteren sollte sie niedriger schweben als die üblichen, um wärmer zu sein.
 

Diese Aktion hatte unterschiedliche Reaktionen zur Folge. Dhaôma hoffte, wieder hinunter auf festen Boden zu dürfen. Cerel runzelte die Stirn. Sie war nicht einverstanden damit, dass ihr Sohn ging. Es war nicht die richtige Methode, um diesen Konflikt zu lösen. Einige andere waren froh darüber und taten dies mit Anfeuerungsrufen kund. Andere waren erleichtert, wieder andere fühlten sich nicht gut und wollten die beiden aufhalten. Immerhin hatte Mimoun von höchster Stelle die Erlaubnis bekommen, den Magier bei sich zu behalten. Eigentlich sollte man sich da nicht dagegenstellen.

Dann plötzlich stieß sich der Junge ab, der als erstes den Mut aufgebracht hatte, zu Dhaôma zu gehen. Er streckte seiner Mutter Aulee die Zunge raus, dann folgte er mit wildem Geflatter Mimoun und Dhaôma. „Wartet!“, rief er. „Ich wollte doch fragen, ob sie mit uns spielen will!“
 

Mimoun hörte das Kind hinter sich rufen und flog eine Schleife, um zurücksehen zu können. Er sah, wie Haru auf ihn zu flatterte und wie sich die anderen Kinder nach einigem Zögern anschlossen. Einige wurden von ihren Eltern sofort eingefangen und festgehalten, doch auch Elin flatterte in Mimouns Richtung. Sofort drehte er wieder zur Insel um. Diese Kinder waren noch lange nicht stark genug für lange Flüge.

„Du musst sie halten. Ich hab keine Hand mehr frei.“, bat er den Magier und erreichte die Kinder noch vor Aulee, die ihren Sohn sowie das Mädchen zurückholen wollte.
 

Dhaôma nickte und drehte sich in den Armen so, dass er zupacken konnte. Angst stand in seinen Augen. Hatte Mimoun nicht gerade noch gesagt, dass sie nicht lange fliegen konnten?

So schlimm war es dann nicht. Haru erreichte sie, dann klebte er förmlich an Dhaôma und Mimoun. Es war das erste Mal, dass er sich ohne seine Mutter über den Rand gewagt hatte. Jetzt kribbelte alles in ihm.

Elin war schon geübter im Fliegen und landete geschickt auf Mimouns Schultern und klappte die Flügel zusammen, um denen von ihrem Reittier nicht im Wege zu sein. Jetzt lachte sie. Der Schrecken über die harten Worte waren vergessen. „Ist sie dein Mädchen?“, wollte sie wissen und hielt sich an Mimouns Kinn fest. „Ist sie dir wichtiger als wir?“

Dann stürzte Ramon ab. Der Junge mit dem dunklen Haar war das jüngste der Kinder und hatte erst vor ein paar Wochen mit den Flugübungen begonnen. Jetzt schrie er entsetzt auf.

„Nein!“, keuchte Dhaôma und versuchte sich vorzulehnen, um ihn zu erreichen, aber er war immer noch viel zu weit weg.
 

„Festhalten.“, verlangte Mimoun von den Kindern und drückte Dhaôma fest an sich. Dann ließ er sich fallen. Durch das höhere Gewicht stürzte er schneller als das Kind. Und es zehrte an seinen Kräften, sich wieder abzufangen und dabei eine leichte Kurskorrektur vorzunehmen. Nun war es seinem Freund möglich auch den Jüngsten einzufangen. Doch das war zu viel für Mimoun. So viele konnte er nicht tragen und keuchend strauchelte er tiefer und tiefer. Sein Blick suchte die Umgebung ab und entdeckte eine für die Kinder einfach zu erreichende Insel.

„Elin, Haru. Rüber.“, verlangte er mit dem bisschen Atem, den er dafür erübrigen konnte. Diese hatten schon gemerkt, dass es Probleme gab, und folgten ohne zu Murren der Anweisung. Nun von einem Teil seiner Last befreit, war es auch Mimoun wieder möglich, seine Höhe zu halten und folgte den Kleinen. Im Notfall würde er sie wieder auffangen. Doch es ging alles gut.

„Entschuldige.“, murmelte er und ließ den Magier einfach fallen, bevor er in die Knie brach und vornüber kippte.
 

Der Braunhaarige landete auf den Füßen, stolperte und fiel auf den Allerwertesten. Den Kleinen hielt er noch immer fest in den Armen, Kopf unter. Jetzt drehte er ihn vorsichtig um.

„Alles okay?“, fragte er besorgt. „Nicht verletzt?“

Ramon schüttelte den Kopf. Rotz und Tränen liefen aus seiner Nase und Dhaôma lachte leise.

„Du musst tapfer sein. Dir ist schließlich nichts passiert.“

Und als er nickte, stellte er ihn auf die Füße und krabbelte zu Mimoun. „Danke.“, flüsterte er, legte die Hände auf seinen Rücken und initiierte die Magie. Er hatte das Knirschen der Gelenke hören können, genau wie Mimouns Ächzen. Es war leicht vorstellbar, dass das doppelte Gewicht nicht so einfach zu kompensieren war.

Die anderen Erwachsenen kamen an. Ramons Mutter landete direkt bei ihm, keinen Meter von Mimoun und Dhaôma entfernt, doch sie beachtete die beiden nicht. Ihre Sorge galt ganz dem Jungen, der wie hypnotisiert den Magier anstarrte, seine Wangen gerötet. Sie schüttelte ihn sachte, wollte wissen, wie es ihm ging, da grinste er sie an.

„Ich bin tapfer. Mir ist nichts passiert!“ Mit dem Ärmel wischte er sich den Rotz ab und strahlte sie stolz an.

Elin begann zu lachen, genauso Haru, doch das war schnell vorbei, als ihre Eltern ankamen. Wie Gewitterwolken schwebten die beiden auf sie zu und ließen den Kindern das Herz in die Hose rutschen.
 

Mimoun wollte sich hochstemmen. Es war so gut wie sicher, dass es ein Unglück geben würde, wenn er es nicht verhinderte. Die Kinder waren beinahe abgestürzt. Und die Erwachsenen hatten sich sicher schon einen Schuldigen ausgesucht. War ja auch einfach, wenn hier ein Magier hockte. Die Gemüter waren aufgrund der Anfangssituation der friedlich nebeneinander Schlafenden schon ziemlich erhitzt. Niemand konnte vorhersagen, was geschah, sollte Dhaôma jetzt anfangen zu zaubern. Und das schien er vorzuhaben, wie er aus dem Augenwinkel erkennen konnte.

„Dhaôma. Nicht.“, wisperte er schwach. Er war nicht fähig sich zu bewegen. Nur sein Gesicht offenbarte die große Sorge, die in ihm schwelte.
 

„Doch.“, sagte dieser fest. „Du kannst dich nicht einmal bewegen.“ Er lächelte amüsiert. „Also echt. Seit wann rennst du einfach davon?“, wollte er leise wissen.

Unter seinen Fingern begannen überstrapazierte Sehnen und Muskeln sich zu erholen.
 

„Dummkopf.“, flüsterte er und in seinem Inneren krampfte sich etwas zusammen. Doch es war ein angenehmes Gefühl wie nach und nach der Schmerz und die Schwäche vertrieben wurde. Fast war er versucht, sich dem Gefühl hinzugeben, doch dafür blieb keine Zeit.

„Was tust du da?“, bellte eine Stimme außerhalb von seinem Blickfeld und eine Hand schnellte auf den Magier zu.

„Nicht.“, bat Mimoun und sein Blick füllte sich mit Furcht. Trotz der Hilfe Dhaômas fühlte er sich noch immer nicht stark genug, um diese Hand abzuwehren.
 

„Was?“, fragte Dhaôma und sein Gesicht war finster, als er den Hanebito mit den hellen Haaren anfunkelte, der jetzt seinen Oberarm gepackt hielt. „Soll er so bleiben und sich nicht bewegen können? Ist es das, was Ihr wollt?“
 

„Wärst du nicht gewesen, wäre es erst gar nicht so weit gekommen. Du bist Schuld, dass es ihm jetzt so schlecht geht. Also nimm gefälligst deine Drecksfinger von ihm. Tu nicht so, als würdest du ihm helfen können.“ Ruckartig wurde die Hand zurückgerissen und damit der Magier von Mimoun fortgezogen.

„Hört auf.“, bat dieser leise und wälzte sich auf die Seite. „Dhaôma. Bitte.“ Der junge Geflügelte hatte doch nichts dagegen, von seinem Freund geheilt zu werden. Aber es konnte auch später geschehen, wenn die Dorfbewohner nicht mehr in unmittelbarer Reichweite waren.
 

Das Leuchten auf Dhaômas Wangen erlosch. Wut erwachte in seinem Inneren und für einen kurzen Moment war er versucht, seine Magie gegen diesen Mann einzusetzen, doch das verebbte recht schnell. Er gab die Gegenwehr auf und von seinem Gesicht verschwanden alle Emotionen. Nur noch in seinen Augen war ein stiller Vorwurf zu lesen. Hatte er es sich vielleicht ausgesucht, hier oben zu sein?
 

Der Mann stieß den Magier von sich und wischte sich in einer angeekelten Geste die Hand ab.

Mimoun schloss kurz die Augen. Es war ein Anfang diese Situation zu entspannen. Als er die Augen aufschlug, sah er seine Mutter neben ihm hocken. Ihre ganze Körperhaltung und ihr Gesicht sprachen von großer Sorge. Beruhigend lächelte er sie an und drehte sich ein Stück weiter, um gegen sie gelehnt tief durchzuatmen. Vorsichtig fuhren ihre Hände seinen Körper entlang. Er bat sie, ihm hoch zu helfen, doch das lehnte sie mit einem entschiedenen Kopfschütteln ab.

„Du musst dich ausruhen. Wir bringen dich nach Hause.“, erklärte sie, doch nun war es Mimoun, der den Kopf schüttelte.

„Bitte geht erst einmal.“, bat er leise. „Ich muss noch etwas mit Dhaôma klären, das nicht warten kann. Es ist wichtig.“

Man sah der Frau an, dass sie damit nicht einverstanden war, doch sie nickte. Die Eltern hatten ihre Kinder schon vor Augenblicken wieder hoch zum Dorf gebracht. Nun wandte sich Cerel an den letzten verbliebenen Mann, der sich Mimoun zuwandte, um ihn ebenfalls zur Insel zu tragen. Doch mit einer entschiedenen Bewegung zwang sie ihn weg.

Kaum hatten sie abgehoben, drehte der junge Geflügelte seinen Kopf zu Dhaôma und streifte ihn mit einem sanften Lächeln.

„Du bist nicht mehr allein.“, begann er langsam und stockend. „Du musst nun mehr auf deine Umgebung achten und einfach deine Zeit abwarten. Versteh doch. Sie hatten gerade schreckliche Angst um ihre Kinder. Ich bin außer Gefecht gesetzt, dabei bin ich in ihren Augen der einzige, der dich unter Kontrolle halten kann. Und dann versuchst du zu zaubern. Das war zu viel auf einmal.“ Erschöpft schloss er die Augen und entspannte sich völlig. „Sie sind nicht böse. Sie machen sich nur Sorgen.“
 

Ja, das hatte Dhaôma gesehen. Auch bei Mimouns Mutter.

„Warum bist du weggeflogen? Hast du nicht gesagt, ich soll es schaffen, Frieden zu starten?“ Seine Stimme war tonlos. Noch immer stand er an der Stelle, an der der Mann ihn losgelassen hatte.
 

„Ja.“, resignierte Mimoun. Müde sah er zu seinem Freund auf. „Aber vielleicht war es zu viel verlangt, dich ohne Vorwarnung und Vorbereitung in ein Dorf zu bringen, das gar nicht gewillt ist, es zu versuchen. Vielleicht muss man die Sache langsam angehen.“ Sein Blick wurde betrübt. „Bist du sauer auf mich?“
 

„Nein.“ Seine Arme schlangen sich um seinen Körper. „Du kannst nichts dafür, dass ich hier oben sein muss.“ Langsam sank er in die Knie und drückte die Stirn darauf, machte sich ganz klein. „Ist es wirklich schlecht, wenn ich versuche, jemandem zu helfen, der Schmerzen hat?“, fragte er erstickt.
 

„Dummkopf.“ Natürlich konnte er was dafür. Es war seine Schuld gewesen. „Sie haben sich doch nicht die Mühe gemacht, dich kennen lernen zu wollen. Woher sollen sie wissen, dass du über Heilkräfte verfügst und mir tatsächlich nur helfen wolltest? Du hast das gegenüber dem Hohen Rat erwähnt, aber nicht im Dorf.“ Seine Hand kroch ein Stück auf Dhaôma zu, doch der Arm war nicht lang genug, um ihn berühren zu können. „Aber was hält dich eigentlich davon ab, mir zu helfen?“
 

Noch ein wenig enger kauerte Dhaôma sich zusammen. „Er hat gesagt, ich soll dich nicht anfassen.“, sagte er in die Tiefen seiner dünnen Kleider. „Weil ich Schuld daran bin, dass es dir schlecht geht.“
 

„Und das glaubst du ihm? Du bist nur Schuld daran, dass ich überhaupt wieder hier sein kann.“ Mimoun lachte leise. „Und ich sagte doch: Lerne zu erkennen, wann deine Zeit gekommen ist.“ Er grinste schelmisch. „Punkt eins. Nun ist niemand hier, der dich hindern kann. Punkt zwei. Sie hätten uns nach oben gebracht, damit ich mich ausruhen kann. Und auch in meinem Raum wären wir ungestört gewesen.“
 

Dhaôma sah auf und schüttelte nach kurzem Nachdenken sachte den Kopf. Er glaubte ihm nicht. Aber Erwachsene tendierten dazu, alles was sie sagten, zur Wahrheit zu machen.

Vorsichtig krabbelte er zu Mimoun und legte ihm wieder die Hände auf den Rücken. Es dauerte gar nicht lange, bis der junge Mann genügend Kraft hatte. Es war nur eine kurze Kraftanstrengung gewesen, da brauchte er nicht viel tun, außer den Muskeln Linderung zu verschaffen.

Als der Junge spürte, dass nichts mehr zu tun war, lehnte er sich vor und drückte seine Stirn gegen Mimouns Schulterblätter. „Die Kinder waren mutig heute. Meinst du, sie kriegen viel Ärger?“
 

Der Geflügelte spürte die Hände und das angenehme Gefühl. Als die Finger von seinem Rücken verschwanden, wollte er sich aufsetzten, unterließ es aber, als Dhaôma sich an ihn lehnte.

„Nein.“, lächelte Mimoun. „Das Glück, dass ihnen nichts passiert ist, wird schnell überwiegen. Doch man wird ihnen einschärfen, nicht noch einmal in deine Nähe zu kommen. Aber wie ich sie kenne, hören sie sowieso nicht.“ Kurz kicherte er, bevor er wieder ernst wurde. „Möchtest du dich noch eine Weile hier ausruhen oder kehren wir gleich nach oben zurück?“
 

„Es ist kalt hier.“, war die Antwort und Dhaôma erhob sich langsam. „Ich will in dein Haus. Da sieht mich keiner, keiner kann sich aufregen und es geht kein Wind.“ Dass Mimouns Schwester dort durchaus sein konnte, verdrängte er eben mal. Wahrscheinlich würde er von ihr auch noch diese Todesblicke ernten, wenn sie erfuhr, dass er Mimoun gefährdet hatte. Aber in der Hütte konnte er sich dem Drachenzahn widmen. Das einzige, das ihn in diesem Moment noch mit seinem Traum verband.
 

Auch Mimoun erhob sich und nickte. Gern erfüllte er seinem Freund diesen Wunsch.

Gerade als Cerel sich wieder nach unten schweben lassen wollte, um nach ihrem Sohn zu sehen, erschien dieser über dem Rand der Insel. Er hielt sich nicht lange mit Erklärungen und Worten auf und landete so dicht es ging vor seiner Hütte. Ihm waren die erstaunten Blicke nicht entgangen. Aber darum würde er sich gleich kümmern. Erst einmal setzte er Dhaôma ab und schob ihn in die Hütte und gleich weiter in seinen Raum. Dort würde er seine Ruhe finden. Schnell brachte er seinem Freund noch etwas Wasser. Essen würde es bald geben, wie er am Stand der Sonne hatte erkennen können. Mimoun verabschiedete sich mit einem aufmunternden Lächeln und wandte sich wieder nach draußen. Schadensbegrenzung.
 

In der Hütte war es warm und leicht stickig. Immerhin hatte die ganze Zeit über die Sonne darauf geschienen. Sich seine Tasche nehmend verzog er sich in die hinterste Ecke, zog die Decke über sich und wühlte dann in seinem Rucksack. Den Beutel mit den Samen fand er recht schnell, aber dann das winzige Körnchen herauszufiltern, das zu dem Leuchtmoos werden würde, war nicht mehr so einfach. Irgendwann gab er es auf, nahm sich seinen Drachenzahn und suchte sein Messer. Es war nicht mehr da. Sie hatten es weggenommen. Natürlich.

Deprimiert ließ er sich tiefer rutschen, bis seine Nase auf Höhe der Decke war. Niemals fühlte er sich allein im Wald so einsam. Seit er beschlossen hatte, dass seine Familie nichts bedeutete, hatte er sich nicht mehr so einsam gefühlt. Nicht einmal in der Höhle ganz allein im Winter.

Irgendwann griff er wahllos in den Beutel, fischte irgendeinen Samen heraus und ließ ihn wachsen. Eine Sonnenblume bohrte ihre Wurzeln in den seit Jahren festgetretenen Boden, nachdem er die Felle beiseite geschoben und das Wasser dorthin gegossen hatte, wuchs und blühte. Als sie ihr schweres Gesicht ihm zuwandte, fühlte er sich schon besser. Fast war es, als wäre er wieder alleine unterwegs, nur mit seinen Pflanzen zusammen.
 

Draußen vor der Hütte lehnte sich Mimoun mit geschlossenen Augen erst einmal aufatmend gegen die von der Sonne erwärmten Steinwände. Er spürte die Blicke seiner Dorfgemeinschaft um ihn herum. Sie waren verwirrt. Wie konnte es sein, dass dieser völlig Erschöpfte nun wieder fit war?

Als er die Augen wieder öffnete, sprühte sein Blick voll ungebändigter Wut. Dies veranlasste seine Mutter ihre Hände wieder zurückzuziehen, die sie ihm eben auf die Schulter legen wollte. Gemessenen Schrittes näherte er sich Zhanal, dem Mann, der Dhaôma so grob angepackt hatte und sah den größeren Mann an. Sein Schlag erfolgte ohne Vorwarnung, traf das Kinn und schmetterte den Kopf zurück. Keuchend ging Zhanal zu Boden. Mimoun trat einen weiteren Schritt vor und stand nun genau über ihm, die Faust noch immer drohend erhoben.

„Wage es nie wieder, Dhaôma anzurühren.“, zischte er unheilschwanger. Und an den Rest gewandt fuhr er fort: „Solange ihr ihn nicht kennt, solltet ihr euch kein Urteil über ihn bilden.“ Er spreizte seinen linken Flügel und schlug den Handrücken leicht gegen die Stelle, die eigentlich zerstört sein müsste. „Nicht alle Magie, die sie wirken, ist schädlich. Er hat diesen Flügel geheilt. Und dort unten wollte er mir auch nur helfen.“ Kopfschüttelnd wandte er sich von dem noch immer am Boden hockenden Mann ab. „Habt ihr wirklich so wenig Vertrauen in mich und mein Urteilsvermögen, dass ihr glaubt, ich würde unsere Jüngsten absichtlich einer potenziellen Gefahr aussetzen? Glaubt ihr wirklich allen Ernstes, ihr würdet mir so wenig bedeuten?“

„Er ist ein Magier.“, wandte Cerel sanft ein. „Du kannst nicht verlangen, dass wir ihm von Anfang an vorbehaltlos vertrauen.“

Der Blick von Mimoun wurde weich und seine Wut verrauchte wirkungslos. „Das habe ich doch nie getan.“, erwiderte er. „Ich habe euch nur darum gebeten, ihm wenigstens eine Chance zu geben. Auch ich hatte anfangs meine Schwierigkeiten mit ihm. Warum solltet ihr anders handeln als ich? Aber ich habe den Eindruck, nicht einmal diese kleine Bitte wollt ihr mir erfüllen.“ Er seufzte einmal tief und griff sich an den Kopf.
 

„Wir wollen Sicherheit! Deshalb sind wir hier oben und nicht unten, wo alles besser wachsen würde!“, schnaubte eine Frau, die Zhanal jetzt aufhalf. „Und nur weil er Bäume wieder zum Leben erwecken und offenbar auch heilen kann, bedeutet das nicht, dass er nicht auch schädliche Magie beherrscht!“

Zustimmendes Gemurmel wurde laut.
 

Mimoun ließ sich auf den Boden sinken und deutete an, dass sich auch die anderen setzen sollten. Es schien ein langwieriges Gespräch zu werden.

„Soweit ich weiß, kann er Pflanzen wachsen und verdorren lassen. Er kann tote Gewächse wieder zum Leben erwecken, Schnee schmelzen und heilen. Darüber hinaus hat er auch gelernt, Leder zu zersetzen.“, gab Mimoun offen zu. „Doch als ich ihn kennen lernte, konnte er Pflanzen gerade mal wachsen lassen. Das heißt er lernt noch. Niemand kann vorhersagen, welche Fähigkeiten er noch erwerben könnte. Die meisten seiner Fähigkeiten hat er gelernt, um mich zu beschützen.“ Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Glaub ich.“, schränkte er ein. „Wahrscheinlich braucht es bestimmte Auslöser, um Magie zu erlernen. Wenn das stimmt, so genau kenn ich mich auch noch nicht damit aus, würde er nur schädliche Magie lernen, wenn ihm oder mir hier Gefahr drohen würde.“
 

„Das klingt ja sehr beruhigend!“, empörte sich Zhanal. „Was ist, wenn die Kinder mit ihm spielen und ihn erschrecken?“
 

„Dann beschmeißt er sie mit Gänseblümchen.“, gab Mimoun sarkastisch zurück. „Ein kleiner Schrecken wird ihn nicht in Todesangst versetzen. Seine Magie gerät nur dann außer Kontrolle, wenn er Angst hat. Außerdem hatte er vorhin, als die Kleinen abstürzten, genauso große Angst um sie wie ihr. Er würde ihnen nie Schaden zufügen. Dhaôma hatte sich sogar gefreut, weil sie sich zu ihm getraut hatten. Aber wenn es euch beruhigt, werde ich dann immer dabei sein.“, bot er an.
 

„Als wenn wir unsere Kinder in die Nähe von diesem Kerl lassen würden!“ Aulees Augen waren Furcht erregend. „Selbst wenn du dabei bist, man sieht ja, was dabei herauskommt! Du hast sie genauso zu Unsinn verleitet!“
 

Verständnislos blinzelte er sie an. Ihm war nicht bewusst, dass er irgendetwas in der Richtung getan hatte. „Wann?“
 

„Vorhin. Du bist weggeflogen und die Kinder sind dir hinterher! Du hättest wissen müssen, dass so etwas passieren kann! Das war unverantwortlich!“ Langsam wurde offensichtlich, dass sie Mimoun dafür die Schuld gab. Entweder das oder der Magier hatte die Kinder doch verzaubert. Eigentlich war das doch ziemlich wahrscheinlich. Warum sonst sollten sie zu ihm gehen, wenn er sie nicht dazu gezwungen hatte? Und dass Mimoun behauptete, dass er nicht verzaubert war, hieß noch lange nicht, dass es stimmte.
 

Mimoun seufzte ergeben. Ach, diese Situation.

„Ich wollte Dhaôma aus eurer Schussbahn bringen. Woher bitte sollte ich wissen, dass sich die Kleinen so offensichtlich euren Zorn zuziehen wollen?“ Aber wenn er darüber nachdachte, war es schon verlockend, sich mit einem Fremden zu beschäftigen. Also nickte er. „Aber du hast Recht. Es war meine Schuld. Ich hätte nachdenken müssen und ihn besser in die Hütte schaffen sollen, damit ihr nicht weiter auf ihm rumhacken konntet. Verzeih bitte.“
 

Zufrieden mit dieser Entschuldigung nickte sie.

„Aber das klärt immer noch nicht, was wir jetzt mit ihm machen!“, mischte sich ein Mann mit langem, blondem Haar ein.

Ein anderer Mann trat hinzu. Neben Oldon, dem Dorfvorsteher, wirkte er groß und hünenhaft. Er war es, der meinte: „Ist er es nicht, der uns nicht kennen lernen will?“, fragte er und die fast schwarzen Augen des Alten neben ihm wandten sich ihm zu. „Er hat Oldon ignoriert und ist ins Haus gegangen, ohne uns zu begrüßen.“

„Das ist so nicht ganz richtig.“, wandte Oldon ein. „Er hat meinen Gruß zur Kenntnis genommen. Ich würde sagen, er war einfach zu verstört, um etwas zu erwidern.“

„Dennoch hat er auch heute keinen Versuch unternommen, mit einem von uns zu reden.“
 

„Es tut mir Leid. Das ist etwas unglücklich gelaufen.“, nickte Mimoun. „Wir waren am Morgen gerade erwacht, als fünf Geflügelte in unsere Richtung hielten. Es ist verständlich, dass er Angst bekam und sich versteckte. Es ging ein bisschen drunter und drüber. Sie drohten, mir meine Flügel zu nehmen, sollte ich meinen Freund nicht ausliefern. Er versuchte durch den Fluss zu entkommen, wurde aber eingefangen. Und ohne Pause wollten sie uns zum Hohen Rat hetzen. Magier sind empfindlich. Sie reagieren schneller auf Temperaturschwankungen. Er wäre beinahe erfroren und als ich eine Pause erzwang, verprügelten sie mich und stießen mich von der Insel. Und ohne ihm eine Chance zu geben, sich mit den Leuten bekannt zu machen, wurde er in den Ratskreis gestoßen. Und mich wollten sie fortschicken. Dabei war ich doch der einzige Halt, den er hatte. Das war zu viel für ihn. Er brauchte Abstand. Er brauchte eine Pause. Dass er euch damit vor dem Kopf stieß, ist ihm wahrscheinlich nicht einmal bewusst gewesen. Darüber hinaus ist er in Einsamkeit aufgewachsen. Dhaôma weiß nicht, wie man sich anderen gegenüber richtig verhält. Er lernt es gerade erst. Bitte habt ein wenig Nachsicht. Er meint es nicht böse.“
 

Unglaube spiegelte sich auf ihren Gesichtern. Das klang ziemlich seltsam. Hieß es nicht, dass Magier immer zu mehreren unterwegs waren und auch in Gruppen Angriffe führten? Wie sollte da ein Junge ganz alleine aufwachsen? Und sie waren temperaturempfindlich? Seit wann? Konnten sie nicht Eis aus bloßer Luft hervorbringen? Oder Feuer? Noch dazu die Tatsache, dass ein Geflügelter einem anderen die Flügel ausreißen wollte. Das war am unglaublichsten.

„Erzähl uns das genauer.“, bat nun Oldon. „Langsam und der Reihe nach.“ Sie hatten ja nichts davon mitbekommen und Mimoun hatte bisher auch nichts gesagt.
 

Der junge Geflügelte nickte und streckte sich erst einmal ausgiebig. Dann begann er zu berichten. Er fing wieder ganz am Anfang an. Doch diesmal erzählte er nichts von seiner eigenen Rettung sondern alles, was er damals über Dhaôma erfahren hatte. Davon, dass er aufgrund seiner Fähigkeit als wertlos erachtet und nicht beachtet wurde. Dass er einsam durch die Wälder streifte. Soviel er von dessen Familie wusste, gab er preis. Dass seine Mutter jeden, der es wagte, Freundschaft mit ihrem Sohn zu schließen, bestrafte. Auch dass Dhaôma nicht gerne über seine Familie sprach, ließ er nicht unerwähnt.

Er berichtete alles, was er über die Magie wusste. Dass die Zeichen leuchteten, wenn die Magie wirkte. Dass man an den Zeichen erkennen konnte, welche Art von Magie gewirkt wurde oder zu der der Träger fähig war. Und dass die Zeichen erst erschienen, wenn die entsprechende Kraft das erste Mal eingesetzt wurde. Auch dass die magischen Fähigkeiten keine Auswirkungen auf die körperlichen Fähigkeiten hatten. Lange der Kälte ausgesetzt zu sein, barg Gefahr für sie. Darum war es hier oben so unangenehm für den Magier.

Mimoun berichtete als Letztes von dem Wunsch des Magiers, den Krieg zu beenden und seiner tiefen Furcht, durch seine Einmischung alles nur zu verschlimmern oder gar Mimoun in Gefahr zu bringen. Darum war auch ihr Aufgreifen so furchtbar gewesen. Die Geflügelten hatten ihre Wut und Abneigung an einem Vertreter ihres eigenen Volkes ausgelassen, nur weil dieser es wagte, sich mit einem Feind anzufreunden.

Er redete fast zwei Stunden und erwähnte wirklich alles, was den Magier und seine Gefühle betraf und an das er sich erinnern konnte. Immer wieder erwähnte er Abschnitte ihrer Reise, um bestimmte Dinge zu untermalen und zu verdeutlichen.
 

Am Ende herrschte nachdenkliches Schweigen. Das war alles ziemlich ungeheuerlich. Einerseits passte die Beschreibung von Dhaômas Familie zu ihren Vorurteilen, andererseits schien der Braunhaarige so gar nichts von seinem Volk zu haben. Dass sie nun viel mehr über die Magier wussten, über deren Magie und wie man sie erkennen konnte, gab ihnen etwas Sicherheit, nur…

„Was sagt dir, dass er dich nicht belogen hat? Immerhin könnte er einen Vorteil daraus gewinnen, wenn er dir das erzählt. Keiner von uns kann nachprüfen, ob er die Wahrheit sagt oder nicht. Wir müssen uns auf sein Wort verlassen, das nicht viel wert ist, wie ich denke.“
 

„Ich weiß nicht, ob es die Wahrheit ist.“, gab Mimoun offen zu. „Aber er hat mir nie einen Grund gegeben, an seinen Worten zu zweifeln. Im Gegenteil. Er war völlig verzweifelt, als ich nach einem dummen Streit für einen Nachmittag nicht da war. Er hat mich unter Tränen angefleht, ihn nicht allein zu lassen.“ Er lächelte milde, als er sich wieder an diese Szene erinnerte, an den Regen, der so wunderbar zu der Stimmung gepasst hatte. „Es war nicht gespielt, wenn ihr das anmerken wollt. Diese Angst war echt. Er würde alles tun, damit ich ihn nicht verlasse.“
 

Blicke voll Unglaube und Verwirrung wurden getauscht, dann erhob Nobu, der Mann mit den langen blonden Haaren, wieder das Wort. „Wenn es stimmt, dass er immer allein war, dann wundert mich das zumindest nicht.“

Jadya hob den Kopf. Sie hatte bisher nicht einen Ton gesagt, aber jetzt erschien es ihr passend zu sein. Sie mochte Mimoun und dieser schien den Magier zu mögen, also könnte man es ja versuchen. „Könnte man ihm nicht eine Aufgabe geben, damit er aufgehoben ist?“, fragte sie. „Du sagtest, dass das Wirken von Magie ihn erschöpft. Wenn man ihn also dazu brächte, sie gerichtet einzusetzen, dann hätte er doch nicht mehr genug, um einen Angriff zu führen, selbst wenn er erschreckt würde. Ist das keine Lösung?“ Fragend sah sie in die Runde.
 

Mimoun nickte zu den Bäumen hinüber. „Es wäre gut, wenn er etwas zu tun hätte.“, pflichtete er ihr dankbar bei. „Und momentan kann er sich wunderbar an unseren Bäumen austoben. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn sie nicht die einzigen bleiben, die hier gedeihen würden.“, kicherte er. „Bitte gestattet es ihm.“

Das Dorf sah sich grübelnd an. Wenn der Magier nicht mehr seine volle Kraft zur Verfügung hatte, ging wohl kaum noch Gefahr von ihm aus. Und es brachte einen Vorteil mit sich: sie hätten wieder Früchte aus eigenem Anbau.

„Was ist mit unseren Kindern?“, fragte Aulee. Sie war noch immer nicht so ganz überzeugt.

„Solange ich nicht anderweitig benötigt werde, werde ich in seiner Nähe sein. Ich werde ihn im Auge behalten und wir werden die Insel ohne eure Erlaubnis nicht verlassen. So könnt auch ihr noch einen zusätzlichen sichernden Blick auf die Kleinen haben.“, gab er ihr sein Wort und sah sie offen an. Sie schwankte noch immer. Doch der Rest schien sich mit diesem Gedanken anfreunden zu können. „Wenn ihr wollt, können wir das Vorstellen und Kennen lernen nun nachholen.“, begann er und erhob sich bereits.

„Es wäre das Beste, wenn wir einen erneuten Versuch starten.“, pflichtete Oldon ihm bei und Mimoun betrat wieder sein Heim und schlüpfte in den Raum. Der junge Geflügelte staunte nicht schlecht, als er seinen Freund vor einer großen gelben Blume sitzen sah.

„Dhaôma?“, fragte er zaghaft.
 

Der Junge sah auf. Er hatte Mimoun schon kommen hören. „Ihr habt lange geredet. Sind sie noch böse?“
 

Lächelnd streckte dieser eine Hand nach seinem Freund aus. „Komm mit. Wir holen nach, was wir bisher versäumt haben. Ich stell sie dir vor.“
 

Zögernd ergriff er die Hand und ließ sich hochziehen. Langsam zog er den Pelz an, während er sich innerlich wappnete, wieder mit einer Meute Menschen konfrontiert zu werden. Letztlich lächelte er Mimoun an. „Weißt du, es tut mir Leid, dass du jetzt zwischen mir und deinen Leuten stehst. Mir wäre es lieber, wenn du kein Prellbock sein müsstest.“ Einmal atmete er tief durch. „Ich werde nichts mehr machen, okay?“
 

Mimoun lächelte nur wieder sanft und zog seinen Freund ins Freie. Dort hatten sich alle erhoben und sahen nun erwartungsvoll den beiden entgegen. Wieder war es Oldon, der sich aus der Menge löste und auf den Magier zutrat.

„Verzeih bitte den unglücklichen Start, den wir hier hatten. Wenn du es gestattest, würden wir es gerne noch einmal probieren.“ Wieder neigte er höflich den Kopf. „Willkommen in unseren Dorf, Dhaôma.“
 

Es brachte den Braunhaarigen zum Lächeln. Zwar war noch immer Angst in ihm und schnürte ihm wie ein großer Knoten die Luft ab, aber diese Geste war freundlich. „Vielen Dank.“, antwortete er deutlich und verbeugte sich, wie es ihm anerzogen worden war. „Ich freue mich, hier sein zu dürfen.“ Nicht einmal gelogen. Wenn sie nett waren, würde er gerne bleiben.
 

Mimoun nickte anerkennend. Das war eine gute Reaktion gewesen und er hatte dabei nicht einmal nachhelfen müssen.

Nacheinander begann er jeden einzelnen von ihnen vorzustellen. Jeder der Geflügelten neigte dabei leicht das Haupt.

Als Mimoun mit allen durch war, wandte er sich wieder Dhaôma zu. „Da du ja nun auf unbestimmte Zeit hier sein wirst, würden wir uns freuen, wenn du dich in der Zeit um unseren Pflanzenbestand kümmern könntest. Oh. Und eine wichtige Regel, die du unbedingt zu beachten hast: Spielen mit den Kindern immer und ohne Ausnahme nur unter Aufsicht eines Erwachsenen.“, erklärte er lächelnd.
 

Aufmerksam hatte Dhaôma gelauscht und versucht, sich die Namen einzuprägen. Schon nach den ersten zehn hatte er den Überblick verloren. Nur die der Kinder behielt er. Und den Cerels. Hoffentlich waren sie nicht böse, wenn er die Namen nicht aus dem Stehgreif wieder parat hatte.

Als es zu den Pflanzen kam, leuchteten seine Augen. „Was für Pflanzen wollt Ihr haben?“, fragte er und verdrängte den Gedanken ganz schnell, dass er wieder nur mit Erlaubnis Freundschaften schließen durfte. Solange sie nicht dafür bestraft wurden, dass er mit ihnen spielte, war es okay.
 

Mimoun lachte herzhaft. Ja, das war sein Magier. Nun war er wieder in seinem Element. Verlegen kratzte er sich am Ohr. „Na ja. Gestern wolltest du mir Erdbeeren anbieten, aber es war was dazwischen gekommen. Meinst du, die überleben hier oben? Hast du dafür überhaupt noch Samen? Auf jeden Fall Pflanzen, die die Witterungsbedingungen hier auch überleben können. Du kennst dich damit am besten aus. Ich vertrau dir da voll und ganz.“
 

Erdbeeren würden hier oben nur bedingt überleben, aber wenn er ihnen Magie spendete, dann zumindest in diesem Sommer. Dhaôma nickte. Seine Wangen färbten sich rot, als er im Kopf seinen Samenbestand durchging. „Regnet es hier oft?“, fragte er nebenbei, bevor er plötzlich zusammenschreckte, weil er sich wieder bewusst wurde, dass noch andere da waren. Schüchtern sicherte er sich mit Blicken. War das zu offensiv gewesen?
 

Als er diesen Blick sah, legte Mimoun seinem Freund die Hand auf den Kopf, wuschelte kurz durch die Haare. Bevor er etwas sagen konnte, kam ihm Oldon zuvor.

„Wir haben einstimmig beschlossen, dir diese Aufgabe zu übertragen. Wir verlassen uns auf dich.“

Erstaunt sah der junge Geflügelte den Dorfvorsteher an. Ihm schien es mit dem zweiten Versuch wirklich ernst zu sein und das erfüllte ihn mit unbändiger Freude. Dankbar nickte er ihm zu und wandte sich wieder seinem Freund zu. „Es gibt fast zwei Monate im Sommer so gut wie keinen Regen. Sonst hält es sich hier gut in der Waage.“, beantwortete er die gestellte Frage.
 

Dhaôma starrte ihn ungläubig an. So lange? Das war eine Katastrophe. „Ich würde euch mit den Pflanzen das Wasser nehmen.“, sagte er entsetzt. Aber es würde erklären, warum die Obstbäume vertrocknet waren. Sie hatten nicht genügend Wasser, um wirklich Anbau betreiben zu können.
 

Nachdenklich kratzte sich Mimoun am Kinn. Das war tatsächlich ein Problem. Er zuckte nur hilflos mit den Schultern. Ihm selbst fiel auf die Schnelle nichts ein.

„Du bist ein schlauer Kopf. Dir fällt sicher etwas ein.“ Dann fiel ihm selbst wieder etwas ein. „So wie mit den Fischen.“ Verständnislose Blicke des Dorfes veranlassten ihn dazu, Dhaôma anzustupsen. „Es ist deine Idee.“, ermunterte er ihn.
 

Er sollte vor so vielen Leuten sprechen und einen Vorschlag machen, der aus dem Lager kam, das sie hassten? Plötzlich kam er sich vermessen vor, das Leben dieser Menschen ändern zu wollen. Dennoch konnte er keinen Rückzieher machen.

Innerlich spannte er sich und wappnete sich schon mal gegen Beschimpfungen, als er ihnen sagte, dass man in den Teichen unten bestimmte Fische aussetzen könnte, wenn man einen übrig ließ, aus dem man Trinkwasser gewinnen konnte.
 

Kurz herrschte angespannte Stille, doch dann begannen hitzige Diskussionen. Einer der Seen wurde sowieso zum Baden benutzt. Und Fische störten dabei sicher nicht. So tief gingen sie ja nie rein dafür. Und es wäre eine neue Nahrungsquelle, die sicher zu erreichen war.

Mimoun stupste dem Magier freundschaftlich den Ellenbogen in die Rippen und deutete mit dem Kopf auf die Geflügelten. Aus der Diskussion klärten sich immer mehr die entscheidenden Fragen heraus. Es blieb nur noch die Überlegung, welche Fische man nutzen konnte, welche waren untereinander verträglich. Und wie kümmerte man sich um diese Tiere? Niemand kannte sich darin aus. Niemand war je auf solch eine Idee gekommen.

„Möchtest du ihnen von dir aus helfen oder wartest du, bis sie dich fragen kommen?“
 

„Ich will ihnen schon helfen.“, sagte Dhaôma zögerlich. Aber wie sollte er das machen? Fischbabys sahen alle gleich aus. „Wenn sie sich beeilen, können sie vielleicht laichreife Tiere fangen und hier aussetzen. Wenn sie dann noch welche nur aus einem See holen, der recht weit oben liegt, wo es kalt ist, dann haben sie doch alles, was sie brauchen. Dort leben nur Tiere, die die Kälte vertragen, sie vertragen sich untereinander und leben von alleine. Oder nicht?“ In seiner Unbedachtheit hatte er das alles Mimoun gesagt, ohne darauf zu achten, ob sonst wer mitkam oder zuhörte. Eigentlich war es nicht einmal für ihre Ohren bestimmt, denn er wusste nicht, ob sie seine Hilfe wollten.
 

„Und warum sagst du das nicht ihnen direkt?“, fragte er lächelnd, doch er schüttelte schnell den Kopf. „Schon okay. Du hast heute bereits Großartiges geleistet.“, wiegelte er ab. „Ich kümmere mich um den Rest.“ Schon trat er zwischen die Diskutierenden und zog so ihre Aufmerksamkeit auf sich. Mit knappen Worten schilderte er Dhaômas Vorschläge und Hinweise, fügte selbst hinzu, dass es für den heutigen Tag vielleicht schon zu spät war, um einen solchen See zu finden und man noch eine Möglichkeit finden musste, die Tiere unbeschadet hierher zu bringen.

Der Tag neigte sich bereits seinem Ende und so beriet sich die Dorfgemeinschaft über eine mögliche Vorgehensweise, während sich Mimoun wieder um seinen Freund kümmerte. Dankbar lächelte er ihm zu. „Sehr gut gemacht.“, lobte er ihn leise. Mit einer fragenden Geste deutete er auf die Hütte hinter ihnen. „Die Sonne ist bald verschwunden. Es dürfte nun noch kälter werden. Oder möchtest du noch eine Weile draußen bleiben?“
 

„Wir können auch reingehen.“ Kälte und Aufregung hatte er heute schon genug gehabt. „Sag ihnen aber noch, dass sie mit gewachstem Leder Fische und Wasser transportieren können.“ Wie das von Mimouns Rüstung. Das war auch wasserfest, auch wenn es schwer vorstellbar war. „Haut war ursprünglich dazu gedacht, kein Wasser in den Körper zu lassen.“ Aber das müssten sie eigentlich wissen, schließlich waren die Dächer auch aus solchen schweren Lederbahnen gemacht.

„Morgen wird sicher ein schönerer Tag.“, murmelte er leise mit einem Blick auf die diskutierende Menge. Sie hatten ihn alle vergessen. Alle bis auf Haru. Als Dhaôma jetzt Anstalten machte, ins Haus zu gehen, lächelte er ihm zu und winkte, was ein zurückwinken zur Folge hatte. Er hatte schon einen Freund gewonnen. Schon am ersten Tag, auch wenn er vorsichtig sein musste, damit man ihm diesen kleinen Freund nicht wegnahm.
 

Darauf würden sie auch alleine kommen, befand Mimoun und folgte Dhaôma in die Hütte. Auch für ihn war es zu viel Stress heute gewesen. Und mehr als einmal war er unsanft aus seinem wohlverdienten Schlaf geweckt worden. Darum streckte er sich auch gleich auf seinem Lager aus. Nur um gleich wieder hochzuschrecken. Mutter würde ihn doch nur wieder wecken, wenn sie zum Essen rief. Es war nicht mehr lange bis dahin. Es brachte nichts, jetzt zu schlafen.

Also versuchte er sich mit der Blume abzulenken, die noch immer in seinem Zimmer wucherte. Neugierig stupste er sie an. Wippend balancierte sie die Schwankung wieder aus. „Tut mir leid, wie der Tag heute verlaufen ist. Ab jetzt wird es besser. Versprochen.“
 

„In Ordnung.“ Dhaôma hockte sich neben ihn und stützte das Kinn auf die Hände. „Du, darf ich wirklich mit ihnen spielen?“
 

Mimoun lachte leise.

„Ja. Aber ich fürchte, sie werden mich in dem Fall nicht als Erwachsenen zählen. Aulee meinte, ich würde den Kindern genauso Flausen in den Kopf setzen. Besser, du weist vorher jemanden diskret darauf hin. Oder du schickst die Kinder vor, wenn du unsicher bist.“
 

Nickend bestätigte er, dass er verstanden hatte, dann grinste er. „Sie wird hier drin sterben, denn sie hat kein Licht. Machen wir Kerne draus, die sind Ölhaltig und schmecken lecker.“ Und mit nur einer kurzen Berührung verwelkte die Blume, verlor ihre Blätter und ließ den Kopf noch weiter hängen, schwer mit ihrer kernigen Last.

Dhaôma zupfte einen heraus, pellte ihn und hielt ihn Mimoun hin. „Probier.“
 

Dankend nahm der junge Geflügelte den Kern entgegen und schob ihn sich in den Mund. Nachdenklich kaute er darauf herum. Dann nickte er. Lecker waren sie.

„Bereiten wir ein paar davon für unser Abendessen vor.“, schlug er vor und pflückte den nächsten Kern aus der welken Blüte. In einer beiläufigen Bewegung zog er ein Fell heran und drehte es um. Darauf konnten sie die Reste dann einfach aus der Hütte entfernen.
 

Sie fuhren damit fort, bis Cerel zum Essen rief. Halleluja, es gab frisches Fleisch. Von der Jagd am Vormittag. Etwas hilflos nahm Dhaôma entgegen, was ihm die Mutter reichte und biss ein Stückchen ab, kaute, schluckte, bevor er seine Hand sinken ließ. „Cerel, ich möchte helfen. Kann ich was tun?“
 

„Hast du doch bereits.“, erwiderte sie und deutete auf die Kerne, die ihre Mahlzeit heute erweiterten.

Mimoun sah wie der Magier lustlos auf dem Fleisch herumkaute und schalt sich selbst. Er wusste, wie ungern dieser so etwas aß. Da hatte er extra Holz geholt, damit Dhaôma sich das Fleisch braten konnte, und nun hatten sie es völlig vergessen. Nun war es zu spät, aber morgen würde er ihn gezielt noch einmal darauf hinweisen.
 

Das war es nicht, was er gemeint hatte. Das war keine Arbeit. Aber er sagte nichts mehr dazu, sondern schwieg und aß brav auf.

Als sie fertig gegessen hatten, war die Sonne schon weg und es war Schlafenszeit. Dhaôma war dankbar dafür. Silia konnte ihn nicht leiden und dementsprechend unangenehm war es, ihr gegenüberzusitzen. Sie schaute ihn immer an, als wäre er eine Spinne in ihrer Suppe. Und weil er Bauchweh bekam von dem rohen Fleisch, das sein Magen nicht gewöhnt war, ließ er an dem Abend noch eine heilende Pflanze wachsen, die er einfach aufaß.

So schlief er relativ gut, bis am nächsten Morgen die Sonne rief. Er hatte sich vorgenommen, den Sonnenaufgang wieder anzusehen, doch als er aus dem Haus schlich, war der Himmel bewölkt und die Dämmerung war nur in der Ferne durch einige zarte Farben zu erahnen. Enttäuscht blieb er am Ostrand stehen. Dabei hätte er so gerne die Sonne auf den Blüten gesehen. Stattdessen würde es Regen geben. Die Luft schmeckte schon feucht.

Gewitter

Kapitel 19

Gewitter
 

Als die ersten Tropfen fielen, zog er sich ins Haus zurück. Und blickte in erschrockene Augen. Silia war ebenfalls schon wach.

Sekundenlang starrten sie einander wie paralysierte Kaninchen an, bevor Dhaôma wieder einen Schritt zurück machte. Das löste den Bann. Silia wich zur einen Seite, Dhaôma zur anderen und so kamen sie ohne Probleme aneinander vorbei. Erleichtert hockte sich der Braunhaarige wieder in sein Bett und wartete, bis Mimoun wach oder wahlweise geweckt wurde.
 

Dieser hatte auch heute nichts von der morgendlichen Wanderung seines Gastes bemerkt und schlummerte noch eine ganze Weile friedlich vor sich hin. In der Zeit der Wanderung hatte er sich angewöhnt bei Sonnenaufgang wach zu werden, da sich auch Dhaôma um diese Zeit zu regen begann. Wie schnell konnte man doch in alte Gewohnheiten zurückfallen.

Als er schließlich erwachte, und das noch bevor seine Mutter einen Blick in den kleinen Raum werfen konnte, streckte er sich erst einmal ausgiebig. Da er ausgeschlafen hatte, versprach das heute ein besserer Tag als gestern zu werden.

„Guten Morgen.“, begrüßte er ihn fröhlich. „Ich hatte gestern draußen Feuerholz deponiert und es vergessen. Bevor es Frühstück gibt, könnten wir was für dich herrichten.“
 

Nachdenklich blickte Dhaôma ihn an. Seit einiger Zeit war das stetige Prasseln des Regens auf dem Dach zu hören. Er bezweifelte doch stark, dass das Holz noch trocken genug war zum Brennen. Dennoch nickte er ihm zu. „Danke.“ Und weil er es kaum erwarten konnte, wieder hinauszukommen, fragte er noch: „Wie lange regnet es hier oben im Allgemeinen?“
 

Nun merkte auch Mimoun auf und hörte das Prasseln. Mit einem Stöhnen ließ er sich wieder zurückkippen und schlug die Hände vor das Gesicht. Na toll. Das Holz konnten sie erst einmal vergessen.

„Je nach Wolkendichte und Jahreszeit kann es schon mal etwas dauern.“ Ruckartig setzte er sich auf. „Ob es uns mit aufgespannten Lederbahnen möglich wäre, Wasser für deine Pflänzchen zu sammeln und zu speichern?“
 

Amüsiert betrachtete sich Dhaôma seinen Freund. „Wie viele Lederbahnen habt ihr denn? Und wo willst du das Wasser speichern? Aber es wäre nicht schlecht, wenn im Sommer mehr zur Verfügung steht, wenn es da keinen Regen gibt.“ Nachdenklich stützte er das Kinn auf die Fäuste. „Mimoun, zeigst du mir, welche Kraft des Wassers sich noch in mir verbirgt? Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass ich mehr kann, als Eis schmelzen, aber ich weiß nicht, was. Wenn du es mir zeigen könntest, vielleicht kann ich dann Regen rufen.“
 

„Wir können zwischen den Bäumen ja einen weiteren Teich anlegen. Dort drunter liegt kein Teil des Labyrinths.“ Dennoch nickte er und begann grinsend mit einem Fingernagel die Zeichen auf Dhaômas Arm nachzufahren, hauchzart und federleicht.
 

Dieser kicherte und zog den Arm weg. „Hey, die kann ich sehen!“ Mit Schwung stand er auf und zog sowohl Pelz als auch Hemd aus, bevor er sich mit dem Rücken zu Mimoun wieder hinsetzte. Gespannt wartete er.

Dann, genauso hauchzart spürte er die Berührung im Nacken. Angefangen bei seinem Ohr bis zwischen die Schulterblätter und wieder ein Stückchen hinauf. Gänsehaut bildete sich angesichts dieser unvorhersehbaren Gemeinheit. Mimoun könnte ruhig ein bisschen mehr Druck ausüben, aber wer wusste schon, ob die Fingernägel ihn sonst verletzen würden.

„Das ist für die Heilung.“, teilte er ihm mit, als er das flaue Gefühl im Magen überwunden hatte. Zwei parallele, waagerechte Linien beiderseits knapp unter dem Hals waren für die Zerstörung von tierischem Material. Weiter ging es hinunter und so schlimm kitzelig, dass Dhaôma lachen musste und sich weg wand. „Fies!“, kicherte er. Dabei war es gerade jetzt so spannend!
 

„Oh ja. Ich bin ein böser Junge.“, lachte Mimoun und schlang einen Arm um Dhaômas Bauch, damit dieser sich nicht erneut weg winden konnte. Er dachte gar nicht daran, einen höheren Druck oder einen Fingerknöchel zu nutzen. Dies würde seinem momentanen ‚Opfer’ nur Linderung verschaffen. Dabei war dieses Spiel viel amüsanter. „Und sei nicht so laut. Ich weiß nicht ob meine Mädels schon wach sind.“
 

„Deine Schwester ist wach.“, gab der Junge zurück und versuchte, sich auf die Stellen am Rücken zu konzentrieren. Das war sowieso schon schwer bei den Wasserzeichen, aber hier und jetzt unmöglich. „Das ist nicht hilfreich!“, keuchte er, als ihm das Lachen wieder entglitt, das er versucht hatte, zu unterdrücken.
 

„Ich weiß.“ Mimouns Grinsen wurde breiter. Noch einmal zog er die Wassertropfen auf Dhaômas Rücken nach. „Aber so macht es mehr Spaß.“
 

Verzweifelt versuchte Dhaôma sich gegen die Hand am Bauch zur Wehr zu setzen, doch er hatte dank der unterdrückten Lachattacken kaum eine Chance.

„Was macht ihr da?“

Die Stimme kam unerwartet und ließ Dhaômas Nackenhaare sich aufstellen. Sofort war der Spaß vorbei, selbst die Empfindlichkeit seines Rückens war gegangen.
 

Mimoun spürte und sah die Veränderung. Mit einem lautlosen Seufzen entließ er Dhaôma aus seinem Griff und wandte sich seiner Schwester zu. Der Blick, den er ihr zuwarf, sprach Bände. „Wir haben nur etwas nachgeguckt.“, erklärte er leise, ergriff Dhaômas Sachen und legte sie ihm um die Schultern. Anschließend erhob er sich und drängte seine Schwester weg vom Eingang. Lautlos ließ er die Lederplane wieder an ihren Platz gleiten und sein Blick wurde traurig. Dabei hatte er es gerade geschafft, dass sich Dhaôma endlich einmal entspannen konnte. Auch wenn von Anfang an klar war, dass dies nur von kurzer Dauer sein würde. „Verzeih. Haben wir dich gestört?“, wollte er wissen. Sein Blick glitt über die Lederbahn, die den Raum der Frauen abtrennte.

„Mutter ist gerade draußen.“, erklärte sie knapp, bevor sie seine Frage verneinte. Und dann nickte. „Keine Ahnung.“

Mimoun lächelte wieder und zog sie in seine Arme. Wie ein kleines Kind klammerte sie sich an ihn. Ihr trauriges Gesicht konnte er nicht sehen, da sie es an seinem Hals verbarg, doch schnell stieß sie ihn von sich. „Es gibt gleich Frühstück.“

Mimoun nickte nur und betrat wieder seinen Raum, um dies auch Dhaôma auszurichten.
 

Dieser hatte sich inzwischen angezogen und sah ihm mit gemischten Gefühlen entgegen. Er konnte spüren, dass er ihr ein Dorn im Auge war, und das lag nicht nur daran dass er Magier war. Sollte Mimoun sich jemals ein Mädchen suchen, würde sie dieses vielleicht genauso behandeln. Vielleicht interpretierte er da aber auch zu viel hinein.

„Können wir auch was machen fürs Frühstück?“, wollte er wissen. Ihm behagte es nicht, dass die Mutter in den Regen hinausgegangen war und arbeitete.
 

Mit knappen, befehlenden Anweisungen erklärte sie, wo er Geschirr finden und Essen holen konnte. Mimoun spürte die Stimmung mit jeder Sekunde angespannter werden und verabschiedete sich kurz.

„Bringt euch bitte nicht um.“, bat er verzweifelt und trat in den Regen hinaus. Diesen über seinen Körper rinnen zu spüren, spülte nicht nur den Dreck von ihm. Kurzfristig vergaß er alle Sorgen und machte sich auf den Weg zur Senke. Auf dem Weg dorthin, kam ihm seine Mutter entgegen und er bat sie, dafür zu sorgen, dass die Hütte nicht komplett mit Blut besudelt war, bis er zurückkam.

Diesen Wunsch konnte er als erfüllt betrachten, denn alle drei ihm wichtigen Personen saßen bereits um das vorbereitete Frühstück herum, ohne irgendwelche erkennbare Verletzungen. Dabei suchten Dhaôma und Silia den weitmöglichsten Abstand zueinander. Mimoun seufzte. Na, ob aus denen jemals Freunde werden konnten?

Das Frühstück verlief in Schweigen und Mimoun war froh, als alles wieder weggeräumt worden war. Danach hängten die Frauen die Lederbahnen ab, die ihren Raum abtrennten, um mehr Platz zu schaffen. Bei dem Regen konnte man nicht draußen arbeiten. Aus Rücksicht auf Dhaôma ließen sie den Jungenraum weiterhin abgetrennt, um ihm die Möglichkeit zum Rückzug zu bieten.
 

Dhaôma steckte den Kopf durch die Tür, um zu sehen, wie stark der Regen war. Er mochte Regen. Und wenn er ehrlich war, würde es ihn interessieren, wie es war, wenn der Regen auch unter den Füßen zu finden war. Als er den Kopf zurückzog, waren seine langen Haare bereits nass.

„Mimoun, können wir wirklich einen Teich anlegen? Bei dem Regen dauert es auch nicht lange, bis er voll ist.“ Hätte er jetzt Wechselkleider, würde er hinausgehen, aber die Aussicht darauf zu frieren, hielt ihn davon ab. Das hier war kein warmer Regen wie bei ihm daheim im Wald.

„So was Verrücktes hab ich ja noch nie gehört.“, kam es von hinter ihnen und wie ein ertapptes Kind fuhr Dhaôma herum. Dunkle, braune Augen sahen ihn verächtlich an.
 

„Die Idee stammt von mir.“, ging Mimoun dazwischen. „Aber ich hab ja nur verrückte Ideen, nicht wahr?“, fauchte er und legte Dhaôma eine Hand auf die Schulter. Silia wich erschrocken und verletzt zurück. Schon wieder stellte sich ihr Bruder offensichtlich auf die Seite des Magiers und gegen sie. „Ich verstehe ja, dass du ihm nicht vertrauen willst, aber er ist mein Gast. Ein wenig mehr Höflichkeit würde ich mir schon von dir wünschen.“

Nun füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Du Idiot.“, schrie sie ihn an, stieß ihn beiseite und rannte in den Regen hinaus.

Mimoun fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. „Verdammt.“
 

Dhaôma war ihr schon freiwillig ausgewichen, nun sah er Mimoun bedröppelt an. Es tat ihm ehrlich Leid. „Magst du ihr nicht nachlaufen?“, fragte er unsicher.
 

Mimoun nickte zögerlich. Und schüttelte zeitgleich den Kopf. Dennoch verschwand er kurze Zeit später im Regen. Draußen hielt er Ausschau nach seiner Schwester, konnte sie aber nirgends entdecken. Doch dafür Zhanal. Hastig ging er auf ihn zu.

„Hast du Silia gesehen? Wo ist sie hin?“

„Ja, ich hab sie gesehen. Was hat der Magier getan?“, brummte er mit zorniger Stimme.

Mimouns Blick wurde traurig. „Dhaôma ist unschuldig. Ich hab etwas total Dummes getan. Mal wieder.“, gestand er kleinlaut.

Zhanal musterte ihn kritisch und deutete schließlich auf die Hütte, in der auch Aylen und Jadya lebten. Schnell bedankte er sich und strebte auf die Hütte zu.

„Darf ich reinkommen?“, fragte er in den leeren Vorraum hinein, noch immer im Regen stehend. Es vergingen nur Augenblicke, da schob sich eine Lederbahn beiseite und Aylen kam auf ihn zu. Ihr Blick ließ nichts Gutes vermuten, doch er wich nicht aus, als sie offensichtlich ausholte und ihre Fingernägel über seine Wange zog, dort vier blutige Striemen hinterließ.

„Machst du nicht einmal mehr vor deiner eigenen Schwester Halt?“, verlangte sie zu erfahren, ohne ihm Einlass zu gewähren.

„Was soll ich denn tun?“, fragte er hilflos. „Ich habe ihm versprochen, dass ich ihn immer beschützen werde. Und ich liebe meine Schwester wirklich über alles. Nichts wünsche ich mir mehr, als wenn sich diese zwei verstehen würden. Doch wenn Silia Dhaôma ohne Grund angreift, mit Worten und mit Gesten, auf wessen Seite soll ich mich denn dann stellen? Was soll ich da tun? Ich kann es nicht beiden Recht machen.“

Schweigend lauschte sie seinen Worten und musterte ihn stumm. Es vergingen viele Augenblicke, in denen keiner etwas sagte, bis sie schließlich zur Seite wich und ihn herein ließ. Dankend schlüpfte Mimoun ins Trockene und schüttelte den Regen im Vorraum von sich. Wortlos deutete sie auf die Lederplane, hinter der sie erschienen war. Mimoun schob sie beiseite und sah auf die beiden Mädchen herunter, die dort hockten. Silia lag heulend in Jadyas Armen. Auch in Jadyas Augen lag stiller Vorwurf, doch sie löste sich von ihrer Freundin und ließ die beiden Geschwister allein. Silia saß mit dem Rücken zu ihrem Bruder. Lange sagte keiner von ihnen etwas.

„Sie haben Vater getötet.“, hörte Mimoun es leise zwischen Schluchzern. Sie versuchte sich im Griff zu halten und spielte mit ihrer Kette.

„Ich weiß.“, erwiderte er ebenso leise und setzte sich nun endlich.

„Er ist ein Magier.“

Auch diese Aussage konnte er nur bestätigen.

„Er wird handeln, wie es für sein Volk üblich ist. Er wird mir das, was mir wichtig ist, wegnehmen.“

Nun rutschte er näher und zog sie sanft an den Schultern zurück, so dass ihr Rücken schließlich an seiner Brust ruhte. „Warum sollte er? Er hegt doch keinen Groll gegen unser Volk.“

„Du verstehst es nicht.“, fuhr sie auf und wirbelte herum. „Du bist nur mit ihm unterwegs. Du hast dich wochenlang nicht gemeldet oder hier vorbei gesehen. Und auch jetzt bist du nur in seiner Nähe. Ich bin für dich nicht mehr existent.“

Jetzt begriff Mimoun, worum es ging. Sanft lächelte er sie an, zog sie wieder in seine Arme. „Dummkopf. Dann sag mir das doch einfach. Aber quäl Dhaôma nicht deswegen. Er fühlt sich doch genauso alleine wie du. Und Silia. Du hast das Dorf im Rücken, das dich unterstützt und dich auffängt. Er hat niemanden.“

„Ich weiß.“, erwiderte sie schwach. „Das hast du gestern schon erzählt.“

Eine Weile sprach keiner von ihnen, spürte einfach nur die Nähe des anderen.

„Warum hast du mich gehen lassen?“, fragte er schließlich zögerlich. „Warum hast du es nicht verhindert?“

Es dauerte wieder lange, bis sie darauf antwortete. „Ohne es selbst zu merken, drohtest du an deinen Gewissensbissen und Gefühlen zugrunde zu gehen. Wir haben doch gesehen, was mit Mutter geschah, als Vater starb. Ich hatte damals doch nur noch dich. Ich wollte nicht, dass du dasselbe durchmachst.“ Silia stemmte sich ein wenig ab, hielt den Blick aber gesenkt. Aus ihren braunen Augen drangen noch immer Tränen. Alle Dämme waren gebrochen. Sie redete sich alles von der Seele, was sie in den letzten Wochen belastet hatte. „Mutter ist aufgeblüht, als du von den Toten zurückgekehrt warst. Auch sie wollte nicht, dass du in dir selbst versinkst, so wie es ihr passiert ist. Also ließen wir dich gehen. Und dann kommst du nach Ewigkeiten doch wieder und schleppst gleich diesen Magier mit an. Du solltest nach Hause kommen, nicht er. Und anstatt dich zu freuen, endlich wieder bei uns zu sein, bemutterst du ihn wie ein Neugeborenes und gehst auf jeden los, der ihn auch nur schief anguckt. Hast du eine Ahnung, wie tief mich das verletzt hat?“

Nun war es Mimoun, der den Blick senkte. „Aber du konntest ihn von Anfang nicht leiden.“, brachte er das Gespräch wieder auf den Ursprung zurück.

„Er ist ein Magier.“, erwiderte sie trocken. „So schnell werde ich ihnen nicht vergeben. Nur weil er dir soviel Gutes getan hat, ist er noch nicht tot.“ Verstehend nickte Mimoun und zog seine kleine Schwester wieder in eine Umarmung. „Er soll mir bloß nicht in die Quere kommen oder versuchen, sich bei mir einzuschmeicheln.“, nuschelte sie in sein Hemd.

Mimoun nickte nur und wünschte sich gleichzeitig, der Tag möge mehr Stunden haben, damit er für alle da sein konnte, die ihn brauchten.

Danach schwiegen sie. Mimoun rutschte ein Stück, um sich an die Mauer anlehnen zu können und hielt seine Schwester wie früher einfach nur im Arm. So vergingen die Stunden, in denen in dem Raum nichts weiter zu hören war, als ihr Atem und das Plätschern des Regens. Schließlich rutschte sie von ihm weg und wischte sich die Tränenspuren von ihrem Gesicht.

„Gehen wir nach Hause.“, murmelte sie und zog ihn mit sich.
 

Inzwischen hatte Dhaôma sich wieder in Mimouns Zimmer gesetzt und versuchte mit seiner Magie ein Loch in den Zahn zu stanzen. Das war so gut wie unmöglich, denn das harte Mineral gehorchte seinen Kräften überhaupt nicht. Irgendwann hatte er aufgegeben und Leuchtmoos wachsen lassen, damit er lesen konnte. Zum wohl hundertsten Mal las er das Buch über Drachenreiter, das er von zu Hause mitgebracht hatte. Doch Mimoun kehrte nicht zurück. Und draußen regnete es noch immer.

Unruhe wuchs in ihm. Offenbar machte Silia ihrem Bruder mehr Probleme seinetwegen, als es gut war. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Weich streifte er den Kaninchenpelz ab, dann trat er durch die Lederbahn. Schweigend grüßte er Cerel, bevor er in den Regen hinaustrat. Beinahe sofort spülte das Wasser ihm seine Haare ins Gesicht und er öffnete sie, um ihnen die Gelegenheit zu geben, sauber zu werden.

Sein Weg führte ihn zu den Bäumen, die er umstreifte. Sie waren noch einmal aufgeblüht, wirkten kräftiger als zuvor. Eigentlich sollte er die anderen auch wecken, aber das war nicht gut, solange es so stark regnete. Die Blüten würden das nicht überleben. Irgendwann stand er am Rand und sah in die Tiefe. Durch den Regen sah er nicht einmal den Boden, geschweige denn in der Ferne die Berge, aus denen er und Mimoun vor einigen Wochen gekommen waren.

Ziellos trugen ihn seine Füße einmal um die Insel herum, bis er wieder bei den Bäumen stand. Vielleicht wäre es tatsächlich besser, wenn er auszog. Er wollte nicht das Heim von jemandem zerstören. Und die Atmosphäre machte ihn befangen und unglücklich. Er hatte lange genug allein gelebt, um auch hier oben ganz alleine zu leben. Er brauchte auch kein festes Haus.

Schon stand er vor dem Baum, der wohl als erstes gestorben war. In seinem Kopf entstand ein Bild und er lächelte. Schnell rannte er zurück, kam an Zhanal vorbei, der ihn finster ansah, doch es kümmerte ihn nicht. Erst vor der Hütte verlangsamte er seinen Schritt, bevor er sich schüttelte und hinein trat. „Entschuldigt.“, sagte er mit einer angedeuteten Verbeugung zu Cerel, dann verschwand er kurz nach hinten und kramte in seinen Samen. Mit fünf davon verließ er die Hütte wieder nach draußen. Zhanal wirkte irritiert. Es hätte ihn nicht weniger kümmern können.

Vor dem Baum setzte er sich auf den nassen Boden und steckte vier der Samen in einem Halbkreis in die Erde, bevor er beide Hände darauf legte. Mit geschlossenen Augen ließ er sie wachsen, formte ihren Weg im Geist, den sie anstandslos nahmen. Der alte Baum zerfiel, wurde zu Dünger für sie, bis sie fast zwei Meter groß waren. Schließlich stoppte er seine Magie und besah sich sein Werk. Die verschiedenen Farbtöne der unterschiedlichen jungen Bäume harmonierten wunderbar und zeigten an, wie sie um- und ineinander verwachsen waren. Eine Bergkiefer, eine Roteiche, eine Sommerlinde und einen Bergahorn hatte er sich ausgesucht. Innerhalb war eine Höhle entstanden, in die er gerade so hineinpasste, wenn er die Knie anzog.

Ermutigt von diesem Anblick begann Dhaôma auch die letzten Löcher zu verschließen, bis die Höhle dicht war. Dort rollte er sich zusammen. Er hatte viel zu viel Kraft verbraucht, aber es hatte sich gelohnt. Bald hatte diese Familie ihr Haus wieder für sich.

Vielleicht, dachte er sich, vielleicht liegt es an mir, dass Familien nicht leben können, solange ich da bin. Immerhin war seine Familie auch nie glücklich mit ihm gewesen.
 

Mimoun bedankte und entschuldigte sich bei Jadya und Aylen, bevor er seiner Schwester in den noch immer anhaltenden Regen folgte. Im eigenen Heim stehend, blieb Mimoun in dem nun vergrößerten Vorraum stehen und ließ seinen Blick über die Lederbahn gleiten, hinter der sich sein Raum befand. Doch er machte keine Anstalten, dort hineinzugehen. Es war besser wenn er hier blieb und seine Familie nicht wieder vor den Kopf stieß. Dhaôma war dort drinnen sicher.

Cerel war der Blick ihres Sohnes nicht entgangen, auch dass er sich abwandte, ohne auch nur einen sichernden Blick hineingeworfen zu haben. „Er ist nicht da.“, erwähnte sie deshalb. Sofort horchte Mimoun auf und sah zwischen der Lederbahn, seiner Mutter und dem Ausgang hin und her. Zu gern wäre er jetzt aufgesprungen und hätte nach seinem Freund gesucht, doch das hätte ihm Silia nie verziehen, wie ein Blick von ihr deutlich machte.

Er kommt zurecht, dachte sich der junge Geflügelte. Ihm wird nichts geschehen. Er muss es allein schaffen. Immer wieder sagte er sich diese Sätze auf, wenn er nicht gerade seinen Mädels half und dadurch abgelenkt wurde. Doch er saß wie auf Kohlen und erwartete Dhaômas Rückkehr.
 

Es hörte gegen Abend auf zu regnen. Das fehlende Geräusch des rinnenden Wassers weckte Dhaôma. Seine Glieder waren Steif vor Kälte und er kroch aus seiner neuen Baumhöhle, um sich zu bewegen. Seine Seidensachen waren fast wieder trocken. Sehr praktisch dieser Stoff.

Die Sonne blitzte durch ein paar Risse in der Wolkendecke und ließ die Blüten und Blätter leuchten. Es war ein herrliches Bild, wie die Regentropfen glitzerten. Frisch gewaschene Natur.

Hungrig setzte er den letzten Samen in die Erde und ließ ihn wachsen, bis die Pflanze Früchte trug. Erdbeeren. Mimoun hatte sich welche gewünscht. Damit kehrte er schließlich in die Hütte zurück, die seine Gastfamilie bewohnte. Vorsichtig streckte er den Kopf herein und wäre fast wieder zurückgeprallt, als er den Blick der Schwester auffing. Warum konnte sie ihn nur nicht leiden? Weil er ein Magier war?

Dennoch trat er ein, ließ sich seine Verunsicherung nicht anmerken. Bald hatte er das Problem nicht mehr. Ein kurzer Gruß zu der Mutter hinüber, dann ging er zu seinem Freund. „Hier.“, legte er die kleinen roten Früchte in Mimouns Hand, bevor er betroffen stehen blieb. Vier lange, verkrustete Striemen zogen sich über dessen Wange. War der Streit wirklich so heftig gewesen, dass sie ihn geschlagen hatte?

Besorgt hob er die Hände, ließ sie aber unsicher wieder sinken, während er den Kopf senkte. Schließlich hob er ihn wieder. „Ist meine Zeit gekommen?“, fragte er leise.
 

Mimoun sah sofort auf, als er die Schritte vernahm und Erleichterung legte sich auf sein Gesicht. Und es hellte sich noch mehr auf, als er die Erdbeeren sah. Schnell schob er sich eine in den Mund.

Dhaômas betroffener Blick und seine Worte irritierten ihn. Langsam hob er die Hand und führte sie zu der Stelle, zu der auch der Magier greifen wollte. Es brannte leicht. Stimmte. Aylen hatte ihn ja geschlagen.

„Es ist okay.“, erwiderte er und schloss vertrauensvoll die Augen, legte die Hände auf seinen Beinen ab.
 

Sachte berührte der Magier die Wange und unter seinen Augen erglühten die Linien, als er der Wärme nachspürte. Unter der dünnen Seide konnten die beiden Frauen auch auf seinem Rücken ein Leuchten wahrnehmen.

Die zerrissene Haut heilte sofort und Dhaôma spürte im gleichen Maße die Müdigkeit in seinen Gliedern wachsen. Er hatte definitiv zuviel gezaubert an diesem Tag.

Schließlich zog er die Hand zurück. „Wenn du so weitermachst, werde ich mit dieser Magie noch genauso gut wie mit den Pflanzen.“, schmunzelte er. Schon strebte er dem kleinen Kabuff zu, um seinen Pelz zu holen.
 

„Wäre das schlimm?“, fragte er und sah Dhaôma nach. Seine Finger waren kalt gewesen, selbst für ihn deutlich zu spüren. Sorge machte sich in ihm breit. Dhaôma war ohne Pelz draußen im Regen gewesen. Und das vielleicht über Stunden. Und er vertrug die Kälte hier doch so schlecht.

„Werde bitte nicht krank. Sollen wir Feuer machen?“ Und schon war er dabei sich zu erheben. Vergessen waren die Erdbeeren. Vergessen war der Zorn der Schwester.
 

„Das ist nicht nötig. Ich sagte dir bereits einmal, dass ich es gewöhnt bin, nass zu werden.“, erwiderte Dhaôma und packte seine Tasche zusammen. Nach dem Essen würde er gehen. „Außerdem ist das Holz immer noch nass.“ Er war schnell fertig und kam zurück. „Draußen hat der Regen aufgehört und morgen wird die Sonne scheinen.“, erklärte er ihm.

Seit er beschlossen hatte, nicht mehr in diesem Haus zu leben, konnte er sich unerklärlicherweise leichter bewegen. Seine Schultern waren nicht mehr hochgezogen und er hatte keine Angst mehr davor, irgendetwas falsch zu machen. Es würde keinen Unterschied mehr machen.
 

„Ja, mag sein.“, gab Mimoun zurück. Er setzte sich wieder, da sein Freund Recht hatte. Das Holz war noch immer nass und unbrauchbar. „Aber wenn ich mich nicht irre, herrschen bei dir andere Temperaturen.“ Er griff wieder nach den Beeren und schob sich die nächste Frucht zwischen die Zähne. „Wie gut sind eure magischen Fähigkeiten, wenn ihr krank seid? Könntest du dich leicht von Fieber befreien?“ Es freute ihn zu sehen, dass sein Freund ganz ruhig und entspannt war.
 

„Ich weiß es nicht. Ich war noch nie krank, seit ich heilen kann.“ Amüsiert setzte er sich neben Mimoun und freute sich, dass diesem die Beeren so schmeckten. „Aber es wird Sommer, da ist es selbst hier oben wärmer, nicht wahr?“

Die Mutter stellte ihnen das Essen auf den Tisch. Es gab rohes Fleisch. Zum Glück nur noch an diesem Tag, dachte sich Dhaôma, als er mit unbewegter Miene aß. Danach konnte er wieder selbst für sein Essen sorgen.
 

„Es würde mich trotzdem freuen, wenn du es nicht unbedingt ausprobierst.“ Dann verzog er mitfühlend das Gesicht. Da mussten sie sich dringend irgendetwas überlegen. So konnte es nicht weiter gehen. Und dass das Feuerholz durch Regen durchweicht wurde, machte die Sache nicht einfacher.

Das Essen verlief wieder in drückendem Schweigen. Und Mimoun kam sich elend vor. Beide bedeuteten ihm viel. Beide wollte er um sich haben. Doch diese würden sich wohl nie verstehen. Schneller als sonst beendete er sein Mahl. Er wollte hier weg. Es schien fast, als wäre Silia noch wütender als vorhin.
 

Als alle fertig gegessen hatten, stand Dhaôma auf. Er verbeugte sich vor Cerel und lächelte sie an. „Ich bedanke mich herzlich dafür, dass Ihr mir Unterschlupf gewährt habt. Das hat mir viel bedeutet. Ich werde Euch und Eure Kinder jetzt nicht mehr behelligen.“ Mit einem weichen Zwinkern richtete er sich wieder auf.
 

Die erste Reaktion aller war Erstaunen. Silias Gesicht entspannte sich und drückte Zufriedenheit und Genugtuung aus. Mimouns dafür wandelte sich zu blankem Schrecken und er sprang auf, streckte die Hände in Dhaômas Richtung aus. Doch der Kloß, der sich in seiner Kehle gebildet hatte, verhinderte, dass er auch nur ein Wort sagen konnte. Dhaôma würde sie nicht mehr behelligen. Das hieß, er würde gehen. Aber…

„Wo möchtest du hin?“, sprach Cerel die Frage aus, die ihren Sohn quälte. Sie war noch immer nur erstaunt. „Niemand sonst dürfte dir Unterschlupf gewähren.“
 

„Ich habe mir eine Höhle gebaut.“, sagte Dhaôma ernst. „Ich sehe doch, dass es nicht leicht für Euch und Eure Tochter ist, wenn ich bleibe. Und es reicht wirklich, wenn ich eine Familie zerstört habe. Eure soll nicht zerfallen, nur weil ich hier bin.“ Er wandte sich zu Mimouns Schlafkammer um und holte seine Tasche. „Mimoun, wenn du mich suchst, ich bin bei den Obstbäumen.“ Leise kicherte er. „Ist nicht zu übersehen. Es ist der einzige Baum, der nicht weiß blüht.“
 

Mimoun war gar nicht zum Lachen zumute. Den Blick gesenkt, krallte er seine Fingernägel in die Handflächen. Er spürte nicht, wie sie tiefer und tiefer in sein Fleisch eindrangen, wie das Blut aus den kleinen Wunden tropfte. Schlagartig wurde ihm eiskalt und der Kloß in seinem Hals weitete sich auf seinen ganzen Körper aus. Alles in ihm ballte sich zu einer kleinen schmerzhaften Kugel zusammen. Versagt. Das war alles, was er dachte. Er hatte versagt. Seinetwegen flüchtete Dhaôma erneut in die Einsamkeit, entfernte sich freiwillig von ihm. Damit er sich nicht zwischen ihm und seiner Schwester entscheiden musste? Konnte er das denn nicht selbst entscheiden?

Seine Augen füllten sich mit Tränen, doch sie sahen nichts. Blicklos starrte er geradeaus. Wofür hatte er denn die ganze Zeit gekämpft? Warum hatte er das alles denn auf sich genommen? Wieso hatte er sich mit dem kompletten Dorf angelegt? Er spürte nicht, wie er in die Knie ging, spürte nicht die Arme seiner Familie, die ihn auffingen, bevor er endgültig zu Boden ging.
 

Betroffen stand Dhaôma daneben. Er wusste nun gar nicht mehr, was er tun sollte. Er fühlte sich fehl am Platz. Mimoun hatte seine Familie, die ihn tröstete, da brauchte er ihn doch nicht mehr. Auch wenn er ihm liebend gerne ein paar aufmunternde Worte sagen würde. Bloß was?

„Mimoun, mach dir keine Gedanken. Ich habe auch schon früher alleine gelebt. Das ist okay für mich. Und du kannst mich doch besuchen kommen. Ich bin nur ein paar Schritte hinter dieser Wand da.“
 

Ergeben schloss Mimoun die Augen und ließ den Tränen freien Lauf. Es war egal. Es war doch alles egal geworden. Der Weg, für den er sich entschieden hatte, war der falsche gewesen. Er hatte Dhaôma nicht retten können. Er verletzte seine Schwester. Warum hatte er es nicht dabei belassen, wieder zu Hause zu sein? Warum musste er nur erneut wieder auf die Reise gehen?

Sanfte Finger glitten durch seine Haare. Doch er spürte nichts. Er blendete seine ganze Umgebung aus. Er wollte niemanden sehen, er wollte niemanden hören, keiner sollte hier sein.

„Und wenn ihm das nicht reicht?“, fragte Cerel leise. So hatte sie ihren Sohn noch nie erlebt.

Und auch Silia war geschockt. Ruhelos fuhren ihre Finger über seine Wangen und wischten die Tränen weg. Immer wieder flüsterte sie seinen Namen.

„Was ist, wenn er dich genauso braucht, wie du ihn gebraucht hast auf eurer Reise?“
 

Der Braunhaarige sah auf Mimoun, in sich eine Verzweiflung, die er noch nie gespürt hatte. Er fühlte sich zerrissen. Einerseits war er an diesem Ort nicht willkommen, andererseits war Mimoun hier. Wenn Cerel Recht hatte, dann brach Mimoun gerade seinetwegen zusammen. Weil er Streit schlichten wollte, indem er ging. Weil er nicht wollte, dass diese Familie zerbrach. Weil Mimoun nicht wollte, dass er ging.

Seine Hände zitterten vor Aufregung.

Als die erste Träne sich löste, brach bei ihm ein Damm. „Was soll ich denn machen?“, fragte er bitter. „Ich kann hier nicht bleiben! Ich kann hier nicht atmen! Ihr redet kein Wort mit mir, Eure Tochter hasst mich und macht ihm Vorwürfe dafür! Niemand kann lernen, jemanden zu mögen, den er hasst! Ich weiß das. Ich habe es erlebt. Ich weiß, wie es ist, in einem Haus zu leben, in dem man nur geduldet wird.“ Er schluckte, presste die Augen zusammen und umklammerte seinen Rucksack. „Es war nie anders. Hier nicht und zu Hause nicht. Er hat ein Zuhause, das ihn liebt. Wenn ich ihm das kaputt mache, könnte ich mir das nie verzeihen!“
 

„Müssen denn alle Bemühungen von uns ausgehen?“, fragte Cerel. Sie konnte nachvollziehen, was in diesem Jungen vorgehen musste. „Mimoun hat gestern viel von dir erzählt. Wir wissen, dass du über private Dinge nicht gern redest. Gerade wir haben jetzt noch nicht das Recht, dich nach so etwas zu fragen. Und wenn du uns keine Fragen stellst, können wir nicht mit dir reden, weil wir nicht wissen, worüber. Wir wollen dich nicht verletzen. Wir haben Mimoun versprochen, es zu probieren. Aber du weichst immer aus, hältst dich zurück und gehst uns aus dem Weg, weil du uns oder unsere Reaktionen fürchtest. Viele von uns wollen es ernsthaft probieren, aber bist du überhaupt bereit dazu?“ Sie wandte ihren Blick von dem Magier ab und strich mit der anderen Hand Silia über den Kopf. „Andere Dinge brauchen einfach ihre Zeit. Mimoun hat so viel für dich geopfert und du machst es kaputt, indem du dich einfach abwendest, fliehst. Ich möchte dir keine Vorwürfe machen. Auch für dich ist es nicht einfach, das verstehe ich, aber bedenke, dass du nun nicht mehr alleine lebst und dein Handeln Folgen für andere nach sich ziehen kann.“
 

Dhaôma starrte sie an, seine Augen ganz weit. War es seine Schuld? Hatte er sich nicht genug bemüht?

In ihm summte es. Was war wahr?

Draußen krachte es. Ein Donnerschlag zerriss die Luft, dabei hatte es gerade aufgeklart.

War es Wahrheit, was sie sagte? War er willkommen und konnte es nur nicht sehen, weil er dachte, dass er nicht willkommen war?

Wieder ein Donnerschlag, dann prasselnder Regen.

Er hatte sich zurückgehalten, damit sie ihn nicht für gefährlich hielten, damit sie keine Angst vor ihm hatten. War das falsch gewesen? Hatte er die Angst damit geschürt? Bildete er sich das nur ein, dass sie ihn ablehnten?

Ihm wurde heiß, vor seinen Augen verschwamm alles und er machte einen taumelnden Schritt zurück, um sich festzuhalten.

Bildete er sich die unterschwellige Aggressivität nur ein?

Er fand eine Wand, an der er sich festhalten konnte. Kalt war sie, doch er spürte es kaum, denn seine Finger waren mindestens ebenso kalt.

Was hatte Mimoun geopfert?

Wieder krachte es und er zuckte zusammen. Das war nahe gewesen. Und laut.

„Was hat Mimoun geopfert?“, fragte er. Seine Kehle war eng.
 

Misstrauisch beobachtete Cerel den Magier. Was war mit ihm los? Ging ihm das so sehr zu Herzen? Auch sie hatte das erneute Gewitter bemerkt. Doch sie war in der letzten Zeit nicht draußen gewesen. Für sie war es nur eine kurze Pause zwischen zwei Wolkenbrüchen.

„Das Vertrauen seines eigenen Volkes.“, antwortete sie dennoch bereitwillig. „Er hat uns berichtet, was man ihm antat und anzutun drohte, nur weil er mit dir befreundet ist. Aber es hat ihn nicht aufgehalten, oder? Er hat weiterhin für dich gekämpft. Selbst hier kämpfte er ständig für dich. Er stellte sich mehrfach gegen das ganze Dorf, redete uns immer wieder ins Gewissen.“
 

Die Hitze nahm zu.

Das, was er am meisten befürchtet hatte, war eingetroffen. Er hatte Mimouns Leben zerstört. Dabei hatte er ihn nur retten wollen. Er hatte doch nur verhindern wollen, dass sein Bruder ihn umbrachte. Stattdessen hatte er es geschafft, Mimoun etwas Schlimmeres zu schenken als den Tod: Isolierung. Unmut. Hass.

Seine Hände pressten sich auf seine Augen, Wind zerrte an den Lederhäuten der Hütte, als wolle er sie auseinander reißen. Wie in ihm Gewissensbisse dabei waren, ihn zu zerreißen.

Sein Kopf drohte zu zerplatzen. Hier drin war nicht genügend Platz. Links von ihm war der Ausgang. Irgendwo auf der linken Seite.

Als er ihn fand, krachte erneut ein Donnerschlag, Licht erhellte für Sekunden das Zimmer, bevor die Häute wieder davor fielen. Dhaôma rannte. Er flüchtete vor den verwirrenden Gedanken in seinem Kopf. Regen und Wind tobten um ihn herum, zerrten an seinen Kleidern und an seinen Nerven wie hungrige Wölfe.

Dhaôma merkte erst, dass es sein Werk war, als er spürte, wie die letzte Kraft ihn verließ. Eigentlich hatte er zu den Bäumen laufen wollen, aber seine Füße versagten ihm den Dienst. Der Länge nach fiel er in den Schlamm und blieb einfach liegen. Die Magie wurde aus ihm herausgezogen, bis nichts mehr übrig war, bis er sich nicht mehr bewegen konnte.

Doch auch nachdem die Magie verschwunden war, hörte das Gewitter nicht auf. Einmal gerufen, blieb es und tobte sich aus.
 

Sie hatte den Magier gerade in Verzweiflung gestürzt, das sah Cerel. Hilflos schaute sie auf ihre Tochter. Sie hatte doch nur verhindern wollen, dass der Magier ging. Sie hatte doch nur ihren Sohn beschützen wollen.

„Ich wusste es.“, murmelte Silia und streichelte Mimouns Haare. „Ich hab es dir doch gesagt. Er nimmt dich mir weg.“ Auch bei ihr liefen die Tränen. Noch immer zeigte ihr Bruder keinerlei Reaktionen und sie wusste nicht, was sie noch tun sollte. Warum konnte das Leben nicht wieder so einfach sein wie damals? „Du… du brauchst mich nicht mehr, oder?“ Ihre Stimme drohte zu brechen. „Du brauchst jetzt ihn.“ Wie konnte das sein? Wie konnte ihm ein Magier wichtiger werden als seine eigene Familie?

Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Sie hatte es doch damals schon gesehen, als Mimoun das erste Mal zurückgekehrt war. Wie sehr er unter der Trennung litt. Wie hatte sie nur hoffen können, dass ihr Bruder wieder zur Vernunft kam? Vor allem jetzt, da der Magier hier im Dorf war.

„Bringen wir ihn ins Bett.“, riss Cerel sie aus ihren Gedanken und abwesend nickte das Mädchen. Gemeinsam brachten sie den schlaffen Körper des Geflügelten zu seinem Lager und betteten ihn so vorsichtig wie möglich. Silia konnte nicht sagen, wie lange sie neben dem Lager ihres Bruders gehockt hatte. Irgendwann waren seine Tränen versiegt und er in einen traumlosen Schlaf gefallen. Leise erhob sie sich und verließ den abgetrennten Bereich. Sie sah, dass ihre Mutter bereits wieder alles in den Urzustand versetzt, ihren eigenen Schlafbereich abgetrennt hatte.

„Er ist ein Heiler.“, begann Cerel wieder leise. Sowohl sie als auch ihre Tochter hatten gerade etliche Minuten damit zugebracht, einfach nur auf die Lederbahn zu starren, hinter der Mimoun schlief. „Nur er kann Mimouns Seele heilen.“

Widerstrebend nickte das Mädchen. Nun musste sie den Gedanken zulassen, gegen den sie sich die ganze Zeit gewehrt hatte. „Ich kann ihn trotzdem nicht leiden.“, merkte sie an und lief in den Regen hinaus. Sofort riss der heftige Wind an ihr und der Regen hatte eine Stärke, die ihr unangenehm war, doch sie musste sich beeilen. Was hatte der Kerl gesagt? Er hatte sich bei den Bäumen eine Höhle gebaut. Also wandte sie sich in die Richtung. Sie sah kaum ihre Hand vor Augen. Wie sollte sie da den Magier finden? Ziellos irrte sie umher, stieß gegen ein Hindernis und stürzte in den Schlamm. Lauthals fluchend rappelte sie sich auf Hände und Knie hoch und blinzelte in das Unwetter. Erstaunt identifizierte sie das Hindernis als den gesuchten Magier.

Heftig rüttelte sie an seiner Schulter, um ihn zum Aufstehen zu bewegen, doch es kam keine Reaktion. Silia hatte kein Interesse, weiterhin bei diesem Gewitter draußen zu bleiben, ergriff ihn kurzerhand am Handgelenk und schleifte ihn zurück zu ihrem Heim.

Cerel hatte am Eingang voller Sorge nach ihrer Tochter Ausschau gehalten. Dies war ein furchtbares Wetter, wo sich nicht einmal die stärksten Geflügelten vor die Hütte wagten. Als sie ihr Kind endlich entdeckte, eilte sie ebenfalls hinaus und gemeinsam wuchteten sie dem Magier in den Vorraum. Schwer atmend blickten sie auf den bewusstlosen Jungen herab. Was hatte Mimoun erzählt? In Extremsituationen hatten Magier keine Kontrolle über ihre Magie und es war Kräfte zehrend. Wie auf ein Stichwort hin sahen beide wieder zum Ausgang und schluckten schwer. Hatten sie ihn etwa so sehr unter Druck gesetzt?

Besorgt sahen sich die beiden Frauen an und sahen schließlich wieder auf den Magier hinab. Mit einem heftigen Kopfschütteln zwang Cerel ihre sorgenvollen Gedanken in die hinterste Ecke. Mutmaßungen anzustellen, brachte nun nichts. Das mussten sie später mit dem Magier direkt klären. Gemeinsam befreiten sie den reglosen Körper von den nassen Sachen und wickelten ihn an Mimouns Seite in so viele Felle, wie sie entbehren konnten. Magier waren empfindlich. Hoffentlich schadete ihm dieser Zwischenfall nicht.

Als sie nichts mehr tun konnten, legten sich auch die beiden Frauen schlafen. Doch während Cerel ziemlich schnell wegdämmerte, blieb Silia noch Stunden aus Sorgen wach. Schließlich erhob sie sich leise und schlich in den anderen Raum. Die reglosen Körper zog und schob sie solange, bis sie sich an Mimouns andere Seite quetschen konnte. Dort fand sie auch schließlich die nötige Ruhe zum Schlafen.

Fieber

Kapitel 20

Fieber
 

Cerel erwachte schon früh am Morgen. Ein Blick zeigte ihr, dass ihre Tochter nicht mehr neben ihr lag. Sie vermutete sie draußen und so erhob auch sie sich. Ihr Weg führte sie dieses Mal als erstes zu ihrem Sohn. Sie wollte sich mit eigenen Augen von seinem Zustand überzeugen. Wie erstaunt war sie zu sehen, dass sich Silia in die schmale Lücke gequetscht hatte, die zwischen Mimoun und der Wand bestand. Dicht an ihn gekuschelt, den Flügel über ihn gespannt, schlief sie noch friedlich. Auch Mimoun und Dhaôma zeigten durch keine Reaktion, dass sie bereits wach waren. Leise schlich sie zum Kopfende ihrer Kinder und setzte sich dort an die Wand gelehnt hin. Sanft strich sie ihnen über das Haar. Während ihre Tochter davon unbeeindruckt blieb, sich nur wohlig seufzend bewegte, schlug Mimoun blinzelnd die Augen auf.

Träge drehte der junge Geflügelte den Kopf. Er fühlte sich so ausgelaugt und leer. Doch woran das lag, vermochte er nicht zu sagen. Und es war eng. Ganz dicht bei sich spürte er zwei Körper liegen, den einen sogar halb auf sich. Dann war da wieder die federleichte Berührung und er sah sich nach der Ursache um. Es war seine Mutter. Ach. Sie wollte ihn sicher zum Frühstück rufen. Doch dass er sich aufsetzte, verhinderte sie schnell.

„Es ist schon okay. Bleib ruhig liegen.“, sagte sie leise und lächelte ihn zärtlich an. Es schien ihm besser als am vorigen Abend zu gehen, aber wirklich gut noch nicht, das sah sie.

Dankbar nickte Mimoun und schloss seufzend wieder die Augen. Das Gewicht an seiner Seite befand er als störend und er drehte den Kopf, um die Ursache zu erkennen. Es war Silia. Warum schlief sie hier? Warum teilte sie sich freiwillig einen Raum mit Dhaôma? Träge drehte er den Kopf in die andere Richtung um zu seinem Freund zu sehen. Mit leisem Erstaunen registrierte er den Fellberg neben sich, aus dem der Kopf des Magiers hervorlugte.

„Schlaf ruhig noch ein wenig.“, flüsterte seine Mutter und fast augenblicklich dämmerte er wieder weg.
 

Dhaôma erwachte, weil in seiner Nähe zu viele Menschen waren. So fühlte es sich an. Hatte er sich an Mimouns Nähe gewöhnt, war das Gefühl, das er nun hatte, nicht das gleiche. Außerdem war ihm zu warm.

Kaum war er wach, erinnerte er sich an alles. Alles, was am Vortag passiert war, was gesagt wurde, was er gesehen hatte, blitzte in seinem Gedächtnis auf wie ein Leuchtfeuer. Prominentestes Bild: Mimouns Zusammenbruch und seine Tränen.

Mühsam öffnete er die Augen, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Sie waren verklebt und er fühlte sich schwach. Dennoch musste er wissen, wie es Mimoun ging und wo er jetzt war! So zwang er die Augen auf, doch sein Blick blieb verschwommen.

Wieder stellte er fest, dass ihm zu heiß war, und mit fahrigen Bewegungen versuchte er, sich aus den Fellen zu befreien. Was war denn nur los? Warum war er so kraftlos? Warum machten seine Arme nicht das, was er wollte?
 

Cerel sah die Bewegungen in dem Fellberg und lehnte sich zu dem Magier hinüber. Sie erkannte, dass der Junge sich befreien wollte, aber nicht die Kraft aufbringen konnte. Schnell griff sie zu und half ihm dabei.

„Wie geht es dir?“, fragte sie leise, um ihre Kinder nicht zu wecken. „Möchtest du etwas trinken?“
 

Dhaôma konnte die Frau kaum sehen. Seine Augen wollten sie nicht scharf stellen und er wusste nicht, wer sie war, konnte sie nicht zuordnen.

Fahrig strichen seine Hände über seine Augen, entfernten die klebenden Krümel, danach ging es besser. „Wo ist Mimoun?“, fragte er. Seine Stimme klang ungewohnt kratzig und schwach. Er erkannte sie kaum wieder. „Er war… ist verletzt!“
 

„Er ist hier, keine Angst. Es geht ihm gut. Er schläft nur.“, antwortete sie und erhob sich. Der Magier war noch immer völlig erschöpft und dennoch galt seine einzige Sorge ihrem Sohn. „Ich hol dir Wasser. Warte einen Moment.“ Und schon war sie aus dem Raum verschwunden, nur um wenige Augenblicke später zurückzukehren. Lächelnd hielt sie ihm einen Wasserschlauch hin. „Hier. Trink.“
 

Der Schlauch war schwer, aber dennoch richtete sich der Junge ein Stückchen auf. Seine erste Handlung galt dennoch Mimoun. Erst, als er sah, dass er wirklich zu schlafen schien, wagte er es zu trinken. Es tat weh. Das Schlucken war so unangenehm, dass er den Schlauch bald wieder zurückgab.

Er war immer noch müde. Aber wenn er bedachte, dass gestern seine Magie verrückt gespielt hatte… Es war das erste Mal, dass er sich voll und ganz daran erinnern konnte, eine neue Kraft freigesetzt zu haben. Hoffentlich ging es dem Dorf gut.

Keine Sekunde später kehrten seine Gedanken zu Mimoun zurück. Zu Tränen und Blutstropfen, die von seinen Händen gefallen waren. Gestern war ihm das kaum aufgefallen, aber in seinen Erinnerungen war es zu leuchtend, um es zu übersehen. „Seine Hände… sind wieder heil?“
 

Ihr Blick suchte die Hände ihres Sohnes, betrachtete die punktförmigen Wunden in der Haut.

„Nein.“, gestand sie. „Aber er hat keine Schmerzen und sie werden schnell wieder heilen. Du brauchst deine Kräfte nicht dafür strapazieren.“ Was sie wieder zu ihrer Frage trieb, die sie schon den gestrigen Abend gequält hatte. „Habe ich das Unwetter heute Nacht zu verschulden? Habe ich dich durch meine Worte verletzt oder bedrängt?“
 

Erleichtert seufzte Dhaôma auf. Es rasselte leise, doch er schenkte dem keine Beachtung. Keine Schmerzen waren gut. Über die Frage dachte er nach, dann schüttelte er gequält den Kopf.

„Cerel, Ihr habt gesagt…“ Wieder holte er Luft. Es war anstrengend und tat weh, genauso wie das Sprechen. „…dass ich… Fragen stellen soll.“ Seine Augen schlossen sich, als er sich dazu zwang, die Worte zu sagen, die ihm gestern nicht von den Lippen gekommen waren. „Wie macht… man das, wenn vorher… niemand erlaubt…“ Ein kratziges, leises Husten unterbrach ihn, doch er gab nicht auf. „…erlaubt hat, dass man sprechen darf?“
 

Sanft lächelte sie aufgrund dieser zögerlich vorgetragenen Worte. „Das war doch gerade eine Frage.“, stellte sie vorsichtig fest und setzte sich bequemer hin. „Wir haben hier unsere eigenen Regeln. Niemand verbietet dir hier zu sprechen.“ Doch dann schüttelte sie den Kopf. „Aber ich fürchte, ich kann dir darauf keine Antwort geben. Worte wie ‚probier es einfach’ oder ‚keine Angst, das wird schon werden’ sind zwar gut gemeinte Ratschläge, aber wie soll man in solch einer Situation wissen, wie man sich zu verhalten hat, wenn man nie in solch eine geraten ist. Ich fürchte, da kann ich dir nicht helfen.“
 

Aufmerksam hatte Dhaôma gelauscht, doch die Worte schmetterten ihn zurück in Hoffnungslosigkeit. Wenn es da keine allgemeingültige Formel gab, wie sollte er es dann schaffen?

Ihm war immer noch zu warm, deshalb schlug er das nächstbeste Fell von sich herunter. Seufzend entließ er die Erwartungsspannung aus seinem Körper. Er sollte dringend wieder schlafen, damit er bald wieder fit war.
 

Cerel sah den enttäuschten Gesichtsausdruck, konnte ihm aber beim besten Willen nicht weiterhelfen. Aber mit Stirnrunzeln sah sie auch, wie das nächste Fell fort gestoßen wurde. Hatte Mimoun nicht gesagt, dass der Magier schnell unter der Kälte litt? Dhaôma trug darunter keine Kleider und die Felle waren auf ein Minimum reduziert worden. Und dieser schwere Atem hörte sich langsam auch nicht mehr gut an. Anfangs schob sie es auf die Erschöpfung und die Anstrengung des Aufrichtens. Zögerlich streckte sie eine Hand aus und legte dem Magier die Finger auf die Stirn.
 

Dieser runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen, aber als er merkte, dass die Finger kühl waren, ließ er es zu. Das war angenehm und so entspannte er sich noch ein wenig mehr. „Danke.“, formte sein Mund, aber seine Stimme wollte sich nicht äußern.
 

Auch Cerel runzelte die Stirn. Die Stirn des Magiers war sehr warm. Ihr Blick wandelte sich in Besorgnis. Das war sicher kein gutes Zeichen. Auch dass der Atem so schwer ging, gefiel ihr gar nicht. Doch ihre Finger schienen ihm Linderung verschafft zu haben, denn er entspannte sich. Als Dhaôma wenig später wieder eingeschlafen war, holte sie eine Schale mit Wasser. Den Wasserschlauch ließ sie neben ihm liegen, damit er sofort in Reichweite war, wenn der Junge erwachte. Aus der Wasserschüssel fing sie mit den Fingern Wasser ein und tropfte es auf die Stirn des Magiers, legte anschließend für einige Augenblicke ihre Finger darauf, bevor sie die Prozedur wiederholte.

Nach wenigen Minuten hörte sie hinter sich das raschelnde Geräusch von Bewegung. Ein kurzer Blick zeigte ihr, dass Silia nun ebenfalls erwacht war. Ihr erster Blick ging zu ihrem Bruder und musterte ihn besorgt.

„Er schläft nur. Vorhin war er kurzzeitig wach. Es wird ihm bald besser gehen.“, erklärte Cerel ihrer Tochter. Diese war kurz zusammengefahren, als die Stimme ihrer Mutter erklang. Nun nickte sie verstehend. Dann ging ihr Blick zu dem Magier an Mimouns anderer Seite und runzelte die Stirn. Was trieb ihre Mutter da? Sie öffnete ihren Mund, um eine Frage zu stellen, aber auch jetzt kam ihr Cerel zuvor.

„Ich fürchte, er ist krank.“

„Na toll.“, murrte Silia und ließ sich wieder zurücksinken. „Wir haben Mimouns Spielzeug kaputt gemacht. Da wird er wieder böse werden.“

Cerel strafte ihre Tochter mit einem stummen Blick und scheuchte sie nach draußen, damit sie das Frühstück vorbereitete. Auch wenn die beiden Jungen noch schliefen, hieß das nicht, dass auch sie auf ihr Essen verzichten mussten. Wenige Minuten später folgte sie Silia und kehrte nach dem Frühstück zurück, um sich weiter um den Magier zu kümmern. Nach einiger Zeit streckte Silia den Kopf durch die Lederplanen.

„Kann er sich etwa nicht selbst heilen?“, fragte sie zweifelnd. Was nützte so eine Fähigkeit, wenn man sie nicht einmal auf sich selbst anwenden konnte?

„Das dürfte vielleicht nicht das Problem sein. Als er kurzfristig erwachte, hatte er kaum die Kraft sich zu bewegen. Ich fürchte, ihm fehlt auch die Kraft für seine Magie. Und solch eine Krankheit trägt nicht zur Erholung bei.“ Mit Sorge lauschte sie dem rasselnden Atem. Sie wandte sich an ihre Tochter. „Beeil dich. Flieg herum, frag nach, ob bei jemanden schon einmal so heftige Anzeichen aufgetreten sind, und wie derjenige behandelt wurde.“ Fieber war ihnen bekannt. Das kam ab und zu in strengeren Wintern vor. Doch die Atemprobleme und das heftige Zittern machten ihr Sorgen.

Widerstrebend und nach einigem Zögern verschwand das Mädchen und Cerel blieb mit den beiden Jungen allein zurück.

Als Mimoun schließlich erwachte, war seine Schwester noch nicht zurück. Verwirrt betrachtete er die Szene, die sich ihm bot. Erst langsam dämmerte ihm wieder, was am Abend vorher geschehen war. Und als seine Mutter ihm erzählte, was weiter geschehen war und wie es Dhaôma nun ging, war Mimoun aufgesprungen und beugte sich nun ebenfalls über seinen Freund.

„Dhaôma?“, flüsterte er leise und streckte die Hand aus, wagte es aber nicht, ihn zu berühren. Sorgenvoll glitt sein Blick über das schweißnasse Gesicht seines Freundes und er lauschte ebenfalls dem mühsamen Atem.

In dem Moment kam Silia herein. In der Hand hielt sie die schlammverkrustete Tasche des Magiers und warf sie in die Ecke. Mimoun wollte sie nach guten Nachrichten fragen, doch ihr verkniffenes Gesicht ließ ihn stocken.

„In einem Dorf ist im letzten strengen Winter ein Kind so schwer erkrankt.“, begann sie zögerlich. Sie wich Mimouns Blick aus. Es freute sie zu sehen, dass er wieder wach und in Ordnung war, doch was sie nun zu sagen hatte, würde ihm sicher nicht behagen. „Es ist tot.“

Mimoun sackte in sich zusammen und seine Augen füllten sich mit Tränen. Mit zittrigen Fingern strich er Dhaôma über die glühende Stirn. „Du bist kein Kind, hab ich Recht? Du bist stärker. Du schaffst das, nicht wahr?“ Hatten sie nicht noch gestern eine Diskussion über Krankheit und Magie gehabt? Mussten sie es jetzt auf so drastische Art und Weise ausprobieren?
 

Dhaôma wurde von Mimouns Stimme aus dem Delirium geholt. Zwar hatte er nicht verstanden, worum es ging, aber er wusste, dass er da war.

Flatternd öffneten sich seine Augenlider und er versuchte zu erkennen, wo Mimoun und wer die anderen waren. Er scheiterte. Sowohl an klarer Sicht als auch daran, etwas zu sagen, aber er lächelte.
 

Mimoun sah dieses Lächeln und fasste es als Bestätigung auf. Dhaôma würde wieder gesund werden. Der Knoten in seinen Eingeweiden löste sich langsam auf und er bemerkte seine Mutter, die ihn mit schief gelegtem Kopf beobachtet hatte.

„Geh essen.“, verlangte sie leise. Sie wollte nicht lauter reden, um dem Magier seine Ruhe zu lassen. „Danach kannst du dich selbst um ihn kümmern, wenn du magst.“

Mimoun nickte, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Erst als seine Schwester ihn am Arm packte und hoch zerrte, folgte er der Anweisung. Sein Hunger hielt sich in Grenzen, doch er zwang sich alles rein, was Silia ihm vorsetzte. Es half Dhaôma nicht, wenn Mimoun nun ein weiteres Mal zusammenbrach. Danach durchsuchte er die Tasche seines Freundes. Er brauchte einen Stoffstreifen, um etwas auf dessen Stirn legen zu können, weil er aber nichts fand und sich ihre eigenen Vorräte diesbezüglich in Grenzen hielt, riss er einen Streifen aus den zum Trocknen aufgehängten Kleidern des Magiers.

Die nächsten Tage wechselte sich Mimoun mit seiner Mutter ab. Während sie sich tagsüber um den Magier kümmerte, das Tuch mit frischem Wasser tränkte und ihm erneut auf die Stirn legte, hockte Mimoun die ganze Nacht an der Seite seines Freundes. Immer wieder wurde Dhaôma mit sanfter Gewalt geweckt, damit er etwas trank, ansonsten ließ man den Jungen schlafen. Ab und zu glaubte Mimoun ein leichtes Leuchten auf den Wangen des Magiers zu erkennen, nur ein kurzes Flackern, er war sich aber nicht sicher, ob es nicht seine Hoffnung war, die ihm Streiche spielte. Als er seiner Mutter davon erzählte, berichtete sie ihm von ähnlichen Beobachtungen, und das besserte die Stimmung des jungen Geflügelten ungemein.
 

Drei Tage später wurde Dhaôma am frühen Nachmittag wach. Diesmal erkannte er Cerel und fühlte sich peinlich berührt, dass sie seinetwegen solche Umstände hatte.

Er fühlte sich besser. Wesentlich. Das Fieber war gefallen und selbst wenn die Lunge schmerzte und brannte, er hatte das Gefühl, wieder mehr Kraft zu haben. Vielleicht sollte er lieber fragen, wie lange er geschlafen hatte.

Vorsichtig setzte er sich auf. Dabei rutschte ihm das Tuch über die Nase. Seide. Fast hätte er gelacht. Bald war von seinen Kleidern nichts mehr übrig. Aber vielleicht war das gut so. Vielleicht kappte das die letzten Banden, die er zu seinem Elternhaus hatte.

Er sah Cerel an. „Danke.“, krächzte er und verschluckte sich fast vor Überraschung über seine eigene Stimme. Vorsichtig räusperte er sich und verzog schmerzlich das Gesicht. Was war das denn? Warum tat das so weh? Schwer atmend lauschte er in sich hinein. Husten. War er krank geworden? Wie unschön. Wie sollte er sich mit diesem Kratzen verständlich machen?
 

Cerel lächelte, als sie sah, dass sich der Magier aus eigener Kraft erheben konnte. Es schien ihm endlich wieder besser zu gehen. Sie reichte ihm wieder den Wasserschlauch und sah auf ihren Sohn herab. Dieser hatte sich, wie die letzten Tage auch, vormittags mit seiner Schwester beschäftigt und war erst vor einer Stunde zum Schlafen gekommen.

„Wie fühlst du dich?“, wollte sie von dem Magier wissen.
 

Dankbar nahm Dhaôma den Schlauch entgegen und trank, bis er nicht mehr konnte. Dennoch kratzte seine Stimme schmerzhaft, als er antworten wollte. Zweimal setzte er an, bevor er entschuldigend die Hand hob.

„Keine Angst.“, bat er heiser, bevor er die Augen schloss. In sich suchte er Kraft, die noch nicht aufgebraucht war, als er seine Magie in sich hineinlenkte. Wie er es zuvor bei Mimouns Muskeln gemacht hatte, regenerierte er die Lunge, bis er das Gefühl hatte, dass die Schmerzen nachließen. Als er danach antwortete, klang er nur noch wenig kratzig.

„Besser. Ich danke Euch.“ Seine Hand fuhr über seine klebrige Stirn. „Was ist denn passiert?“, wollte er wissen.
 

„Vielleicht wäre es besser, auf einen anderen Raum auszuweichen.“ Sie deutete auf ihren Sohn. „Er hat in den letzten Tagen kaum Schlaf bekommen, hat die ganzen Nächte an deinem Lager ausgeharrt und ist erst vor einer Stunde zur Ruhe gekommen.“, wich sie aus.
 

Der Junge nickte und zog die Beine unter den Körper. Erst jetzt bemerkte er, dass er gar nichts anhatte. Das war ein wenig unangenehm, aber wie er vermutete, hatte sie eh schon mehr gesehen, als ihm lieb war. „Ich komme gleich nach.“, versprach er und wartete, bis sie hinausgegangen war.

Tief seufzend rieb er sich über die Augen. Bleierne Müdigkeit hatte ihn erfasst, nachdem er sich geheilt hatte, und am liebsten hätte er wieder geschlafen, aber das konnte er danach immer noch.

Vorsichtig stand er auf. Seine Knie waren ganz weich und er musste über sich selbst lachen. Seit er mit Mimoun zusammen war, war das schon fast sein Standardzustand. Schnell zog er die Hose an und warf sich seine Robe um. Sie war jetzt kürzer. Daher hatten sie also den Stoff für seine Stirn.

Kurz verharrte er noch bei Mimoun. Treue Seele. Wo er ihn doch hatte im Stich lassen wollen. Dafür musste er sich auch noch entschuldigen. Aber das musste warten, bis sie einmal gemeinsam wach waren. Kurz entschlossen trat er durch die Abtrennung. Im Vorraum war es kühler und durch den Temperaturwechsel wurde ihm schwindelig, so dass er sich festhalten musste.
 

Cerel schlug gerade wieder die Plane zum Vorratsraum zurück, als der Magier aus dem Raum trat. Sie hatte bei den anderen Dorfmitgliedern die letzten Reste an Früchten zusammen gekratzt. Als die Frau sah, dass Dhaôma schwankte, ließ sie die Früchte fallen und griff zu, packte ihn an den Schultern.

„Setz dich.“, befahl sie sanft und half ihm dabei, stützte ihn. Dann sammelte sie die Früchte wieder ein und reichte sie ihm. „Das muss erst einmal reichen. Du hast lange nichts mehr gegessen.“ Auch sie ließ sich neben ihm nieder und ließ ihn sich stärken. Die Fragen hatten noch Zeit.
 

Widerspruchslos tat Dhaôma, was sie sagte. Sein Magen hatte unwillkürlich zu knurren begonnen, als er das Obst gesehen hatte, und er aß, was in ihn hineinpasste. Auch wenn es nicht so viel war wie sonst, es stärkte ihn merklich.

„Darf… darf ich sprechen?“, wollte er schließlich schüchtern wissen. In ihm hallten immer wieder die Worte wider, die sie ihm gesagt hatte, dass er nicht genug von sich aus auf andere zuging.
 

„Ich würde mich freuen.“, erwiderte sie mit einem leichten Nicken und zog ihre Beine seitlich zum Körper, stützte sich auf einem Arm ab.
 

Erleichtert lächelte auch er, hob einen Arm und kratzte sich am Kopf. Verlegenheitsgeste. Wie lange war es her, dass ihm eine Mutter zugehört hatte?

Seine Hände senkten sich wieder auf seine Oberschenkel er drehte sich so, dass er sie direkt ansah. „Es tut mir Leid, was ich getan habe. Bitte verzeiht mir!“ Er verbeugte sich tief, starrte direkt auf den Boden, nur Zentimeter davon entfernt. „Ihr habt vollkommen Recht damit, dass ich nicht gut darin bin, Konsequenzen abzuwägen. Ich dachte, es wäre das Beste, was ich tat, ohne dabei daran zu denken, was er empfinden könnte.“ Er holte Luft. „Ich würde mich freuen, wenn Ihr mich lehren könntet, wie man umsichtig handelt, ohne dabei andere zu verletzen.“ Mit klopfendem Herzen harrte er einer Reaktion.
 

„Ich verzeihe dir.“, erwiderte Cerel leicht verlegen. Dass dieser Junge sich hier vor ihr fast auf den Boden warf, war ihr unangenehm. Es hatte so gar nichts von den arroganten, grausamen Magiern, vor denen man schon die Kleinsten immer wieder warnte. Sie lehnte sich ein wenig vor und berührte mit ihren Fingerspitzen den Magier an der Stirn. Kein Fieber mehr, sehr schön. Sie ließ die Finger an der Seite des Gesichts weiter gleiten, bis sie zum Kinn kam, hob es an, so dass er sich aufrichten und sie ansehen musste. „Fangen wir am besten klein an. Ich würde mich freuen, wenn du uns nicht so höflich ansprechen würdest. Du möchtest uns Respekt entgegen bringen und dafür danke ich dir, aber wir sind keine hohen Herren, sondern nur einfaches Volk.“
 

Die Stelle an der Stirn prickelte, als ihre Finger verschwunden waren. Er erinnerte sich daran, dass er das schon einmal gefühlt hatte. Wann?

Dann erwiderte er ihren Blick. Sie wollte, dass er sie ansprach, wie er mit Mimoun sprach? Aber sie war doch eine Mutter! Mütter musste man so ansprechen! Aber wenn sie das so wollte, dann durfte er sich nicht dagegenstellen. So nickte er. Seine Wangen färbten sich leicht rötlich, so aufgeregt war er. Eine Mutter zu duzen! Er war sprachlos.
 

Cerel zog ihre Hand wieder zurück und setzte sich wieder gerade hin. Sie wartete, schließlich hatte der Magier noch mehr Fragen. Doch dieser sagte kein Ton und sah sie nur mit geröteten Wangen an.

„Du hattest doch noch andere Fragen, nicht wahr?“, begann sie vorsichtig.
 

Eigentlich war das die wichtigste Frage gewesen. Aber sie sagte, er dürfe weiter sprechen, also konnte er die weniger wichtigen auch stellen, nicht wahr?

„Ich… Ich würde…“ Nicht so höflich, schalt er sich und begann noch einmal von vorne. „Wie lange habe ich geschlafen?“
 

„Fast drei Tage.“, antwortete Cerel. Sie überging das unsichere Stottern. „Wir hatten große Sorgen. Hier bei uns gab es noch nie jemanden, dem es so schlecht ging wie dir. Aber in einem Dorf starb ein Kind, das dieselben Auffälligkeiten aufwies.“
 

Dhaôma nickte. Er konnte sich schon vorstellen, was das gewesen war. Bei ihnen war es nicht ganz so selten, aber wenn man nicht gerade das Glück hatte, viel Geld zu besitzen oder einen Heiler als Bekannten zu haben, war eine Lungenentzündung so gut wie immer tödlich. Er musste wirklich wahnsinniges Glück gehabt haben.

Er stockte. Sorgen? Wir? Mimoun hatte ihm doch beigebracht, dass man sich dafür entschuldigen musste! Hastig holte er Luft. Und begann zu husten. Es dauerte eine ganze Weile, bis er den Reiz unter Kontrolle hatte, aber letztlich konnte er wieder sprechen.

„Entschuldige, dass ich dir Sorgen gemacht habe.“, wiederholte er die Worte, die Mimoun ihm eingeschärft hatte. Er hatte Angst, dass Cerel vielleicht genauso wütend werden würde wie ihr Sohn, wenn er es nicht sagte.
 

Als der Husten begann, hatte sich Cerel halb erhoben und den Magier an der Schulter berührt. Sie wusste nicht, was tun, um ihm Linderung zu verschaffen. Sie verstand nicht, warum er so hektisch plötzlich reagiert hatte, wusste nicht, welche Ängste ihn nun schon wieder quälten.

„Ist schon gut.“, beschwichtigte sie darum. „Wenigstens geht es dir nun etwas besser. Hast du Schmerzen?“
 

Dhaôma nickte. Es tat immer weh, wenn man Husten hatte. Aber wenn sie sagte, dass sie das nicht kannte, konnte sie es nicht wissen. „Ich brauche nicht mehr lange.“, murmelte er. „Noch einen Tag, dann ist es weg.“ Wenn er inzwischen genug Kraft aufbrachte, um sich zu heilen. „Ich werde nur müde sein.“ So wie er es jetzt schon war.
 

„Das hört sich gut an. Das wird Mimoun freuen.“ Kurz schwieg sie. Und musterte ihn schweigend. Er hatte gerade eine schwere Krankheit hinter sich, hatte noch immer Schmerzen und Husten, vielleicht sollte sie ihn lieber wieder ins Bett schicken. „Darf ich auch eine Frage stellen oder möchtest du erst deine zu Ende stellen?“
 

„Frag ruhig.“, sagte er und lächelte. Ihm gefiel es, dass sie jetzt mit ihm sprach. Es war nicht mehr so, als wäre er schlechte Luft.
 

„Was gedenkst du nun zu tun?“
 

Betroffen sah er sie an, senkte dann den Kopf. „Ich weiß nicht.“, gab er offen zu. „Ich will ihm nicht wehtun, aber…“ Seine Stimme wurde immer leiser, bis sie verebbte. Sein ursprüngliches Vorhaben, auszuziehen, hatte das alles doch erst verursacht. Vielleicht sollte er davon absehen.

„Kann ich hier bleiben?“, wollte er kleinlaut wissen. „Ich streng mich auch an, nicht zu stören.“
 

Erleichterung durchflutete sie. Aber auch ein bisschen Reue, dass sie ihn gerade jetzt mit dieser Frage konfrontieren musste, aber damit quälte sie sich schon die letzten drei Tage herum. Ihr Sohn hatte schon letztes Mal so schrecklich auf die Entscheidung des Magiers reagiert.

„Ich würde mich freuen.“, sagte sie schlicht. „Ich bin dir wirklich dankbar dafür. Und keine Angst. Mich störst du nicht. Und wir finden eine Möglichkeit, wie du Silia aus dem Weg gehen kannst.“, versprach sie.
 

„Danke.“ Die Stimme ging unter in Kratzen und Rührung. Schnell wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen, damit sie nicht sah, dass er weinte. Ihm war ein riesiger Stein vom Herzen gefallen. Im Grunde hatte er niemals weggehen wollen von Mimoun. Und um den Preis schon mal gar nicht.
 

Cerel tat so, als würde sie es nicht sehen, und lächelte still. Wortlos wartete sie ab, dass sich der Magier wieder fing und weiter sprach, weitere Fragen stellte.
 

Dhaôma lachte hohl. Reine Verlegenheit. Seine Gedanken suchten nach etwas, das er noch sagen konnte, doch ihm fiel nichts ein. Außer…

„Was mach ich denn jetzt mit der Höhle? Sie ist doch jetzt nutzlos.“
 

Diese Richtungsänderung seiner Gedanken war für sie nur schwer nachzuvollziehen. Doch sie machte sich ernsthafte Gedanken zu der Frage. „Vielleicht freuen sich ja die Kinder darüber, dass sie jetzt komplett ihnen gehört. Sie krabbelten schon die letzten Tage immer darin herum.“
 

Wieder lachte der Junge leise, hustete und schwieg danach. Er war erschöpft. Und ihm fiel nichts mehr ein, was er noch fragen könnte.
 

Das fiel auch Cerel auf und mit sanfter Gewalt schob sie ihn wieder zu seinem Lager zurück. „Ruh dich noch ein wenig aus.“, bat sie. „Wenn du möchtest, wecke ich dich zur Abendmahlzeit.“
 

Er nickte, bevor er sich setzte und umständlich all die Schichten wieder über sich legte. Ein letzter Blick auf Mimoun, dann legte er sich hin und schloss die Augen. Aber im Gegensatz zu den ersten Tagen, die er in dieser Hütte verbracht hatte, lag er entspannt da, nicht so klein wie möglich zusammengerollt. Kurz bevor er endgültig wegdämmerte, schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. Hatte er heute eine neue Freundin gewonnen?
 

Cerel warf noch einen abschließenden Blick auf ihren nun wieder Gast und zog sich leise zurück. Er brauchte nun keine intensive Pflege mehr, sondern einfach nur noch Ruhe. Und die würde sie ihm gönnen.
 

Mimoun zwang sich selbst, zur Abenddämmerung wach zu werden. Nun war wieder seine Zeit, sich um seinen Freund zu kümmern. Er fühlte sich müde und ausgelaugt. Gerade wollte er seiner Mutter sagen, dass sie sich nun entspannen könne, als er sah, dass sie nicht hier war. Leise krabbelte er zu Dhaôma hinüber. Dieser schlief. Und sein Atem ging merklich ruhiger als in den letzten Nächten. Mimoun sah sich nach dem Tuch um, das fehlte, konnte es aber auf die Schnelle nicht finden und legte vorsichtig seine Finger auf die Stirn seines Freundes. Erleichtert stellte er fest, dass das Fieber gesunken war.
 

Dhaôma blinzelte. Musste er jetzt aufwachen? Cerel hatte doch gesagt, sie würde ihn wecken.

Doch das war nicht Cerel, das war Mimoun. Glücklich lächelte er. Ihm ging es besser. Er sah auch nicht mehr so verzweifelt aus wie vor ein paar Tagen. „Ich darf bei euch wohnen bleiben.“, begrüßte er. Und gleich danach fügte er an: „Entschuldige, dass ich dir Sorgen gemacht habe. Ich war dumm.“
 

Klare, verständliche Worte. Wache Augen, die ihm entgegensahen. Dhaôma war endlich über den Berg. Mimoun beugte sich vor, barg sein Gesicht an der Brust seines Freundes. All die Anspannung der letzten Tage verflog und zurück blieben nur grenzenlose Dankbarkeit und Erschöpfung.

„Ich bin so froh.“, flüsterte er.
 

So wirkte er eigentlich nicht, befand der Braunhaarige, aber er glaubte ihm. Vorsichtig wurschtelte er die Hand aus den Fellen und strich Mimoun tröstend durch die Haare, wie er es bei dessen Mutter gesehen hatte. „Nicht weinen.“
 

Mimoun spürte die Finger, hörte die Worte und fing an zu kichern. „Warum sollte ich?“, fragte er, das Gesicht noch immer im Fell begraben, und rührte sich nicht. „Es besteht doch kein Grund mehr dazu.“
 

Kurz hielt Dhaôma inne, bevor er seine Finger wieder bewegte. Ihm gefiel das Gefühl. Sie waren wirklich nicht so weich wie seine. Eher störrisch und fest. „Du hast so gewirkt.“ Und weil das nicht erklärte, warum sich Mimoun so verhielt, hakte er nach. „Was ist dann mit dir?“
 

„Müde.“, antwortete der junge Geflügelte knapp und drehte den Kopf in Dhaômas Richtung, um vernünftig Luft zu bekommen. Lächelnd schloss er die Augen und stieß alle Luft in einem langen erleichterten Seufzen aus, entspannte sich weiter.

Als Cerel eine halbe Stunde später den Raum betrat, um Dhaôma zum Essen zu rufen, fand sie beide Jungen schlafend vor, dicht aneinander gekuschelt, die Hand des Magiers noch immer beruhigend am Kopf des Geflügelten. Es widerstrebte ihr, sie zu wecken, brauchten sie doch ihren Schlaf, doch genauso dringend brauchten sie etwas zu Essen.

Vorsichtig strich sie ihrem Sohn über die Haare.

Es war ihm nur schwer möglich, die Müdigkeit loszuwerden, nun da keine Notwenigkeit dafür bestand, schließlich war Dhaôma nicht mehr auf umfangreiche Betreuung angewiesen. Dennoch blieb die Störung. Träge sah er auf und blinzelte seiner Mutter entgegen, die sich nun daran machte, den Magier zu wecken, auf dieselbe Art wie ihren Sohn.

„Kommt essen.“, ordnete sie weich an.
 

Dieser war schon aufgewacht, als der Druck an seiner Brust verschwunden war, jetzt setzte er sich auf und nickte. Müde rieb er sich über die Augen, bevor er hustete. Lange, anhaltend und schmerzhaft. Das nervte! Definitiv.

Wie schon am Nachmittag horchte er kurz nach innen, bevor er seine Kraft in seine Lunge leitete. Angenehme Wärme floss durch seinen Brustkorb, als es bei jedem Atemzug leichter fiel, Luft zu holen. Kurz bevor er alle Kraft verbraucht hatte, stoppte er die Heilung und stand auf, um seiner Gastgeberin in den Vorraum zu folgen.
 

Mimoun schwankte. Einerseits war es gut, dass Dhaôma sich heilte und somit nicht mehr in Gefahr schwebte. Andererseits verbrauchte er dafür Kraft, die er nach drei Tagen ans Krankenlager gefesselt sein, nicht haben dürfte. Dennoch erhob auch er sich und folgte seiner Mutter herzhaft gähnend.

„Ihr könnt gleich weiterschlafen.“, erklärte sie mit einem amüsierten Schmunzeln. Ihr Sohn war so fertig, dass er fast im Stehen wieder einschlief.

Als er sich setzte, fiel Mimoun auf, dass Silia noch nicht da war. Sein suchender Blick war seiner Mutter nicht entgangen.

„Wir haben bereits gegessen.“, erklärte sie und reichte ihnen die Speisen. Einen fragenden Blick von ihm beantwortete sie mit einem bezeichnenden in Dhaômas Richtung. „Aber macht euch darum keine Gedanken. Esst jetzt erst einmal.“

Mimoun aß nur widerwillig. Seine Müdigkeit überwog und so wurde aus seiner Mahlzeit ein träges Herumkauen.
 

Dhaôma ging es kaum besser. Schlaftrunken vergaß er sogar einmal das Kauen, doch am Ende waren die Schüsseln leer. Sie gingen wieder in das Kabuff und während Mimoun sich einfach auf sein Lager fallen ließ, suchte Dhaôma nach seinem Rucksack. Er war entsetzt, als er sah, was in seiner Schlafphase mit seinen Samen passiert war. Sie waren nass geworden. Jetzt schimmelten sie vor sich hin, weil er sich nicht die Zeit hatte nehmen können, sie zu trocknen.

„Nicht doch!“, flüsterte er und legte seine Hand darauf. Die initiierte Magie wollte aber nicht fließen. Es war, als wüsste sein Körper ganz genau, dass er für dieses Problemchen keine Kraft übrig hatte. Und schweren Herzens verschob er die Rettung seines Schatzes auf später. Zumindest hatte er noch einen Anreiz, schnell gesund zu werden.
 

Am nächsten Morgen streckte sich der junge Geflügelte ausgiebig, streckte alle Gliedmaßen so weit es ging von sich, bevor er sich mit einem wohligen Brummen auf die andere Seite wälzte und Dhaôma unter dem Fellberg beobachtete. Doch lange konnte er nicht liegen bleiben. Der lange Schlaf hatte ihm gut getan. Ebenso das Wissen, dass Dhaôma nun wieder gesund war. So erhob er sich leise und wandte sich seinen morgendlichen Geschäften zu. Als er die Lederplane beiseite schob, sah er Mutter und Schwester bereits beim Frühstück sitzen. Beide warfen einen schnellen Blick auf den Magier, um zu sehen, ob dieser noch schlief, doch bevor sie Genaues erkennen konnten, glitt die Plane wieder zurück.

Er begrüßte sie gut gelaunt, zeigte mit einer knappen Handbewegung, dass er gleich wieder zurück sei, und verschwand in den Morgen hinaus.

Als er zurückkam, sah er noch einmal kurz nach dem Magier, bevor er sich entschloss, ihn noch ein Weilchen schlafen zu lassen und gemeinsam mit seiner Familie zu frühstücken. Anschließend begab er sich, vorher wieder einen prüfenden Blick auf den Magier werfend, mit den anderen Jägern auf die unteren Ebenen. Auch dieses Mal suchte er nach der Jagd ein wenig Feuerholz für Dhaôma zusammen. Die letzten Tage waren trocken gewesen und so war auch das Holz, das sich bereits auf der Insel befand, mehr oder weniger einsetzbar.

Zurück machten sich die Frauen an die Arbeit und Mimoun begann weit abseits ein Feuer zu entfachen. Als sich die Kinder neugierig näherten, entschied er sich um und entzündete es direkt im Dorf. So konnte jeder ein wachsames Auge auf die Kinder haben, Mimouns neu erworbene Fähigkeit bestaunen und dennoch seine Arbeit verrichten. Mimoun nahm sich Fleisch zur Seite und begann es zu Braten und zu Räuchern. Silia setzte sich irgendwann neben ihn und starrte fasziniert in die tanzenden Flammen, half ihm mit seiner Arbeit. Als das Feuer schließlich heruntergebrannt und sicher erloschen war, verstaute er einen Großteil in der Vorratskammer und weckte Dhaôma erstmals zum Essen.

Man sah ihm deutlich an, wie glücklich er über das gebratene, noch warme Fleisch war. Lachend blieb Mimoun neben ihm sitzen, bis der Magier sein Mahl beendet hatte und schickte ihn anschließend wieder schlafen. Danach gewährte er Silia ihr Recht und tobte mit ihr durch die Wolken. Erst kurz vor der Abenddämmerung kehrten die beiden erschöpft zurück und aßen. Kaum hatte sich das Mädchen zum Schlafen zurückgezogen, wurde Dhaôma geweckt, damit auch er noch etwas zu sich nahm.

Bei beiden Mahlzeiten aß Mimoun jeweils die Hälfte, um nicht unhöflich und störend daneben zu sitzen und zu starren.

Anschließend zog auch er sich zum Schlafen zurück. Erfüllt von einer tiefen Zufriedenheit schlief er schließlich ein.

Neue Freunde

Kapitel 21

Neue Freunde
 

Am nächsten Morgen war Dhaôma als erster wach. Neben ihm schlummerte Mimoun, sonst rührte sich nichts in der Hütte. Nach einem kurzen Ausflug zu den Gruben – nachdem er nicht mehr ausschwitzte, was er trank, war das wieder nötig - wusste er, dass er im ganzen Dorf der erste auf den Beinen war. Dennoch kehrte er zu Mimoun zurück und sah diesem einige Zeit dabei zu, wie er schlief. Als der Schwarzhaarige jedoch unter seinem Blick wach zu werden drohte, wandte er sich ab. Lieber kümmerte er sich um seine Samen.

Es war nicht viel, das er tun musste. Die Regeneration toten Pflanzenmaterials wirkte auch hier wunderbar und erleichtert konnte er seine Sämlinge wieder in den Lederbeutel tun. Er nahm sich vor, Cerel nach ein wenig Wachs zu fragen, damit er das Leder endlich mal wasserdicht bekam.

Noch immer war Mimoun nicht wach und auch sonst war es still. Draußen lachte ein Kind. Das war alles. Vermutlich tanzte es seinen Eltern auf der Nase herum und versuchte sie wach zu bekommen. Sollte ihm gelingen bei der Tonlage, grinste der Junge und beschloss dann, dass er, wenn er schon wach war, helfen konnte. Dank Silia wusste er, wo was zu finden war, und deckte leise den Tisch. Sein Training im Wald, sich nahezu lautlos zu bewegen, kam ihm hier zugute.

Hinter den Planen der Frauen regte es sich und Dhaôma dachte kurz darüber nach, was er tun sollte. Cerel hatte irgendwas davon gesagt, dass er Silia besser aus dem Weg gehen sollte. Sein Entschluss stand fest. Er war eh viel zu lange im Haus gewesen.

Schnell huschte er zu Mimoun und stupste diesen an. „Wollen wir heute draußen frühstücken?“, fragte er.
 

Aus seinem friedlichen Traum gerissen wälzte sich dieser grummelnd herum und blinzelte den Magier verschlafen und verständnislos an. Nur langsam ging ihm auf, dass Dhaôma etwas zu ihm gesagt hatte. „Bitte was?“, fragte er noch einmal nach, da er sich nicht an die Worte erinnern konnte.
 

„Bei den Obstbäumen.“, präzisierte Dhaôma kichernd. Mimouns Haare standen in alle Richtungen ab. „Wir können dort frühstücken. Ich war viel zu lange hier drin und draußen scheint die Sonne!“
 

Nach einigen Augenblicken des Schweigens und Nachdenkens nickte Mimoun. Er erhob sich, streckte sich und folgte seinem Freund in den Vorraum. Erstaunt betrachtete er das vorbereitete Frühstück und registrierte, dass noch keine seiner Frauen wach war. Es bewegte sich zwar hinter der Plane, aber sie waren noch nicht herausgekommen. Mimoun drehte sich halb zu Dhaôma um.

„Du bist lieb.“
 

Dhaôma freute sich über diese Worte, aber er wurde recht schnell wieder ernst. „Ob es in Ordnung ist?“, wunderte er sich. Da hatte er doch darum gebeten, von Mama Hanebito Unterricht in Sachen Verhalten zu bekommen, und entschied nun doch über ihren Kopf hinweg, dass er gerne draußen frühstücken wollte.
 

„Keine Angst. Das geht schon in Ordnung.“, beruhigte er ihn. Da sie, wie es aussah, sowieso immer getrennt ihre Mahlzeiten zu sich nehmen würden, war es nicht das Problem, wenn sie ihr Frühstück wie in den letzten Wochen unter freiem Himmel zu sich nahmen. Es war fast ein wenig wie früher.

Mimoun klaubte sich alles zusammen, was sie dafür brauchten und schob sich ins Freie. Kurz sah er sich um. Es war noch ziemlich früh und ruhig im Dorf. Na, wurden sie wenigstens nicht gestört oder von den Kindern belästigt. Der junge Geflügelte strebte mit einem erleichterten Seufzen die Bäume an.
 

Glücklich folgte ihm Dhaôma. Erstens fühlte er sich mit Mimoun sicherer hier draußen und zweitens freute er sich auf das Picknick. Irgendwann, so nahm er sich vor, würde er versuchen, das ganze Dorf dazu zu überreden, gemeinsam zu essen. Das wäre sicherlich auch lustig.

Mit zwei schnellen Schritten schloss er zu seinem Freund auf. „Gehen wir danach schwimmen? Ich klebe ganz schrecklich. Mein Hemd auch.“ Und mit einem reichlich roten Gesicht zeigte er auf seine Sachen.

Schon hatten sie die Bäume erreicht und Dhaôma strebte auf die Höhle zu, die er gemacht hatte. Einige der kleineren Zweige waren abgebrochen, aber ansonsten schien sie okay. Aber er brauchte sie ja nicht mehr. Die Erdbeeren allerdings waren niedergetrampelt. Vielleicht musste er den Kindern sagen, dass manche Pflanzen nicht so robust waren wie Gras.

„Hierher!“, zog er Mimoun schließlich an die Stelle, an der er geschlafen hatte. Und wie schon damals, war dort kaum Wind.
 

Mimoun nickte. Auch zu der Tatsache, dass sie danach zu den Seen hinunter gehen würden. Kritisch musterte er seinen Freund von oben bis unten. Wie lange trug er dieses mittlerweile fast völlig zerfetzte Teil schon? Und er war nicht ganz unschuldig daran, dass es immer kürzer wurde.

„Wir besorgen dir neue Kleider.“, bestimmte er, ohne zu fragen. „Ich schau nachher einmal, ob wir noch genug weiches Leder dafür übrig haben.“ Nachdenklich kratzte er sich am Kinn und ließ sich endlich nieder. „Und am Besten fragen wir noch Jadya. Sie ist unsere beste Schneiderin. Sie würde uns sicher dabei helfen.“
 

Betroffen sah Dhaôma ihn an. „Aber ich habe nichts, was ich ihr dafür geben kann.“, meinte er nachdenklich. Nur seinen Drachenzahn, aber den würde er gerne behalten.
 

Bezeichnend deutete Mimoun auf die sie umgebenden Bäume.

„Mach dich nicht kleiner als du bist.“, bat er.
 

„Aber das habe ich für dich gemacht.“ Und nach einer kurzen Pause fragte er: „Meinst du, sie sucht sich etwas aus, das ich ihr dann geben kann?“
 

„Es hilft aber uns allen. Auch die Sache mit den Fischen.“ Mimoun lächelte kopfschüttelnd. Sein Freund würde alles, was er tat, nur für Mimoun tun. Egal wie weit reichend der Nutzen wäre. „Und ob sie eine Gegenleistung dafür haben möchte, musst du sie fragen. Mir hat sie damals mit meinem Flügel geholfen, ohne etwas dafür zu verlangen.“
 

So war das also. Sie war ein großzügiger Mensch. Oder aber sie mochte Mimoun.

Interessanter für den Moment war allerdings die Sache mit den Fischen. „Haben sie schon welche geholt?“, wollte er aufgeregt wissen. „Haben sie einen See gefunden, der genug Fische hatte?“
 

„Sie sind noch nicht zurück. Aufgrund des Unwetters hat sich alles ein wenig verzögert.“, offenbarte der junge Geflügelte und griff endlich zu. Langsam wurde er nämlich hungrig.
 

Dhaôma nahm sich auch etwas, aber plötzlich war ihm etwas mulmig zumute. „Mimoun.“, begann er zögerlich und leise. „Das mit dem Gewitter war ich. Das tut mir schrecklich Leid. Ich hab es gar nicht bemerkt, bis es schon zu spät war. Es ist doch niemandem etwas passiert, oder?“
 

Mimoun betrachtete lange seinen Freund und sah dann in den Himmel. Was war geschehen, dass er so ausgeflippt war? Einiges lernte Dhaôma nur, um ihm zu helfen. Tote Pflanzen zum Leben erwecken, als sie von den Wölfen angegriffen wurden. Heilung für Mimouns Flügel nach dem Absturz in der Gerölllawine. War es eine unbewusste Reaktion darauf gewesen, dass er zusammengebrochen war?

„Die Kinder hatten bei dem ganzen Matsch und Schlamm am nächsten Tag einen Riesenspaß.“, wiegelte er ab. Am besten gingen sie nicht weiter auf diese Geschichte ein. Es gab immer mal wieder heftige Gewitter. Darauf waren die Hütten ausgelegt. Die kleineren Schäden, die es gegeben hatte, waren längst wieder ausgebessert.
 

Also war nichts Schlimmes passiert. „Einen Vorteil hat es ja. Ich kann jetzt Regen rufen, falls es zu trocken wird.“, stellte der Junge fest, bevor er kräftig zulangte. Dank Mimoun hatte Dhaôma jetzt auch endlich genießbares Fleisch für sich. Was ihn zu einer anderen Frage brachte.

„Haben sie sich nicht gewundert, dass du Feuer machen kannst?“, wollte er wissen. „Du hast doch gesagt, dass ihr normalerweise nur Feuer habt, wenn ein Blitz einschlägt.“
 

Mimouns Grinsen wurde immer breiter. „Du hättest sie sehen sollen.“, lachte er irgendwann. „Ich wollte es erst außerhalb des Dorfes machen, um niemanden zu gefährden, aber da die Kleinen immer so neugierig sind, hab ich es mitten auf dem zentralen Platz entzündet. Wir waren gerade von der Jagd zurück und daher gab es viel zu tun, aber sie konnten sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren, da sie nur gebannt auf das Feuer gestarrt haben. Das war herrlich. Das hättest du sehen müssen.“
 

„Und sie hatten keine Angst?“ Wenn das so war, dann könnte er das öfter machen. Grade, wenn es kalt war. „Das ist toll!“ Dhaôma lachte ausgelassen, doch er stockte plötzlich. Hinter Mimoun schlich sich Elin an. Dahinter kam Haru. Beide hatten einen Gesichtsausdruck, der vor Durchtriebenheit nur so strotzte. Schnell sah er wieder zu Mimoun und kicherte.
 

Mimoun war völlig auf seinen Freund fixiert und merkte nicht die Bedrohung, die sich ihm näherte. Doch er sah, wie Dhaôma stockte, sein Blick kurz abschweifte und er zu kichern anfing. Verwirrt musterte er den Magier, bevor er sich umdrehte, um zu sehen, was dieser gesehen hatte. Er hatte erst die halbe Strecke geschafft, als er aus dem Augenwinkel eine hektische Bewegung sah und reflexartig die Hände hob. Elin konnte er damit abwehren und sie hing nun in seinem Griff, doch der Aufprall von Haru riss ihn zu Boden und zwang Mimoun das Mädchen wieder loszulassen. Sofort stürzten sich beide Kinder auf ihr am Boden liegendes Opfer.

„Ihr kleinen...“, drang es amüsiert-angesäuert aus dem Leiberwust hervor.
 

Dhaôma lachte. Dass Mimoun sich überraschen ließ, kam ja selten genug vor, aber dass er jetzt begraben wurde, war schon eine Sache für sich. Ein so niedliches Bild. Und er musste zugeben, dass sich Mimoun als großer Bruder sehr gut machte. Zwar wehrte er die Zecken ab, so gute es ging, aber er verletzte sie nicht dabei. Es schien ihm Spaß zu machen.

Sein Blick glitt zu den Häusern. Kein Erwachsener weit und breit.

Fließend stand Dhaôma auf. Cerel hatte es gesagt: Er musste selbst auf die Leute zugehen. „Ich sage schnell Bescheid.“, teilte er seinem Freund mit, bevor er sich auf die Suche nach einem erwachsenen Hanebito machte.
 

Mimoun kam nicht dazu zu antworten, denn die flinken Wiesel hatten insgesamt zwei Hände mehr als er, mit denen sie nach seinen kitzligen Stellen suchten. Und als er es schaffte, sich Elin kopfüber unter den Arm zu klemmen, traktierte sie ihn von hinten, denn mit einer Hand wand sie sich immer raus, egal wie er sie drehte. Und dann war da noch Haru, den er mit dem Fuß auf Abstand zu halten versuchte, solange er das Mädchen nicht richtig im Griff hatte. Mit eher minderem Erfolg.
 

„Sag schon, ist sie dein Mädchen?“, wiederholte Elin irgendwann die Frage, die sie damals schon gestellt hatte, als sich Mimoun mehr mit Haru beschäftigte. „Sie ist hübsch! Wenn sie nicht deins ist, dann solltest du das ändern! Auch wenn sie keine Flügel hat!“

„Ja, und sie kann Essen aus nichts erschaffen! Das ist großartig!“, stimmte Haru zu, der gerade begann, an den Stiefeln zu zerren. Füße waren auch oft kitzlig.
 

Mimoun stockte kurz, als er diese Fragen hörte, dachte nicht einmal mehr daran, sich zur Wehr zu setzen, und brach dann in schallendes Gelächter aus. Er ließ die Kinder los und krümmte sich vor Lachen am Boden. Diese Kinder waren einfach nur niedlich. Vor allem, wie kamen sie auf die Idee, dass Dhaôma ein Mädchen sein könnte?

Noch immer glucksend wischte er sich die Lachtränen fort und hob zum Zeichen, dass er sich ergab, die Hände. „Könnt ihr mir einen Gefallen tun, Kinder?“ Erneutes Glucksen unterbrach ihn kurzzeitig. „Könntet ihr Dhaôma diese Frage und eure Meinung dazu sagen?“
 

Diese sahen sich an. Sie verstanden nicht, warum das so witzig war, aber sie zuckten mit den Schultern und wandten sich zu dem Magier um, der nicht mehr da war. „Wo ist sie denn?“, fragte Elin enttäuscht. „Wir wollten doch mit ihr spielen!“

Haru war schon zu der Höhle gelaufen, um hineinzusehen, doch auch dort war Dhaôma nicht. „Suchen wir sie!“, rief er und schon peste er los, einmal um alle Bäume herum, bevor er auf das Dorf zuhielt. Elin beeilte sich, ihn einzuholen. Sie wollte die Frage stellen. Und es war eine Sache der Ehre, ihre Beute als erstes aufzuspüren!

Inzwischen war Dhaôma zwischen den Häusern auf einen Hanebito gestoßen. Es war der große Blonde, der neben Oldon gestanden hatte, aber an seinen Namen erinnerte er sich nicht. Einmal tief einatmend trat er auf ihn zu. „Guten Morgen.“, grüßte er und lächelte. Sein Herz klopfte wie wild. „Darf ich sprechen?“

Der Mann sah ihn erst abweisend, dann überrascht an. Mit einem Nicken deutete er an, dass Dhaôma fortfahren sollte, und dieser atmete die Luft aus, die er vor Aufregung angehalten hatte.

Nicht höflich, beschwor er wieder Cerels Worte herauf, bevor er zu den Obstbäumen zeigte. „Die Kinder sind zu uns gekommen. Ich habe versprochen, einen Erwachsenen dabeizuhaben, wenn sie spielen wollen, deswegen bin ich gekommen.“

In dem Moment kamen beide wie die Wiesel zwischen den Häusern hervor geschossen. Haru stoppte mitten im Laufen, als er ihn sah, grinste und wollte schon auf ihn zu laufen, da prallte Elin gegen ihn und beide gingen zu Boden.

„Was machst du denn? Mach doch die Augen auf.“

„Warum bleibst du stehen?“

„Da, guck doch!“

Stolz präsentierte Haru seinen Fund und sie strahlte. Sofort rappelte sie sich hoch und lief zu Dhaôma. „Bist du Mimouns Mädchen?“, wollte sie wissen. Neben ihr kam Haru zum Stehen.

Der Braunhaarige fiel aus allen Wolken. „Wer hat denn gesagt, dass ich ein Mädchen bin?“, wollte er verwirrt wissen.

„Du bist keins? Dabei waren wir so sicher!“
 

Mimoun war den beiden Wirbelwinden gefolgt. Diese Szene würde er sich auf gar keinen Fall entgehen lassen. Als er nun wieder diese Frage hörte und Dhaômas Reaktion darauf sah, ging er erneut vor Lachen auf die Knie.

Nobu beobachtete sie Szenerie schweigend. Dass der Magier tatsächlich sein Wort hielt und einen Erwachsenen hinzuziehen wollte, erstaunte ihn. Aber im positiven Sinne. Sein Blick wanderte einmal durch das gesamte Dorf. Langsam erwachte es immer mehr zum Leben. „Wenn ihr hier bleibt...“ Er deutete auf den Platz in der Mitte. „...wird immer jemand ein Auge auf euch haben können. Wenn später jemand Zeit erübrigen kann, könnt ihr auch außerhalb weiterspielen.“
 

Aus dem Konsens gerissen blickte Dhaôma ihn an, nickte aber lächelnd. „In Ordnung. Vielen Dank.“ Er deutete eine Verbeugung an, bevor er sich den Kindern wieder zuwandte. Um mit ihnen auf Augenhöhe zu sein, ging er in die Knie und stützte die Hände gegen das Kinn. „Sagt mal, wie kommt ihr darauf?“

„Ah, das liegt daran, weil du so feine Kleider anhast, mit Rock und so, und so weiche Haare hast.“, sagte Elin. „Und weil du Blumen wachsen lassen kannst.“

„Und deshalb bin ich ein Mädchen?“ Seufzend rieb sich Dhaôma über die Nase. „Nein, wirklich. Ich bin keines.“

Sie wirkten enttäuscht. Elin sah zu dem lachenden Mimoun, Bedauern auf ihrem Gesicht. Ihr hätte es gefallen. „Und was habt ihr dann vorhin gemacht?“, wollte sie wissen.

„Wir haben gefrühstückt.“

„Draußen?“ Große Augen trafen ihn.

„Ja, draußen. Haru, hast du das etwa noch nie gemacht?“

Er schüttelte den Kopf.

„Dann solltest du das ändern.“ Dhaôma stand auf und ging zu seinem Freund hinüber. „Jetzt reicht es!“, knurrte er. „Wenn du noch einmal lachst, knebel ich dich!“
 

„Du... du hättest hören sollen... was sie vorhin noch so von sich gegeben haben.“, erwiderte Mimoun, noch immer von Lachattacken unterbrochen. „Wenn du nicht mein Mädchen bist, soll ich dich dazu machen.“
 

Seine Augenbrauen hoben sich, dann lachte auch er. „Wie kommt ihr auf so einen Mist?“, wollte Dhaôma von den Kindern wissen, die jetzt mit hochroten Köpfen dastanden. Jetzt, wo das Missverständnis aufgedeckt war, kamen sie sich blöd vor.

„Er hat dich getragen wie ein Mädchen.“, murmelte das rothaarige Mädchen und spielte mit ihren Locken.

„Und lange Haare hast du auch.“

„Und ein Gesicht wie ein Mädchen.“

„Und Mimoun mag dich doch.“

Dhaôma gab auf. „Ist okay.“, sagte er und seufzte, bevor er sich mit einem Lächeln vor sie setzte. „Nein, ich bin kein Mädchen. Das mit dem Gesicht kann ich nicht ändern. Zu meinem Leidwesen bin ich damit geboren worden. Und die langen Haare… tja, ich hab mich dran gewöhnt, dass ich sie habe. Meine Mutter hat darauf bestanden, dass ich sie wachsen lasse. Das hat etwas mit dem sozialen Stand eines Mannes zu tun.“ Sie sahen ihn an, als hätte er Petersilie in den Ohren, und Dhaôma seufzte. „Es gefällt mir.“, übersetzte er es, dass sie es verstehen konnten.
 

Mimoun kämpfte sich wieder auf die Füße hoch, sein Grinsen reichte noch immer von einem Ohr zum anderen. So konnte ruhig jeder Morgen beginnen. Schade, dass sich solche Missverständnisse nicht jeden Tag auftaten. Er trat auf die Kinder zu, beugte sich hinab, als wolle er ihnen etwas zuflüstern, ergriff blitzschnell Elin und klemmte sie sich unter den Arm.

„So. Wo waren wir stehen geblieben?“, fragte er und schlang Haru den anderen Arm um den Bauch und ließ seine Finger über dessen Seite tanzen.
 

Sie quietschten unisono und kreischten in den höchsten Tönen, dass einige zu ihnen herüberblickten. Als sie jedoch sahen, dass es Mimoun war, der sie zum Kreischen brachte und dass sie dabei lachten, taten sie nichts.

Dhaôma beobachtete sie bloß. Er sah es nicht ein, zu helfen. Mimoun kam mit den Kleinen auch ganz gut alleine klar. Und sie waren ebenbürtige Gegner. Ein ausgeglichener Kampf. Außerdem hatte sein Freund durchaus eine Strafe verdient, dafür, dass er ihn damals gekitzelt hatte. Gut, wenn sie das für ihn erledigten, dann musste er sich nicht der Gefahr aussetzen, einen Rückschlag zu erleiden.
 

Das Zappeln machte es schwer, sie zu handhaben. Elin wand sich unter seinem Arm hervor und bevor Mimoun nachgreifen und sie wieder einfangen konnte, war sie aus seiner Reichweite und sprang ihm auf den Rücken, hielt sich an seinem Hals fest.

„Und so was nennt sich Freund.“, lachte er in Dhaômas Richtung.

Haru hatte sich in seinem Arm gedreht wie ein glitschiger Fisch und versuchte, es Mimoun heimzuzahlen. Mit wenig Erfolg, da er selbst von Lachen geschüttelt wurde. Doch er bekam Unterstützung, als sich ein dritter und ein vierter Körper auf Mimoun warfen, ihn so wieder zu Boden zwangen. Um das Kind nicht unter sich zu begraben, war er gezwungen, Haru loszulassen.
 

Dhaôma hatte die beiden zusätzlichen Quälgeister genauso wenig kommen sehen wie Mimoun, aber jetzt sah er auch, dass sein Freund definitiv in der Unterzahl war.

„Das ist nicht sehr gerecht.“, erklärte er Elin, griff sie um die Hüften und hob sie von Mimouns Rücken. Sie war so überrascht, dass sie sogar problemlos ihren Klammergriff löste.

Dann grinste sie. „Das muss nicht gerecht sein. Wir müssen gewinnen!“, plärrte sie ihm entgegen und grinste. „Aber das ist jetzt unwichtig. Wir wollten mit dir spielen!“

„Ah, und was wolltet ihr spielen?“

„Lass rote Beeren in unserem Garten wachsen!“ Sie zeigte auf ein paar gerade ergrünende Sträucher, die sich an eine Lehmwand duckten.

Dhaôma lächelte. „Ich denke nicht, dass das ein Spiel ist.“, meinte er. Dann setzte er sie auf den Boden und hockte sich vor sie. „Hast du überhaupt keine Angst vor meiner Magie?“

Jemand landete auf seinem Rücken. Es war Haru. „Weil du Blumen wachsen lässt? Nein.“

„Wir sind mutig!“, erklärte ihm Ramon voller Überzeugung und schwellte stolz die Brust. Er hockte auf Mimouns Bauch und klammerte sich dort mit den Beinen fest wie eine Wanze.

„Das ist gut.“ Fragend sah Dhaôma zu seinem Freund. Ob er wirklich Magie anwenden sollte?
 

Von einem Teil seiner Last befreit setzte sich Mimoun auf und umschlang Ramon mit den Armen, hielt und stützte ihn. Dhara, das Mädchen, das noch immer Mimouns Arm umklammert hielt, sah ebenfalls erwartungsvoll zu Dhaôma hinüber.

Der junge Geflügelte sah sich im Dorf um. Nobu stand noch immer neben ihnen und so wurde die Frage stumm weitergereicht. Dieser runzelte die Stirn. Sie hatten bereits gesehen, dass er die Bäume zurückgeholt hatte. Es hatte niemandem geschadet.

„Ich bleibe in der Nähe.“, antwortete er und seine Stimme hatte einen leicht drohenden Unterton. Mimoun überging ihn, sah seinen Freund an und grinste aufmunternd. Er löste einen Arm von Ramon und schlang ihn Dhara um den Körper und erhob sich mit beiden Kindern im Arm.

„Na komm.“ Er nickte mit einem Lächeln in die entsprechende Richtung.
 

„Super! Es gibt rote Beeren!“, jubelte Haru, ließ Dhaômas Hals los und rannte schon mal vor. Neugierig begutachtete er die Büsche, die dieses Jahr nur wenige Blüten hatten. Seine Mutter hatte gesagt, dass das bedeutete, dass es wenig Beeren gab, und das stimmte ihn traurig.

Dhaôma erhob sich, bedankte sich bei Nobu und folgte dann Kind und Freund, Elin immer noch auf dem Arm.

„Du bist ziemlich groß für ein Mädchen.“

Der Braunhaarige rollte mit den Augen. „Und du bist ziemlich klein für eine Hanebito. Ich bin kein Mädchen, schon vergessen?“

„Ah, verzeih.“ Sie war wieder rot geworden, aber ihre Demut hielt sich in Grenzen. „Also, was ist eine Hanebito?“

„Du bist eine.“, sagte Dhaôma, dann zeigte er in der Reihe auf die anderen. „Und er und er und er. Das bedeutet in der alten Sprache Geflügelter.“

„Hanebito.“ Sie dachte angestrengt nach. „Aber es ist nicht schlimm, dass ich noch klein bin, denn ich wachse noch.“

Sie hatten das Haus erreicht und er setzte sie ab. „Na hoffentlich. So bist du jedenfalls nicht sehr imposant.“

Sie streckte ihm die Zunge raus und der Junge kicherte. Sie war wirklich frech.

Dann besah er sich die dürren Büsche. Das waren Himbeeren. Und nur die Hälfte der Büsche war im zweiten Jahr, so dass sie Früchte tragen konnten. Er sah keine Bienen. „Sag mal, Mimoun, du hast doch gesagt, es gibt Bienen. Kommen sie nicht hierher? Die Pflanzen brauchen das, um Früchte zu tragen.“
 

„Sie verirren sich nur selten hierher.“, gab er zu. Der junge Geflügelte ließ sich ein wenig abseits nieder, dort wo sie einen guten Blick auf sowohl Dhaôma als auch auf die Büsche haben konnten. Die beiden Kleinen, die er bereits im Arm hielt, machten es sich auf seinem Schoß bequem. Schnell winkte er auch die beiden anderen zu sich, damit sich die Erwachsenen keinen allzu großen Stress machen mussten. Nobu blieb neben ihm stehen. So konnte er schneller reagieren.
 

„Es wäre gut, wenn es eine Möglichkeit gäbe, sie anzulocken.“ Darüber würde er sich später Gedanken machen. Mit seiner Magie konnte er die Pflanzen auch überlisten. Als erstes würde er mal dafür sorgen, dass das Wasser im Boden auch von ihnen genutzt wurde und sie stärker wurden.

Es dauerte nicht wirklich lange. Seine Arme begannen zu leuchten, als er sie auf den Boden legte, und deutlich konnte jeder sehen, wie die Ranken erstarkten. Die Blätter wurden stärker, die Blüten mehr und größer, sie wuchsen sogar ein Stückchen in die Breite. Dann konzentrierte er sich auf einen, der dem Wind am meisten ausgesetzt war, da dieser am wenigsten Chancen auf eine natürliche reiche Ernte hatte. Seine Finger strichen über die Blüten, die anschwollen, dann vergingen. Erst kaum sichtbar, dann immer größer bildeten sich grüne Beeren, die nacheinander erst rosa und später rot wurden. Bald hingen die Zweige herunter von ihrer Last und Dhaôma stoppte das Schauspiel.

„Ich kann nicht versprechen, dass sie süß sind, aber ich hoffe es.“, erklärte er, bevor er einen halben Schritt zur Seite tat. „Wenn ihr erntet, reißt ihm nicht die Blätter ab. Das mögen sie nicht besonders.“

Elin sah zu Nobu auf, der sprachlos war, aber nickte. Bisher hatte er nicht gesehen, wie das mit den Pflanzen funktionierte, aber das war einfach nur faszinierend gewesen. Das Mädchen kümmerte das nicht. Sie hatte schon beobachtet, wie die Obstbäume erwacht waren, da war das hier uninteressant. Wichtig war das Ergebnis!

Sie sprang auf, zeitgleich mit Haru, der nicht um Erlaubnis gefragt hatte, und stürzte sich auf die Beeren. Sicherheitshalber machte Dhaôma noch einen Schritt zurück.
 

Mimoun schubste auch die zwei anderen Kinder in die Richtung der Büsche und erhob sich. Er trat neben Dhaôma und verhinderte durch eine Hand in dessen Rücken, dass er weiter zurückweichen konnte.

„Du hast die offizielle Erlaubnis mit ihnen zu spielen. Das funktioniert leider nur über Berührung.“, wies er ihn lächelnd darauf hin und schob ihn sanft nach vorne, bevor er seine Hand wieder löste und sich selbst an den Früchten gütlich tat.
 

Stirn runzelnd betrachtete Dhaôma ihn. Essen war ein Spiel? Aber wenn er das meinte…

Lächelnd nahm er Ramon hoch und hielt ihn so, dass er an die obersten Beeren herankam. Da er das kleinste der Kinder war, hatte er natürliche Nachteile, die Dhaôma mit seiner Aktion behob. Das Kind war zuerst recht erschrocken, aber schließlich pflückte es begeistert die Beeren.

„Vielleicht solltet ihr euren Freunden welche aufheben.“, schlug er irgendwann vor, als er sah, wie die Beeren sehr schnell weniger wurden.

„Aber das würde bedeuten, dass wir weniger hätten.“

„Kannst du nicht einfach noch mehr machen?“

Der Braunhaarige schüttelte den Kopf. „Vielleicht könnte ich das, aber was würdet ihr im Herbst bekommen? Die Ernte würde mager ausfallen, denn egal wie viel Magie ich einsetze, wenn der Boden erschöpft ist, dann wird es keine Früchte und keine Pflanzen mehr geben.“

Sie sahen ihn alle groß an. „Der Boden ist erschöpft?“

„Ihr könntet ihn düngen.“

„Was ist düngen?“

„Wenn ihr frische Erde bringt und Laub und dergleichen.“

„Was du mit den Algen gemacht hast?“

„Genau das.“ Dhaôma rückte den Jungen auf seiner Hüfte zurecht. „Das hilft den Pflanzen beim Wachsen.“

„Also ist es okay, wenn wir Algen holen? Dann machst du noch mehr Beeren?“

Lachend gab Dhaôma nach. „Ja.“, stimmte er zu. „Aber trotzdem werdet ihr jetzt ein paar Beeren für eure Freunde aufbewahren, in Ordnung? Schließlich werdet ihr ja bald neue bekommen.“ Und weil er gerade etwas Fürchterliches zu ahnen begann, fügte er hinzu: „Aber Algen holt ihr nur, wenn jemand dabei ist, der aufpasst. Nasse Pflanzen sind schwer. Fragt Mimoun, der hat sie das letzte Mal getragen.“
 

Mimoun hatte schweigend das Gespräch belauscht. Es war schön zu sehen, wie entspannt sein Freund mit den Kleinen umging. Bei ihnen schien er keinerlei Berührungsängste zu haben. Ob es daran lag, dass sie noch klein waren und keine Bedrohung für ihn darstellen konnten oder eher daran, dass sie selber keine Angst vor ihm zeigten, ließ sich schwer bestimmen. Aber es stimmte Mimoun heiter.

Dann begann das Gespräch in die Richtung Algen abzudriften und der junge Geflügelte bekam ein mulmiges Gefühl, welches der Magier mit seinem letzten Satz bestätigte. Er wandte sich einer anderen Seite des Busches zu. Er hatte nichts gehört. Er wusste von nichts. Vielleicht ließen sie ihn ja in Ruhe.
 

Dhaôma hatte diese Geste gesehen und schmunzelte, während die Kinder sich untereinander berieten. Er hatte Ramon zu diesem Zweck sogar absetzen müssen. Am Ende grinsten sie und sammelten jedes zehn Beeren, mit denen sie in alle Richtungen spritzten. Haru verschwand auf der anderen Seite der Wand.

Dhaôma lachte. „Mimoun, du hast keine Chance, wenn sie das wollen. Und du profitierst davon. Drücken gilt nicht.“ Und da er selbst nicht fliegen und Dünger holen konnte, war es ihre Aufgabe. „Und du solltest deine Mutter auch nicht vergessen. Sie würde sich sicher freuen, meinst du nicht?“
 

„Sicher.“, meinte Mimoun und begann zu sammeln. Einen Teil drückte er Dhaôma in die Hand. Dass sich der Magier nie mit seiner Schwester würde anfreunden können, hieß noch lange nicht, dass es mit seiner Mutter nicht klappte. „Du machst ihr eine Freude und ich versuche, meine Schwester zu bestechen.“, meinte er grinsend und winkte mit denen, die er noch in der Hand hielt. Dass der Magier sich nicht bei ihr einschmeicheln sollte, hatte er nicht vergessen, doch dass Mimoun nicht weiter versuchen sollte zu vermitteln, hatte sie nicht erwähnt.

„Und hinterher kümmere ich mich um das Grünzeug.“, akzeptierte er geknickt sein Schicksal.
 

„Du könntest mich unten absetzen, dann gehe ich solange schwimmen.“ Sie machten Anstalten zu gehen, doch vorher bedankte sich Dhaôma noch bei Nobu. Der Mann hatte so lange neben ihnen ausgeharrt, obwohl er sicherlich etwas zu tun hatte. Dann rannte er Mimoun hinterher.
 

Zum Zeichen seines Einverständnisses nickte Mimoun und führte sie erst zu den Bäumen, damit sie die Reste ihres Frühstücks einsammeln konnten. Anschließend kehrten sie in die kleine Hütte zurück. Die beiden Frauen waren gerade dabei, ihres zu beenden, als die Jungen den Vorraum betraten. Mimoun ließ ihnen gar keine Zeit für Fragen oder Reaktionen. Er setzte sich neben seine Schwester, versperrte ihr mit seinen Schultern den Blick auf den Magier, stellte die Sachen ab und hielt ihr die geöffnete Hand unter die Nase. Misstrauisch, als wären es giftige Insekten, betrachtete sie die kleinen roten Früchte.

„Ich habe dir gesagt, er soll…“

Weiter kam sie nicht, denn Mimoun hatte beschlossen, dass es sonst nichts brachte. Blitzschnell schnappte er eine Frucht und schob sie ihr mitten im Wort in den Mund. „Er hatte nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet. War alles ich.“
 

Währenddessen legte Dhaôma seine Beeren vor Cerel auf den Tisch. Er lächelte vorsichtig. „Guten Morgen.“
 

Mit einem Lächeln erwiderte sie den Gruß. Dann betrachtete sie die kleinen Früchte vor sich. Nach einem kurzen Blick auf ihre Kinder, wo Silias Protest sofort durch eine weitere Beere in ihrem Mund unterbrochen wurde, nahm sie vorsichtig eine zwischen die Finger und probierte. Lecker waren sie.

„Vielen Dank.“, brachte sie hervor, bevor die nächste Beere dem Schicksal ihrer Vorgängerin folgte. Ebenso wie die restlichen, von denen Cerel einige in Dhaômas Richtung schob, damit er zusammen mit ihr diese Leckereien genoss.
 

Freude durchströmte ihn und färbte seine Wangen wieder rot.

Ein kurzer Blick zu Mimoun verriet ihm, dass dieser bleiben würde, bis Silia aufgegessen hatte. Unsicher setzte er sich ebenfalls hin. „Was du gesagt hast, hat geholfen. Danke schön.“, sagte er zu Cerel.
 

„Es freut mich, dass ich dir helfen konnte.“, erwiderte sie lächelnd und beobachtete ihren Sohn, wie er Silia in den Schwitzkasten nahm. Sie schien die Beeren wieder ausspucken zu wollen, was er zu verhindern suchte. Sie schmunzelte amüsiert. „Geht es dir jetzt besser? Ich meine nicht körperlich, das sehe ich. Ich meine, wegen uns. Glaubst du, du wirst dich hier irgendwann wohl fühlen können?“
 

„Sicher.“ Zuversichtlich nickte Dhaôma. „Es ist ein schönes Gefühl, wenn man etwas kann, das anderen hilft.“

Auch er beobachtete das zankende Geschwisterpaar. Sie war ein seltsames Mädchen. Etwas nicht zu essen, nur weil es mit Magie gewachsen war, war kindisch. Aber vielleicht mochte sie es auch einfach nicht, weil ein Magier seine Finger im Spiel hatte.

„Mimoun!“, erklang es da von draußen. „Dhaô! Kommt endlich!“ Die Kinder waren zurück. Wahrscheinlich hatten sie die Beeren nur kurz abgelegt und waren sofort zurückgekehrt. „Wir wollten doch Algen sammeln!“
 

Mimoun zuckte zusammen und verzog leidend das Gesicht. Er lehnte sich zurück und schob sich die letzte Beere in den Mund. Warum waren diese Flöhe nur so flink auf den Beinen?

„Du Dummkopf! Idiot!“ Eine Faust donnerte auf seinen Kopf hinab. Erneut zuckte er zusammen und hielt sich die Stelle, die seine Schwester getroffen hatte. Verdient hatte er es ja, aber weh tat es trotzdem. Als er vorsichtig hoch lugte, erkannte er, dass sie eindeutig wütend war. Er hatte es wohl übertrieben. Perfekt. Sie musste sich nicht übergangen fühlen, hatte ihren Teil bekommen und ihre Wut richtete sich nicht auf Dhaôma. Was wollte man mehr?

Frech grinsend erhob er sich und schob seinen Freund nach draußen, wo die kleinen Plagen schon sehnsüchtig warteten.

„Also.“, begann der junge Geflügelte. „Ihr wartet hier und ich hole die Algen. Dhaôma wird erst einmal ein Bad nehmen und sich später um die Algenvernichtung kümmern.“ Er beugte sich vor und fixierte jeden einzelnen von ihnen scharf. „Und ihr wartet hier. Solltet ihr versuchen uns zu folgen, werden euch eure Eltern vielleicht nicht mehr erlauben, mit ihm zu spielen.“
 

Sie sahen ihn groß an. Nicht mehr mit ihm spielen? Aber wo lag denn der Sinn darin, mit ihm zu spielen, wenn er gar nicht da war? Dennoch nickten sie und Dhaôma und Mimoun konnten zu den Seen fliegen, ohne gestört zu werden.

Das Eis bricht

Kapitel 22

Das Eis bricht
 

Dhaômas Bad war trotz Kälte ausgiebig und lange. Schweiß, Erde und alles, was sonst noch an ihm gehangen hatte, löste sich, während er tauchte und dabei eine nette Entdeckung machte. Auf dem Grund des Sees gab es Muscheln. Große Muscheln. Sie waren so groß wie sein Handteller. Begeistert brachte er die braunen, harten Gebilde herauf, die er unter feinem Sand fand, und präsentierte sie stolz Mimoun.

„Aber vielleicht sollten wir sie drin lassen für magere Zeiten.“, überlegte er. Aber wenn er jetzt ein paar mitnahm, würde sich wohl kaum viel an der Anzahl verändern, die vielleicht noch am Grunde lebten.

Das nächste Mal tauchte er nach Algen. Seit seinem letzten Besuch hier war kaum etwas nachgewachsen, aber das machte nichts. Obwohl er noch einmal zwei große Arme herausfischte, waren immer noch genug darin, um als Fischfutter zu dienen. Mimouns Aufgabe bestand darin, sie nach oben zu tragen, während Dhaôma noch seine Kleider einigermaßen trocken schlug. Der Wind war genauso eisig wie das Wasser und er wollte nicht schon wieder krank werden, also musste es bei dem Pelz reichen, wenn er ihn ausklopfte. Zum Glück ließ sich die Erde leicht entfernen, wenn er die verklebten Haare ein bisschen zwischen den Fingern rieb. Sein ehemals weißer Pelz war inzwischen von schmutzigem Rotgelb.
 

Kaum war er oben gelandet, ließ er die Algen fallen und zitierte die Kinder zu sich.

„Ihr habt Dhaôma beobachtet, was er das letzte Mal damit gemacht hat, nicht wahr?“ Sie nickten unisono. Auch Mimoun nickte zufrieden und deutete auf das Grünzeug. „Na dann, viel Spaß.“ Und ohne sich weiter darum zu kümmern, schwebte er wieder zu den Seen hinab und wartete geduldig, bis sein Freund fertig war mit der Prozedur. Sie brauchten dringend einen zweiten Satz Kleider für ihn.
 

Es dauerte auch nicht mehr lange. Wärme suchend kam der Junge zu ihm zurück. Ihn beschäftigte seit einiger Zeit ein kleines Problem.

„Sag mal, was spielt man bei euch überhaupt? Kämpfen und Essen machen ist doch kein Spiel, oder doch?“ Dennoch waren diese Kinder immer am Raufen und Auflauern und Jagen.
 

„Na ja. Beim Fangen spielen und Balgen werden sie am schnellsten müde und trainieren ihre körperlichen Kräfte und Ausdauer. Das, was sie später fürs Fliegen brauchen werden. Für die Kleinen ist es noch Spiel.“ Mimoun konnte sich denken, dass es dem Magier sauer aufstoßen würde. Für ihn musste es so wirken, als würden sie ihre Kinder von frühster Jugend an als Kämpfer trainieren. Aber so war es nun einmal. Um dem Ganzen ein wenig die Schärfe zu nehmen, fügte er grinsend hinzu: „Aber ihr Lieblingsspiel ist und bleibt, die Erwachsenen in den Wahnsinn zu treiben.“ Er sah, dass seinem Freund wieder kalt war und so breitete er einladend Arme und Flügel aus, um ihm Wärme zu spenden, wie damals auf dem Gipfel der Wolfsberge. „Aber sie haben sicher auch nichts dagegen, neue Spiele von dir beigebracht zu bekommen. Auf solch einer kleinen Insel wird es vor allem in jungen Jahren sehr schnell langweilig.“
 

Dhaôma runzelte die Stirn. „So war das nicht gemeint.“, sagte er, kam aber der Einladung gerne nach. „Ich weiß nicht, wie man spielt. Ich durfte es ja nicht. Ich konnte nur spielen, wenn ich weggelaufen bin oder mich versteckt habe.“ Er kratzte sich am Kopf. „Ich wollte nur einen Tipp, was ich machen kann, damit sie Spaß haben.“
 

Mimoun lachte ausgelassen und sorgte mit den Flügeln dafür, dass sein Freund vor dem Wind geschützt war.

„Keine Angst. Das brauchst du noch nicht lernen. Im Moment bist du das Spielzeug. Die Kleinen haben genug Spaß, einfach indem du da bist. Sie verbiegen dich schon so, wie sie dich haben wollen.“
 

Er war ein… Spielzeug? War das sein Ernst?

Hoffnungsvoll blickte Dhaôma in sein Gesicht, doch offenbar meinte Mimoun das ernst. Resignierend legte er die Arme um ihn. Man hatte ihn schon zu oft verbogen.

Der Hanebito brachte Dhaôma zurück nach oben, wo er praktisch den ganzen Vormittag damit verbrachte, Pflanzen wachsen zu lassen. Selbst als die Kinder satt waren, brachten sie ihn dazu, auch die anderen Gärten ‚gesund zu machen’, wie sie es nannten. Als er ihnen erklärte, dass es gut für sie war, wenn sie Düngemittel bekamen, versprachen sie, fleißig pflanzliche Reste in den Gärten zu verbuddeln.

Kurz vor Sonnenuntergang wurde es dann plötzlich laut. Die Delegation von Fischjägern war zurück. Immer zu zweit trugen sie große Lederbahnen mit Wasser und Fischen darin, die sie dann unter großem Gejohle und Gejubel in den Badeteich warfen. Nicht alle davon hatten noch ihren Laich, aber das machte nichts, es waren genug, die für Nachwuchs sorgen würden und natürliche Feinde wie Reiher oder Fischotter gab es hier nicht.

Es war ein wirklich anstrengender Tag gewesen und Dhaôma schlief schnell ein. Er hatte die Entdeckung gemacht, dass sie ihn zwar noch immer mit Argwohn betrachteten und überwachten, aber dass er tatsächlich Fragen stellen konnte. Egal wie schwer es ihm fiel, wenn er sich anstrengte, dann konnte er mit ihnen reden.

Am nächsten Tag bot sich dann erstmals die Gelegenheit, Jadya aufzusuchen. Das Mädchen war relativ erstaunt, als sie das Inselmaskottchen mit seinem Herrchen auf sich zukommen sah. Dementsprechend schwer fiel es dem braunhaarigen Magier seine Bitte vorzutragen, aber weil er üben wollte, durfte sich Mimoun nicht einmischen. Sie erklärte sich dazu bereit und lehnte höflich ab, als er fragte, ob er helfen dürfe. Zuschauen wäre in Ordnung und sie versprach, dass sie ihm Bescheid gab, wenn sie anfing.

Auch von seinem Angebot, etwas für sie wachsen zu lassen, war sie angetan, denn sie wünschte sich schon lange, dass eine bestimmte Pflanze auf der Insel sein würde, die es nur in buschigem Gebiet gab. Rosafarbene, wunderbar duftende, zarte Blüten, die irgendwann gut schmeckende, knubbelige rote Früchte hervorbrachten. Nach dieser Beschreibung hellten sich Dhaômas Züge auf. Sie sprach von Wildrosen. Von denen hatte er Samen in seinem Beutel. Zwar würde es noch etwas dauern, bis es warm genug war für diese Pflanze, aber er sagte ihr zu, sie am Eingang ihrer Hütte wachsen zu lassen, sobald die Sonne es zuließ.

An diesem Abend war Silia noch giftiger als sonst.
 

Mimoun zog schon mal provisorisch den Kopf ein. Das würde sicher ein langes Gespräch werden. Er verstand nämlich nicht, aus welchem Grund sie so gereizt war. Der junge Geflügelte brachte seine ganzen Kräfte dafür auf, dafür zu sorgen, dass sich die beiden aus dem Weg gehen konnten und er mit beiden etwa zu gleichen Anteilen seine Zeit verbrachte.

Noch bevor es zum Abendessen ging, zog Mimoun seine Schwester hinter die Hütte, um den Grund für ihren Unmut zu erfahren.

„Jetzt versucht dieser Mistkerl sich schon bei meiner Freundin einzuschleimen.“, platze sie heraus. „Er soll sich gefälligst von ihr fernhalten!“

„Dhaôma hat nichts dergleichen versucht.“, wehrte Mimoun diese Aussage ab. „Er hat sie um ihre begnadeten Fähigkeiten gebeten und ihr im Gegenzug etwas dafür angeboten. Ein ganz normales Tauschgeschäft, wie es hier bei uns üblich ist, oder nicht?“

Dass Mimoun ihr mit logischen Argumenten kam und so versuchte, ihren Zorn zu mildern, regte sie noch mehr auf. „Ich pfeif drauf. Er soll sich von ihr fernhalten!“

„Wo ist eigentlich dein Problem?“, fragte der junge Geflügelte seine Schwester, schärfer als beabsichtigt. „Ich widme dir einen guten Teil des Tages, damit du dich nicht mehr vernachlässigt fühlen musst, dennoch giftest du ihn weiter an. Nun suchst du sogar einen neuen Grund, um auf ihm rumzuhacken. Freiwillig würde er nie etwas tun, um deinen Zorn heraufzubeschwören. Hör bitte auf, Gespenster zu sehen. Er nimmt dir nichts weg.“

„Doch.“, flüsterte sie leise und erinnerte sich wieder an Mimouns Zusammenbruch. Zögerlich trat sie auf ihn zu und kuschelte sich an ihn. „Ich will nicht noch mehr geliebte Menschen wegen eines Magiers verlieren.“

Verwirrt, aber außer Stande auf diese Aussage zu reagieren, schloss er seine Schwester in die Arme. Er stützte sein Kinn auf ihrem Kopf ab und sah einfach ins Nichts. „Wenn du dich mit ihm anfreunden könntest, würdest du einen Freund dazu gewinnen und nicht immer mehr verlieren, wie du befürchtest.“

Spielerisch boxte sie ihm in die Rippen. „Ich hab dir dazu bereits was gesagt.“, nuschelte sie in sein Hemd und Mimoun seufzte ergeben.

„Ich weiß.“ Er löste sich von ihr. „Aber nun komm. Ich hab langsam Hunger.“

Gemeinsam kehrten sie in die Hütte zurück.
 

Cerel hatte vorgeschlagen, schon mal zu essen, also waren die beiden bereits fertig, als Mimoun und Silia zurückkehrten. Seit Dhaôma das Gefühl hatte, dass das Eis zwischen ihm und der Mutter gebrochen war, hatte er sie gefragt, welche Art von Früchten sie gerne mochte. Ihre Antwort hatte aus ein paar Namen bestanden, die sie kannte. Es waren nicht viele Pflanzen, von denen sie wusste, dass man sie essen konnte, also beschloss Dhaôma, dass er das ändern musste. Die Welt hatte mehr zu bieten als Äpfel, Beeren und Pilze.

Er beschloss, dass er diesem Volk einen Gefallen tun und ihnen aufzeigen würde, was man alles essen konnte. Kürbis hatte Mimoun nicht geschmeckt, aber es gab noch so viele andere Dinge. An diesem Abend sortierte er in dem kleinen Raum, in dem er mit Mimoun zusammen schlief, unter dem Licht des Leuchtmooses die Samen aus, die von essbaren Pflanzen stammten.

Gleich am nächsten Tag unterbreitete er Cerel einen Vorschlag, der ihr zu gefallen schien. Er würde jeden Tag einen von ihr gewählten Samen wachsen lassen, damit sie neue Dinge probieren konnte. Vielleicht konnte er damit helfen, ihre Vorräte für den Winter aufzustocken, weil sie wussten, nach was sie unten Ausschau halten mussten.
 

Eine Woche später kam das erste Mal Besuch von einer der anderen Inseln, mit denen Handel betrieben wurde. Offiziell waren sie da, um gegerbte Häute gegen Felle auszutauschen. Inoffiziell wollten sie wissen, was der Magier hier trieb.

Sie waren mittelmäßig erstaunt, als sie sahen, dass dieser mit Mimoun und den Kindern herumtobte. Dabei schien es ihn nicht zu stören, wenn sie mit ungebändigter Kraft an seinen Haaren oder Armen zogen. Dhaôma hatte gelernt, dass ein kämpferisches Spiel keine Gefahr darstellte, weshalb er jetzt gerne mal das zu erjagende Wild spielte. Den Kindern gefiel besonders, wenn er röchelnd zu Boden ging, wie er es sich einmal bei Mimoun abgeschaut hatte.

Noch erstaunter waren sie, als sie von der Idee mit den Fischen hörten. Allein der Gedanke war so logisch, dass es sie wunderte, dass sie selbst noch nicht auf diese Idee gekommen waren. Die wieder lebendigen Bäume, die Dhaôma inzwischen alle ins Leben zurückgerufen hatte, und die darunter blühende Wiese machten wenig später genauso die Runde durch die Dörfer.
 

Dass sich der Magier immer mehr in der Gesellschaft der Geflügelten entspannte, ließ auch Mimoun sich mehr entspannen. Er begleitete seinen Freund nicht mehr auf Schritt und Tritt wie eine übervorsichtige Glucke ihr Küken, um ihn vor Gefahr und Anfeindung zu beschützen, doch wann immer möglich warf er einen sichernden Blick in dessen Richtung oder hielt sich in seiner Nähe auf. Das ließ sich irgendwie nicht austreiben. Aber Dhaôma kam nun sehr gut alleine zurecht.

Auch die Eltern der Kleinen hatten langsam eingesehen, dass der Magier keine Gefahr für ihren Nachwuchs darstellte und gingen gelassener mit dieser Tatsache um, auch wenn immer noch jemand ein Auge auf sie hatte. Es war auch befreiender, wenn die Kinder jemand anderes in der Mangel hatten, vor allem wenn dieser es sogar freiwillig und mit offensichtlicher Freude ertrug.

Auf die sich immer mehr und schneller verbreitenden Gerüchte kamen immer wieder Geflügelte, um es mit eigenen Augen zu sehen, aber im Gegensatz zu Mimouns Rückkehr, als man einfach nur einen Heimgekehrten begrüßen konnte, suchte man hier zeitweise recht lächerliche Gründe, um in dem Dorf vorbei zu sehen. Man nahm es mit Humor.

Bis eines Tages unangekündigt hoher Besuch eintraf. Addar Maral landete zusammen mit seinem Enkel auf dem zentralen Platz. Oldon erschien sofort und begrüßte die Ankömmlinge ihrem Rang entsprechend im Dorf, was diese dankend zur Kenntnis nahmen.

„Wir haben so einige Geschichten über unseren Gast gehört und wollten uns einmal mit eigenen Augen davon überzeugen.“, lächelte der Alte gutmütig und begann seinen Blick über die ergrünte und blühende Insel schweifen zu lassen. Beeindruckend, was dieser Magier geschaffen hatte.
 

Dhaôma war gerade dabei, mit den Kindern zusammen einen Ofen zu bauen. Sie hatten ihn seit Tagen gelöchert, wieso er kein rohes Fleisch essen mochte, und er hatte zugeben müssen, dass bei ihnen alles irgendwie zubereitet wurde. Er hatte ihnen von Brot und Kuchen erzählt und von Bonbons. Jetzt wollten sie es selbst ausprobieren.

Die Eltern hatten Holz heranzuschaffen, das hatten die Kleinen durchgesetzt, Dhaôma sorgte für die Zutaten und sie bauten den Ofen. Es war eine wahre Schlammschlacht geworden. Da für den Ofen Lehm gebraucht wurde, war es nicht ausgeblieben, dass sie sich erst gegenseitig und dann Dhaôma damit beworfen hatten. Dementsprechend weit waren sie: die Matschgrube war gefüllt, der Platz gekehrt, sonst war nichts von einem Ofen zu sehen.
 

Mimoun war in sicherer Entfernung geblieben, als die Schlammschlacht begann. Das sollten die Kleinen mal ruhig unter sich ausmachen. So blieb ihm aber auch nicht die Ankunft der hohen Gäste verborgen und innerlich spannte er sich an. Dass Dhaôma nun mit den Dorfmitgliedern auskam, hieß noch lange nicht, dass er seine Scheu vor Diplomaten, wie er sie so schön genannt hatte, überwunden hatte.

Auch Addar hatte nun die Ursache allen Blühens ausmachen können und hielt auf ihn zu, dicht gefolgt von seinem Enkel Asam. Mimoun trat wie zufällig näher an Dhaôma heran, was von dem Ältesten mit einem amüsierten Funkeln registriert wurde. So änderte er seine Richtung und schritt erst einmal auf den jungen Geflügelten zu, der ihn sofort höflich begrüßte.

„Braucht er denn noch immer deinen Schutz?“, begann der Alte ohne Umschweife und sah zu ihm auf.

Mimoun druckste ein wenig herum, bevor er wahrheitsgemäß antwortete: „Hier im Dorf nicht mehr. Beide Seiten haben gelernt, miteinander auszukommen. Doch ich weiß nicht, ob bei Euch nicht doch noch die anfängliche Scheu wieder zum Vorschein kommt.“

„Finden wir es doch heraus.“, schmunzelte Addar und trat neben den Magier, begutachtete ihr Werk.
 

Sowohl Dhaôma als auch die Kinder, unterbrachen ihre Schlammschlacht, sobald deutlich wurde, dass jemand auf sie zuhielt. Sie hatten schon zu oft Ärger bekommen, weil sie unbeabsichtigt jemanden in ihr Spiel hineingezogen hatten. Als Dhaôma den Mann erkannte, wurde er leicht blass. Die Ausgelassenheit bekam einen gehörigen Dämpfer. Das war der Anführer der Hanebito. Warum war der hier? Wollte er ihn hier etwa wegholen? Hatten sie entschieden, was mit ihm passieren sollte?

Er machte eine Verbeugung und wischte sich dabei notdürftig den Schlamm aus dem Gesicht und den Haaren. „Addar Maral.“, sagte er förmlich.

Die Kinder konnten das nicht verstehen. Ihr Freund war doch schon lange nicht mehr so reserviert gewesen! Das konnte er doch nicht mehr machen. Das war nicht spaßig!

„Wer ist das denn?“, wollte Haru wissen und flatterte auf Dhaômas Rücken. Von dort oben hatte man definitiv eine bessere Sicht als von seinem Standpunkt.

„Ist das dein Ernst?“, wollte Elin wissen. „Das ist Addar Maral.“ Sie begutachtete ihn von oben bis unten, bevor sie grinste. „So runzelig!“

Sie bekam Ramons Ellbogen in die Rippen, was ihr kurzfristig die Luft nahm. „Du bist respektlos!“, zischte er. Seine Haare tropften besonders vom Schlamm, denn er hatte mittendrin gelegen.

„Warum? Ist doch wahr!“, flüsterte sie zurück.

Sanft nahm Dhaôma sie an den Schultern und drückte sie leicht. Es bedeutete, dass sie sich beruhigen sollte. Das hatte sie schon verstanden.
 

Mit Beunruhigung bemerkte Mimoun, dass sich auch das restliche Dorf nun an diesem Platz versammelt hatte. Und seine Anspannung wuchs, als er sah, wie Dhaôma bleich wurde. Gemessenen Schrittes trat er an seine Seite und lächelte aufmunternd, dabei war ihm gar nicht danach. Er hatte Addar zwar ankommen sehen, aber nicht gehört, was er hier wollte. So wuchs seine eigene Unruhe mit jedem Augenblick, der in Schweigen verlief. Schließlich hob der Alte eine Hand.

„Ganz ruhig. Offiziell bin ich gar nicht hier.“, lächelte er und betrachtete nacheinander die Kinder, die so völlig ohne Angst an dem Magier herumkletterten. „Ich war nur neugierig auf den Wahrheitsgehalt der ganzen Geschichten. Und von so etwas überzeugt man sich am besten immer selbst.“ Noch immer fasziniert von dem Anblick schweiften seine Augen durch das Dorf, über die Obstbäume und die Wiese.
 

„Was für Geschichten?“, kam Elin Dhaôma zuvor. Er hätte ja selbst gefragt, aber sie war wieder mal schneller mit dem Mundwerk als jeder andere.

„Wenn es darum geht, dass er rote Beeren wachsen lassen kann; das ist wahr.“, erklärte Haru ernst und brachte damit Dhaôma zum Lachen. Es war zwar etwas gequält, aber die Tatsache, dass der Junge süchtig nach Himbeeren war, war einfach zu goldig.

Der Junge straffte sich. „Ich weiß nicht, was geredet wird, aber mir gefällt der Gedanke, dass Ihr…“ Kurz zögerte, als er überlegte, ob man diesen Mann auch duzen sollte, aber er beschloss, dass er das nicht einfach tun konnte. „…nichts auf Gerüchte gebt.“
 

„Tote Bäume, die zum Leben erwachen. Unmengen an grünenden und blühenden Pflanzen. Aber am interessantesten finde ich die Geschichte um gezielt angesiedelte Fische.“ Sein Blick wanderte zu der Matschgrube. „Und was soll das werden?“, fragte er neugierig. Momentan war es zur Unterhaltung der Kleinen, wie man deutlich sah, doch dieser Magier versetzte das ganze Volk der Geflügelten in Erstaunen mit seinen Ideen und Vorschlägen. Es steckte sicher mehr dahinter.
 

„Wir machen Brot!“, plärrte Elin sofort los. Sie strahlte.

„In erster Linie, Elin, machen wir einen Ofen.“, korrigierte Dhaôma sie. Er lächelte schüchtern, als er dem Oberhaupt erklärte: „Damit kann man Hitze speichern, so dass man Teig ausbacken kann. Sie wollten Brot kennen lernen.“
 

„Ich seh schon.“, lachte Addar. Diese Kinder kannten keine Scheu. Sie waren eine erfrischende Abwechslung zum Rat, wo jeder höflich-zurückhaltend auf seine Anwesenheit reagierte. „Du hast dich ja bestens hier eingelebt.“
 

„Ja.“ Das Lächeln wurde ein bisschen breiter. Vom Gefühl her konnte Dhaôma sagen, dass ihm keine Gefahr an diesem Tag drohte. Das machte ihn weniger nervös und ließ sein Verhalten entspannter werden. „Habt vielen Dank.“ Beiläufig strich er sich eine verklebte Haarsträne aus dem Gesicht. Irgendwie sah er immer schrecklich aus, wenn er mit diesem hochgestellten Hanebito sprach.
 

Als Mimoun sah, dass sich Dhaôma entspannte, ließ auch er alle Anspannung fahren. Sein Freund war noch immer in Sicherheit. Es stand nichts zu befürchten.

„Dann möchte ich euch bei eurer Arbeit nicht weiter stören.“, verabschiedete sich der Älteste mit einem leichten Nicken und wandte sich ab. Er winkte Mimoun zu sich heran und entfernte sich zusammen mit dem jungen Geflügelten. Von ihm wollte er wissen, wie das Verhältnis des Dorfes und des Magiers aus seiner Sicht war, welche Schwierigkeiten es gab und Ähnliches. Von den Dorfbewohnern wollte er später wissen, wie sie über den Magier dachten. Mimoun schickte er vorher wieder weg. Dieser sollte sich wieder um seinen Freund kümmern können. Da er sonst nichts zu tun hatte, kehrte Mimoun zu Dhaôma und den Kindern zurück.
 

Diese waren inzwischen ordentlich am Arbeiten. Mit Stroh und Lehm formten sie eine zweistöckige Blase, eine verschließbar, eine mit Durchzug. Die Kinder machten dabei die meiste Arbeit und Dhaôma verbesserte sie nur, wenn er dachte, dass etwas nicht ganz stimmig war. Er selbst hatte so etwas noch nie gebaut, hatte nur darüber gelesen.

Irgendwann waren sie fertig. Der Lehm musste jetzt trocknen, bevor man die untere Etage beheizen konnte. Und weil die Sonne jetzt am wärmsten war, legten sie sich ins Gras und es dauerte nicht lange, bis die Kinder schliefen.

Darauf hatte Dhaôma nur gewartet. Er wandte sich an Mimoun. „Meinst du, es ist gut, dass er hier war?“, fragte er leise.
 

„Ich weiß es nicht.“, gestand dieser in derselben Lautstärke. Sein Blick folgte dem Flug der Wolken. „Er hat mir Fragen gestellt. Wie ich das Verhältnis zwischen dir und dem Dorf sehe und Ähnliches. Er hat auch der Dorfgemeinschaft Fragen gestellt, aber mich da weggeschickt. Ich tippe aber darauf, dass es ähnliche Fragen waren. Aber ich mache mir keine Sorgen.“ Mimoun drehte sich auf die Seite, um Dhaôma direkt anzusehen. „Die Kleinen sind eigentlich ein guter Hinweis dafür, dass du keine Gefahr darstellst. Und das hat er selbst gesehen und nicht nur gehört.“
 

„Heißt das, ich kann irgendwann doch wieder nach den Drachen suchen gehen?“ Wenn Addar sich davon überzeugte, dass alles in Ordnung war und er keine Gefahr darstellte, gab es doch die Möglichkeit. Oder war das Wunschdenken? „Versteh das nicht falsch. Mir gefällt es hier inzwischen ganz gut, aber…“ Dhaôma verstummte.
 

Mimoun lächelte sanft und schob sich zu ihm rüber. Vorsichtig verwob er seine Finger in den Haaren des Magiers und zog ihn an sich. „Keine Angst. Ich werde dich zu den Drachen bringen. Ich verspreche es dir. Du wirst zu den Drachen gelangen, dafür sorge ich.“, flüsterte er.
 

Dhaôma nickte. Er wusste, was das für Mimoun heißen konnte, aber er wollte daran glauben. „Danke.“, wisperte er, bevor er die Augen schloss. Und dann fragte er noch: „Kannst du mir ein Loch in den Zahn machen? Sie haben mein Messer weggenommen und die Nadel.“ Bisher hatte er das nicht erwähnt, weil es ihm unangenehm war, aber es passte gerade.
 

„Was für Dummköpfe.“, grummelte der Geflügelte und ließ den Magier wieder los. „Langsam könnten die das Teil auch zurückgeben.“ Er verstand, warum sie es ihm abgenommen hatten. Auch wenn es unsinnig war. Die Magie wäre im Ernstfall die gefährlichere Waffe gewesen. Und die konnte man Dhaôma auch nicht abnehmen. „Ich kümmere mich darum.“, versprach er. Das konnte einerseits bedeuten, dass er das Loch machte, als auch, dass er dafür sorgte, dass das Messer zu seinem Besitzer zurückkehrte. Der Geflügelte ruckelte sich in eine bequeme Position und schloss die Augen. „Später.“, fügte er leise und schläfrig an.

Die Schlafenden bemerkten nicht, wie sich Addar wenige Stunden später näherte. Eigentlich hatte er sich verabschieden wollen, doch als er sah, wie die, die ursprünglich Feinde waren, nun friedlich nebeneinander im Gras schliefen, beobachtete er schweigend und nachdenklich die Szene. Schließlich wandte er sich ebenso wortlos wieder ab und ging.

Noch am Abend dieses Tages kümmerte sich Mimoun um die Angelegenheit mit dem Messer. Da niemand sonst an die Tasche seines Freundes hätte kommen können, wandte er sich als erstes an seine Familie, in dem Fall besser an seine Mutter, da Silia sich sicher wieder quer gestellte hätte. Diese fiel aus allen Wolken, denn daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Mit einer umfangreichen Entschuldigung überreichte sie es dem Magier persönlich. So konnte dieser sich selbst um seinen Drachenzahn kümmern.
 

Die Tage vergingen. Aus den Tagen wurden Wochen. Vom Hohen Rat ließ sich keiner weiter blicken. Auch sonst traf keine Nachricht bezüglich eines Urteils ein. Doch dafür wurden die Bewohner anderer Dörfer sicherer. Sie kamen nicht mehr unter einem Vorwand, sondern zeigten offen, woran sie interessiert waren. An den Ideen des Magiers, an den Pflanzen, die er hier herauf gebracht hatte, und natürlich an dem Magier selbst. Doch es war wie eine unsichtbare Barriere. Ihn direkt anzusprechen trauten sie sich noch nicht.

Mimoun wurde in der Zeit innerlich immer unruhiger. Es war wie ein Drang. Er wollte wieder in die Weite ziehen. Auch hatte er es Dhaôma versprochen. Doch es schien nicht so, als gedachte man, ihn wieder gehen zu lassen. Auch wenn seine Herkunft und sein Hintergrund fragwürdig waren, so war er doch mit seinen Fähigkeiten wertvoll für die Geflügelten.

Der Geflügelte stand abends am Rand der Insel, spürte den Wind auf seiner Haut und sah in die Ebenen hinab. Er selbst konnte dort jederzeit hinunter, doch Dhaôma war hier noch immer gefangen. Auch wenn er sagte, es gefiele ihm hier, so spürte Mimoun doch dessen Sehnsucht nach seinem Traum. Nach dem Abendessen sprach er sich mit seiner Mutter aus. Sie sah nicht begeistert aus, als er ihr von seinem Vorhaben und seinem Wunsch erzählte, doch sie verstand ihn. Und sie versprach, sich um Dhaôma zu kümmern, solange er weg sein würde.

Kurz bevor die Kinder am nächsten Morgen den Magier wieder in Beschlag nehmen konnten, zog er ihn beiseite. „Ich weiß nicht, wie lange ich weg sein werde.“, begann er stockend, räusperte sich und sprach dann mit fester Stimme weiter. „Ich fliege zum Hohen Rat. Ich möchte endlich eine Antwort.“
 

Dhaôma sah ihn entsetzt an. „Mach das nicht! Was, wenn ihre Meinung von dir noch weiter fällt?“
 

Der junge Geflügelte zuckte nur mit den Schultern. „Was soll mir schon passieren? Ich glaube, mein Dorf versteht mich mittlerweile ganz gut und wird schon aufpassen, dass dir nichts passiert. Hier wäre ich auch weiterhin gut aufgehoben. Und außerdem würdest du mich auch nie im Stich lassen. Das wird schon. Vertrau mir.“ Mimoun spannte schon die Flügel auf, um gleich abzuheben. Besser er verschwendete nicht mehr Zeit als nötig.
 

Unglücklich nickte Dhaôma. Er würde ihm vertrauen, aber das hieß nicht, dass er es guthieß, dass sich Mimoun für ihn in Gefahr begab. „Riskier einfach nicht alles.“, sagte er leise. „Gute Reise.“
 

„Ich komm so schnell es geht zurück.“, versprach er noch und erhob sich in die Luft.
 

Als sein Freund abhob, winkte Dhaôma, bis er verschwunden war, und als die Kinder kamen, war er nicht fröhlich genug, um mit ihnen zu spielen. Er machte sich Sorgen, was sie mitbekamen, doch als sie Fragen stellten, winkte er nur ab. Das wäre kompliziert.

Gedankenverloren spielte er mit dem Drachenzahn, ging am Nachmittag zum Badesee, den er inzwischen mittels einer Liane selbst erreichen konnte, und weil er dort alleine blieb, starrte er über die Landschaft unter sich. Ein großer Fluss wand sich durch Grün und Gelb. Es war längst Sommer. Hier oben spürte man von der Hitze nichts, aber die Trockenheit machte allen irgendwie zu schaffen. Einmal hatte Dhaôma Oldon gefragt, ob er Regen rufen sollte, woraufhin alle Hanebito in ihren Hütten verschwunden waren, während ein Regenguss die Seen wieder aufgefüllt hatten. Seitdem war es wieder trocken.

Irgendwann holte ihn Cerel ab, erfüllte ihr Versprechen ihrem Sohn gegenüber, und sorgte dafür, dass Dhaôma etwas aß und schlief.
 

Mimouns Weg führte ihn auf direktem Kurs zur Ratsinsel. Er suchte sich keine Luftströmungen, die seine Kräfte schonen würden. Er wollte die Sache ein für alle Mal und so schnell wie möglich geklärt haben. Fast vier Tage war er unterwegs, bevor er die gesuchte Insel vor sich auftauchen sah. Doch als er darauf landete, wurde er enttäuscht. Die Säulen ragten leer und ungeschützt in den Himmel. Der Rat war heute nicht hier versammelt. Zu schade. Das hätte die Sache vereinfacht. Aber vielleicht war es sowieso sicherer ein offizielles Gesuch um Audienz zu schicken, als einfach unangemeldet dort aufzutauchen.

Ein Rauschen ließ ihn herum fahren. Aber ebenso schnell senkte er demütig den Kopf, als er sah, wer da auf ihn zu flog. Vor ihm landete Kaley, der einäugige Koloss, der einen Platz im Hohen Rat innehatte und die Rekruten ausbildete. Dicht hinter ihm landeten zwei Begleiter.

„Ich wusste doch, ich kenne dich. Du bist der Junge mit dem speziellen Haustier.“, begrüßte er den Jungen vor sich erstaunt. „Was treibt dich hierher? Probleme mit der Zähmung?“

Erstaunt und völlig überrumpelt starrte Mimoun nach oben in das grinsende Gesicht des grauhaarigen Riesen. Haustier? Zähmung? Wie ein Fisch klappte er seinen Mund kurz auf und zu. Mit einem Kopfschütteln brachte er seine Gedanken wieder auf die richtige Spur. Er hatte hier etwas zu erledigen.

„Zahm war das Tierchen von Anfang an. Ich kann nicht klagen.“, erwiderte Mimoun. Am besten ließ er sich erst einmal auf dieses Spiel ein. Mal sehen, wohin es führte. „Das einzige Problem ist der Bewegungsdrang. In seiner ursprünglichen Heimat konnte er Kilometer um Kilometer durch dichte Wälder streifen, ungehindert auf Bäume klettern und darauf herumturnen. Bei uns kann ich ihm diese Möglichkeit nicht geben. Und so viele Kinder haben wir nicht, die wir ihm als Ablenkung vorwerfen können.“

Kaley war ernst geworden, nachdem sich sein Verdacht bezüglich des Themas bestätigt hatte. Und schweigend lauschte er den Worten. „Er ist ein Magier...“, begann der Riese und Mimoun warf die Hände in die Luft, unterbrach ihn so, was er mit einem unwilligen Stirnrunzeln quittierte.

„Das weiß ich. Besser als jeder andere, vergessen? Ich kenne ihn bald seit einem Jahr.“ Mimoun wurde sich bewusst, dass er gerade ein Ratsmitglied unterbrochen hatte und wich einen halben Schritt zurück. „Verzeiht. Stellt euch vor, Ihr müsstet für den Rest eures Lebens in einem 4 mal 5 Schritt breiten Raum mit niedriger Decke verbringen. Auch wenn er es nicht zeigt, so fühlt er sich gerade.“

Kaley musterte den Jungen vor sich eine ganze Weile schweigend.

„Gebt ihn frei. Bitte.“, bat Mimoun erneut.

„Du weißt, dass ich darüber nicht entscheide.“, erwiderte der Riese.

„Natürlich.“, antwortete Mimoun mit gesenktem Kopf. „Darum bin ich ja auch hier. Ich wollte euch bitten, uns endlich eine Antwort zu geben. Und das, bevor er daran kaputt gegangen ist.“ Noch immer mit gesenktem Kopf wartete Mimoun eine Antwort ab.

„Wir werden morgen den Rat zusammenrufen, wenn du es wünscht. Doch ich kann nicht versprechen, dass dir das Ergebnis gefallen wird.“

Erleichtert atmete der junge Geflügelte auf und entspannte sich. Das bedeutete, dass der Hohe Rat in drei bis sechs Tagen zusammenkommen würde, denn solange brauchte es, alle zu benachrichtigen und bis sie sich einfanden. „Habt Dank.“, begann er. „Hättet Ihr etwas dagegen, wenn ich hier solange warten würde? Es lohnt sich nicht, nach Hause zurückzukehren und dann wieder hierher zu fliegen.“

„Du findest sicher in einem der näheren Dörfer Unterschlupf.“ Und schon drehte sich Kaley zu seinen beiden Begleitern herum und schickte sie mit gezielten Anweisungen fort, bevor er selbst davon flog.

Mimoun ließ sich erst einmal zu Boden sinken. Sämtliche Anspannung war innerhalb von Sekunden von ihm abgefallen. Die erste Hürde war geschafft. Zumindest würden sie nun über das weitere Vorgehen beraten.

Für die Nacht und die nächsten Tage fand er Unterschlupf in einem nahen Dorf. Da er bekannt war wie ein bunter Hund, musste er sie mit neuen Geschichten entlohnen. Es wurde ein langer Abend, den er nach außen hin zwar gut gelaunt in geselliger Runde verbrachte, aber innerlich irrten seine Gedanken immer wieder zwischen Dhaôma und dem, was er gerade tat, und dem schicksalhaften Tag hin und her. Mimoun fand erst spät wirklich Ruhe und war noch vor Sonnenaufgang wieder munter. Zu nervös war er wegen dem was nun vor ihm lag. Den Sonnenaufgang erlebte er am Rand der Insel. Diese war noch ein wenig näher am Großen Wasser und so beobachtete er, wie der Streifen am Horizont mit dem voranschreitenden Morgen immer klarer zu erkennen war.

„Ich bringe dich dorthin, egal wie.“, flüsterte er in den Wind, wohl wissend dass dieser die Worte nicht weit genug tragen konnte, damit Dhaôma sie verstand.

Zwei Tage später und nach einem ausgiebigen Frühstück, das sein rebellierender Magen gleich wieder zurückgeben wollte, bedankte er sich bei seinen Gastgebern und flog wieder zur Ratsinsel. Nachdenklich strich er mit der Hand über seinen Bauch. Was war nur los? Dhaôma war nicht hier. Sein Freund war in Sicherheit. Warum also war er so nervös?

Als er auf der Ratsinsel ankam, waren die Vorbereitungen noch nicht abgeschlossen und um seine Zeit nicht mit sinnlosem Warten zu vergeuden, und damit seiner Nervosität Freiraum zu geben, packte er mit an. Dennoch tigerte er eine Stunde über die Insel, bevor die ersten Ratsmitglieder auftauchten. Ein Teil erwiderte seine Begrüßung höflich, ein Teil strafte ihn mit Nichtachtung. Das weckte nun nicht gerade Mimouns Zuversicht.

Nacheinander verschwanden die hochrangigen Geflügelten hinter den Lederplanen. Und Mimoun wartete etwa eine Stunde geduldig an seinem Platz, bis er es nicht mehr aushielt und auf und ab ging, weil er nicht mehr still halten konnte. Als er schließlich gerufen wurde, schluckte er einmal schwer und trat dann ein. Seine Haltung ließ nichts von seiner inneren Furcht erahnen. Gerader Rücken, sicherer Blick, so wie er es immer bei Dhaôma in solchen Situationen gesehen hatte. Nach einer weiteren höflichen Begrüßung in die Runde, sah Mimoun abwartend zu Addar hinauf, der ihn ebenso schweigend musterte.

„Dieser Magier hat sich erstaunlicherweise als Bereicherung für uns erwiesen.“, begann dieser schließlich.

Dieser Magier hat einen Namen, dachte Mimoun wütend. Wenn der Älteste schon so begann, konnte das Urteil nicht gut ausgefallen sein. Nur knapp hielt er sich zurück, seine Fäuste zu ballen und dem Rat seine Meinung zu sagen. Äußerlich noch immer ungerührt lauschte er weiter.

„Er hat dein Dorf reich gemacht. Mit seinen Kräften könnte er jedes Dorf unterstützen und stärken. Warum sollten wir ihn gehen lassen?“

„Weil ihr nicht mehr auf ihn angewiesen sein würdet, wenn er seinen Traum erfüllt.“, erwiderte Mimoun ruhig. Dass es nur einer von vielen Träumen des Magiers war, musste er ja nicht erwähnen.

„Traum?“

Mimoun nickte kurz, bevor er fortfuhr. „Er wünscht sich Frieden zwischen den Völkern. Durch die Wochen in meinem Dorf hat er bewiesen, dass es möglich ist. Bei uns hat er mehr oder weniger eine Grundlage dafür geschaffen. Doch sein Volk kann er nicht von hier oben aus überzeugen.“

„Und wie will er es anstellen? Will er dich ihnen vorwerfen und das Ganze mit vertauschten Rollen durchspielen?“

Mimoun schauderte es. Das wäre sein sicherer Tod. Dort war keine Grundlage von Dankbarkeit vorhanden, auf die er aufbauen konnte. Darüber hinaus galt Dhaômas Wort bei seinem Volk wohl ziemlich wenig, auch wenn er aus einer angesehenen Familie stammte.

„Das ist nichts, was sich durch eine Hauruckaktion bewerkstelligen lässt. Wir wollten es langsam angehen und uns Schritt für Schritt vorarbeiten. Die Wochen, die er hier nun schon gefangen ist, waren überhaupt nicht eingeplant. Es ist zwar gut ausgegangen, aber wie wir das auch bei den Magiern hinbekommen sollen, wissen wir noch nicht.“

„Wir?“

„Ich habe Dhaôma schon vor langer Zeit versprochen, dass ich ihn begleiten und unterstützen werde, egal wohin sein Weg ihn führt.“, gab der junge Geflügelte offen zu. „Sollte er wieder von hier weg können, werde ich ihn begleiten.“

„Du verlangst also, dass wir diese wertvolle Beute gegen die Ungewissheit tauschen, ob ihr es tatsächlich schafft?“, begehrte Eldar, der einarmige Veteran, auf.

„Nein.“, erwiderte Mimoun lächelnd. „Ich bitte euch darum.“ Er löste seinen Blick von Addar und wandte sich nun Eldar zu, fixierte ihn, legte ein wenig seiner Wut in seinen Blick. „Und Dhaôma ist keine Beute.“, fügte er scharf hinzu. „Er ist mein Freund. Und als nichts anderes wird er behandelt. Etwas anderes lasse ich nicht zu!“

Eldar zog scharf die Luft ein. Wie konnte dieser Grünschnabel es wagen, ihm hier so frech die Stirn zu bieten?

Bevor er den Jungen jedoch zurechtweisen konnte, erhob Addar wieder seine Stimme. „Er wünscht sich ein friedliches Leben. Hier oben könnte er es haben. Hier geschieht ihm nichts, niemand tut ihm etwas.“

„Und dennoch versinkt die Welt um ihn herum in Blut und Tod. Und friedlich wäre das Leben auch für Dhaôma nicht mehr, wenn er mit ansehen muss, wie die Männer des Dorfes in den Krieg ziehen und nur als Leiche oder gar nicht zurückkommen. Frieden ist, wenn man sich nicht Sorgen um den nächsten Tag und welchen Schrecken er bereit hält machen muss.“

Erneut breitete sich Schweigen in dem Ratskreis aus.

„Es ist eine schwierige Entscheidung.“, begann Addar wieder und Mimoun nickte. Das wusste er. Auch wenn für ihn die Entscheidung sofort feststand, so musste der Rat doch zum Wohle des gesamten Volkes entscheiden. Darüber hinaus hieße es, einem Magier uneingeschränktes Vertrauen entgegen zu bringen. Ob sie dazu schon bereit waren?

„Geh.“, verlangte der Älteste. „Warte draußen. Wir werden entscheiden, was zu tun ist.“

Mimoun nickte und zog sich zurück. Draußen ließ er sich wieder auf den Boden sinken. Tief durchatmen. Er hatte sich dort drin einige Sachen geleistet, die sich ungünstig auswirken konnten. Und alles, was er nun tun konnte, war abwarten. Der junge Geflügelte schnaubte belustigt. Auf seiner Suche nach Dhaôma hatte er Geduld gelernt. Er konnte stundenlang auf geeignete Beute warten, aber die Situation hier zerrte gewaltig an seinen Nerven.

Und sie ließen ihn warten. Die Sonne überschritt ihren höchsten Stand und wanderte weiter Richtung Horizont und nichts ließ darauf schließen, dass der Rat zu einer Einigung kommen würde. Es war verständlich. Mimoun haderte deswegen auch nicht mit ihnen, doch seine Nervosität wich immer mehr einer Resignation. Mit jeder Minute, die verstrich, sank seine Hoffnung auf ein positives Ergebnis.

Als er schließlich wieder in den Ratskreis schritt, war es schon fast abends. Nun konnte er seine Gefühle nicht mehr verbergen. Unsicherheit, Furcht, stille Hoffnung. Mit diesen wild durcheinander wirbelnden Gefühlen sah er erwartungsvoll zu Addar auf. Dieser erwiderte den Blick ernst und ohne eine Gefühlsregung.

„Wir sind zu einer abschließenden Einigung gekommen.“, begann er endlich und Mimoun wurde noch unruhiger. Konnten sie nicht einfach sagen, zu welchem Ergebnis sie gekommen waren? „Wir verlangen regelmäßige Berichte. Wo ihr euch aufhaltet, welche Zwischenfälle es gab, Fortschritte, einfach alles. Ab und zu Besuche auf den Inseln, um Pflanzen wachsen zu lassen oder sonstige Hilfe zu geben.“

Es dauerte einige Augenblicke, bis die erhaltenen Informationen Sinn für Mimoun ergaben. Ungläubig weiteten sich die Augen und sein Unterkiefer klappte nach unten, ohne einen Ton hervorzubringen. Dann begann er zu strahlen und alle Spannung wich aus seinem Körper. Er sackte auf die Knie herab.

„Danke, danke, danke.“, murmelte er unablässig. Er wollte so schnell es ging zu seiner Insel zurück, jedoch weigerten sich seine Beine, sein Gewicht zu tragen. Zu sehr hatte ihn seine Erleichterung im Griff.

Addar und einige andere betrachteten den jungen Geflügelten schmunzelnd, aber es gab hier und da auch einige, denen man ansah, dass sie mit dem Beschluss nicht einverstanden waren. Es musste wohl ein knapper Mehrheitsbeschluss gewesen sein. „Du solltest nun gehen.“, fügte Addar schließlich an und Mimoun nickte. Zittrig erhob er sich und verließ den Ratkreis. Sein Blick in den Himmel schmälerte seine Freude. Die Sonne sank gerade und machte es ihm unmöglich, noch an diesem Tag zurückzukehren. Widerstrebend quartierte er sich bei seinen Gastgebern der letzten Tage ein. Dieses Mal musste er seine gute Laune nicht vortäuschen.

Und schon kurz nach Sonnenaufgang machte er sich auf den Heimflug. Obwohl er wusste, dass es weit war, auch wenn er wusste, wie lange er brauchte, die Zeit schien nicht vergehen zu wollen, die Strecke nicht geringer. Dann endlich sah er seine Heimatinsel. Schnell freute er sich noch einmal ausgiebig und setzte dann ein todernstes Gesicht auf.
 

Dhaôma hatte schlecht geschlafen. Schon in der ersten Nacht. Die Kinder schmollten mit ihm, weil er sich nur halbherzig mit ihnen beschäftigte. Sie verstanden nicht, warum es für Mimoun so schlimm war, zu diesem Rat zu gehen. Addar hatte ihnen gefallen. Er war wie der Älteste ihrer Insel ein netter alter Großvater.

Die meiste Zeit saß er untätig herum, die restliche Zeit ließ er eine Wintereiche wachsen, aus deren Früchten man auch Brot backen konnte. Das Gebäck war gut angekommen. Der Baum hatte jetzt schon beträchtliche Ausmaße und seine Wurzeln reichten fast bis hinunter zum See. Es war ein Plan gewesen, den er schon vor Wochen gefasst hatte. Um so einen großen Baum wachsen zu lassen, brauchte er genügend Wasser. Damit das klappen konnte, mussten die Wurzeln eben lang sein. Dann könnte er auch besser hinunter und hinauf klettern. Falls er das noch musste.

Immer wieder ging sein Blick in die Ferne, während seine Beine über den Rand baumelten. Ramon schlief auf seinem Schoß, Elin und Haru warfen sich eine Kugel aus Fenrahaaren zu. Dhaôma hatte sie für sie gemacht, um sie von sich abzulenken.

Als er Mimoun endlich erblickte, stand er auf. Geistesgegenwärtig hob er Ramon mit hoch, der davon erwachte und müde blinzelte. Schweigend wartete der Braunhaarige auf seinen Freund, doch als dieser endlich nah genug war, um sein Gesicht zu sehen, rutschte Dhaôma das Herz in die Hose. Die Anspannung die letzten Tage, die unwillkürlich aufgebaute Hoffnung, die gerade zerfiel, und die Freude, dass er wieder da war, füllten seine Augen mit Tränen. Aber er lächelte gefasst. Es war doch schön hier. Es ging ihm hier gut. Sie waren jetzt alle freundlich…

Still rollten die ersten Tränen über seine Wangen.
 

Mimoun landete dicht vor ihm. Er sah die Tränen und er kam sich ein klein wenig hinterhältig vor, aber er beschloss, es durchzuziehen. Mit einem resignierten Seufzen verschränkte er die Arme vor der Brust.

„Tut mir leid. Ich konnte es nicht ändern. Sie fordern volle Überwachung durch mich, regelmäßige Berichte über Position und Vorkommnisse und gelegentliche Besuche auf den Inseln zur Ergrünung und Erleichterung des Überlebens für die Dörfer.“ Er grinste verschmitzt.
 

Lauschend und bereits erwartend, was kommen würde, sah Dhaôma ihn an. Ramon klammerte sich ängstlich an ihn, ihm behagte die Stimmung nicht. Sekunden vergingen, in denen er zu begreifen versuchte, inwieweit diese Information mit dem Gesichtsausdruck zusammenpasste, bis der Inhalt der Worte das Verstehen erlaubte. Braune Augen weiteten sich, sein Mund öffnete sich, um etwas zu sagen, doch er konnte nicht. Mimoun hatte ihn geplättet.

Er durfte wieder hinunter? Wenn sie ab und zu hinaufkamen und Dörfer begrünten? Das war alles, was sie verlangten?

Ein erstickter Laut löste sich aus ihm. Eine Mischung aus Lachen und Schluchzen. Mit der Faust boxte er Mimoun vor die Brust, längst nicht stark genug, um ihm wehzutun. „Du gemeiner Kerl!“ Die Hand wanderte weiter hoch und zog den Hanebito in eine Umarmung. „Danke! Wirklich!“
 

Mimoun lachte ausgelassen. Dieses Wechselspiel der Gefühle auf Dhaômas Gesicht entschädigte ihn ausreichend für den Stress, den er gehabt hatte.

„Ich hab es dir doch versprochen.“, erwiderte er und manövrierte das Kind zwischen ihnen weg, damit es nicht zerquetscht werden konnte. Dann zog er seinen Freund eng an sich, schlang seine Flügel ebenfalls um ihn. „Nur haben wir ein kleines Problem. Ich habe erwähnt, dass du dir Frieden wünscht und alles dafür tust, das auch durchzusetzen. Also müssen wir uns wohl richtig dahinter klemmen. Und den Hohen Rat ständig auf dem Laufenden halten.“
 

„Macht nichts.“, murmelte Dhaôma erstickt in den schwarzen Schopf. Er hatte immer noch vor, Frieden zu schaffen, also war das in Ordnung. „Es ist schön, dass ich meinem Traum näher kommen kann.“ Es war schön, wieder frei zu sein. So frei, wie er gewesen war, bevor er sich auf seinen Weg gemacht hatte. Immer wieder bei denen melden, die glaubten, ein Anrecht an seinem Leben zu haben.

Letztlich waren es die Kinder, die sie wieder trennten. Haru, Dhara und Elin waren neugierig, was der hohe Rat gesagt hatte. Und als sie sahen, dass Dhaôma weinte, gingen alle vier gesammelt auf Mimoun los. „Du bist böse!“ Ramon strampelte sich aus Dhaômas Umarmung.

„Er hat sich doch Sorgen um dich gemacht!“

„Gemeinheit!“ Elin wollte gerade auffliegen, als der Magier sie einfing.

„Lass ihn. Er ist nicht böse.“

Enttäuscht blickte sie ihn an. „Aber du weinst.“

„Weil ich mich freue.“

„Deswegen weint niemand.“

„Ich schon.“ Dhaôma lachte leise, als das Mädchen in seine Wange piekte.
 

„Uiuiui.“, murmelte Mimoun und trat einen Schritt zurück. Diese kleinen Plagen verteidigten ihren Magier um jeden Preis. Sie dazu zu überreden, Dhaôma gehen zu lassen, würde auch noch ein Kraftakt werden. Was ihn daran erinnerte, dass er auch so einen Klammeraffen hatte.

„Wann?“, fragte er in die Runde. „Jetzt? Später? Morgen? Ich möchte nur wissen, wie viel Zeit ich habe, die Giftklette zu beschwichtigen. Die da...“ Er deutete grinsend auf die Kinder. „...sind schließlich dein Problem.“
 

„Wann darf ich denn?“, wollte Dhaôma wissen. „Wirklich jetzt gleich?“ Aber das konnten sie nicht machen. Er musste sich wenigstens verabschieden und seine Sachen zusammenpacken. „Gibt es keine Probleme, wenn wir morgen gehen?“

„Ihr wollt gehen?“ Harus Augen wurden groß. „Wohin? Dürfen wir mit?“

Lachend ging Dhaôma in die Knie. „Nein. Dazu seid ihr noch nicht stark genug.“ Zum Glück, wie er innerlich anfügte. Es war kein schöner Gedanke, Babysitter auf einer Reise spielen zu müssen.

„Und wohin?“

„Zur Schlucht des Todes und zum Großen Wasser.“

Ihre Augen wurden noch größer. „So weit weg?“

„Ist die Schlucht des Todes nicht gefährlich?“ Ramon zerrte an Dhaômas Hose. „Was, wenn ihr da sterbt?“

Hätte er doch nur nichts gesagt. Sein Mund war mal wieder schneller gewesen, als sein Kopf. „Nein. Wir sterben nicht. Ich möchte schließlich zurückkommen.“ Lächelnd wuschelte er durch dunkles Haar und stand wieder auf. „Mimoun, was denkst du? Ist morgen zu früh?“

„Jaaaa!“, plärrten die Kinder unisono.
 

Lachend breitete Angesprochener in einer offenen Geste die Arme aus und funkelte ihn amüsiert an. „Du bist frei. Entscheide selbst, was du wünscht.“ Er verneigte sich spöttisch. „Aber wenn du es wünscht, bereite ich schon einmal alles vor.“ Dann kam ihm ein biestiger Gedanke. Mimoun hockte sich hin und winkte eines der Kinder zu sich. „Vielleicht solltet ihr ganz viel mit ihm spielen, so dass er zu erschöpft ist, auch nur daran zu denken, von hier weg zu gehen.“, flüsterte er ihm ins Ohr. Es war gemein, das wusste er. Nichts würde Dhaôma davon abhalten, wieder nach unten zu gehen, aber zumindest hatten die Kleinen noch ein letztes Mal richtig viel Spaß.
 

Diese Worte sorgten dafür, dass Dhaôma den Rest des Abends weder Zeit hatte, noch einmal mit Mimoun zu reden, geschweige denn, um nachzudenken. Bis die Kinder ins Bett gerufen wurden, waren sie ständig um ihn herum und verlangten seine volle Aufmerksamkeit.

Es war längst dunkel, als er zurück ins Haus kam.
 

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Ich mag das Dorf. Und die Kinder. Die sind so Süß. ^^

Frei

Kapitel 23

Frei
 

Mimoun machte sich, nachdem er seinen Freund den Kindern vorgeworfen hatte, auf, seine Familie zu begrüßen. Diese hatte ihn schon sehnsüchtig erwartet. Silia warf sich, wie immer; wenn er länger weg gewesen war, sofort an seinen Hals. Ihr hatte es gar nicht behagt, dass er zum Rat geflogen war, vor allem weil der Grund dafür das erneute Verschwinden ihres Bruders zur Folge haben würde. Seine Mutter sah ihn einfach nur sorgenvoll an.

Mimoun schlang seine Arme um seine Schwester und zog sie fest an sich.

„Es tut mir leid.“, murmelte er. „Wir werden gehen.“ Entgegen seiner Erwartungen fing Silia nicht an zu zetern und zu schimpfen, sondern verstärkte nur den Druck und schluchzte lautlos. Cerel lächelte traurig und nahm dann beide Kinder in den Arm.

Mimoun fühlte sich elend. Schon wieder ließ er sie allein und im Ungewissen. Er würde zwar regelmäßig Nachrichten schicken, das es war aber nicht dasselbe, wie persönlich hier vorbei zu sehen. Es musste unerträglich für die beiden sein, ihn wieder gehen zu lassen.

„Verzeiht.“, flüsterte er erneut.

Den restlichen Tag verbrachte er damit, ihre Habseligkeiten zu packen und Vorbereitungen für die Reise zu treffen. Seine Mutter ging ihm dabei zur Hand, während Silia nur am Rand saß und beobachtete. Mimoun machte sich Sorgen. Sie sprach den ganzen Tag kein Wort und wirkte völlig in sich gekehrt. Auf seine Versicherung, er würde auf jeden Fall zurückkehren, lächelte sie nur traurig, schwieg aber.

Als er mit Packen fertig war, sprach der junge Geflügelte mit mehreren Dorfmitgliedern, erklärte ihnen, dass sie wieder auf die Reise gehen würden. Und dass es diesmal vielleicht länger dauerte, bis er zurückkehrte. Er bat sie, sich um seine Familie zu kümmern, was sie ihm gern versprachen.

Gegen Abend setzte er sich zu seiner Schwester, die noch immer wortlos in dem Vorraum hockte. Still lehnte sie sich an ihn und schloss die Augen.

Als die Schritte des Magiers erklangen, hob sie kurz den Kopf, bevor sie sich mit einer fließenden Bewegung erhob. Ihr Ziel war der Magier. Das erkannte Mimoun zu spät, sonst hätte er sie noch im Ansatz aufgehalten. Ohne Dhaôma eine Chance zur Reaktion zu lassen, ergriff sie ihn am Kragen und funkelte ihn mit einer Mischung aus Wut und Schmerz an.

„Sollte meinem Bruder deinetwegen irgendetwas zustoßen, werde ich dich finden. Ich werde dir das Leben zur Hölle machen und verlass dich drauf: Dein Leben wird lange währen, dafür sorge ich.“ Sie stieß den Magier von sich und verschwand in der Nacht.
 

Dhaôma blickte ihr nach. Sie hatte ihn überrumpelt. Im Grunde verstand er nicht einmal den Zusammenhang. Als würde er Mimoun schaden…

Entkräftet ließ er sich zu Boden sinken und legte Erdbeeren auf den Tisch. Sein Dankeschön an Mimoun.
 

Mimoun schaute ihr mit gemischten Gefühlen hinterher. Bedauern, sie wieder hier zurückzulassen, Mitgefühl, weil er sie verstehen konnte, leise Wut, weil sie es schon wieder gewagt hatte, seinen Freund anzugreifen.

Dann gerieten die Erdbeeren in sein Blickfeld und seine Gesichtszüge hellten sich auf. So wie Haru nach Himbeeren verrückt war, konnte man fast behaupten, dass er es nach Erdbeeren war. Hastig zuckte seine Hand nach vorne und fischte sich eine der Früchte heran.

„Danke.“, nuschelte er selig mit vollem Mund.
 

Lächelnd nickte Dhaôma und wandte sich dann an Cerel. Die Frau sah bekümmert aus. Schuldgefühle kamen in ihm hoch. „Mimoun hat es dir also schon gesagt.“ Sein Lächeln wurde mitleidig. „Es tut mir Leid.“ Er senkte den Kopf. Aber es hieß ja nicht, dass Mimoun nie wieder nach Hause kommen würde.
 

„Du brauchst dich nicht entschuldigen.“, wehrte sie mit einem traurigen Lächeln ab. „Das ist nun einmal der Weg, für den er sich entschieden hat. So ungern ich ihn gehen lasse, eine Mutter wünscht sich für ihre Kinder, dass sie glücklich werden.“
 

Diese Mutter jedenfalls. Dhaôma nickte.

„Ich weiß. Ich bringe ihn schon wieder zurück.“ Am besten im Winter, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Mimoun gerne in einer Höhle eingeschneit war. Aber wenn er daran dachte, drängte sich ihm eine Frage auf, die all die Schüchternheit der ersten Tage zurückbrachte. Zweimal setzte er an, bevor er Worte fand, die seine Kehle überschreiten konnten.

„Darf ich auch wiederkommen?“
 

Mimoun hatte dem Gespräch schweigend gelauscht und sah die Unsicherheit des Magiers. Er konnte nur still lächeln, während eine Beere nach der anderen ihren Weg in seinen Magen fand. Warum fiel es ihm nun auf einmal so schwer, eine einfache Frage zu stellen?

„Ich würde mich jederzeit über einen Besuch von dir freuen.“, antwortete Cerel unterdessen.

„Und würdest du nicht mehr hierher kommen, wären deine Anhänger dir ewig böse.“, fügte Mimoun grinsend hinzu. Es freute ihn wirklich, dass Dhaôma sich so gut mit seinem Dorf verstand.
 

Ah, ja, das stimmte. „Ich habe ihnen gesagt, dass sie mir nicht folgen dürfen. Sie wollten unbedingt mit.“ Er kicherte. „Ich freue mich, dass ich wieder kommen darf. Und dann aus eigener Kraft. Dann braucht Mimoun mir auch nicht mehr ständig bei allem zu helfen.“
 

Das verunsicherte Cerel. Sie hatte noch nie von einem Magier gehört, der fliegen oder aus eigener Kraft zu den Inseln gelangen konnte. Hilfe suchend sah sie zu ihrem Sohn, der angestrengt die letzte Beere von allen Seiten betrachtete, um herauszufinden, von welcher sie am besten zu vernaschen war.

„Wie möchtest du aus eigener Kraft hierher kommen können? Magier können nicht fliegen.“, sprach sie ihre Gedanken also aus.
 

„Eigene Kraft ist nicht ganz richtig.“, druckste Dhaôma herum. „Zumindest nicht, dass ich fliegen können werde. Nicht alleine.“ Er verstummte, sah sie an, dann holte er tief Luft. „Versprich, dass du mich nicht auslachst, wenn ich es dir sage, ja?“
 

„Warum sollte ich lachen?“, fragte sie verständnislos. Was auch immer es war, es war diesem Jungen ernst und wichtig.
 

Dhaôma holte tief Luft, als er sie ganz ernst fixierte. Sein Bruder hatte ihn ausgelacht, seine Eltern ebenfalls. Als sein Vater noch gelebt hatte, hatte er ihm sogar verboten, je wieder solchen Unsinn zu erzählen.

„Ich suche nach Drachen. Ich möchte ein Drachenreiter werden, die Gutes tun und Frieden bringen.“
 

Cerel lehnte sich zurück und schwieg. Ihr kam seine Bitte, nicht zu lachen, lächerlich vor. Das war etwas Großes, das er sich da vorgenommen hatte. Und selbst wenn schon seit Ewigkeiten kein Drache mehr gesichtet worden war, so deckte sich die Aussage des Magiers doch zum Teil mit dem, was Mimoun ihr über ihr weiteres Vorhaben erzählt hatte. Frieden bringen.

Sie sah zu ihrem Sohn hinüber. Dieser wich ihrem Blick aus. Er hatte ihr diesen Teil vorenthalten, gerade weil Drachen gefährlich werden konnten, sollten sie tatsächlich auf ein lebendes Exemplar stoßen.

Cerel wandte sich wieder Dhaôma zu und ihr ernstes Gesicht wurde weicher. „Um Frieden zu bringen, braucht ihr tatsächlich mächtige Verbündete.“, begann sie. „Aber geht beide bitte kein Risiko ein. Ich möchte euch gesund und wohlbehalten wieder sehen.“
 

„Keine Sorge.“ Dhaôma lächelte glücklich. Sie hatte nicht gelacht. „Ich werde weder mein und schon gar nicht sein Leben für diesen Traum opfern. Immerhin hat er mir meinen größten Traum schon erfüllt.“
 

Sowohl Mimoun als auch Cerel sahen den Magier aus erstaunten Augen an. Dann sahen sie einander an. Mimoun zuckte nur hilflos mit den Schultern. Bisher dachte er eigentlich, dass Drachenfinden Dhaômas größter Traum sei. „Und der wäre?“, fragte Mimoun zögerlich.
 

Hitze stieg in Dhaômas Wangen. „Dass du mein Freund bist.“, sagte er.
 

Diese Antwort machte auch Mimoun verlegen und er kratzte sich am Kopf. Was sollte er auch darauf antworten? Dabei war es doch verständlich. Zu lange war Dhaôma allein gewesen.

„Ich werde dir jeden deiner Wünsche erfüllen.“, fügte er dennoch an. „Ich werde immer an deiner Seite sein.“
 

„Das weiß ich doch.“ Der Junge kicherte leise. „Das ist es, weshalb ich dich Freund nennen kann.“ War doch ganz einfach. Freunde waren füreinander da.
 

Auch Cerel kicherte leise. Vor ihr saßen zwei unerfahrene Kinder, die das Leben und die Welt erforschen wollten.

Schließlich schob sie den Jungen das Abendessen hin. „Los. Greift zu. Ihr solltet euch für eure Reise stärken.“, verlangte sie und Mimoun folgte der Anweisung. Mit Bedauern stellte er fest, dass er die Erdbeeren vielleicht bis zum Schluss hätte aufheben sollen.
 

Das Essen verlief in Schweigen. Dhaôma war ausgepowert worden von den Kindern, dennoch beschloss er, am nächsten Tag noch einmal Regen zu rufen, bevor sie wieder lange Zeit kaum Wasser haben würden.

An diesem Tag schlief er wunderbar. Bei Sonnenaufgang war er wach, stellte sich in die Mitte der Hütten und gab seiner Magie freie Bahn. Schon beim ersten Versuch hatte er festgestellt, dass er den Rest des Tages keine Kraft mehr für weitere Magie hatte, aber das brauchte er auch gar nicht. Er würde laufen. Bis er nicht mehr konnte!

Der Regenguss durchweichte ihn völlig, wusch allen Schmutz von ihm, was er bei der Wärme genoss. Hochsommer war eine leidliche Zeit, auch wenn sie schöner war als der Winter.

Hinter ihm wurden einige Lederhäute beiseite geschoben, ohne dass er es bemerkte. Blaue Augen betrachteten die leuchtenden Zeichen auf seinem Rücken, die Regentropfen so sehr ähnelten, und die verschwommenen auf seinen Schultern. Jadya war von dem unerwarteten Regen aufgewacht. Sie hatte sofort gewusst, dass der Magier wieder einen seiner unglaublichen Zauber wirkte. Sie beobachtete ihn gerne dabei. Seit er die Rosen hatte wachsen lassen, hatte er ihr Herz erobert. Die Erinnerung an ihren Vater, der ihr jedes Jahr zum Geburtstag einen Zweig der duftenden Blumen mitgebracht hatte, war damit wieder so lebendig wie kurz nach seinem Tod. Außerdem hatte er Mimouns Flügel wieder geheilt. Das, was sie nur provisorisch hatte richten können, hatte er vollendet. Er hatte ihrem Schwarm sein Leben zurückgegeben. Gleich zweimal. Seit Wochen arbeitete sie deshalb an einem Geschenk für ihn. Sie hatte Leder und Felle von jedem erfragt, der von Dhaôma profitiert hatte. Die einzige, die sich geweigert hatte, war Silia gewesen, alle anderen hatten etwas beigesteuert. Selbst die Kleinen. Elin hatte den Pelz ihrer ersten Beute bereitwillig gegeben.

Und jetzt hatte sie gehört, dass er gehen würde. Er war wieder frei. Dank Mimoun. Es stimmte sie fröhlich und gleichzeitig traurig. Nicht zuletzt, da Mimoun mit ihm gehen würde. Silia schmollte deshalb und nervte mit ihrem Geheule, der Magier würde ihren Bruder wegnehmen. Sie sah auch nicht ein, dass er ihn ihr eigentlich wieder zurückgebracht hatte. Immerhin musste er nur wegen Dhaôma nicht zurück an die Front gegen die Magier.

Sie wusste nicht, wann der Regen nachließ, doch als der Braunhaarige seine Hände endlich senkte und das stetige Rauschen langsam in ein gleichmäßiges Regnen überging, trat sie vor. „Dhaôma?“

Er drehte sich um. Und strahlte. Wie er immer strahlte, wenn ihn jemand ansprach. „Jadya! Guten Morgen. Du bist aber früh auf.“

„Na, das Kompliment gebe ich gerne zurück.“ Sie lächelte, als er zu kichern begann. Sie hatte von ihm erfahren, dass er sich das angewöhnt hatte, weil seine Familie um die Zeit noch schlief und er sich fort schleichen konnte. „Gehst du wirklich heute?“

Dhaôma sah sie an, sein Lächeln ging. Er wirkte bekümmert. „Es ist schon so spät im Jahr. Wenn ich noch ein Stück vorwärts kommen will, sollte ich gehen.“

„Aber kannst du nicht noch einen Tag warten? Dann könnten sie sich von dir verabschieden.“

„Aber ich komme doch wieder.“

„Ehrlich?“

„Cerel hat es mir erlaubt. Aber natürlich frage ich Oldon noch, ob ich darf.“

„Selbstverständlich darfst du.“, rief sie, doch die Entrüstung schwächte sich schnell in Milde. „Geh wenigstens erst gegen Mittag. Gib ihnen eine Chance, dir das auch zu sagen.“

Dhaôma musste wieder lächeln. „In Ordnung. Einverstanden. Danke, Jadya.“

„Wofür?“

„Dass du mir das gesagt hast. Ich war mir nicht sicher, ob es nicht sowieso als Flucht aufgefasst würde.“

„Viele werden so denken.“

„Das ist schade. Ich bin gerne hier oben.“

„Ehrlich?“

„Es ist doch schön, nicht?“

„Doch.“ Sie lachte leise. Seine Argumentation war genauso unvorhersehbar wie häufig. Und genauso direkt. „Nur von dir hätte ich das nicht gedacht.“ Sie strich sich einige Haare hinter das spitze Ohr, doch der sanfte Regen spülte sie wieder nach vorn.

„Warum nicht?“

„Weil du hier gefangen warst. Weil du nicht weg konntest. Und weil es nicht ist wie unten.“

„Es hat andere Qualitäten. Die Aussicht ist toll und die Bewohner gefallen mir. Und die Kinder, die so gerne lernen, mag ich.“

Wieder lachte sie. So unbedarft! Sie trat zu ihm und umarmte ihn. „Pass gut auf Mimoun auf, ja? Er ist gut darin, in Schwierigkeiten zu geraten.“

„Mache ich. Versprochen.“

Jadya ließ ihn wieder los, ihre Wangen waren gerötet. „Danke. Und vergiss nicht: nicht vor Mittag!“

„Versprochen!“ Dhaôma winkte ihr nach, als sie zu den Gruben ging. Sie war lieb. Und hatte Mimoun gern.
 

Das gleichmäßige Plätschern hatte ihn langsam aus seinen Träumen geholt. Träge sah Mimoun zur Decke und lächelte. Dhaôma gab wieder alles für das Dorf. Kurz streckte er sich und rollte sich auf die andere Seite. Auf den Regen lauschend döste er noch eine ganze Zeit vor sich hin. Erst als es nachzulassen begann, erhob er sich und wandte sich nach draußen. Dort sah er noch, wie Dhaôma von Jadya umarmt wurde, als sie sich schon von ihm löste, ihre Wangen gerötet. Mimoun runzelte die Stirn. Sollte sich da gerade etwas anbahnen? Nun, da sie gehen wollten?

Als Jadya sich abwandte, trat er auf seinen Freund zu, grinste ihn an und nickte in die Richtung des davon eilenden Mädchens. „Sie ist ein liebes Mädchen, nicht wahr? Magst du sie?“, wollte er wissen.
 

„Ja. Sie ist nett.“, sagte Dhaôma und wandte sich ihm zu. „Sie sagte, dass wir erst nach Mittag gehen dürfen. Sie will, dass wir uns verabschieden.“ Sein Kopf drehte sich zu den zerfasernden Wolken, aus denen nur noch sachter Regen fiel. „Mimoun, ich habe gar kein Dankeschön für sie. Dafür, dass sie mich hier aufgenommen haben. Ich meine, ich habe Regen gerufen, aber das kommt mir so gering vor.“
 

Schwer seufzte Mimoun, stemmte die Hände in die Hüften und scharrte mit den nackten Füßen im feuchten Untergrund. Der Blick, den er seinem Freund von unten zuwarf, war sehr ernst.

„Du Riesenidiot.“, brummte er, trat einen weiteren Schritt auf Dhaôma zu und schlang seine Arme um dessen Körper, trug ihn empor. Weit über der Insel löste er eine Hand von seinem Freund und deutete nacheinander auf die Dinge, die er auflistete. „Wieder ergrünte Obstbäume und gedeihende Gärten. Fische im See. Regen, um unsere Wasservorräte aufzufüllen. Du hast so viel für dieses Dorf getan, du Dummkopf. Was willst du denn noch tun?“ Mimoun landete wieder und stellte Dhaôma ab. „Du hast dich schon ausreichend bedankt, glaube mir.“
 

Zweifelnd nickte Dhaôma. Aber das war okay. Er hatte eh nichts Materielles zu geben, wenn seine Magie da ausreichte, sollte es ihm recht sein.

Sie kehrten zurück in die Hütte, deckten den Tisch und warteten darauf, dass Cerel aufstand, was bei ihrer Aktivität nicht lange dauerte. Das Frühstück bestand aus den üblichen Trockenfrüchten und Fleisch und frischem Wasser. Dann packte ihnen Cerel Proviant für die nächsten Tage ein, genug, damit sie zwei Tage keine Jagd veranstalten mussten. Sogar zwei Wasserschläuche waren dabei, noch ungefüllt, damit die Reise zum Erdboden nicht so schwerwiegend war.

Danach verabschiedete sich Dhaôma für einen Moment, weil er noch Oldon besuchen wollte, um ihn zu fragen, ob er wiederkommen durfte. Zu seiner Überraschung war das Dorf schon komplett auf den Beinen.
 

Mimoun war ihm gefolgt. Nun, da es nichts mehr zu packen gab und alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, wollte er die letzten Augenblicke inmitten der Dorfgemeinschaft verbringen. Auch er war nicht minder erstaunt, als er alle versammelt sah. Obwohl. So erstaunlich war das eigentlich nicht. Der junge Geflügelte hatte ja am Vortag angekündigt, dass sie wieder gehen würden. Zwar war kein Zeitpunkt festgelegt worden, doch irgendwie schien jeder davon auszugehen, dass sie so schnell wie möglich von hier verschwinden wollten. Und natürlich wollten sie sich alle verabschieden. Das erfüllte Mimoun mit Wärme und Geborgenheit.
 

Jadya zwinkerte ihnen zu, dann deutete sie auf Oldon, der noch etwas müde aussah. Es war allgemein bekannt, dass dem Alten die Hitze des Sommers gehörig zusetzte. Jetzt jedoch sah er ihnen entgegen.

Dhaôma ging zu ihm und grüßte ihn freundlich.

„Danke für die Abkühlung.“, antwortete der Alte. Seine Augen zeigten eine ungewöhnliche Tiefe. „Jadya hat erzählt, dass ihr schon heute Mittag gehen wollt.“

Der braunhaarige Magier nickte, bevor er genauso schüchtern wie bei Cerel den Kopf senkte und sich sammelte. „Darf ich wirklich wiederkommen?“, fragte er leise.

Es rührte Oldon; das sah man deutlich. „Es freut mich zu hören, dass du freiwillig zurückkommen möchtest. Ich hatte mich schon gefragt, ob du deshalb so schnell verschwindest, weil du nicht mehr hier sein möchtest.“

„Das ist es nicht. Ich möchte gerne weiterreisen. Ich möchte die Schlucht des Todes besuchen und mich dort umsehen. Und ich möchte zum Großen Wasser.“

„Zum Großen Wasser könnten wir dich bringen. Es ist nur ein paar Tagesreisen von hier entfernt.“

Durch die Luft, das war Dhaôma bewusst. „Ich möchte es gerne aus eigener Kraft schaffen. Ich möchte mir beweisen, dass ich aus eigener Kraft meine Träume erreiche.“

Oldon nickte zustimmend. Die Antwort gefiel ihm. Früher war er auch so gewesen, hatte sich erproben wollen und seinem eigenen Weg folgen müssen. Das war der Grund, warum er Mimoun nun schon zum zweiten Mal gehen ließ. „Und wann werdet ihr wiederkommen? Wann können wir mit euch rechnen?“

„Ich weiß es noch nicht. Das kommt darauf an, wie schnell wir vorankommen.“

Inzwischen waren auch die anderen herangekommen, aber Dhaôma fühlte sich von ihnen nicht mehr bedroht. Es war ganz natürlich, dass sie alle da waren. Wie eine überdimensionale Familie.

Haru zog an seinem Ärmel und sah ihn kläglich an. „Komm bald wieder!“, forderte er.

Elin hatte Tränen im Gesicht und klammerte sich an ihren Vater. Als er sie ansah, versteckte sie sich, was ihm Leid tat.

Jadya schob sich durch die Menge in den Kreis. Ein kurzer Blickwechsel und ein Nicken von Oldon und sie tippte Dhaôma an. „Wir wollen mittags zusammen unter den Obstbäumen essen. So, wie du es einmal vorgeschlagen hast.“ Die Kinder hatten ihr von der Idee erzählt und das Dorf hatte beschlossen, dass es eine schöne Art war, sie zu verabschieden. Es war zwar nicht üblich, mittags etwas zu essen, aber darum ging es nicht. „Und wir wollen dir etwas schenken. Jeder hat mitgeholfen, jeder hat etwas beigesteuert. Eigentlich solltest du es erst im Winter bekommen, weil Mimoun ja gesagt hat, dass du Kälte nicht so gut erträgst, aber wenn du gehen willst, bekommst du es eben schon heute.“ Mit einem weichen Lächeln hielt sie ihm ein in Leder geschlagenes Bündel hin. „Schau es dir an. Es ist, damit du dich an uns erinnerst.“

Mit roten Wangen nahm der Junge das Geschenk an und löste das Band, das es hielt. Hervor kam ein armlanger Poncho aus Pelz. Er war genauso bunt, wie sein Umhang früher gewesen war, und aus noch mehr verschiedenen Tierhäuten gefertigt. Das Leder war so weich wie das seiner neuen Kleider, aber er fühlte, dass es gegen Wasser behandelt worden war.

„Danke!“, sagte er gerührt. „Das ist wirklich lieb von euch.“ Er drückte das Kleidungsstück fest an seine Brust und die Nase hinein, weil er vor Rührung nicht wusste, was er sagen sollte. Ihm wurde nicht so oft etwas geschenkt. Und noch nie war ihm etwas so wertvoll erschienen. „Ich passe gut darauf auf.“

Elin kämpfte sich auf den Boden und zerrte Dhaôma zu sich herunter. Sie wühlte kurz in dem Pelz, bevor sie auf einen Teil zeigte. „Der ist von mir!“, sagte sie stolz und er wuschelte ihr lachend durch das rote Haar.

„War das nicht deine erste Beute?“ Er erinnerte sich daran, wie sie ihm das Kaninchen stolz gezeigt hatte.

Sie nickte ernst. „Damit du weißt, dass ich dich gern habe.“

„Vielen Dank.“

Sie begann wieder zu weinen. „Ich will nicht, dass du gehst.“ Verzweifelt bittend sah sie ihn an.

„Ich komme bestimmt wieder. Versprochen.“
 

Mimoun hatte sich die Szene schweigend angesehen und der Kloß in seinem Hals wuchs mit jeder Minute. Auch er hatte nichts von diesem Geschenk gewusst. Selbst hinter seinem Rücken hatten sie an dem Geschenk für Dhaôma gearbeitet. Und dann wollten sie noch ein gemeinsames Essen veranstalten. Sie hatten den Magier damit zu einem Teil des Dorfes gemacht. Er war endgültig ein Teil der Familie geworden.

Der junge Geflügelte lächelte gerührt, als Elin auf den Teil zeigte, den sie beigesteuert hatte, und aus dem Lächeln wurde ein amüsiertes Schnauben, als Dhaôma erneut erwähnte, dass er wiederkommen würde. Eilig schritt er auf ihn zu, hockte sich neben ihn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Sag mal: Ich werde euch auch vermissen.“ Er grinste seinen Freund auffordernd an.
 

Erstaunt weiteten sich seine Augen. Hatte er das nicht längst? Nur deshalb wollte er doch überhaupt wiederkommen! Aber er erinnerte sich daran, dass es manchmal anders auszudrücken war bei den Hanebito, dass man hier manchmal sehr direkt sein musste, um etwas zu sagen.

„Ich werde euch auch vermissen.“, sagte er deshalb und drückte wieder den Poncho gegen seine Wangen. „Weil ich doch gerne hier bin.“
 

Zufrieden nickte Mimoun und sah dann zu den anderen empor, um ihre Reaktionen auf diese Aussage zu sehen. Die Kleinen kamen allesamt an und klammerten sich schluchzend an ihn, die Erwachsenen reagierten zurückhaltender, aber ebenso emotional. Ihnen schien diese Aussage tatsächlich nahe zu gehen, wie Mimoun sehr erfreut feststellte.

„Na kommt.“, unterbrach Oldon schließlich die von Schluchzern der Kinder durchzogene Stille. „Für tränenreiche Abschiede haben wir nachher noch Zeit. Bereiten wir erst einmal die Feier vor.“ Viele der Erwachsenen nickten und verschwanden in den Hütten. Mimoun ließ sich endgültig neben Dhaôma auf den Boden sinken. Für sie wurde das Fest veranstaltet. Man wäre nicht erfreut, wenn er versuchen würde, zu helfen. Da konnten sie sich noch ein wenig mit den Kindern beschäftigen.
 

Die Kinder vergaßen schnell, dass es eigentlich Dhaômas letzter Tag war. Sie spielten genauso ausgelassen wie immer, bis sie alle gerufen wurden. Dann war die Beklommenheit wieder da. Es war selbstverständlich, dass sie neben ihrem Spielkameraden saßen, genauso wie es selbstverständlich war, dass Silia neben Mimoun saß. Das Mädchen stellte ein derartig finsteres Gesicht zur Schau, dass jeder perfekt sehen konnte, dass sie absolut nicht damit einverstanden war, was hier geschah.

Dhaôma verstand es, aber er fand es nicht in Ordnung. Ignorierte er es normalerweise, wenn ihn jemand nicht leiden konnte oder ihm Abneigung entgegenbrachte, so hätte er Silia wirklich gerne mal die Meinung gesagt, dass sie aufhören sollte, ihren Bruder in emotionale Ketten zu legen. Aber erstens ging ihn das Ganze nichts an und zweitens traute er sich nicht zu, gegen sie zu bestehen. Und solange Mimoun allein mit ihr klar kam, bedurfte es seiner Einmischung nicht. Trotzdem fiel es ihm ungewöhnlich schwer, ihr Verhalten zu übergehen.

Es gab Hirsch. Und zur Feier des Tages gab es sogar ein Feuer, auf dem das Fleisch gegrillt wurde. Viele konnten zubereiteten Speisen noch immer nichts abgewinnen, aber einige waren durchaus auf den Geschmack gekommen, auch geräuchertes oder gegrilltes Fleisch zu sich zu nehmen. Und ein paar konnten sogar Dhaômas Gewürzen etwas abgewinnen.

Insgesamt wurde es recht lustig und der braunhaarige Magier verspürte eine ganz eigene Magie an diesem Ort. Niemals hatte er sich irgendwo so willkommen gefühlt. Zuhause bei seiner Familie schon gleich gar nicht, aber selbst hier auf der Insel war er bisher eher ein Störenfried gewesen, aber seit er gesagt hatte, dass er freiwillig wiederkommen würde, war es anders. Die Atmosphäre hatte sich geändert, war angenehmer geworden. Vielleicht lag es daran, dass er jetzt kein Gefangener mehr war, vielleicht lag es daran, dass sie begriffen, dass er durchaus gehen konnte, vielleicht hatte er es auch bisher einfach übersehen, aber ihm gefiel die Veränderung. Sie macht es ihm leichter, zurückzukommen.

Die Sonne überschritt den Zenit um ein gutes Stück, bevor sich die beiden loseisen konnten. Als Mimoun und Dhaôma schließlich aufstanden, waren selbst die Kinder ungewöhnlich zahm. Sie heulten nicht, sondern verlangten von Dhaôma nur mit gefassten Gesichtern, dass er sich beeilen sollte, ganz schnell zurückzukommen. Am besten noch vor dem Winter. Lächelnd schloss er sie in die Arme.
 

Während sich Dhaôma von den Kindern verabschiedete, hatte sich Mimoun von seiner Familie wieder in die Rüstung helfen lassen. Erneut händigte Silia ihm ihre Kette aus. Nach dem letzten Zwischenfall fühlte sich Mimoun ein wenig unwohl. Diesmal würde er noch sorgfältiger auf den Stein aufpassen müssen. Dass sie diesen Anhänger sowieso aus der Hand gab, fand der junge Geflügelte schon ein wenig riskant. Wenn er daran dachte, was sie nun vorhatten.

Nachdem er sich von seiner Familie und seinem Dorf verabschiedet hatte, wandte er sich Dhaôma zu und wartete, bis dieser ebenfalls fertig war. Nachdem er sich all ihre Habseligkeiten störungsfrei an den Körper gebunden hatte, hob er seinen Freund hoch. Mit einem letzten Gruß Dhaômas an das Dorf ließ sich Mimoun von der Kante kippen. Doch schnell spannte er seine Flügel auf. Zu anstrengend wäre spätes Abfangen. In Spiralen ließ er sich vom Wind gen Boden tragen. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie sich auch die Dorfgemeinschaft in die Luft erhoben hatte. Aber sie blieben zwischen den Inseln schwebend und winkten abschließend, was von Dhaôma für sie beide erwidert wurde.

Da er wusste, dass dem Magier Laufen momentan wichtiger war als Vorwärtskommen, stellte er ihn beinahe direkt unter der Heimatinsel auf der Ebene ab. Bevor dieser aber um einen Teil des Gepäcks bitten konnte, erhob sich Mimoun wieder in die Luft und deutete in die entsprechende Richtung.
 

Zuerst verzog Dhaôma etwas misstrauisch das Gesicht, aber dann befand er es als praktisch. Wie lange war es her, dass er laufen konnte? Einfach laufen? Ohne nach spätestens hundert Metern abbrechen zu müssen?

Lachend winkte er nach oben zu Mimoun, dann rannte er los. In die angegebene Richtung. Bei jedem Schritt schlugen lange Gräser um seine Beine, während seine Füße sich kraftvoll vom Boden abdrückten. Es war egal, was irgendjemand denken mochte. Übermut hatte ihn fest im Griff, da war es auch egal, wenn eine kleine Felsspalte oder ein ausgetrockneter Fluss im Weg waren. Er sprang darüber oder hinein, um dem Lauf für einen kurzen Moment zu folgen. Nicht einmal die Hitze störte ihn wirklich. Es war ein tolles Gefühl, frei laufen zu können. Und es war faszinierend, wie lange er durchhielt. Die dünne Luft hatte seine Lungen ausdauernder gemacht.

Irgendwann wurde er langsamer, warf sich ins Gras und schloss schwer atmend die Augen. Er war ausgepowert und glücklich.
 

Die ganze Zeit hielt sich Mimoun oberhalb des Magiers. Der Übermut und die gute Laune des unter ihm Rennenden übertrugen sich auch auf ihn. Ausgelassen schlug er Kapriolen, auch um nicht zu weit voraus zu fliegen.

Als Dhaôma schließlich stoppte und sich ins Gras warf, landete der junge Geflügelte dicht neben ihm und befreite sich von seinem ganzen Ballast. Er selbst streckte sich nicht im Gras aus. Es reichte ihm inmitten der hohen Gräser zu sitzen und sich die Sonne auf die Haut brennen zu lassen. Seine Flügel spannte er wie einen riesigen Fächer auf, bewegte sie leicht, um Wind zu erzeugen. So versuchte er der Hitze Herr zu werden.

Amüsiert funkelte er auf Dhaôma herab. Völlig erschöpft lag dieser da und rührte sich nicht mehr. „Fühlst du dich nun besser?“, fragte er zaghaft an.
 

„Und wie!“ Der Junge lächelte ihn an, bevor er zu lachen anfing. „Ich hätte nie gedacht, dass rennen so einen Spaß macht. Und dass es mir wirklich noch einmal zu warm werden würde!“ So lange hatte er gefroren, dann war es angenehm geworden. Hier unten aber war es einfach nur zu warm.
 

Mimoun rutschte ein wenig herum und spannte einen Flügel als Sonnenschutz über seinen Freund. Der andere fächelte ihnen weiterhin Luft zu, so gut es eben ging.

„Dann sollten wir uns schnellstmöglich eine kühlere Gegend suchen. Oder zum Fluss kommen. Der verspricht Abkühlung.“ Es freute ihn zu hören, dass sich Dhaôma endlich wieder wohl zu fühlen schien.
 

Träge nickte der andere, bevor er sich ruckartig aufsetzte. Sicher, der Fluss. Sie waren meilenweit davon entfernt. Er hatte keine Zeit, sich auszuruhen. Das konnte er im Winter machen!

„Wie weit ist es bis zum Fluss? Kann ich das schaffen?“
 

„Wir sind einen ganzen Tag geflogen, falls du dich nicht mehr daran erinnern solltest. Und die Insel ist weiter gezogen. Schaffen wirst du es, keine Frage. Aber nicht mehr heute. Es wird zu Fuß sicher seine Zeit dauern.“, gab Mimoun zurück. Erschreckt hatte er den Flügel zurückgezogen, als sein Freund sich aufgesetzt hatte. Es kam zu unerwartet und beinahe wäre Dhaôma dagegen gestoßen. Er klappte beide wieder an und begab sich in die Hocke, die Arme auf den Oberschenkeln abgestützt.
 

Nachdenklich nickte der Braunhaarige. Ja, er erinnerte sich. Aber das bedeutete, dass er dieses Jahr wohl kaum noch irgendwas schaffen konnte.

Seufzend erhob er sich. „Tja, vielleicht kommen wir heute nicht bis dahin, aber wenn ich mich beeile wenigstens bis zum Winter. Oder überschätze ich mich da?“ Er fühlte sich entmutigt. Die Schlucht des Todes war doch schon in greifbarer Nähe gewesen, aber jetzt war selbst der Fluss in fast unerreichbare Ferne gerückt. Sein ungewollter Ausflug zu den Hanebito hatte ihn nicht nur zeitlich, sondern auch geographisch zurückgeworfen.
 

Zweifelnd betrachtete der Geflügelte seinen Begleiter. Dieser sah gar nicht mehr nach Enthusiasmus und Elan aus, eher das Gegenteil. „Soll das etwa heißen, du gibst jetzt schon auf? Warum hab ich mir erst diese Mühe gemacht?“ Kopfschüttelnd erhob er sich ebenfalls. „Wenn du noch eine Weile aufs Laufen verzichtest und dich an mich dran hängst, zumindest streckenweise, können wir Zeit sparen. Nur wenn du willst, versteht sich.“
 

Das wäre natürlich praktisch, aber andererseits bedeutete es, dass er es eben nicht alleine schaffte, sondern Hilfe in Anspruch nahm, die über die einfache Freundschaft hinausging, oder? Andererseits bedeutete Zeit sparen, dass sie die verlorenen Monate aufholten.

„Mimoun, was soll ich machen?“, wollte er wissen.
 

„Ich verstehe nicht ganz.“, gestand Mimoun mit verschränkten Armen. „War mein Vorschlag vielleicht so… ich weiß nicht, abwegig ist irgendwie das falsche Wort.“
 

Tief holte Dhaôma Luft. Er hatte schon einmal versucht, Mimoun klar zu machen, dass er nicht gut darin war, Entscheidungen zu treffen, die auch andere betrafen. Also würde er das ein weiteres Mal probieren.

„Ich möchte mein Ziel erreichen. Und das wenn möglich mit meiner eigenen Kraft. Aber ich will auch schnell vorwärts kommen und deine Hilfe in Anspruch nehmen, aber das ist mit all dem Gepäck nicht schön für dich. Und dann… Ist es nicht so, dass wir immer wieder hinauf müssen? Dass die Strecke, die ich laufe, nicht mehr die gleiche bleibt, dass der Weg immer wieder unterbrochen ist? Ich weiß nicht, was das Beste ist. Ich finde den richtigen Weg nicht mehr, der vorher so klar war. Auch, weil ich nicht weiß, ob dir gefällt, was ich sage. Und ob es nicht gefährlich ist für dich. Und…“ Er verstummte. Wieder einmal hatte er sich verrannt. In seiner Angst vor Silias Drohung, ihren Bruder nicht in Gefahr zu bringen. Wie sollte er eine Reise voller Ungewissheiten angehen, wenn er seinen Begleiter ununterbrochen schützen musste?
 

Einen Moment lang ließ er die Worte auf sich wirken, dann nickte Mimoun. Das war also das Problem.

„Gut. Fangen wir mit den kleinen Schwierigkeiten an.“, begann er und klaubte sich einen Teil des Gepäcks zusammen. Nach einer einladenden Geste lief er in die einzuschlagende Richtung. „Ob es gefährlich für mich wird. Meine Güte, wir suchen Drachen. Natürlich wird es früher oder später gefährlich. Und zwar für uns beide. Ob mir gefällt, was du sagst…“ Mimoun stockte kurz in seiner Rede und sah Dhaôma lächelnd von der Seite her an. „Ich weiß nicht, wie häufig ich es schon gesagt habe, aber wenn du möchtest, sage ich es dir immer wieder aufs Neue: Ich bleibe bei dir, egal wohin dein Weg dich führt. Ich lasse dich niemals allein, werde immer an deiner Seite sein. Den Weg bestimmst du. Ich folge dir nur und unterstütze dich mit all meinen Kräften und Fähigkeiten.“ Erneut stockte er, um einen Schluck aus seiner Wasserflasche zu nehmen. Solange er nicht flog, wirkte die Sonne mit ihrer ganzen Kraft auf ihn. „Wenn dein Weg dir nicht mehr klar erscheint, bring ich dich eben schnellstmöglich zum Fluss zurück. Vielleicht findest du ihn dort wieder. Dort wurden wir ja unterbrochen. Die Regelmäßigkeit der Nachrichten bezieht sich auf Zeit, nicht auf Entfernung. Es ist egal wie weit du in der Zwischenzeit läufst. Und Dörfer unterbrechen unsere Reise maximal einen Tag. Da nicht festgelegt wurde, welche du begrünen sollst, nehmen wir die, die auf unserem Weg liegen. Hoch, rumzaubern, runter, ausruhen, weiter. Ist doch kein Problem.“
 

Schnell nahm Dhaôma den Rest der Sachen und folgte seinem Freund. Dessen Worte klangen so unkompliziert. Für Mimoun war immer alles ganz einfach. Sogar, dass er für ihn seine eigenen Wünsche zurückstellte.

Lächelnd nickte der Junge. „Dann würde es mir, denke ich, gefallen, wenn du mich zum Fluss bringen könntest. Es ist wirklich zu warm hier. Und vielleicht hast du ja Recht und ich finde meinen Weg dort wieder.“ Seufzend betrachtete er sich seinen Freund. Ob Mimoun Hitze genauso gut ertrug wie Kälte? „Solange das okay ist für dich.“
 

Mit einem amüsierten Lächeln nickte Mimoun. Das war sein Magier. „Ein Stückchen dürfte ich heute noch schaffen. Und je schneller wir zum Fluss kommen, desto besser, finde ich.“

Der Geflügelte ruckelte wieder alle Habseligkeiten an seinem Körper zurecht und hob dann Dhaôma hoch. Für den Flug suchte er sich Luftströmungen, die in kühleren Höhen über das Land zogen. Nicht selten brachten sie ihn auch ein wenig von seinem Kurs ab, doch solange die Hauptrichtung bestehen blieb, reichte es.

Fast zwei Stunden später musste er dann wieder landen. Hätte er nur den Magier zu tragen, hätte er noch einige Zeit durchhalten können, doch er trug noch Rüstung und Gepäck.

„So. Das war’s für heute. Ab jetzt heißt es laufen.“, bestimmte er und reichte Dhaôma wieder seine Sachen.
 

Die Sonne stand schon recht tief, dennoch beschlossen sie, noch ein wenig weiterzulaufen. Das lag nicht zuletzt an Dhaôma, der sich noch bewegen wollte. Als sie bei Sonnenuntergang endlich ein Lager aufschlugen, waren sie beide todmüde. Immerhin waren sie schon seit langer Zeit wach. Seine letzten Kräfte verwendete der Braunhaarige dafür, sein Abendbrot zu vertilgen und danach unter größter Anstrengung seine kleine Nase-Betäubungs-Blume wachsen zu lassen. Anschließend schloss er dankbar und zufrieden die Augen.

„Es ist schön, wieder zu reisen. Ich habe das wirklich vermisst.“
 

„Ist mir gar nicht aufgefallen.“, murmelte Mimoun schmunzelnd für sich. Erschöpft hatte er sich dort, wo er gestanden hatte, im Gras ausgestreckt. Die Kühle der Nacht lag angenehm auf seiner Haut, auch wenn nicht viel zu der Hitze des Tages fehlte. Er wusste schon, warum sie sich im Sommer nicht übermäßig lange hier unten aufhielten. Diese Wärme war ja furchtbar. Diese und andere nutzlose Gedanken streiften durch seinen Geist als er langsam in einen traumlosen Schlaf driftete.
 


 


 


 

Let me be your wings

Let me lift you high above

Everything we're dreaming of will soon be ours

Anything that you desire

Anything at all

Everyday I'll take you higher

And I'll never let you fall
 


 

[Däumelinchen]

Unterwegs

Kapitel 24

Unterwegs
 

Der nächste Tag begann mit angenehmer Temperatur, doch Mimoun ahnte nach einem Blick in den Himmel, dass es nicht dabei bleiben würde. Sehr schnell würde die Sonne wieder ihre volle Herrschaft ausleben. Es war besser, sie zogen weiter, solange es noch erträglich war.

Sich noch müde über die Augen reibend, richtete er sich auf. Die Nacht war zu kurz gewesen.
 

Sie flogen fast drei Tage durch. Immer wieder musste Mimoun Pausen machen, wenn er gerade keine schöne Luftströmung fand. Glücklicherweise wurden es mit zunehmenden Temperaturen nachmittags auch mehr Aufwinde, die ihm beim Segeln halfen. Zur Belohnung bekam er ein ganzes Feld voller Erdbeeren. Recht viel mehr konnte Dhaôma zu dieser Etappe der Reise nicht beisteuern, bis sie den Fluss erreichten.

„Magst du schwimmen gehen?“, fragte er, als Mimoun wieder einigermaßen bei Atem war. „Das Wasser ist kalt.“ Das hatte er schon festgestellt, als er ihre Schläuche nachgefüllt hatte.
 

Die Erdbeeren ließ er erst einmal völlig außen vor. So sehr ihm auch das Wasser im Munde zusammenlief. Zuerst brauchte er Wasser auf andere Weise. Mit zittrigen Fingern löste er die Schnallen seiner Rüstung und ließ sie achtlos zu Boden gleiten, gefolgt von seinen Kleidern.

Sein Weg führte ihn geradewegs in die Fluten. Sanft umspielten die Wellen seinen Körper, trugen den Schweiß und die Anstrengungen der letzten Tage mit sich fort. Doch lange stand er nicht darin. Es vergingen nur wenige Augenblicke, da suchte er sich einen Uferstreifen, der einerseits die Möglichkeit bot, liegend komplett unter Wasser zu sein. Andererseits brauchte er auch eine Möglichkeit seinen Kopf abzulegen, ohne Gefahr zu laufen zu ertrinken. Als er etwas Geeignetes gefunden hatte, verschwand er fast völlig im Wasser. Nur knapp ragte seine Nasenspitze hervor, die bei jeder etwas zu hoch geratenen Welle Wasser hervorprustete.
 

Kichernd legte auch der Magier seine Kleidung ab. Jadyas Arbeit sollte wenn möglich geschont werden.

Das Wasser war angenehm kühl. Ein schöner Kontrast zu der Hitze des Tages. Und um ihre Vorräte zu schonen, beschloss Dhaôma, Fisch zu jagen. Es gelang ihm annehmbar, denn zusammen mit den Kleinen hatte er von Nobu das Fischejagen mit einem Speer gelernt. Danach genoss er es, durch das niedere Gestrüpp zu geistern und Holz für ein Feuer zu sammeln. Und während Mimoun im Wasser einweichte, entfachte er die Flammen und grillte die Fische. Kurz bevor sie fertig waren, ging er zu Mimoun und hockte sich leicht auf dessen Bauch, legte gerade soviel Gewicht auf ihn, dass er ihn ein wenig tiefer zu drücken drohte. Solange die niedlichen spitzen Ohren unter Wasser waren, konnte er ihm ja nicht sagen, dass das Essen fertig war. Da musste er schon um Aufmerksamkeit heischen.
 

Mit geschlossenen Augen lauschte er dem Glucksen des Wassers und ließ sich davon einlullen. Und so kam das Gewicht auf seinem Bauch ein wenig unerwartet. Vor Schreck schluckte Mimoun Wasser und kam prustend wieder an die Oberfläche. Einen Arm vor den Mund haltend, hustete er krampfhaft. Böse funkelte er seinen Freund an.

„Sitzt du bequem?“
 

Zuerst war Dhaôma besorgt, aber als er die Frage hörte und der Hustenreiz vorbei war, grinste er frech und legte sein ganzes Gewicht auf den Bauch seines Freundes. „Jetzt schon.“
 

„Freut mich für dich.“ Ein vereinzeltes Husten entrang sich seiner Kehle. Er ließ sich wieder ein wenig zurücksinken, stützte sich auf den Ellenbogen ab und betrachtete Dhaôma mit schief gelegtem Kopf von unten her. Es war ja nicht so, dass dieser Junge schwer wäre. Aber was bezweckte er mit dieser Aktion? „Wenn du mich nicht mehr hier haben willst, dann jag mich bitte fort, aber ertränken ist eine ziemlich fiese Todesart.“ Sein amüsiertes Lächeln und seine sanfte Stimme standen in totalem Gegensatz zu seinen Worten. Aber so versuchte er Dhaôma zu zeigen, dass er ihm nicht böse war.
 

„Eigentlich wollte ich gerade verhindern, dass du stirbst. Hab sogar Essen gemacht, damit du nicht vor Entkräftung sterben musst.“ Grinsend piekte er ihm gegen die Brust. „Also mach, dass du zum Essen kommst. Die Fische können nämlich nicht mehr schwimmen. Ich habe sie effektiv daran gehindert.“
 

Fisch. Mimouns Gesicht hellte sich auf. Ruckartig setzte er sich auf, so dass Dhaôma nach hinten fiel. Mit Schwung landeten die Hände des Geflügelten klatschend auf den Oberschenkeln des Magiers.

„Los. Runter. Sofort.“
 

Lachend lehnte er sich zur Seite, so dass er von ihm herunter glitt. Das hatte gezeckt. Aber die Kinder hatten ihn in dieser Hinsicht schon abgehärtet. „Jetzt auf einmal ungeduldig.“, beschwerte er sich spaßhaft. „Du weißt auch nie, was du willst.“
 

„Ich weiß es ganz genau.“, behauptete der Geflügelte in der Bewegung. Fließend erhob er sich und strebte dem Feuer zu. „Ich will meinen Fisch, ich will meine Erdbeeren. Und niemand sollte es wagen, sich mir in den Weg zu stellen.“, warf er sich in die Brust. Schneller als der Magier es konnte, eilte er zu ihrer Lagerstätte und ließ sich nackt und nass wie er war davor plumpsen, griff sich seinen ersten Fisch. Das Wasser würde die Sonne schon trocknen.
 

„Wer das wohl wagen würde…“, murmelte Dhaôma gerade laut genug, damit Mimoun es noch hören konnte. Weich ließ er sich neben seinem Freund nieder und griff nach seinem Stockfisch. Noch war er heiß, aber nur ein bisschen warten und man konnte ihn essen. Und solange konnte er sich ja an den Erdbeeren gütlich tun.
 

„Du anscheinend.“, erwiderte Mimoun. Er sah wie Dhaôma nach den Erdbeeren griff. „Meine Erdbeeren.“, bestimmte er und lehnte sich blitzschnell zu ihm rüber, drückte seine Lippen auf die seines Freundes. Mit sanftem Druck zwang er die Kiefer des Magiers auseinander und fischte mit seiner Zunge die Erdbeere wieder heraus. Nach erfolgreichem Raubzug lehnte er sich zufrieden zurück und genoss seine Beute. „Meine.“, betonte er noch einmal und leckte sich einen Finger von den Überresten seines Fisches sauber.
 

Dhaôma war im ersten Moment völlig baff. Das hatte er nicht erwartet. Erstarrt folgte er dem weichen Gefühl von fremden Lippen auf seinen, einer angenehmen Wärme, dann der feuchten Zunge, die sich in seinen Mund schob. Und schon war es wieder vorbei. Und er um eine Erdbeere ärmer.

Völlig entgeistert beobachtete er, wie Mimoun wie eine zufriedene Katze seine Finger ableckte. Das war sein erster Kuss gewesen. Sein allererster.

Etwas anderes überlagerte das undefinierbare Gefühl: Er registrierte den seltsamen Mischgeschmack von rohem Fisch, metallischem Blut und säuerlichen Erdbeeren. Das war nicht lecker. Wortlos nahm er seinen Fisch und biss herzhaft hinein, dass er heiß war, störte ihn nicht mehr. Hauptsache, der komische Geschmack wurde fortgespült.
 

Mimoun hatte eigentlich, wenn auch verspätet, mit Protest gerechnet, doch als nichts dergleichen kam, sah er forschend zu Dhaôma. Dessen Gesicht bot eine seltsame Mischung aus Verwirrung und leichtem Ekel. Ein wenig schrumpfte Mimoun in sich zusammen. Vielleicht war seine Handlung doch nicht so gut gewesen, auch wenn es ihm in diesem Moment richtig erschienen war, schließlich ging es um die Verteidigung und Rückeroberung seiner Erdbeeren.

Mit einem um Verzeihung heischendem Blick und zur Besänftigung hielt er Dhaôma eine der leckeren Beeren entgegen.
 

Mit wenig begeistertem Blick fixierte der Junge die Frucht. „Du meinst, mit gegrilltem Fisch zusammen schmeckt das besser?“, wollte er wissen, doch sein Gesicht zeigte deutlich, dass er das bezweifelte. „Später vielleicht. Danke.“
 

Mimoun sackte noch ein wenig mehr in sich zusammen. Er hatte seinen Freund wohl richtig verärgert, wie er dem Tonfall und dem Gesichtsausdruck entnehmen konnte.

„Tut mir Leid.“, murmelte er fast unhörbar und ließ die Frucht in seiner Handfläche hin und her rollen. Sein Hunger und sein Appetit waren irgendwie verflogen. Unangerührt blieb das Essen vor ihm liegen.
 

„Was tut dir Leid?“ Irritiert blinzelnd sah Dhaôma auf. Es erschreckte ihn, diese Trübsal zu sehen. „Was… Mimoun? Hab ich was falsch gemacht?“ Besorgt legte er seinen Fisch beiseite und wandte sich ihm endgültig zu. Aus Reflex hob er die Hand, um sie auf den Arm seines Freundes zu legen, doch Mimouns Einigelung hinderte ihn daran, so dass sie unentschlossen in der Luft schweben blieb.
 

„Nein. Ich.“ Kurz huschte ein trauriges Lächeln über sein Gesicht, die Augen noch immer auf die Erdbeere gerichtet. „Verzeih. Ich wollte dich weder ärgern oder verletzen.“ Nun sah er doch auf und Dhaôma in die besorgten Augen. „Es kommt nicht wieder vor. Sei mir nicht mehr böse.“
 

„Wieso sollte ich böse sein? War doch nur ein Spaß. Ich weiß doch, dass du das mit den Erdbeeren nicht ernst gemeint hast und dass du nicht so selbstsüchtig bist.“ Hilflos streichelte Dhaôma über die schwarzen Strubbeln. „Sei nicht so. Du hast nichts falsch gemacht.“
 

Mimoun akzeptierte die Finger in seinen Haaren, doch genießen konnte er diese Berührung nicht. Es hatte nicht die beruhigende Wirkung wie sonst.

„Wenn es so wäre, dann hättest du dich nicht so deswegen geekelt.“ Bevor er eine Erwiderung erhalten konnte, schüttelte er den Kopf. „Das, was ich getan habe, ist nicht richtig gewesen. Es tut mir Leid.“
 

Dhaôma nickte. „Ja, roher Fisch, Blut und Erdbeeren zusammen schmecken echt eklig!“ Er schüttelte sich und kicherte. „Das ist eine Erfahrung, auf die ich lieber verzichtet hätte.“
 

Verwirrung spiegelte sich auf Mimouns Gesicht, die sehr schnell in einfaches Erstaunen wechselte. Dann erst ging es ihm auf. Er hatte rohen Fisch gegessen und den Geschmack mit dieser Aktion an Dhaôma weitergereicht. Und dieser mochte so was ja nun gar nicht.

Mit einer Hand schlug er sich auf den Mund.

„Tut mir Leid. Tut mir Leid. Tut mir Leid.“, plapperte er zwischen seine Finger hindurch. „Daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht.“ Dann brach er in Gelächter aus. Ihm kam die ganze Situation albern vor. Mimoun befürchtete mit seinem Mundraub so richtig tief in Hinterlassenschaften gegriffen zu haben und alles, was den Magier beschäftigte, war der für ihn widerliche Geschmack. Mehr schien ihn nicht zu stören. Und der Geflügelte machte sich hier völlig umsonst Sorgen.
 

Erleichtert ließ sich Dhaôma wieder auf seine Fersen sinken. Er war glücklich, dass die komische Stimmung vorbei war. Das Lachen stand Mimoun doch viel besser als diese Trübsal. „Ich sagte doch, dass du nicht so böse bist.“ Er hatte es ja von Anfang an gewusst.

Fließend fanden seine Beine wieder die Position des Schneidersitzes, bevor er einfach weiteraß. Er hatte Hunger. Und wenn er wirklich danach noch Erdbeeren essen wollte, sollte er vor Mimoun fertig sein, sonst bekam er keine mehr ab, wie dieser gerade eindrucksvoll bewiesen hatte.
 

Auch Mimoun fand seinen Hunger wieder, nachdem der Lachanfall nachgelassen hatte. Zwar wurde er noch immer ab und zu von amüsiertem Glucksen unterbrochen, doch es hinderte ihn jetzt nicht mehr daran, sich mit seinem geliebten Fisch vollzustopfen.

Kurz spielte er mit dem Gedanken, sich seine Erdbeeren wieder von Dhaôma zurückzuholen, als dieser sie zu verspeisen begann, doch er beließ es bei dem Gedanken. Einerseits hatte er Dhaôma gerade selbst eine angeboten, andererseits schmeckte er selbst noch immer den Fisch. Also tat er einfach so, als würde er nichts sehen und tat sich anschließend von der anderen Seite des Feldes aus an den Erdbeeren gütlich. Und es waren ja auch genug Beeren für beide da.

Nach dem Essen streckte er sich abseits des Feuers im Gras aus. Das Wasser auf seiner Haut war schon lange verdunstet, doch er fühlte sich noch immer wohl. Nicht zuletzt, weil er sich den Bauch mit Leckereien vollgestopft hatte. So ließ es sich leben, dachte er noch, bevor er wieder wegzudämmern begann.
 

Am nächsten Morgen war Dhaôma wieder früh auf den Beinen. Die Reise ging weiter. Zwar waren sie langsamer, da der Magier darauf bestand, selbst zu laufen, aber es machte ihnen Spaß. Außerdem mussten sie Dank Mimoun viele Pausen machen. Je weiter der Tag fortschritt, desto schwerer wurde es für den Hanebito die Hitze des Sommers zu ertragen. Ein paar Mal flüchtete er sich hinauf in die kühlen Höhen, es als Ausrede nutzend, dass er Bericht erstatten sollte, und abends badeten sie im Fluss.

Eine Woche verging auf diese Weise, bis Dhaôma sich dazu durchrang, ihn zu fragen, ob er nicht einfach die Rüstung ausziehen wollte. Im Grunde brauchte er sie nicht. Sie war hier nur nutzloser Ballast, der seinen Träger langsam und grausam zermürbte.
 

Dieser nickte und schüttelte zeitgleich den Kopf auf diese Frage. Unter dem Ding wurde es unglaublich schnell unglaublich heiß. Doch so war es angenehmer zu tragen als zusammengeschnürt auf dem Rücken. Die Schnallen ließ er schon seit Tagen locker, um Luft darunter zu lassen.

Dennoch ließ er die Rüstung zwei weitere Tage angelegt, bevor er sich entschloss, sie eine Weile nicht zu tragen. Ihm wurde nicht mehr ganz so warm, doch das Gewicht, das er nun trug, verlagerte sich ungünstig. Es hatten beide Varianten ihre Vor- und Nachteile. Also lief er einige Tage ohne Rüstung. Aber auch das war nicht wirklich das Wahre.

Wie erleichtert war er, als er winzige Punkte über sich schweben sah. Hier musste ein Dorf in der Nähe sein. Er machte seinen Freund darauf aufmerksam und sein Blick wurde, so sehr er es auch zu verhindern suchte, bittend. Mimoun wollte aus der Hitze raus.

„Möchtest du dort oben dein Werk beginnen?“
 

Wenig begeistert von der Idee nickte der Braunhaarige. Eigentlich wäre es ihm lieber, wenn sie einfach vorankommen würden, aber es war die Bedingung gewesen, dass er gehen durfte. Und Bedingungen musste man erfüllen.

„Dann mal los.“ Vertrauensvoll schlang er seine Arme um ihn. „Damit wir wenn möglich heute noch vorwärts kommen können.“ Dhaôma hatte in der letzten Zeit immer wieder Samen gesammelt, die in solchen Höhen vielleicht wachsen konnten und den Bewohnern Nutzen brachten. Jetzt konnte er sie sähen.
 

Zwar schlang auch er seine Arme um den Körper des anderen, doch er blieb auf dem Boden.

„Wäre es eine große Energieverschwendung unser Gepäck hier unten von Dornenbüschen bewachen zu lassen?“ Das ganze Zeug zusätzlich mit hinauf und wieder hinunter zu schleppen, hatte er eigentlich keine Lust.
 

„Nein, eigentlich nicht.“ Nachdenklich ließ er Mimoun wieder los und kramte schon in seinem Rucksack nach dem Beutel mit Samen. Er überließ es Mimoun die Sachen auf einen Haufen zu legen, bevor er eine simple, getrocknete Brombeere in den Boden setzte. Wenige Minuten später waren die Sachen Mittelpunkt eines Geschlinges aus dornigen Ranken. Vor Fressfeinden und Räubern geschützt.

Zufrieden drehte sich der Junge zu seinem Hanebito um. „Gut so?“
 

Dieser kratzte sich in einer amüsiert-genervten Geste am Hinterkopf und fing an zu grinsen.

„Auf jeden Fall sind unsere Sachen nun sicher.“ Dhaôma hatte es ein klein wenig mit der Größe des Gestrüpps übertrieben, aber so kam zumindest niemand so einfach daran. Spielerisch tippte der Geflügelte eine der kleinen Blüten an und wandte sich dann seinem Freund zu. Er schlang wieder seine Arme um Dhaôma und flog mit ihm auf direktem Wege zu den Inseln empor. Je höher sie kamen, umso besser fühlte er sich. Hier herrschte nicht die drückende Hitze der unteren Ebene.

Es dauerte auch nicht lange, da wurden sie von den über ihnen Dahinsegelnden entdeckt. Und sie brauchten noch weniger Zeit, um sich den Neuankömmlingen zu nähern. Misstrauisch begutachteten sie den Magier, doch Mimoun überging es. Er hielt sich dort, wo er war, in der Luft und erklärte mit knappen Worten, wer sie waren und welches Ziel sie hier verfolgten. Auch in wessen Auftrag sie handelten, ließ er nicht unerwähnt. Es vergingen noch wenige Augenblicke in denen sie sich mit stummen Blicken zu beraten schienen, doch schließlich nickten sie und winkten ihnen zu, dass er ihnen folgen solle.

Mimoun schloss sich den drei Geflügelten an und ließ sich von ihnen zu ihrem Dorf führen. Wie erwartet, schwebte die Insel nicht weit von hier entfernt und innerhalb weniger Augenblicke hatten sie diese erreicht. Der junge Geflügelte landete etwas außerhalb des eigentlichen Dorfes. Mit gemischten Gefühlen stellte er fest, dass dieses hier größer als sein eigenes war, wenn auch nicht viel. Es würde dauern, bis Dhaôma selbst mit seiner Arbeit zufrieden sein würde. Was Pflanzen anging, übertrieb er ja gerne ein wenig.
 

Eigentlich hatte Dhaôma erwartet, dass er hier willkommen war. Nicht nur war es seine Aufgabe, die Inseln zu begrünen, er hatte sich auch daran gewöhnt, von Mimouns Dorf nahezu unbegrenztes Vertrauen entgegengebracht zu bekommen, aber was er spürte, waren Misstrauen und Ablehnung.

Unwohl wandte er sich Mimoun zu. Es war fast wie anfangs bei dessen Dorf. Er konnte diese Atmosphäre nicht leiden. Sogar die Kinder wurden jetzt in die Häuser gebracht. Am besten, er brachte seine Arbeit schnell hinter sich und sie gingen wieder. Je schneller desto besser.

Er lächelte den ankommenden Mann an, der schien, als wäre er hier der Anführer. Er war bei weitem nicht so alt wie Oldon. „Guten Tag. Ich bin hier, um Pflanzen wachsen zu lassen. Wenn ihr mir sagt, wo und was ihr haben wollt, fange ich gleich an.“
 

Mitfühlend ließ Mimoun eine Hand auf dem Rücken seines Freundes liegen. Aber ehrlich gesagt, hatte er nichts anderes erwartet. Magier waren nun einmal Feinde, auch wenn sich die Gerüchte um ein besonderes Exemplar immer weiter vermehrten.

„Es wäre uns am liebsten, wenn du nicht innerhalb des Dorfes zaubern könntest.“, begann der Dorfälteste ohne Umschweife und deutete auf eine kleine Insel außerhalb, etwa auf selber Höhe wie die Dorfinsel. Er bemühte sich höflich zu sein, wie es einem Abgesandten Addars zustand, doch seine Abneigung gegen Magier überwog zeitweise. „Dort kannst du machen, was du willst.“
 

Einverstanden nickte der Junge, dann bedeutete er Mimoun, dass er ihn hinüber fliegen sollte. Es war enttäuschend, was er vorfand. Diese Insel bestand aus trockner Erde, wenig Gras und viel kahlem Fels. Im Grunde konnte er hier machen was er wollte, viel würde hier nicht wachsen. Nicht ohne Wasser, das nicht vorhanden war. Nachdenklich drehte er sich im Kreis, überlegte, was man hier überhaupt wachsen lassen konnte.

Und er beschloss, dass er hier einen Teich anlegen würde. Dafür brauchte er erstens viel Wasser und zweitens einen Baum, der wenig von selbigem brauchte, um damit den Felsen zu spalten und eine Teichgrundlage zu schaffen.

Eine Kiefer sollte sein Zentrum werden, so ließ er sie wachsen. Vorher bat er Mimoun, wenigstens den Proviant heraufzuholen, da er mindestens zwei Tage brauchen würde, um aus dieser Insel etwas Vernünftiges zu machen.

Am Abend hatte er mit Hilfe des Baumes einen großen Riss geschaffen, der sich unterhalb des Bodens noch fortsetzte und zu seinem Glück nicht nach unten offen war. Im Gegenteil, er hatte sogar noch eine Kaverne gefunden, die schon immer innerhalb des Felsens existiert hatte und den Hohlraum natürlich vergrößerte. Um den Baum herum hatte er allerlei Grünzeug wachsen lassen, von dem er wusste, dass Hanebito es gerne mochten.

Die Nacht über verbrachten die beiden in kühlen Höhen, eine Wohltat für Mimoun, der sogar einen erholsameren Schlaf hatte deshalb.

Dhaôma wartete am nächsten Morgen gerade lange genug, um Mimoun ausschlafen zu lassen, bevor er diesen zu den Hanebito schickte, um sie vorzuwarnen, dass er Regen rufen würde. Wenig später ging über der ganzen Gegend ein Wolkenbruch nieder, der stärker war als die der letzten Monate. Seine ganze Kraft reichte gerade mal aus, die Kaverne zu zwei Dritteln zu füllen, aber im Grunde war das auch egal. Sie würden wieder Wasser haben, ein paar Nahrungsmittel mehr und das musste reichen, selbst wenn es nicht an seine Ansprüche heranreichte.

Mit ein paar wenigen Anweisungen bezüglich gießen und düngen verabschiedeten sich die beiden gegen Mittag, als die Luft endlich wieder klar war, hinunter in die Ebenen. Dhaôma wollte noch ein wenig vorwärts kommen.

„Es ist schade, dass Vertrauen so ein kostbares Gut ist. Es ist so schwer zu erringen und die Menschen verlieren es viel zu schnell wegen Nichtigkeiten.“, meinte er, als sie landeten.
 

„Hab Geduld.“, mahnte Mimoun und begann ihre letzten Habseligkeiten aus den Dornen zu befreien. Doch sehr schnell verhedderten sich ihre Taschen an den Ranken. Sie mit Gewalt herauszuziehen, würde bedeuten sie zu zerreißen. Und Dhaôma hatte seine Kräfte für den Regen aufgebraucht. „Bald werden sie dich alle mit offenen Armen empfangen. Ganz sicher.“ Er zog eine seiner Armschienen hervor und begann mit der Klinge die Ranken zu zerschneiden. Als er endlich alles unbeschadet befreit hatte, waren seine Hände und Unterarme zerkratzt und hier und da steckte noch ein Dorn in seiner Haut. Triumphierend hielt er das letzte Ausrüstungsteil in die Höhe.
 

Der Braunhaarige beobachtete das mit einem schlechten Gewissen. Dass der Schutz gegen Feinde auch so hervorragend gegen sie selbst wirkte, war ihm peinlich. Eigentlich hatte er ja vorgehabt, die Ranken einfach welken zu lassen, aber nachdem er den Regen gerufen hatte, war das kaum möglich. Beim nächsten Mal sollte er auch auf diese Eventualität gefasst sein.

Sie wanderten an diesem Tag nicht mehr weit. Die Hitze war extremer denn je und die trockene Luft machte das Atmen schwer. Schon früher hatte Dhaôma festgestellt, dass das nach dem Regen immer so war. Also suchten sie sich eine kleine Aue, in deren Schatten sie ruhten. In den Abendstunden schließlich, als die Hitze nachließ, setzten sie ihren Weg fort.

Nachdem Dhaôma verstanden hatte, dass es Mimoun leichter fiel, sich in den Stunden zu bewegen, in denen die Sonne nicht so steil stand, richtete er sich danach aus. Und so kamen sie in den nächsten zwei Wochen recht schnell voran. Zweimal noch kamen sie an kleinen Inseln vorbei, die nach ein paar Stunden Aufenthalt des Magiers wie jahrelang gepflegte Gärten hinter ihnen blieben.

Dann wurde es zum ersten Mal von alleine schwül. Die feuchte Hitze in der Luft war für beide unerträglich. Mimoun war schlapp und kaum gewillt, das Wasser zu verlassen, und auch Dhaômas Wille sich zu bewegen schlief ein. Sie wussten, bald würde es regnen, und beide hofften, dass es gleich sein würde. Dennoch dauerte es noch zwei Tage, in denen sie kaum vom Fleck kamen.

Der erste Regenguss des Spätsommers spülte allen Dreck von den Pflanzen und den Felsen um sie herum, ließen die Welt um sie herum leuchten. Dhaôma konnte gar nicht anders, als diesen Pflanzen ein wenig zu helfen. Er brauchte kaum etwas tun, denn die Vielfalt an Früchten um diese Jahreszeit war genug, um sie beide satt zu machen.

„Ah, ich hab euch gefunden!“ Asam landete neben ihnen, als sie gerade aßen. „Ihr hinterlasst eine ziemlich deutliche Spur.“ Sein Blick war weniger misstrauisch als amüsiert, als Dhaôma ertappt errötete. Offenbar hatte er von seinem Großvater einiges abbekommen, seit dem letzten Mal. Man konnte seiner Haltung ansehen, dass er den Magier nicht für gefährlich hielt. Zu oft hatte er ihn jetzt gesehen. Und die Kinder waren das letzte Mal durchaus überzeugend gewesen. „Mein Großvater lädt euch zum Essen ein.“, eröffnete er ihnen mit einem noch breiteren Grinsen.
 


 

Wenn die weißen Wolken ziehn

Über Meer und Strand

Ziehn auch wir den Wolken nach

In ein fernes Land

[Kelly Family]

Im Dorf Addar Marals

Kapitel 25

Im Dorf Addar Marals
 

Mimoun verschluckte sich fast, als der Enkel des Ältesten so plötzlich neben ihnen auftauchte. Hastig erhob er sich und begrüßte ihn seinem Rang entsprechend. Das brachte Asam zum Lachen. Momentan fühlte er sich nicht als Mitglied des Rates sondern als ganz normaler Geflügelter, der mit einer Bitte zu Bekannten kam.

Mimouns Blick glitt fragend zu seinem Freund. Eigentlich wäre es nicht schlecht die Einladung anzunehmen. Dann konnte Dhaôma auch das Dorf Addars begrünen. Wenn er sich recht entsinnen konnte, hatte dieser etwas von einem nicht mehr blühen wollendem Bäumchen hinter seinem Haus erzählt. Und Addar hatte sie gehen lassen. Da wäre das doch als Dankeschön angebracht, oder nicht?

„Wir nehmen die Einladung gerne an.“, antwortete Mimoun, ohne eine Antwort des Magiers abzuwarten. Obwohl es unfair war, so etwas über dessen Kopf hinweg zu entscheiden. „Oder hast du etwas dagegen?“, wandte er sich doch an diesen.
 

Dhaôma schüttelte nur den Kopf. „Nein. Ich mag Addar Maral.“ Leicht neigte er den Kopf vor dem blonden Mann.

Das brachte Asam wieder zum Lachen. So frei heraus sagten das auch nicht viele Leute, obwohl sein Großvater ein großes Ansehen genoss. Und wo gab es einen Magier, der behauptete, Hanebito zu mögen! Nun, dieses Exemplar war in vielerlei Hinsicht seltsam. „Freut mich.“, sagt er. Sein Kopf bewegte sich ein wenig herum, bevor er nach einer kurzen Entschuldigung begann, einen Pflaumenbaum abzuernten.

Nach kurzem Zögern half Dhaôma ihm. Ohne Flügel konnte er viel besser zwischen die Zweige klettern. Außerdem war es angebracht, ein Gastgeschenk mitzubringen. „Mimoun, soll ich wieder Gestrüpp wachsen lassen?“, fragte er, als sein Rucksack voll war.
 

„Natürlich.“, antwortete dieser. „Es ist einfacher so. Du musst das Zeug schließlich nicht schleppen.“ Er grinste. „Aber spar dir einige deiner Kräfte auf, um das auch wieder zu entfernen.“ Mimoun begann bereits ihre Habseligkeiten auf einen Haufen zusammenzutragen. Die Armschienen behielt er wohlweißlich aber an. Es musste schon an ein Wunder grenzen, sollte Dhaôma diesmal nicht gezwungen sein, Regen zu rufen.
 

Der braunhaarige Magier streckte ihm die Zunge heraus, als er schon begann, eine spiralförmige Brombeerranke um die Sachen zu ziehen. Asam versteckte ein Lachen hinter seiner freien Hand. Diese beiden waren lustig anzusehen. Und sie benahmen sich wohl auch nicht nur vor Hohen wie echte Freunde. Das hier war kaum gespielt. Noch dazu waren sie gut aufeinander abgestimmt.

Kurz darauf flogen sie los. Es war nicht weit zu seiner Insel. Zwar lag sie nicht direkt über dem Fluss, aber man konnte ihn noch sehen.

Die Insel, auf der Addar lebte, war eine der größten bewohnbaren Inseln, aber viele der Häuser standen inzwischen leer. Zu viele waren an der Front gegen die Magier bereits gestorben. Wie jedes Mal waren sie entdeckt, bevor sie landen konnten, und wurden dementsprechend begrüßt. Auch hier gab es misstrauische Blicke, aber viele waren auch nur neugierig.

„Großvater ist im Haus.“ Asam deutete auf ein großes Gebilde. Und mit vor Stolz geröteten Wangen fügte er hinzu: „Meine Frau auch. Sie wird bald niederkommen! Sie ist die schönste Frau der Welt!“

Seine Aufregung amüsierte Dhaôma. Ein werdender Vater. Nie hatte er so jemanden kennen gelernt.
 

Mimoun nahm diese Information mit einem Lächeln zur Kenntnis. Für ihn musste es das größte Glück überhaupt sein, in diese Frau verliebt zu sein und mit ihr zusammen ein Kind zu erwarten. Mit einem dankbaren Nicken folgte er der Einladung und strebte dabei das bezeichnete Haus an. Die neugierigen Geflügelten begrüßte er höflich. Da hier Mitglieder des Rates lebten, sollte er sich doch ein wenig gesitteter benehmen.

Bei Betreten des Hauses ließ Mimoun Asam den Vortritt, ließ sogar Dhaôma noch vor. Diese Hütte war größer ausgelegt, da hier mehr als nur eine Generation unter einem Dach lebte. Darum erwartete die Ankömmlinge ein großzügiger Vorraum, auch wenn Mimoun vermutete, dass er zusätzlich erweitert worden war. In diesem sahen sie außer Addar, der sich zur Begrüßung aus den Fellen erhoben hatte, und einer hochschwangeren jungen, blonden Frau, die man aufgrund gewisser Informationen Asam zuordnen konnte, noch zwei weitere Frauen, nur wenig älter als Asam, eine Frau, die vom Alter her seine Mutter sein konnte, und drei Kinder unterschiedlichen Alters. Nacheinander wurden sie namentlich vorgestellt.
 

Dhaôma war leicht befangen. Wie immer begrüßte er Addar mit einer vollendeten Verbeugung und deutete auch bei jeder anderen eine solche an. Die letzte, die vorgestellt wurde, war Asams Frau. Der junge Mann zog sie liebevoll an sich. „Und das ist Leoni, meine bezaubernde Frau.“

Sie wurde rot und lachte verschmitzt. Offenbar war sie das schon gewohnt. „Schmeichler.“

„Nur die Wahrheit, mein Vögelchen.“, wiegelte er ab. Keiner der beiden störte sich an ihm, nur eine der Frauen maß Dhaôma wie ein Insekt. Silia hatte einen ähnlichen Blick. Dhaôma ignorierte es.

„Ich freue mich über die Einladung. Habt vielen Dank.“
 

„Und ich habe mich gefreut, als mir berichtet wurde, dass euer Weg in diese Gegend führen würde.“ Mit einer Hand deutete er an, dass sie sich setzten sollten, bevor er sich selber niederließ. „Und ehrlich gesagt, befürchtete ich schon, dass ihr meine Einladung ablehnen würdet, bereitete euch beiden doch schon die erste Einladung so viel Kummer. Umso mehr freut es mich zu sehen, dass ihr gekommen seid.“
 

Dhaôma setzte sich neben Mimoun. Er verstand die Befürchtung nicht ganz. Addar war immer nett zu ihm gewesen, warum sollte er nicht kommen? „Ihr wolltet doch damals schon, dass der Baum hinter Eurem Haus wieder Früchte trägt. Ich bin hier, um diesem Wunsch zu entsprechen.“ Auch damit Mimoun weniger von der Hitze ertragen musste.
 

Addars Augen leuchteten kurz auf. „Daran erinnerst du dich noch?“, fragte der Alte mit einer Mischung aus Freude und Erstaunen. Es war schließlich schon fast ein halbes Jahr her und es war eher scherzhaft in einem Nebensatz erwähnt worden. Dennoch freute er sich wie ein Kind darauf, dass Dhaôma den alten Baum wieder zum Blühen bringen würde. „Aber dazu bitte später.“, bat er und deutete auf die Speisen, die Asams Mutter inzwischen aufgetischt hatte. „Jetzt würde ich euch bitten, ordentlich zuzugreifen.“
 

Mit Grauen sah Dhaôma, dass man ihm zu ehren frische Beute auftischte. Rohes Fleisch. Lautlos seufzend ergab er sich diesem Geschenk. Zum Glück konnte er noch Pflaumen beisteuern. Dennoch kam er der Bitte nach. Das jüngste der Kinder vergaß immer wieder, dass es essen wollte, und versank in Starren. Irgendwann plapperte es einfach in Asams Schwärmerei über Dhaômas Spur am Fluss.

„Warum hast du keine Flügel? Haben sie sie dir abgerissen?“ Der Junge war etwa so alt wie Haru.

Dhaôma lachte leise. „Nein. Ich bin ohne geboren worden.“

Ehrlich bedauernd senkte er den Kopf. „Du Arme.“
 

Schon bei der Frage wegen der Flügel musste Mimoun grinsen, doch die letzte Aussage des Kindes ließ ihn wieder lachend zusammenbrechen. Jetzt ging das Ganze schon wieder von vorne los. „Du solltest dringend was dagegen tun.“, brachte er noch immer unter Lachanfällen hervor.

Addar hatte den Jüngsten seiner Familie auf seinen Irrtum hinweisen wollen, doch nun beobachtete er neugierig die Szene.
 

Dhaôma seufzte. „Ich bin kein Mädchen.“ Und weil es schon beim letzten Mal Probleme mit dem Verständnis gegeben hatte, nahm er die Kurzvariante: „Ich mag die langen Haare.“

Gewichtig nickte der Kleine. Das hatte er verstanden.

„Und dass ich keine Flügel habe, ist auch nicht schlimm. Ich kann dafür schwimmen und passe durch dichtes Gestrüpp, wo Mimoun hängen bleiben würde.“

Amar war beeindruckt. „Du schwimmst wie ein Fisch?“

„Eher wie ein Frosch.“

Das entlockte ihm ein glockenhelles Lachen. „Das sieht sicher lustig aus!“

Seine Mutter legte ihm warnend eine Hand auf den Kopf. „Er ist unser Gast. Sei höflich.“

„Es stört mich nicht.“, meinte Dhaôma und kicherte. „Außerdem hat er Recht. Es sieht wirklich lustig aus.“

Sie nickte nur.
 

In Gedanken ging Mimoun die letzten Tage durch. „Aber es sieht immer noch eleganter aus als bei mir.“, mischte er sich in das absurde Gespräch ein.

„Wir sind ja auch nicht fürs Wasser geschaffen.“, warf Addar dazwischen. Er hatte seinen Spaß an der Unterhaltung. Solange Kinder in der Nähe waren, schien der Magier lockerer zu sein. „Wie kommst du eigentlich auf die Idee, dass Dhaôma ein Mädchen sein könnte?“, fragte er seinen Urenkel und brachte damit das Gespräch wieder auf das anfängliche Thema zurück.

Das veranlasste Mimoun dazu, sich zu verschlucken. Schon zu Beginn war ihm wieder in den Sinn gekommen, was Elin noch gesagt hatte, so auch bei dem erneuten Themenwechsel. Und mit vollem Mund lachen und schlucken ging nun einmal nicht.
 

„Na, die Haare. Das Gesicht ist auch wie bei einem Mädchen. Und die Kleider.“ Das stimmte. Jadya hatte seine alten Kleider als Vorlage genommen, daher hatten auch seine neuen Kleider einen Rock. „Und hast du nicht gesagt, er kann Blumen wachsen lassen?“ Das Kind verzog den Mund. „Welcher Junge sammelt denn Blumen?“

Lachend meldete sich Dhaôma. So absurd!
 

„Herrlich!“ Mimoun rollte lachend über die Felle. Die Argumente der Kinder waren immer dieselben. Es war schön zu sehen, wie einfach ihre Schlussfolgerungen waren. Und dass Dhaôma sich auf die Frage auch noch gemeldet hatte, machte es ihm nicht einfacher, sich zu beherrschen.

Auch Addar musste lachen, wogegen auf den Gesichtern der anderen nur ein Lächeln unterschiedlicher Ausprägung erschien. Von breitem Grinsen über mildem Lächeln zu leisem verstecktem.

„Du bringst den Kleinen sicher auch noch dazu, sich auf Blüten zu freuen. Genau wie Haru mit seinen Himbeeren. Erst Blüten, dann Früchte.“, merkte Mimoun an, nachdem er sich halbwegs gefangen hatte. Dieses Thema war und blieb wohl sein Lieblingsthema.
 

Der Junge sah ihn böse an. „Das weiß ich schon.“, sagte er. „Wenn ich die Blüten an den Sträuchern kaputt mache, dann gibt es keine Beeren.“ Und zu Dhaôma gewandt meinte er überzeugt: „Trotzdem ist das seltsam. Normalerweise sammelt Mama die Blumen, damit die Hütte duftet.“

„Und deshalb darf ich keine wachsen lassen?“, wollte Dhaôma sanft wissen.

Der kleine Amar wurde rot. „Doch.“

„Vielen Dank.“ Kichernd setzte sich Dhaôma wieder gerade hin und nahm sich noch eine Pflaume. „Weißt du, es gibt Männer, die ihrer Liebsten Blumen mitbringen, weil sie wissen, dass sie sich darüber freut. Amar, wenn es dich beruhigt: Ich lasse Pflanzen wachsen, weil sie mir gefallen. Egal, welche du findest, jede hat etwas Besonderes. Einige sind hübsch anzusehen, andere schmecken gut. Wieder andere haben die schöne Eigenschaft, dass sie Feinde fernhalten oder beim Klettern helfen. Ich kann mit Wassergras Fische fangen oder mit ihnen heilende Salben herstellen. Man kann Tee aus ihnen machen oder Speisen würzen. Pflanzen sind sehr vielseitig. Du musst nur offen sein, das zu erkennen.“
 

Mimoun bedachte seinen Freund mit einem sanften Blick. Wenn dieser über Pflanzen sprach, ging er voll darin auf. Mit Kindern darüber zu reden, sie zu lehren, war für ihn anscheinend das Größte. Sein Blick huschte über die in der Hütte versammelten Geflügelten. Asam umsorgte großteils seine Gefährtin, strich ihr über den dicken Bauch, lauschte nur mit halbem Ohr dem Gespräch. Auch wenn Leoni sich ebenfalls voll und ganz ihrem Mann zu widmen schien, folgte sie dem Gespräch doch aufmerksamer als dieser, warf ab und zu einen Blick zu dem Magier. Amars Mutter behielt ihren Spross aufmerksam im Auge, machte aber keine Anstalten, der friedlichen Atmosphäre zu misstrauen. Addar lauschte den Ausführungen des Magiers aufmerksam und vermerkte sich gedanklich schon einmal Fragen, die er stellen wollte. Asams Mutter interessierte sich ebenfalls für den Magier, während ihre älteste Tochter nicht wusste, ob sie ihre ablehnende Haltung beibehalten sollte. Dieser Magier schien ihrer geliebten Familie nicht schaden zu wollen, verstand sich im Gegenteil ganz prächtig mit ihnen. Ihre eigenen Sprösslinge saßen neben ihr und schwankten zwischen dem Bedürfnis, den Magier ebenfalls mit Fragen zu löchern, und der Befürchtung, ihre Mutter könne etwas dagegen haben. Sie war nicht so begeistert gewesen, als man den Magier hierher eingeladen hatte.

„Zeigst du uns einige der Sachen, die du gerade aufgezählt hast?“, fragte Addar, als sich keines der Kinder zu Wort melden wollte. „Vor allem heilende Salben würden mich interessieren.“
 

„Natürlich.“, stimmte Dhaôma zu. „Aber es ist ziemlich schwierig, sich alle Pflanzen zu merken, die es gibt, um etwas zu heilen. Nicht jede ist für alles geeignet.“ Dann runzelte er die Stirn. „Aber es bedeutet, dass ich meine Reise wieder unterbrechen muss.“ Nachdenklich tippte er mit dem Finger gegen sein Kinn. „Wie wäre es, wenn ich Euch die Grundlage, um Salben herzustellen lehre, und die Zutaten im Laufe der Zeit in einem Buch aufliste. Wäre das in Ordnung?“
 

„Natürlich.“, erwiderte Addar mit einem dankbaren Nicken. „Wir haben dich schließlich schon viel zu lange aufgehalten, nicht wahr?“
 

Dhaôma nickte. Dann fiel ihm etwas ein.

„Sagt, Addar Maral, kennt Ihr den Weg zu den Drachen? Ihr lebt schon so lange, habt Ihr von einer Möglichkeit gehört, wie man sie finden kann?“
 

Stille breitete sich in dem Raum aus. Bedrückende Stille.

„Ihr sucht Drachen?“, gab Angesprochener die Frage zurück. „Wolltet ihr nicht etwas anderes finden?“
 

Etwas anderes finden? Hatte er so etwas gesagt? Nachdenklich stützte Dhaôma die Ellbogen auf seine Knie. Er konnte sich nicht erinnern. „Eigentlich nicht.“ Schüchtern lächelnd zuckte er mit den Achseln. Sein Gastgeber wirkte ein wenig enttäuscht. Dachte er vielleicht, dass er damit seine Zeit verschwendete, obwohl er ja mit den Magiern reden sollte? Das hatte er damit nicht erreichen wollen. „Aber es gibt ganz sicher Drachen! Und sie sind mächtig genug, dass sie mir helfen können, meinen Traum zu verwirklichen! Wenn ich erst Drachenreiter bin, dann kann er mir helfen, mit meiner Mutter zu sprechen. Und dann komme ich auch an denjenigen heran, der das Heer befehligt. Davon erzählen alle Legenden, dass Drachenreiter Frieden bringen können!“ Seine Wangen färbten sich rot. Mimouns Mutter Cerel hatte ihm geglaubt. Und nun hatte er leichtfertig vorausgesetzt, dass auch Addar ihm glauben würde. „Lacht mich bitte nicht dafür aus.“
 

Lachend schüttelte Addar den Kopf. „Verzeih. Ich lache nicht deswegen.“, erklärte er schnell, hatte ihn der Junge schließlich um einen Gefallen gebeten. „Zwar hast du nicht verstanden, worauf ich eigentlich hinaus wollte, aber du hast dennoch im selben Atemzug erklärt, dass es zu dessen Erfüllung diene.“ Schnell wurde er wieder ernst. „Drachen waren eine gefährliche Spezies. Niemand kann bestätigen, dass diese Kreaturen noch irgendwo existieren. Und Legenden sind halt nur Legenden. Mag sein, dass sie eine gute Rückendeckung darstellen, genauso gut können sie aber auch euren Untergang bedeuten. Wollt ihr dieses Risiko wirklich eingehen?“

„Ja.“, mischte sich Mimoun nun in das Gespräch mit ein. Ernst fixierte er den Ältesten. „Das Risiko wäre meines Erachtens sogar größer, würden wir direkt zu den Magiern marschieren wollen.“

Nachdenklich betrachtete Addar den jungen Geflügelten vor sich, nickte schließlich. „Wie man sie finden kann, kann ich euch nicht beantworten. Aber ich habe einmal einen gesehen. Es war nur kurz und schon zu dieser Zeit galten sie als ausgestorben. Ich war damals noch ein Knabe, so in eurem Alter, und trieb mich in der Nähe des großen Wassers herum, als ich aus dem Augenwinkel einen großen Schatten wahrnahm. Doch bevor ich hinsehen konnte, war er zwischen den Wolken verschwunden. Er war zu groß für einen Vogel oder gar einen Geflügelten. Ich bin mir sicher, dass es sich dabei um einen Drachen handelte. Aber wenn, war es sicher der letzte seiner Art. Ich würde mir in dieser Sache keine allzu großen Hoffnungen machen.“
 

„Wir haben relativ frische tote Drachen gefunden. Ich habe sogar einen Zahn von ihnen.“ Dhaôma zog den Anhänger aus seinem Ausschnitt. „Egal, wo sie sich verstecken, es gibt sie noch. Das denke ich zumindest. Irgendwo zwischen dem Großen Wasser und den Wolfsbergen. Und wenn Drachen wirklich unzähmbar wären, dann hätte es Drachenreiter gar nicht gegeben.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. „Ihr braucht Euch keine Sorgen machen. Sollte es lebensgefährlich werden, werden wir uns selbstverständlich sofort zurückziehen. Aber nach meinem Buch sollten die Drachen spüren, ob jemand ernsthaft an Frieden interessiert ist. Angeblich sollen sie friedfertige Menschen nicht angreifen.“ Auch wenn er nicht vollständig davon überzeugt war, irgendwie wollte er daran glauben.
 

„Frische Drachenüberreste?“, fragte Addar sicherheitshalber noch einmal nach und Mimoun bestätigte es ihm gerne erneut. „Damit hab ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Aber sollten sie sich wirklich mehr für Frieden interessieren, wundert es mich gar nicht, dass sie verschwunden sind. Zu lange schon werden unsere Völker vom Krieg zermürbt. Es wirkte sicher abschreckend auf sie.“
 

Das wäre eine Erklärung, warum sie verschwunden waren. Hoffentlich waren sie nicht zu weit weg geflohen. „Vielleicht sind sie aber auch verschwunden, weil alle Jagd auf sie gemacht haben. Ich habe gelesen, dass Drachenhaut ungeheuer leicht und robust ist, so dass sie selbst Pfeile abhält. Und vor mehr als hundert Jahren war es ein beliebter Sport unter meinesgleichen, Drachen zu jagen.“ Er seufzte tief. „Ich würde auch verschwinden, wenn mir jemand nach dem Leben trachtet.“
 

Missmutig zog sich Addars Stirn in noch mehr Falten. Magier waren wirklich Bestien. Dennoch hoffte er noch immer, dass Frieden zwischen den Völkern möglich war und dass er selbst ihn noch erleben konnte.

„Wenn Magier Drachen wegen ihrer Haut gejagt haben, findest du es wirklich so klug, einen Drachen zu ihnen zu bringen?“
 

Bekümmert nickte Dhaôma. „Das muss ich mir noch überlegen.“, sagte er. „Aber selbst wenn ich ihn nicht mitnehme, kann er Mimoun beschützen und vor Dummheiten bewahren, falls ich nicht mehr dort wegkomme.“ Entschuldigend blickte er seinen Freund an.
 

„Das ist ja wohl nicht dein Ernst!“, fuhr Mimoun auf. Völliges Unverständnis für Dhaômas Verhalten spiegelte sich auf seinem Gesicht. „Glaubst du Narr wirklich allen Ernstes, dass ich da einfach tatenlos zusehe oder verschwinden werde? Verdammt noch mal, ich mach mir hier doch nicht den Stress, um dich dann wegen so einer Lappalie im Stich zu lassen. Nicht wenn wir schon so dicht vor unserem Ziel wären!“
 

„Ja, aber du hättest zumindest einen sehr starken Beschützer, der dir zur Seite stehen wird. Denkst du nicht, dass er dir helfen könnte?“ Dhaôma seufzte. „Hör zu, ich will dir keine Vorschriften machen, aber dass du stirbst, will ich auch nicht. Und den Knochen nach zu urteilen sind Drachen groß genug, ein Haus einzureißen. Und damit meine ich nicht diese Hütten hier. Also könnte er mich notfalls rausholen, ohne dass dir etwas passiert.“
 

„Aber genauso gut könnte er dabei getötet werden. Und den Drachen opfern wolltest du ja auch nicht!“ Mimoun hatte sich halb erhoben, sah nun auf Dhaôma herab. „Denk endlich mal auch an dich. Hör auf, ständig dein Leben, deine Freiheit wegzuschmeißen, wenn es mal wieder etwas enger wird. Dhaôma, bitte! Tu mir das nicht an!“
 

Der Junge lächelte. „Hatte ich nicht vor. Das sind nur Möglichkeiten, die mir gekommen sind. Aber Drachen haben Fähigkeiten, die ich nicht kenne. Und ich weiß auch noch nicht, wie meine Familie reagieren wird, wenn ich nach Hause kommen sollte.“ Er griff nach Mimouns Hand und zog ihn wieder zu sich herunter. „Ich werfe weder mein Leben noch meine Freiheit weg. In dieser Hinsicht könntest du mir langsam auch anfangen zu vertrauen.“
 

Mit einem verächtlichen Schnauben lehnte Mimoun seine Stirn gegen Dhaômas Schulter. „Und ob du aufgegeben hattest.“, murmelte er. „Still und ohne Widerworte hattest du es ertragen, in meinem Dorf gefangen zu sein. Nie hast du mit nur einem Wort verlauten lassen, dass du wieder gehen wollen würdest. Es hat sogar nicht viel gefehlt und du hättest mich daran gehindert, zum Hohen Rat zu gehen, um eine Antwort zu erhalten. Und wenn ich mich recht entsinne, hattest du geheult, als ich spaßeshalber mit einem ernsten Gesicht zurückkehrte. Selbst eine schlechte Nachricht hättest du ohne zu kämpfen akzeptiert!“ Mimoun löste sich von seinem Freund, sah ihm bittend in die Augen. „Sag es mir, bitte! Wie soll ich bei solchen Reaktionen von dir darauf vertrauen, dass du nicht wieder sofort aufgibst?“
 

Überlegend erwiderte Dhaôma den Blick. Er hatte aufgegeben? War das so? Im Grunde hatte er nur abgewartet, bis sich etwas ergab. So wie er es immer getan hatte. Wenn sich eine Gelegenheit ergeben hätte, hätte er sie ergriffen. Oder war das schon aufgeben? Er kämpfte nun mal nicht gerne. Nie. Auch jetzt würde er das Gespräch lieber fallen lassen, aber das würde Mimoun nicht gefallen.

„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich eine andere Strategie zum Überleben habe. Sie hat sich bewährt. Ich lebe noch.“
 

„Mag sein, dass du noch lebst.“ Mimouns Blick wurde traurig und er lehnte sich ein wenig weiter zurück. „Aber bist du damit auch zufrieden? Bist du tatsächlich glücklich gewesen in den Situationen, in denen du klein und zittrig nur abwartest?“
 

Dhaôma dachte kurz nach. Nein, glücklich war er nicht gewesen am Anfang. Aber die Situation im Dorf hatte sich Dank Cerel schnell geändert. Auch Zuhause war er nicht glücklich gewesen, dennoch hatte er einen Weg gefunden, nach seinen Maßstäben zu leben. Frei zu sein. Oder war das Illusion gewesen?

„Was hätte ich tun sollen? Sie zwingen, mich gehen zu lassen? Es ist okay, wie ich bin, auch wenn Zeiten kommen, in denen ich Angst habe. Die gibt es für jeden. Und bisher konnte ich aus allem etwas Gutes herausfinden!“
 

Mimoun schüttelte den Kopf. „Es ist okay, so wie du bist.“, wiederholte er leise und fixierte seinen Freund fest. „Wenn du nicht kämpfen willst, ist das okay. Das muss ich so akzeptieren. Aber dann lass mich auch für dich kämpfen, denn es ist die Art zu leben, für die ich mich entschieden habe. Zwing mich nicht in deine Verhaltensweisen hinein! Zwing mich nicht, tatenlos dabei zuzusehen, wenn du leidest!“
 

Schweigen war Dhaômas Antwort darauf. Vorwurfsvoll erwiderte er den Blick. Nie hatte er versucht, Mimoun irgendetwas aufzuzwingen.
 

Dieser vorwurfsvolle Blick traf Mimoun hart. Ihm war nicht klar, mit welcher Aussage er diese Reaktion provoziert haben könnte. Und es fiel ihm schwer, diesem Blick länger standzuhalten. Betrübt sah er auf die Felle unter sich. Auch er wusste nichts mehr zu sagen, um seinen Standpunkt weiter zu verdeutlichen.

Leises Rascheln ließ ihm wieder bewusst werden, wo sie sich hier befanden. Erschrocken und verlegen sah er auf und zu ihrem Gastgeber hinüber. Mimoun wollte sich für ihr ungebührliches Verhalten entschuldigen, sah aber, dass Addar sich bereits erhoben hatte.

„Wie wäre es mit einem kleinen Verdauungsspaziergang in der Sonne?“, schlug der Alte vor und trat zwischen die beiden Freunde, legte jedem eine Hand auf den Kopf. „Und ihr zwei könnt euch dabei beruhigen und wieder Klarheit in Gedanken und Gefühle bringen.“
 

Dhaôma nickte, bevor er tief Luft holte. Der Vorschlag war Gold wert, fand er. Innerlich aufgewühlt und angespannt, tat die Sonne sicherlich gut. Warum war Mimoun nur so böse gewesen? Hatte er wirklich das Gefühl, dass er ihn zu etwas zwang? Kam es für den Schwarzhaarigen so rüber, dass er sterben wollte?

„Entschuldigt.“, bat Dhaôma den Ältesten und seine Familie. Es war ihm unangenehm, dass sie das hatten mit anhören müssen. Langsam stand er auf, streifte bewusst den Ärger und die Unsicherheiten ab und hielt Mimoun die Hand hin. „Kommst du auch mit?“
 

Nachdenklich musterte Mimoun die dargebotene Hand, doch schließlich nickte er und zog sich daran hoch.

Es fing schon wieder an. Mimoun spürte, dass diese Diskussion noch nicht ausgestanden war, dennoch sah es nun wieder so aus, als würde Dhaôma vor einer Fortsetzung dieser Konfrontation fliehen. Mochte sein, dass weder Ort noch Zeit dafür geeignet waren, aber würde Dhaôma, sollten sie wieder allein sein, diese Sache klären oder würde er es aussitzen, bis es zum nächsten großen Krach kam?

Noch immer stumm folgte er dem Ältesten nach draußen. Blinzelnd blieb er neben dem Eingang stehen und sah sich um. So wirklich Interesse am Laufen im Sonnenschein hatte er nicht. Lieber würde er ungestört und in Ruhe nachdenken. Wie sollte er Dhaôma verständlich machen, wie er sich dabei fühlte?
 

Die neugierigen Blicke der Dorfbewohner entgingen Dhaôma nicht. Es war genau wie in den anderen Dörfern, nur die offene Anfeindung war nicht spürbar. Er freute sich darüber, doch genießen konnte er diese Freude nicht. Zu schwer lag ihm die Auseinandersetzung mit Mimoun im Magen. Obwohl er sich auf normale Dinge konzentrierte, kehrten seine Gedanken immer wieder zurück zu dessen Worten.

Zwang er ihn in seine Verhaltensweisen? War das so? Irgendwie stimmte es. Mimoun musste seinetwegen laufen und die Hitze ertragen. Sogar das Wasser suchte er deshalb öfter auf.

Amar rannte hinter seiner Cousine her, die plötzlich lachend die Flügel ausbreitete und davonflog. Der Kleine flatterte noch etwas ungelenk hinterher.

War es das, was Mimoun meinte? Nahm er ihm seine Freiheit?

Wieder verfloss Dhaômas Lächeln, wurde von Nachdenklichkeit ersetzt.

„Worüber grübelst du nach?“ Asam hatte ihn eingeholt, seine Frau führte er galant am Arm.

„Ich wollte ihm nicht wehtun.“

„Jeder streitet sich mal.“ Leoni lachte. „Nimm dir das nicht so zu Herzen. Ihr werdet das klären.“

Das war nicht hilfreich. Dhaôma lächelte nur.

„Sei wieder fröhlicher. So wie mit Amar vorhin.“

Sie erreichten ein paar Bäume, die kümmerlich und alt um einen kleinen See standen. Viele Kinder planschten darin und kreischten ausgelassen. Hier gab es viel mehr Kinder als auf Mimouns Insel.

„Was ist mit dem Baum?“

Leoni und Asam deuteten synchron auf einen relativ hohen, knorrigen Baum, der über die Hütten ragte. „Meinst du den?“

Von dem, was Dhaôma von ihm sah, konnte er schon jetzt sagen, dass diesen Baum wiederzubeleben, einige Zeit dauern würde, aber er war noch nicht ganz verloren. Das würde er schaffen. Am liebsten würde er gleich anfangen, aber das konnte er ja nicht tun, solange er spazieren gehen musste.

Asam begann seine Frau zuzutexten und Dhaôma versank wieder in mahlenden Gedanken.

Auf dem Rückweg driftete er ohne sein Zutun zu dem Baum. Niemand hielt ihn auf. Insgeheim hatte jeder darauf gewartet, das zu sehen, wovon so viele berichteten, was aber keiner glauben konnte. Für Dhaôma war es Flucht, auch wenn er sich dessen nicht bewusst war. Er flüchtete sich in eine Welt, die unkompliziert und friedlich war.

Mit dem Baum ließ er sich Zeit, nahm sich das zumindest vor, aber er war zu aufgewühlt, um sich zu konzentrieren. Ohne dass er es verhindern konnte, übernahm seine Magie die Führung. Wasser schoss in den Stamm und die Äste, jagte Nährstoffe durch jede kleinste Faser. Knospen bildeten sich, schwollen schneller als gewöhnlich, öffneten sich zu rosafarbenen Blüten, wurden von jungen, schnell wachsenden Blättern ergänzt, bevor die zarten Blütenblätter wie Schnee auf einer leichten Briese zwischen die Zuschauer geweht wurden. Früchte bildeten sich an ihrer Stelle, erst grün, dann färbten sie sich langsam rot.

Warum wollte Mimoun für ihn kämpfen? Was versprach er sich davon?

Für die Geflügelten war der Anblick wie ein Wunder. Es dauerte nicht lange, da fand sich das ganze Dorf ein, um dem Schauspiel beizuwohnen. Wie konnte es sein, dass Magie so etwas vollbringen konnte? Brachte sie nicht normalerweise nur den Tod?

Ein paar Kinder begannen zu lachen, als sich etwas unter ihren Füßen regte. Wie ein Maulwurf bohrte sich eine der Wurzeln durch die Erde Richtung Teich und sie folgten ihr, feuerten sie an, das Wasser zu erreichen. Für sie wurde es zum Spiel.
 

Still folgte Mimoun der Gruppe bei dem Spaziergang. Er versuchte sich mit dem Gespräch und dem Geflirrte des Pärchens abzulenken. Es war amüsant dabei zuzuhören, mit welchen Kosenamen sie sich betitelten, oder zu sehen, wie Asam seine Frau umschwirrte und umsorgte. Dennoch half ihm das nicht, mit seinem eigenen Problem fertig zu werden. Es verschob es nur nach hinten. Aber der junge Geflügelte hatte für sich sowieso entschieden, dass hier der falsche Ort für ein klärendes Gespräch war.

Eine wirkliche Ablenkung von dem Streit war die Neuerweckung des Baumes. Es war immer wieder faszinierend zu beobachten, er konnte sich nicht daran satt sehen. Und dass dieses Dorf von Anfang an seinen Spaß daran hatte, besänftigte sein aufgewühltes Inneres. Er versuchte die treibenden Kirschblütenblätter zu fangen. Mit wenig Erfolg. Die zarten Blüten waren ein Spielball des Windes ohne Stetigkeit und Ziel. Und sie waren so federleicht, dass er nicht bemerkte, wie sich einige in seinen Haaren verfingen. Sein Blick folgte den johlenden Kindern, die die Wurzel anfeuerten, bevor er wieder zu Dhaôma schweifte. Er glitt weiter zu dem Baum, schätzte Größe und Aufwand ab und schüttelte schmunzelnd den Kopf. Der Magier übertrieb es schon wieder.

Leise trat er an seinen Freund heran, legte ihm hauchzart die Finger um die Handgelenke und ließ sie weiterwandern, bis sie sich mit den Fingern des Magiers verwoben. Langsam zog er die Hände zurück, löste so den Magier von dem Baum. „Soll ich mich wieder durch die Dornenbüsche schlagen?“, fragte er leise und grinste schelmisch. Dhaôma hatte diese wahrscheinlich schon wieder vergessen.
 

Das Leuchten der Zeichen verblasste und verlosch. Aus seiner Vertiefung gerissen, sah Dhaôma auf die Hände, dann zu Mimoun. Dornenbüsche? „Welche…?“ Es fiel ihm wieder ein, dann lachte er leise. Er hatte es vergessen, verdrängt. „Ai, wie dumm.“ Dabei hatte er sich doch vorgenommen, dass er es diesmal besser einteilen würde.
 

„Ja. Du bist ein Dummkopf.“, stimmte der junge Geflügelte zu. Und ob sein Freund es vergessen hatte. Aber wenigstens einer von ihnen behielt den Überblick. „Und ich finde, den Rest schafft das Pflänzchen nun auch von alleine.“ Er löste seine Finger von Dhaômas Händen und legte sie auf die Rinde, betrachtete den Baum von unten und angelte nach einigen Früchten.
 

Da hatte er wohl Recht. Der Baum sah eh so aus, als hätte er ihm schon zuviel geholfen. Viel zu weit für diese Jahreszeit.

„Das war wunderschön!“ Leonis Wangen waren vor Freude gerötet. Es war Jahre her, dass dieser Baum geblüht hatte. So wie viele andere war er wegen der großen Dürre vor einigen Jahren eingegangen. „Vielleicht hättest du die Blüten noch ein wenig länger lassen können, um uns Zeit zu geben, sie zu bewundern.“

Asam tat es unterdessen Mimoun nach und holte sich ein paar Kirschen.

Der braunhaarige Magier lächelte. „Hätte ich es gemacht, wäre der Baum wieder gestorben. Er hätte bis zum Winter niemals genügend Zeit gehabt, selbst Knospen zu bilden und sich zu entwickeln. Vorsicht, ihr beiden.“, wandte er sich an die beiden Naschkatzen. „Sie werden sauer sein.“

Asams Gesicht zeigte deutlich, dass die Warnung zu spät kam. Die Augen zusammengepresst und den Mund verzogen drehte er sich zu ihnen, was seine Frau zum Lachen brachte. „Zum Glück hat er sie mir nicht zuerst angeboten.“, kicherte sie.
 

Auch Mimouns Gesicht krampfte sich in lustigen Zuckungen zusammen. „Zu spät.“, erklärte er und schüttelte sich. Da waren ihm seine Erdbeeren entschieden lieber.

Das ganze Dorf, soweit sie es mitbekommen hatten, lachte über die beiden Gierhälse. Nun wussten sie selbst es besser und konnten dieses Missgeschick umgehen.

„Natürlich nicht.“, erwiderte Asam an seine Frau gewandt. „Für dich soll es ja auch nur das Beste geben.“

„Wie lange dauert es noch bis man sie gefahrlos essen kann?“, schmunzelte Addar. Er kannte diesen Baum schon lange. Auch konnte er bei normalem Verlauf den Zeitpunkt bestimmen, an dem die Kirschen süß waren, aber jetzt hatte der Magier ein wenig nachgeholfen. Die Früchte waren weiter, als sie sein sollten, aber noch immer sauer. Und wie verhielt es sich nun weiter mit dem Baum? Trieb er noch eine Weile schneller als üblich oder passte er sich wieder seinem Rhythmus an? Die Gräser, die der Magier im Ratskreis hatte wachsen lassen, waren noch am selben Tag wieder entfernt worden.
 

Tja, hätte er es nicht übertrieben, hätten er sich gleich darauf konzentrieren können, sie reifen zu lassen, aber das sollte er für diesen Tag besser nicht mehr bewerkstelligen. „In ein oder zwei Wochen sollten die Früchte süß genug sein. Wenn die Sonne so weiter scheint.“ Dhaôma sah liebevoll in den Baum hinauf. „Genug Wasser hat er jetzt jedenfalls. Solange es welches im See gibt, wird er seine Früchte auch reifen lassen.“ Und da jetzt auch die Herbststürme einsetzten, sollte es dahingehend kein Problem mehr geben.
 

Verstehend nickte Addar. Also nahm es nun seinen natürlichen Lauf. Das war gut zu wissen. Und bedauerlich. Dann musste man wohl noch warten bis zur Ernte.

Mimoun ging ein wenig zur Seite, stellte sich wieder neben Dhaôma und beobachtete, wie das Dorf näher an den Baum heran trat. Die Kinder flatterten höher zwischen die Äste und auch von ihnen aßen einige die sauren Früchte, weil sie die Reaktionen lustig fanden.

„Leoni?“

Als die besorgte Stimme erklang, drehte sich Mimoun zu der Schwangeren um. Diese stand leicht nach vorn gebeugt und hielt sich den Bauch. Asam stand besorgt daneben, bis seine Frau mit dem Hinweis, es sei nun wohl soweit, ihn aus seiner Erstarrung riss und er wie ein aufgeregtes Hühnchen um sie herumzuschwirren begann. Lachend ergriff Addar seinen Enkel an den Schultern und zog ihn von seiner Frau weg.

„Ganz ruhig.“, beschwichtigte der Älteste ihn. „Es wird alles gut gehen.“

Derweil wurde Leoni von zwei Frauen wieder in ihr Heim geleitet und eine dritte rannte in eine andere Hütte, um nur Augenblicke später mit einigen Lederbündeln zu Leoni zu eilen. Asam wollte seiner Frau ebenfalls folgen, aber ihm wurde der Zutritt verwehrt. Und so begann der Enkel des ältesten Geflügelten unruhig vor dem Eingang auf und ab zu laufen. Immer wieder blieb er stehen und lauschte auf eventuelle Geräusche, doch es blieb still. Zu sehr schluckten die dicken Wände jeden Ton.

Der Baum war beinahe uninteressant geworden. Fast jeder Dorfbewohner hatte sich nun vor der Hütte hingesetzt und wartete auf das neue Leben. Nur die Kinder konnten nicht geduldig sitzen bleiben und rannten lachend um den neu erwachten Baum herum. Als schließlich nach fast zwei Stunden eine der Frauen im Eingang erschien, blieb Asam endlich stehen. Nichts hatte ihn bisher vom Laufen abhalten können. Doch was er fragen wollte, blieb unausgesprochen. Das Gesicht der Frau war ernst und traurig zugleich. Und es brauchte seine Zeit, bis sie die Auskunft gab, die alle beschäftigte.

„Es gibt...“, begann sie stockend. „...Schwierigkeiten. Wir können entweder das Kind retten oder beide sterben.“

„Was soll das heißen?“, fragte Asam aufgebracht und packte die Frau an den Armen. Man konnte deutlich sehen, welche Kraft er dabei aufwandte. „Was ist mit Leoni?“

„Das Kind. Es liegt quer und wir können es nicht drehen. Wir müssen es herausschneiden, sonst sterben beide.“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Asam fügte ihr eindeutig Schmerzen zu, doch er schien es nicht zu sehen.

„Und so stirbt Leoni, oder was?“, schrie er sie an. „Ich will zu ihr!“

„Das kannst du nicht. Ihr...“

Bevor jemand anderes reagieren konnte, war Mimoun aufgestanden und an Asams Seite getreten. Damit unterbrach er auch den Satz der Frau. Gewaltsam löste er den Griff und Asam wirbelte zu ihm herum, richtete seine Aufmerksamkeit, seine Wut und Verzweiflung nun auf den jungen Geflügelten. Mimoun wehrte sich nicht, als der andere in seinem Schmerz einfach zuschlug. Er ließ den Schlag einfach geschehen, um ihm die Möglichkeit zu geben, mit der Situation fertig zu werden.

„Sie kann gerettet werden, aber Ihr müsst mir zuhören.“, bat er, als er sah, dass Asam zu einem zweiten Schlag ausholte. Dieser Treffer saß noch, doch dann hielt der andere inne, sah ihn mit verzweifelter Hoffnung an.

„Dhaôma.“, begann er und deutete mit einer Hand auf den Magier. Mit dem anderen Handrücken rieb er sich über die Lippen, denn der letzte Schlag hatte seinen Kiefer getroffen und die Lippe aufplatzen lassen. „Er verfügt über Heilkräfte. Sie sollen das Kind herausschneiden und er wird diese Verletzung anschließend heilen.“

Asam wich einen Schritt zurück und sah, von einer Erinnerung gelenkt, zu Mimouns linkem Flügel. Verstehen blitzte in seinen Augen auf, während seine Züge noch immer von Angst verzerrt waren. Asam wandte sich Dhaôma zu, warf sich vor ihm auf die Knie und senkte demütig das Haupt. „Ich flehe dich an. Rette meine Familie.“
 

Dhaôma hatte Mimoun schon dankbar angeschaut, als dieser den Vorschlag gemacht hatte, jetzt war er bestürzt über diese Geste der Unterwerfung. Warum warf er sich zu Boden? Was erhoffte er sich von ihm? Glaubte er wirklich, dass er so grausam war, dass er dabei zusah, wie jemand im Kindsbett starb?

Ein kurzer Blick huschte zu der Frau, die noch immer auf eine Antwort wartete. Sie sah ernst aus, als wäre es dringend. Seine Hand legte sich auf Asams Schulter. „Du hättest nicht fragen brauchen. Selbstverständlich werde ich alles in meiner Macht stehende tun, um ihr zu helfen.“ Im Grunde hatte er nur eine Erlaubnis gebraucht, nicht wahr? Allerdings fragte er sich, ob er dazu tatsächlich genug Kraft hatte. Nie hatte er etwas Ähnliches versucht. Zudem hatte er ja schon den Baum wachsen lassen. Hatte er wirklich noch genügend Kraft übrig, um jemanden zu heilen, den jemand aufgeschnitten hatte?

Entschlossen stand er auf und wandte sich der Hebamme zu, wartete ab, was sie sagen würde.
 

Asam sah dankbar zu Dhaôma. Er richtete sich wieder auf, blieb aber weiterhin hocken.

Mimoun seufzte unhörbar. Da es kritisch um Leoni zu stehen schien, würde der Magier all seine Kräfte aufbrauchen. Er wandte sich der Hebamme zu. „Dhaôma wird danach müde sein. Lasst ihn bitte schlafen.“, warnte er sie vor dem Unausweichlichen.

Sie runzelte irritiert die Stirn. Einerseits verstand sie nicht ganz die Bedeutung von Mimouns Worten, andererseits war sie nicht von der Idee angetan, einen Mann und dann noch einen Magier zu der Gebärenden zu lassen. Doch wenn er tatsächlich auch über solche Kräfte verfügen sollte, könnte er es wirklich schaffen sie zu retten. Und Asam persönlich hatte ihn darum gebeten. Es ging um seine Familie, da hatte er das letzte Wort.

„Komm.“, wandte sie sich knapp an Dhaôma, winkte ihm ihr zu folgen und betrat wieder die Hütte. Sie verschwand hinter einer der Lederplanen.

„Du schaffst das. Das weiß ich.“, lächelte Mimoun seinem Freund zu, bevor dieser ihr folgen konnte. „Und ruh dich dann ruhig aus. Ich komm, sobald ich darf.“

Schwere Geburt

Kapitel 26

Schwere Geburt
 

Der Junge nickte, dann folgte er Eloyn, der Hebamme.

Im Haus war es dämmrig wie immer und Dhaôma war froh darum. Auch so konnte er sehen, dass bisher viel Blut geflossen war. Und es würde noch mehr werden.

Die anderen Frauen wirkten irritiert, und so klärte Eloyn sie mit wenigen ruhigen, sachlichen Worten auf, die keinen Widerspruch zuließen. „Es ist Asams Wunsch.“, setzte sie am Ende noch hinzu und damit war klar, dass es rechtens war.

„Wo soll ich hin, damit ich nicht störe?“, fragte Dhaôma. „Ich muss sie berühren können.“

„Mir gegenüber.“, sagte sie schroff und sah mit Befriedigung, dass er umgehend gehorchte. Die anderen beiden bezogen Position an den Armen und Beinen der werdenden Mutter. „Du weißt, wie so was abläuft?“, fragte sie und es klang scharf.

Dhaôma schüttelte den Kopf. „Ich habe so etwas noch nie gesehen.“

Das war ihr Antwort und Information genug. „Dann hör genau zu. Ich werde den Bauch aufschneiden. Nur so weit, wie die äußere Begrenzung reicht. Es sind nur wenige Zentimeter und muss schnell gehen. Sie wird bluten. Viel. Das musst du stoppen, sobald das Kind draußen ist.“

Nickend deutete er an, dass er verstanden hatte. Glücklich war er nicht über den Gedanken, aber er musste tapfer sein. „Könnt Ihr mir helfen? Ich werde meine Hände brauchen, die Magie fließen zu lassen. Jemand muss die Wunde zusammendrücken, damit ich die Blutung auch stoppen kann.“

Auch diesen Vorschlag nahm sie an. Sie sicherte ihm Hilfe zu, dann legte sie das Messer an. „Ich beginne.“

Eigentlich hatte Dhaôma gedacht, dass Leoni ohnmächtig war, doch als sie vor Schmerzen aufschrie, wusste er, dass es nicht so war. Vor Schreck zuckte er zusammen, unterdrückte den Wunsch, sich die Ohren zuzuhalten. Fast war er dankbar, als der Schrei abbrach. Dafür drohte nun das Blut seine Sicht zu nehmen. Prominent quoll es aus dem Gewebe, die Hände der Hebamme verschwanden in dem Bauch, dann zogen sie ein ebenso blutiges Kind heraus.

„Los!“, befahl sie und der Magier aktivierte die Magie, die ihm vor lauter Panik schon ganz von alleine unter seiner Haut brannte. Zwei Hände drückten den Schnitt zusammen, Dhaômas legten sich darauf. Vor seinem inneren Auge sah er, welche Strukturen verletzt waren, spürte instinktiv, welche zuerst heilen mussten, damit das alles funktionieren konnte. Die Linien auf seinen Wangen und seinem Nacken leuchteten, Gewebe löste sich auf und zerfiel, bildete sich neu. Adern verwuchsen oder verödeten, bildeten sich ganz einfach neu. Doch viel zu schnell schwand seine Kraft. Er konnte es spüren.

Wenn er jetzt aufhörte, würde sie sterben, würde einfach innerlich verbluten!

Angst kroch in seinem Herzen hoch, schnürte es zusammen. Im gleichen Moment zerriss der Schrei des Neugeborenen die Luft, als spüre es den nahen Tod der Mutter. Es fachte die Angst Dhaômas um das Leben vor sich an. Er musste es schaffen! Schon allein um des Kindes Willen!

Das Leuchten wurde intensiver als vorher, erhellte die ganze Hütte, als er alles gab. Längst oblag die Kontrolle nicht mehr ihm. Die Magie floss einfach aus ihm heraus, suchte sich von allein ihren Weg und ihren Bestimmungsort, bevor sie ganz plötzlich erlosch. Ohnmächtig sank Dhaôma in sich zusammen. Seine Kraft war aufgebraucht.

Eloyn sah das mit Besorgnis. Ja, die Wunde war nun kleiner und hatte auch keine Verbindung mehr nach innen, aber sie war weit davon entfernt, wirklich geheilt zu sein! Würde das reichen? Aber wenn er nicht mehr konnte, dann war das nicht zu ändern. Er hatte Leoni zumindest eine Chance erkämpft, das musste sie ihm zugestehen.

Mit wenigen Anweisungen kommandierte sie ihre Helferinnen herum. Sie schafften den nun störenden Mann beiseite, bevor sie die Wunden behandelten. Mit eingekochtem Urin deckten sie die offenen Bereiche ab, wuschen das Blut von Mutter und weinendem Kind und gaben dem Kind zu trinken. Zu ihrem Glück funktionierten die Brüste und Milch kam hervor, als es zu saugen begann.

Eine Viertelstunde später war die Mutter vollkommen in frische Felle eingewickelt und hielt das nun vor Erschöpfung schlafende Kind im Arm. Noch immer war sie nicht bei Bewusstsein, doch ihr Atem ging ruhig, das Herz schlug noch. Es war mehr, als man ihr zugestanden hatte. Die blutigen Felle wurden entfernt, bevor Eloyn nach draußen ging.

„Asam.“, rief sie ihn heran und nickte ihm mit einem annähernd beruhigenden Lächeln zu. „Geh zu ihr. Sie ist noch nicht wach, aber sie lebt. So auch deine Tochter.“

Der Mann, der bei ihrem Anblick fast in Tränen ausgebrochen war wegen all dem Blut, stieß die unbewusst angehaltene Luft aus. Wortlos vor überschäumenden Emotionen, trat er an ihr vorbei ins Haus, während sie das Dorf kurz in Kenntnis setzte:

„Der Magier hat ihr eine Chance gegeben. Sie lebt, aber wir können nicht sagen, wie lange noch.“ Aus ihrer Stimme sprach eine Mischung aus Bewunderung und Abneigung. „Wir werden abwarten müssen.“
 

Erleichtert seufzte Mimoun auf. Er hatte gewusst, dass er es schaffen würde. Doch die Kraft schien nicht für eine vollständige Heilung gereicht zu haben, wie er den Worten entnehmen konnte. Er trat an die Frau heran. „Wenn ihr es schafft, Leoni zwei oder drei Tage am Leben zu erhalten, wird alles gut. Solange wird Dhaôma brauchen, um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen. Dann wird er sie sicher vollständig heilen.“, klärte er sie auf und sie nickte verstehend. Zwei, drei Tage klangen nicht viel, auch wenn sie lang werden konnten. Das würden sie schon schaffen. „Darf ich zu ihm?“, setzte er als Frage noch hinterher und Eloyn trat noch ein wenig weiter zur Seite. Mit einer knappen Bewegung deutete sie auf den Raum, in den sie ihn geschafft hatten, damit Mutter und Kind sich ungestört erholen konnten. Mimoun nickte dankbar und trat in das Halbdunkel jenseits der Lederbahnen. Dhaôma lag am Rand auf einigen Fellen, die notdürftig als Lager zusammengetragen worden waren. Leise hockte er sich daneben und strich seinem Freund vorsichtig einige Strähnen aus der Stirn. Sorgsam achtete er darauf, ihn nicht zu wecken.

„Das hast du sehr gut gemacht.“, flüsterte er lächelnd und überzeugte sich mit Blicken davon, dass er ungestört schlafen konnte. „Ich bin bald wieder da. Ruh dich aus.“ Ebenso leise, wie er gekommen war, entfernte er sich auch wieder. Er organisierte einen Wasserschlauch, den er Dhaôma an die Seite legte, und holte vom Fluss noch einige Pflaumen. Anschließend erkundigte er sich nach Leonis Befinden und dem des Kindes und ging dann zu Addar. Er entschuldigte sich dafür, ihnen länger zur Last zu fallen, als ursprünglich beabsichtigt, aber dieser wies entschieden von sich, dass sie eine Last darstellten. Er war dankbar für ihre Anwesenheit und er war froh, sie länger als Gäste betrachten zu dürfen.

Danach trat Asam an Mimoun heran. Ein wenig war der Schwarzhaarige erstaunt, dass sich der frischgebackene Vater von seiner Familie trennen konnte, auf eine entsprechende Anmerkung Mimouns, erklärte dieser, er wollte sich bei ihm nur für sein rüdes Benehmen entschuldigen. Nun wehrte Mimoun ab. Er erwiderte, er könne ihn verstehen und er trage es ihm nicht nach.

Nachdem er alles Wichtige erledigt hatte und da sich der Tag bereits seinem Ende neigte, zog sich Mimoun mit einem knappen Hinweis zurück. Der Raum wurde ein wenig verkleinert, so dass wirklich nur noch Platz für Mimoun und den Magier war. Dort beugte er sich noch einmal kurz über seinen Freund, überzeugte sich von dessen friedlichem Schlaf und legte sich neben ihm zur Ruhe.

Am nächsten Morgen ließ er Dhaôma schlafen und frühstückte zusammen mit der Familie Addars. Anschließend machte er sich ein wenig im Dorf nützlich. Mimoun sah immer wieder eine der Hebammen in der Hütte verschwinden, um sich um Leoni und das Kind zu kümmern. Doch alles blieb ruhig. So lange keine Hektik ausbrach, war alles in Ordnung.

Gegen Mittag betrat Mimoun wieder den Raum und rüttelte sanft an Dhaômas Schultern. Der Magier musste etwas essen. Danach konnte er weiterschlafen.
 

Dhaôma reagierte auf das Schütteln. Müde öffnete er die Augen und setzte sich auf. „Hab ich verschlafen?“, wollte er schlaftrunken wissen und reckte sich. „Ai, gib mir ein paar Minuten, dann bin ich wach.“ Ein herzhaftes Gähnen verwusch die letzten Worte, versuchte sie Lügen zu strafen.
 

Mimoun lachte amüsiert. „Schon gut. Du kannst gleich weiterschlafen. Du solltest nur langsam etwas essen und trinken.“ Mit diesen Worten reichte er seinem Freund die bereitgelegten Nahrungsmittel. Er ließ sich hinter Dhaôma nieder und bot ihm so eine Stütze im Rücken.
 

An Mimoun zweifelnd sah dieser ihn an. Warum sollte er weiterschlafen und nur etwas essen? War etwas passiert?

Angestrengt überlegte er, aber es erschien ihm zu müßig. Leicht lehnte er sich gegen Mimoun, gab dem inneren Bedürfnis nach Nähe nach und nahm erst den Wasserschlauch und danach die Pflaumen an. Er erinnerte sich dunkel an den Streit. Da gab es eine Sache, die ihm noch immer keine Ruhe ließ.

Schwach ließ er die Hände mit den Pflaumen sinken. „Mimoun, warum willst du für mich kämpfen? Was bringt dich dazu, mich beschützen zu wollen?“

Irgendwie war da noch etwas anderes, das in ihm bohrte, aber er kam nicht drauf.
 

Mimoun schwieg. Er hatte sich über diese Sache nie wirklich Gedanken gemacht. Er wollte diesen Jungen beschützen. Mit allem, was ihm zur Verfügung stand. Punkt. Reichte das nicht? Wollte Dhaôma unbedingt eine genauere Erklärung.

„Ich weiß nicht. Weil du mein Freund bist?“, schlug er vor, sich selbst nicht sicher, ob das als Erklärung reichen würde. „Aber darüber können wir reden, wenn du wieder bei Kräften bist. Ruh dich noch ein wenig aus.“
 

Das stimmte. Er fühlte sich tatsächlich ausgelaugt. Aber warum? „Was ist denn passiert? Hab ich wieder was angestellt?“
 

Erneut lachte Mimoun. „Hast du es tatsächlich vergessen?“ Das war erstaunlich. Aber wenn er sich recht entsann, konnte sich Dhaôma auch nicht mehr daran erinnern, was nach dem Absturz in der Gerölllawine geschehen war. Eine Nachwirkung bei zu großem Kraftaufwand. Aber wenigstens schien er nun ein wenig klarer und ansprechbarer zu sein als damals. „Leoni und ihr Kind wären beinahe bei der Geburt gestorben. Das Kind hätten sie auch so retten können, nur Leoni hätte die Geburt mit Sicherheit nicht überlebt. Du hast sie gerettet. Sie scheint noch immer nicht völlig über den Berg zu sein, dafür hattest du deine Kräfte zu sehr bei dem Baum beansprucht.“ Er löste sich vorsichtig von seinem Freund. „Sie tun alles, damit es ihr nicht wieder schlechter geht, also ruh dich erst einmal richtig aus, bevor du deine Kräfte wieder beanspruchst. Die Zeit hast du, vertrau mir.“, versuchte er Dhaôma mit Worten dazu zu bringen, sich zu erholen. Sollte dieser dennoch versuchen, jetzt zu ihr zu gehen, würde er ihn mit Gewalt dazu überreden müssen zu bleiben.
 

Dhaôma war regelrecht erschrocken, als Mimoun seine Erinnerungen auffrischte. Ja, er erinnerte sich. Er hatte sie geheilt. Und es hatte nicht gereicht. Und er sollte jetzt schlafen?

„Aber sie hätte größere Chancen, sich zu erholen, wenn es ihr ein wenig besser ginge, oder? Auch wenn es nur wenig Kraft ist. Und ich kann schlafen. Mir geht es nicht schlecht!“ Bittend sah er den Schwarzhaarigen an.
 

„Damit du gleich wieder zusammenbrichst? Glaubst du wirklich, das tut dir gut?“, fragte er zweifelnd. Vielleicht hätte er doch besser die Klappe gehalten.
 

Da traf er einen wunden Punkt. Nein, es tat ihm mit Sicherheit nicht gut. Es war niemals gut, das Bewusstsein zu verlieren oder sich vollkommen zu erschöpfen. Aber die Angst, dass diese nette Frau sterben könnte, saß tief in seinem Magen und knotete ihn effektiv zusammen.

„Und wenn sie stirbt?“
 

„Das wird sie nicht. Hab ein wenig Vertrauen in unser Wissen über Heilkunst. Nicht, dass ich mich damit auskennen würde.“, fügte er schnell an. Aber Mimoun sah auch, dass Dhaôma besorgt war und so schnell keine Ruhe geben würde. Also nickte er. „Gut. Wir haben es jetzt Mittag. Du schläfst noch bis zum Abend und leihst ihr dann ein wenig von deiner Kraft. Und zwar nur so viel, dass keine Gefahr mehr für sie besteht, wenn deine Kräfte überhaupt soweit reichen. Keine Überanstrengung deinerseits, verstanden?“
 

Seufzend nickte der Braunhaarige und ließ sich dann wieder gegen seinen Hanebito sinken. „Weck mich, wenn was passiert.“, murmelte er noch, bevor er dem zerrenden Bedürfnis von Schlaf wieder nachgab. Die Diskussion hatte ihn Kraft gekostet, die er nicht zur Verfügung hatte.
 

„Und du wolltest Leoni helfen?“, schmunzelte der junge Geflügelte amüsiert. Er versuchte Dhaôma vorsichtig und ohne ihn erneut zu wecken wieder auf die Felle zu legen, doch es war unmöglich. Seufzend ließ er sich also zusammen mit seinem Freund zurücksinken und hielt ihn mit seinen Armen umschlungen. Tief atmete er ein und schloss ebenfalls die Augen. Jetzt konnte er nur warten, bis es soweit war.

Er konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, als das Geräusch von aufeinander schlagendem Leder ihn aus seinem Halbschlaf riss. Träge sah er auf und sah Addar. „Ich habe mich schon gefragt, warum du so plötzlich verschwunden warst.“, fing dieser an.

„Verzeiht. Er hat mich nicht wieder gehen lassen.“, erwiderte dieser verlegen. Dann ging ihm etwas auf. „Welche Tageszeit haben wir jetzt?“ So richtig einschätzen konnte er es in dem Halbdunkel nicht. Es war noch nicht ganz finster, aber im Sommer ging die Sonne sowieso später unter.

„Es wird langsam Zeit für die Abendmahlzeit. Falls du dich losmachen kannst, natürlich.“

Mimoun nickte und strich Dhaôma durch die Haare. „Aufwachen.“, verlangte er. „Es wird Zeit.“
 

Diesmal dauerte es nicht so lange, bis Dhaôma reagierte. Er hatte wunderbar geschlafen und fühlte sich ausgeruht. Blinzelnd bewegte er sich, schlug die Augen auf und sah Addar. „Ai, Guten Morgen, Addar Maral.“ Hinter sich spürte er eine Bewegung und drehte sich um. Mimoun diente ihm als Bett. Herrje, warum machte er so was immer wieder? „Guten Morgen. Tut mir Leid, war es sehr unbequem?“
 

Höflich und mit einem Lächeln erwiderte Addar den Gruß. Ob dem Jungen nicht bewusst war, welche Tageszeit nun war? Oder war für ihn jedes Erwachen ein Morgen?
 

„Also, ich hab schon besser gelegen.“, erwiderte Mimoun und ließ Nacken, Schultern und Rücken knacken. „Aber auch schon viel schlechter.“ Langsam hob er seine Hand in Dhaômas Richtung und ließ seinen Fingerknöchel gegen dessen Stirn fallen. „Von wegen ‚Guten Morgen’. Es ist Abend, es gibt gleich Essen und du wolltest noch einmal nach Leoni sehen.“
 

Erinnerungen krochen in ihm hoch. Ja, er hatte ihn abends wecken wollen, damit er Leoni besuchen konnte. Damit er ihr helfen konnte, auch den Rest der schweren Geburt zu überwinden.

„Dann sollte ich mich wohl beeilen, damit niemand warten muss.“ Schwungvoll erhob er sich, hielt Mimoun die Hand hin und zog ihn hoch. „Ist es okay, wenn ich sofort gehe?“ Er machte sich Sorgen. Und er hatte noch immer nicht das richtige Gefühl dafür, wann seine Zeit gekommen war, wie Mimoun es damals ausgedrückt hatte.
 

„Geh ruhig.“, erwiderte Mimoun, ohne eine Antwort Addars zuzulassen. „Hier hat niemand etwas dagegen, wenn du ihr hilfst. Außerdem hat Asam dich darum gebeten oder nicht?“ Kurz musterte er seinen Freund von oben bis unten. Dieser schien wieder völlig fit zu sein. Dhaôma zeigte nicht das kleinste Anzeichen von Schwäche. Aber genauso gut konnte der Eindruck täuschen, da er unbedingt Leoni helfen wollte. Beim letzten Mal hatte er fast zwei Tage gebraucht, um sich zu erholen. „Aber denk daran. Nicht wieder bis zum Umfallen.“ Er trat zu Addar, der Platz machte, und hielt Dhaôma die Lederplane auf.
 

Strahlend nickte Dhaôma und trat an ihm vorbei. Die übrig gebliebenen Damen des Hauses waren tatsächlich schon dabei, den Tisch zu decken, während die Kinder mehr im Weg standen und einander haschten. Dhaôma begrüßte sie und erkundigte sich nach Leonis Aufenthaltsort. Die Jüngere von Asams Schwestern nickte und deutete auf eine Lederplane, die zurückgeschlagen war, damit man jederzeit mitbekam, falls irgendetwas passieren sollte. Dankend hob er die Hand, danach war Ruhe im Raum, als er zu der Kranken ging.

Dhaôma war sich nicht bewusst, dass ihm alle Blicke folgten. Leoni war blass. Ihr Haar war strähnig und sie wirkte trocken, als hätte sie nicht genug zu trinken bekommen. In ihrem Arm lag der kleine Hanebito, neben ihr kauerte ein völlig übernächtigter Asam. Sanft berührte Dhaôma ihn am Arm und schenkte ihm ein sanftes Lächeln.

„Ich halte meine Versprechen.“, teilte er ihm mit und ließ sich neben ihm nieder, dann widmete er sich der Patientin. Sie hatte Fieber. „Hilf mir bitte. Ich muss an ihren Bauch heran.“ Schließlich hatte Mimoun verboten, dass er seine ganzen Kräfte einsetzte. Aber wie er das momentan einschätzte, waren diese noch nicht stark genug, um sie vollständig zu heilen, ohne entsprechende Nebenwirkungen auf seiner Seite.

Das Kind bewegte sich quengelnd, als Asam mit engem Hals tat, was Dhaôma verlangt hatte. Darauf hatte er doch gewartet! Er schlug die Decken zurück und nahm das Kind in den Arm, damit der Junge genügend Platz hatte. Dann beobachtete er bang, wie die langen, schmalen Hände des Magiers über den Bauch strichen, wie sie der Wunde folgten. Immer wieder konnte man kurz besser sehen, wenn die Zeichen in seinem Gesicht ein bläuliches Licht von sich gaben, bevor sie wieder verloschen. Dann schien er gefunden zu haben, was er wissen musste, denn die eine Hand legte sich sicher auf die Stelle knapp unter dem Schnitt, während die andere ihren Weg auf die Stirn der Mutter fand, und die Zeichen leuchteten erneut, diesmal heller. Der eitrige Schnitt am Bauch zog sich zurück, wurde kleiner und verschwand, ließ nur eine helle, kaum sichtbare Narbe. Wenige Sekunden später war auch diese weg und Dhaôma zog seine Hände wieder zurück und lächelte glücklich.

„Ich werde noch einmal kommen.“, meinte er, doch er sprach nicht mit Asam, sondern meinte Leoni, die ihn verwirrt anblinzelte. „Danach wirst du auch wieder laufen können.“

Trockene Lippen bewegten sich, es kam jedoch kein Ton heraus. Ihre Finger strichen schwach über die weichen Felle und schienen nach irgendetwas zu suchen.

„Asam, gib ihr etwas zu trinken. Wenn du möchtest, mache ich ihr später Suppe, damit sie etwas essen kann, was ihr Magen verträgt.“

Perplex nickte der Blonde. Und in dem Moment, als Dhaôma sich erhob und Platz machte, war er bei seiner Frau und drückte seine Stirn gegen ihren Arm, seine Tochter eng an sich gepresst. „Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass du wach bist!“, brachte er erstickt hervor.

„Was ist denn überhaupt los?“, wollte sie wissen und ihre Hände strichen über seinen Kopf.

Dhaôma ließ sie allein. „Gibt es hier einen Ort, wo man sich waschen kann?“, fragte er in die Runde. Cerel hatte es nicht geschätzt, wenn man ungewaschen zum Essen erschien.
 

„Draußen beim See.“, antwortete Asams Mutter verblüfft. Bei ihnen gab es nur die eine Möglichkeit, die auch für den Magier leicht zu erreichen war. „Aber beeil dich bitte. Es gibt gleich Essen.“ Sie bedachte ihn mit einem dankbaren Blick. Die ganze Familie hatte gesehen, wie Leoni sich zu regen begonnen hatte. Zu sehen, dass es ihr nun besser ging, nahm ihnen allen die Anspannung.

Mimoun, der als Gast still in einer Ecke gesessen hatte, um nicht im Weg zu sein, erhob sich nun und trat neben Dhaôma. Sanft legte er seine Finger auf dessen Stirn und sah ihn prüfend in die braunen Augen, suchte nach einem Anzeichen für Überanstrengung.
 

Der Junge lachte und nahm die Hand weg. „Ich halte meine Versprechen.“, sagte er. „Und jetzt muss ich mich beeilen.“ Auch ein Versprechen.

Wenig später eilte er durch das Dorf. Amar war seiner Mutter durch die Hände geschlüpft und rannte ihm hinterher. Der Junge hatte seinen Spaß mit dem seltsamen Mann, der jetzt bei ihnen zu Gast war. Und er konnte wundervolle Dinge machen. Dass Bäume blühten, die niemals blühten, dass Früchte reif wurden, dass Menschen wieder gesund wurden. Ungeheuer interessant. Vielleicht zeigte er noch andere Dinge, wenn er ihn nur lange genug beobachtete.

Er wurde enttäuscht. Dhaôma wusch sich wirklich nur kurz. Wie praktisch, den Teich zum Waschen gleich auf derselben Insel zu haben. Besser als in Mimouns Dorf.

Wenig später lief er mit Amar um die Wette zurück. Der Junge sagte, er wäre selbst ohne Fliegen noch schneller als Dhaôma, doch dieser überzeugte ihn vom Gegenteil. Mit seinen langen Beinen hatte er einen unüberwindlichen Vorteil. Lachend stoppte er kurz vor der Hütte, während der Junge einfach gegen die Häute klatschte und von der Wucht von den Füßen geholt wurde.

„Na, alles okay?“

Benommen stand Amar auf und nickte. „Ich gebe es zu, du bist schnell.“, sagte er. „Aber irgendwann schlage ich dich.“

„Viel Glück!“, grinste Dhaôma, bevor sie eintraten.
 

Zufrieden nickte Mimoun, als Dhaôma die Hütte verlassen hatte. Es schien ihm tatsächlich noch immer gut zu gehen. Beruhigt begab er sich wieder auf seinen Platz und wartete. Darauf, dass der Magier zurückkehrte. Darauf, dass das Essen serviert wurde.

Kurz bevor Dhaôma wieder die Hütte betrat, griff sich Mimoun an den Kopf. Er hatte den ganzen Tag Zeit gehabt und es nicht auf die Reihe gebracht, Fleisch für seinen Freund zu braten. Was war er doch für ein Idiot. Wie konnte er denn vergessen, dass Dhaôma kein rohes Fleisch mochte? Wenigstens waren noch einige Früchte zur Abwechslung da.

Das Erscheinen der beiden Abwesenden wurde durch ein dumpfes Rumsen angekündigt. Erstaunt sahen die Verbliebenen auf und zum Eingang, wo gut gelaunt Dhaôma und ein benommener Amar eintraten. Besorgt wurde der Junge in Empfang genommen. Nach einer kurzen Erklärung beruhigte sich seine Mutter schnell wieder.

Mimoun klopfte auf den Platz neben sich und das Essen, das mittlerweile aufgetischt worden war, wurde zum Verzehr freigegeben. Hungrig griff der junge Geflügelte zu.
 

Nach dem Essen musste Mimoun Holz holen und den Rest des Abends verbrachte Dhaôma damit, Suppe zu kochen. Das Feuer war die Attraktion des Abends. Zuerst wurde es mit Misstrauen betrachtet, aber als der Magier begann, heiße Steine in eine Holzschale zu legen, bis das Wasser dampfte, verloren sie ihre Scheu. Dass man Feuer beherrschen konnte, gefiel ihnen. Einer fragte, ob er die Feuersteine haben konnte, aber das lehnte Dhaôma ab. Dennoch durfte er sie sich ansehen und damit üben; eine Aufgabe, die bei vielen Spaß auslöste. Stolz zeigten Erfolgreiche ihre glimmenden Strohbüschel herum.

Asam kam dann die Aufgabe zu, seine Frau mit Suppe zu füttern. Begeistert war sie von der Suppe nicht, aber sie musste zugeben, dass es angenehm war, etwas Heißes zu sich zu nehmen. Sehr ungewohnt, aber es löste durchaus ein wohliges Gefühl in ihrem Magen aus.

Am nächsten Morgen suchte Dhaôma die junge Mutter wieder auf und wiederholte die Prozedur des Vorabends. Als sie sich aufsetzte, stellte er fest, dass sich auch in ihm etwas getan hatte. Warum auch immer, es wurde leichter zu zaubern. Vielleicht gewöhnte er sich langsam an diese Art der Magie.

Leonie lächelte ihn an. Ihre Schmerzen waren weg. „Du bist wirklich unglaublich, junger Mann.“

Asam hatte da weniger Hemmungen. Er umarmte Dhaôma so fest er konnte. „Vielen Dank!“

Dhaôma lachte. „Gern geschehen.“ Was für eine ungewohnte Situation, dass er sich bei einem Dank nicht mehr bewegen konnte.
 

Mimoun hatte sich am Vormittag der Jagd des Dorfes angeschlossen. So hatten er und Dhaôma noch ein wenig Vorräte für ihre Weiterreise, die sie bei einer weiterhin guten Genesung von Leoni endlich fortsetzen konnten. Ein wenig sah er dem Abschied mit Wehmut entgegen. Hier hatte Dhaôma schneller Anschluss und Respekt innerhalb des Dorfes gefunden. Es war ein Fortschritt und blieb wahrscheinlich nur ein kurzfristiger, da die anderen Dörfer nicht über die Anwesenheit Addars verfügten. Doch es ließ sich nicht ändern. Sie wollten schließlich vorwärts kommen.

Kurz vor Mittag kehrte er zurück in die Hütte und erkundigte sich nach Leonis Befinden. Es tat gut zu sehen, dass diese kleine Familie nicht auseinander gerissen worden war. Sein Weg führte ihn anschließend zu Dhaôma. Kurz wuschelte er durch dessen Haare. „Du bist großartig. Weißt du das eigentlich?“
 

Lachend wich er der Hand aus. „So was Ähnliches hat Leoni auch gesagt.“ Dann wurde er ernst. „Hier beginne ich zu glauben, dass es so ist. Weißt du, Mimoun, wenn ich hier bin, ist meine Gabe plötzlich etwas wert. Ich kann sehen, dass sie etwas bringt. So wie du gesagt hast.“

Kurz versicherte er sich, dass kein anderer sie hören konnte. Selbst Amar war gerade nicht da. „Weißt du, ich habe Angst davor, zurückzugehen. Was, wenn ich diese Kraft für den Krieg einsetzen muss? Ich kann damit viel Gutes tun, aber ich weiß, dass die Magier auch für diese Kraft eine Methode finden, sie im Kampf zu nutzen. Das will ich nicht.“
 

„Sie können dich nicht dazu zwingen.“, erwiderte Mimoun. Dass Dhaôma an seine Fähigkeiten glaubte, wenn jemand anderes es sagte und nicht wenn der junge Geflügelte es immer wieder bestätigt hatte, wurmte ihn ein klein wenig. Aber wenigstens glaubte der Magier jetzt daran und hielt sich nicht mehr für nutzlos. „Selbst wenn sie dich in die erste Schlachtreihe stellen würden. Solange jeder Geflügelte dich kennt und du deine Kräfte nicht einsetzt, bist du nicht in Gefahr.“ Kurz stockte er, dann grinste er hinterhältig. „Aber sollten sie dich wirklich nicht mehr fortlassen wollen, meld dich freiwillig. Von der Front kann ich dich einfacher wegholen, als dich erst innerhalb einer Stadt zu suchen und zu befreien. Hach. Ich bin ein Genie.“
 

Da sagte er was Wahres. Außerdem konnte er dort leichter untertauchen. In den Wäldern oder sonst wo war es nicht besonders schwierig, einfach zu verschwinden. „Meinst du, die anderen können mich zwischen all den anderen Magiern erkennen? Immerhin haben dort fast alle die gleiche Frisur und die Kleider sind auch recht ähnlich, immer im Schnitt wie diese hier.“ Er hob die Arme und zeigte so die Tunika mit ihrem vorne offnen Rock. „Und wie mir die Kinder hier wiederholt zusicherten, ist es ja nicht einmal eindeutig gesagt, dass ihr die Frauen ausschließen könnt.“
 

„Dann müssen wir uns etwas für dich überlegen, was dich eindeutig von den anderen Magiern unterscheidet.“, überlegte Mimoun laut und für sich. „Die Haare abschneiden, wäre eine Möglichkeit, aber kommt nicht in Frage. Ich hab dich so kennen gelernt, sie stehen dir gut, lass sie. Auffällige Farben werden sie wohl nicht zulassen. Es wäre wirklich selten dämlich, wenn man im Krieg für den Gegner sofort zu sehen ist. Das werden sie also sofort unterbinden wollen. Und wenn du unter deinen Kleidern einen bunten Stoffstreifen einschmuggelst und im letzten Augenblick umbindest? Nee. Wenn das jemand von deinen Leuten sieht, werfen sie dir bei fehlschlagen der Flucht Verrat vor.“
 

Im ersten Moment waren Dhaômas Augen groß geworden. Seine Haare abschneiden? Das kam ihm grausam vor. Andererseits war es doch dafür, dass Mimoun ihn wieder erkannte, nicht wahr? Und es war nichts weiter als ein Merkmal für seinen Stand unter den Magiern. Jeder Krieger hatte seine Haare auf eine Art zu tragen, jeder hochgestellte auf eine andere Weise. Es war das, was ihm von seinen engstirnigen Eltern vorgeschrieben worden war.

Wortlos griff er in seine Tasche und holte das Messer hervor. Auffordernd hielt er es Mimoun entgegen. Wenn es ihnen half, war es okay, wenn die Haare ab waren. Wenn er sich dafür von den übrigen Magiern unterschied, dann war das umso besser.
 

Verständnislos blinzelte er seinen Freund an. Was hatte er nun mit dem Messer vor?

„Was soll ich damit?“, fragte er irritiert.
 

„Ich denke, dass es wirklich am sinnvollsten wäre, wenn ich die Haare abschneiden würde. Es gibt kaum Magier, die kurze Haare tragen. Das widerspricht dem allgemeinen Empfinden. Und da ich das nicht alleine machen kann, musst du das machen.“
 

Ach darum ging es. Mimoun ließ seine Hand gegen Dhaômas Stirn klatschen. Nur leicht. Er wollte ihm ja keine Schmerzen zufügen.

„Je nachdem wie lange wir unterwegs sein werden, wachsen die Haare sowieso wieder nach. Lass sie dran. Ich kümmere mich darum, wenn es wirklich soweit kommen sollte. Versprochen.“, fügte er an, damit Dhaôma nicht glauben musste, sein Freund weiche der Sache aus.
 

„Wie du meinst.“ Der Junge packte das Messer weg.

In dem Moment flogen die Häute beiseite und Amar peste ins Zimmer. „Was meint Mimoun?“

„Dass die Haare dran bleiben, bis es nötig ist, sie abzuschneiden.“

„Du willst sie abschneiden?“

„Ja, damit ihr mich erkennt.“

„Wo liegt das Problem? Du hast keine Flügel und seltsame Kleider. Keiner würde dich verwechseln.“ Er zog die Nase kraus, als Dhaôma auch noch zu kichern anfing. Kinder waren unglaublich. So direkt mit dem, was sie dachten. Er wuschelte dem Kleinen durch das Haar.

„Nein, niemand wird mich verwechseln.“ Das Thema Krieg würde er nie im Leben einem Kind gegenüber erwähnen.

„Na also. Lass die Haare dran. Die sind hübsch.“

„Danke.“

„Und jetzt kommt mit! Addar will den Namen des Kindes verkünden!“ Er packte je einen Ärmel seiner beiden Spielgefährten und zog sie mit.

Das wollte sich Dhaôma nicht entgehen lassen. Immerhin würden sie heute noch gehen, da wollte er wenigstens wissen, wie das Mädchen hieß, bei dessen Geburt er geholfen hatte.

Draußen waren fast alle versammelt. Leoni und Asam standen beisammen, Addar neben ihnen. Er hielt das Kind, das schlief. Als die beiden aus dem Haus kamen, nickte er und hob zu sprechen an.

„Ein neues Leben ist erwacht. Mit dem heutigen Tage steht es unter dem Schutz dieses Dorfes. Dieses Mädchen soll ab heute Seren heißen. In der alten Sprache bedeutet das Hoffnung.“ Er hob das Kind in die Höhe, um sie allen zu präsentieren.

Jubel brach aus und der Name wurde dreimal gerufen. Dhaôma schloss sich dem an, als er begriff, worum es ging.

Seren verschlief ihre erste große Stunde.
 

Ein guter Name, befand Mimoun. Mochte er weissagend für die Zukunft sein. Auch er schloss sich dem allgemeinen Jubel an. Es war immer schön, ein neues Leben begrüßen zu können.

Anerkennend klopfte er Dhaôma auf die Schulter. Schließlich war er nicht ganz unschuldig daran, dass sowohl das Kind als auch die Mutter vom Dorf bejubelt werden konnte. Und da blieb er nicht der einzige. Es gab noch weitere Dorfmitglieder, die sich bei dem Magier für seine Hilfe bedankten, durch Worte oder auch durch Gesten wie Schulterklopfen. Mit einem Lachen überließ Mimoun seinen Freund der Menge und wandte sich an Addar.

„Wir würden, wenn es Euch nichts ausmacht, noch heute unsere Reise fortsetzen.“, erklärte er dem Ältesten.

„Warum sollte es uns etwas ausmachen? Ja, wir haben euch gern als Gäste hier, aber ihr hattet schließlich noch große Pläne.“, erwiderte dieser.

Mimoun lächelte sanft und verneigte sich leicht. „Unsere Habseligkeiten befinden sich ja noch immer unten. Wir könnten sofort gehen und noch ein Stück schaffen heute.“ Er sah kurz zu Dhaôma und grinste. „Sobald er da raus ist, versteht sich.“
 

Dhaôma war völlig überfordert mit der Situation im Allgemeinen. Er hatte sich nie wohl unter vielen Menschen gefühlt, jetzt war er auch noch Mittelpunkt des Interesses. Nicht so wie sonst, dass sie ihm alle Misstrauen entgegenbrachten, damit konnte er umgehen, denn man erwartete nichts von ihm, aber wie verhielt man sich, wenn man von allen gelobt wurde?

Irgendwie geriet er in Asams Nähe und damit erneut in die Arme des Mannes, der sich vor Dankbarkeit kaum beherrschen konnte. Glück, Freude und der allgemeine Taumel spülte letztlich alle Barrieren weg. Auch die Hemmungen, die die Kinder hatten, waren nach diesem Anblick gegangen. Und so ließ es der Braunhaarige über sich ergehen, machte gute Miene zum bösen Spiel. Er war regelrecht froh, als sie sich wieder dem Pärchen und dem inzwischen erwachten Kind zuwandten. Nur die Kinder klebten jetzt an ihm, allen vorneweg Amar, der stolz von sich behauptete, Dhaômas erster Freund gewesen zu sein.
 

Dies bekam Mimoun dann mit. Er trat an Dhaômas Seite, legte ihm einen Arm um die Schultern.

„Vergiss es, Knirps. Diese Ehre gebührt mir. Du kannst sie nur auf dieses Dorf beschränkt beziehen, aber Dhaômas erster Freund bin und bleibe ich.“
 

Das brachte diesen zum Lachen. Manchmal war Mimoun kindisch wie die Kleinen. „Recht hat er.“ Der allererste.

Aber dann wandte er sich um. „Können wir jetzt gehen? Oder willst du noch bleiben? Sie planen ein Fest. Ein Essen, um das neue Leben zu feiern.“ Insgeheim fürchtete er sich davor, denn es bedeutete blutiges, frisches Fleisch.
 

Er konnte sich denken, warum Dhaôma es plötzlich so eilig hatte zu gehen.

„Ich habe uns schon bei Addar abgemeldet.“, lachte Mimoun. „Sie sind nicht böse, wenn wir jetzt schon gehen. Aber wir sollten uns noch verabschieden. Komm.“

Der junge Geflügelte führte seinen Freund, Amar ebenfalls im Schlepptau, zu ihrer Gastgeberfamilie. Während die älteren Frauen dabei waren, Vorbereitungen für das Fest zu treffen, ließen sich die jungen Eltern und Addar zusammen mit den anderen Kindern der Familie schnell vor der Hütte ausmachen. Sie hatten sich in die Sonne gesetzt und genossen einen Augenblick Ruhe, bevor der ganze Trubel von vorne losging. Erwartungsvoll sah man den beiden Gästen entgegen. Addar schien bereits angekündigt zu haben, dass sie gehen würden. Nun erhoben sich die Sitzenden.

„Vielen Dank für die Gastfreundschaft.“, begann Mimoun, wurde von Leoni aber schnell unterbrochen. Sie drückte Seren ihrem Mann in die Arme und zog den Jungen in eine Umarmung.

„Nicht so förmlich.“, verlangte sie und lächelte. „Ich bin froh, dass ihr hier gewesen seid.“ Als nächstes wandte sie sich Dhaôma zu, nahm auch ihn in den Arm. „Kommt bald wieder vorbei.“, bat sie ihn.
 

Der Junge erwiderte die Umarmung unbeholfen. Sie ging ihm gerade bis zur Schulter und wirkte vollkommen zerbrechlich. „Wenn wir in die Gegend kommen, schauen wir herein.“, versprach er dennoch, seine Wangen färbten sich schon wieder rot. „Sieh zu, dass dir nichts mehr passiert, ja? Du machst damit eine Menge Leute unglücklich.“

Sie lachte und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. „Versprochen. Falls es dennoch soweit kommen sollte, verlass ich mich ganz auf dich!“ Vertraulich stellte sie sich auf die Zehenspitzen. „Sollte mich nicht wundern, wenn jetzt häufiger mal jemand anfragt, ob du Hand anlegen kannst.“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Das hier wird schnell die Runde machen.“

„Von mir aus. Mich stört es nicht, zu helfen.“

Erneut lachend ließ sie ihn wieder los und schupste ihn zu ihrem Mann, der beinahe seinen Rücken knacken ließ. „Kommt wirklich bald! Immerhin werden Kinder schnell groß und ihr werdet ihre süßesten Momente verpassen, wenn ihr euch zu viel Zeit lasst! Die ersten Schritte oder ihre ersten Worte!“ Er lachte und entließ den Magier aus seinem Schraubstockgriff. „Und mit Hilfe von Mimoun kannst du mal auf einen Tag vorbeikommen, egal, wo ihr euch gerade befindet!“ Und einer Eingebung folgend fügte er hinzu: „Du kannst uns auch euren Standort mitteilen, wenn du die Salbenrezepte schickst, dann schicke ich dir Nachricht über ihr Befinden!“

„Ist gut, Schatz, lass Dhaôma atmen.“ Leoni zog ihren Mann von ihrem Retter weg. Dass er dabei seine Arme um ihre Schultern schlang, störte sie nicht. „Na los, verabschiede auch Mimoun, damit sie heute noch eine Strecke schaffen können. Du hältst den ganzen Betrieb auf!“ Ein weiches Lachen nahm den Worten die Schärfe und schon war der schwarzhaarige Freund in seinen Armen versunken. Asam war größer als Mimoun und konnte so seine ganze Kraft einsetzen.
 

Mimoun lachte, solange ihm noch die Luft dazu blieb, dann begann er den Druck der Umarmung zu erwidern. Irgendwann artete es zu einem Wettstreit aus. Wer drückte stärker zu, wer hielt länger durch. Mimoun spannte all seine Muskeln an, doch schließlich gab er nach. Je länger sie dieses Spiel hier trieben, desto später kamen sie von hier weg. Mit einem triumphierenden Aufschrei feierte Asam seinen Sieg, bevor er Mimoun mit einer weiteren freundschaftlichen Umarmung verabschiedete.

Anschließend wandte sich der junge Geflügelte dem Ältesten zu. Ihn zu umarmen, kam ihm irgendwie… frevelhaft vor, ungebührlich. „Lebt wohl.“, verabschiedete er sich mit einem leichten Nicken von ihm. Als er kurz die Augen schloss, spürte er wie sich eine Hand auf seine Schulter legte.

„Gebt gut auf euch Acht.“, bat Addar. „Und ich freue mich schon auf euren nächsten Besuch.“

Nacheinander verabschiedete Mimoun auch die Kinder, machte auch vor dem Säugling nicht Halt und strich dem kleinen Wesen zärtlich über den Kopf. „Mach deinen Eltern bloß keinen Kummer mehr.“
 

Dhaôma machte seine Runde ebenfalls. Der letzte, den er verabschiedete, war Addar. Irgendwie mochte er den Alten inzwischen richtig gerne. Er war wie ein Großvater. Zumindest, wie er sich einen Großvater vorstellte. Seinen hatte er niemals gesehen, weil dieser zuvor gestorben war. „Habt vielen Dank für alles.“ Sein Kopf neigte sich in Ehrerbietung, aber er lächelte nicht so steif wie früher. „Und passt auf Euch auf, damit Ihr noch immer gesund seid, wenn wir wieder kommen.“
 

„Natürlich.“, erwiderte Addar lachend. „Ich wollte doch noch den Frieden erleben.“

Es fiel allen schwer sich zu trennen und schließlich ergriff Mimoun seinen Freund an der Hand, um ihn zum Rand der Insel zu führen. Er schickte noch einen letzten Abschiedsgruß an alle Versammelten. Geübt hob er anschließend Dhaôma hoch und überschritt die Kante. Von oben winkten die Geflügelten und der Magier übernahm wieder den Part des Zurückwinkens.
 

A wonderful dream of love and peace for everyone

Of living our lives in perfect harmony

A wonderful dream of joy and fun for everyone

To celebrate a life where all are free
 

[Wonderful dream - Melanie Thoronton]

In der Schlucht des Todes

Kapitel 27

Die Schlucht des Todes
 

Die Insel war in den zwei Tagen ihres Aufenthaltes weiter gezogen, dennoch fand Mimoun schnell ihren ursprünglichen Lagerplatz wieder. Sanft setzte er seinen Freund auf den Boden.

Hier herrschte wieder größere Hitze als oben auf den Inseln. Durch die Jagd am Vormittag hatte er sich zum Glück bereits darauf eingestimmt und sich damit abgefunden. Wenigstens würden sie nun weiter dem Fluss folgen und hätten damit ausreichende Abkühlung für den Notfall.

Mit sicheren Schritten trat er an das Dornengestrüpp heran und sah seinen Freund fragend an.

„Reicht deine Kraft oder soll ich wieder schnippeln?“, wollte er wissen und hob bezeichnend seine Armschienen.
 

„Bist du unterbeschäftigt und musst Frust ablassen, dann darfst du, aber wenn es schnell gehen soll, mach lieber ich.“, erwiderte der Braunhaarige grinsend.
 

Prüfend hüpfte der Geflügelte auf und ab. Durch die Jagd hatte er ausreichend Bewegung gehabt und Anstrengung, zumindest in gewissen Maßen, durch das Tragen des Magiers. Eigentlich war er nicht unterbeschäftigt. Und zum Frust ablassen hatte er keinen Grund.

„Würdest du mir die Ehre geben, deine Fähigkeiten erneut bewundern zu dürfen?“ Tief verneigte er sich vor seinem Freund.
 

„Sicher.“, sagte dieser amüsiert. Anstatt das Zeug verdorren zu lassen, formte er die Ranken ein wenig um, so dass sie die Sachen einfach herausheben konnten. Ganz nebenbei ließ er auch noch die Früchte reifen.

Nach dieser winzigen Stärkung zogen sie weiter. Zu Fuß und immer wieder mit Abstechern zum Wasser, damit sie trinken konnten. Die Rast am Abend erzwang ein Lagerfeuer, denn die Wegzehrung, die Mimoun mitgebracht hatte, war noch immer roh.

Längst waren die Sterne am Firmament und Dhaôma betrachtete sie, die Arme um die Knie geschlungen. Er dachte über die letzten Tage nach, zog für sich sein Resümee. Es war soviel passiert. Mehr, als er erwartet hatte. Das neue Leben, die Angst vor dem Tod, die Freude, der Streit mit Mimoun. Letzteres war es, was ihn daran hinderte, Schlaf und Ruhe zu finden, denn er wusste noch immer nicht, was er davon halten sollte, dass dieser glaubte, dass er ihm etwas aufzwang. Immerhin wusste er jetzt, warum er ihn beschützen wollte. Weil er sein Freund war. Offenbar bedeutete Freundschaft nicht nur Sympathie, sondern auch Beschützerwille. Aber das löste sein Grundproblem nicht.

Seufzend ließ er sich zurück ins hohe Gras fallen. Zu gerne würde er fragen, aber er wusste nicht, wie er es ansprechen sollte.
 

Auch Mimoun fand keine Ruhe. Er spürte die Unruhe des Magiers und das verhinderte auch seinen Schlaf. Zwar hatte er sich schon vor seinem Freund zur Nachtruhe zusammengerollt, doch er lag noch immer wach.

Als Dhaôma aufseufzte, drehte er sich schließlich zu ihm um. Aufmerksam betrachtete seinen Freund durch das Gras hindurch, bevor er sich halb aufrappelte und zu ihm hinüber kroch.

„Machst du dir immer noch Sorgen um Leoni und das Baby?“, wollte er leise wissen. „Das brauchst du nicht. Sie sind gesund und in guten Händen. Ich bin mir sicher, dass Asam sie unter allen Umständen beschützen wird.“
 

„Nein, warum sollte ich? Sie waren doch okay, als wir gegangen sind.“ Aus seinen Gedanken gerissen, richtete er sich auf Mimoun aus, der vor dem Nachthimmel kaum zu erkennen war. Da war es, das Problem, das er hatte, aber das änderte nichts. Er wollte nicht wieder streiten, deswegen wollte er es nicht ansprechen. Seine Augen fanden wieder die Sterne. „Nein, den beiden wird es gut gehen, denn Seren muss keine Angst haben, dass ihr Vater im Krieg fällt. Selbst wenn wir es nicht schaffen sollten, wird Asam nicht in den Krieg ziehen, denn er wird den nächsten Rat anführen. Aber für alle Fälle sollten wir unser Bestes geben, Frieden zu schaffen. Es wäre schön, wenn sie ohne Gewalt und Angst aufwachsen könnte.“
 

Noch ein wenig kroch er nach vorn und legte seinen Kopf auf Dhaômas Bauch. So wie damals, als dieser nach langer Krankheit wieder zu Bewusstsein gekommen war. Es war gut, so zu liegen. Beruhigend, den Herzschlag des anderen zu hören.

„Müssen wir uns halt noch ein wenig mehr anstrengen, damit wir es schaffen, bevor sie alt genug ist, dass dieses Wissen und die Tragweite dessen wirklich ihr Bewusstsein erreicht.“, murmelte Mimoun. In einem kleinen Winkel seines Kopfes ahnte er, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Schließlich schläferte der gleichmäßige Rhythmus ihn ein.
 

„Hmhm.“ Dhaômas Gedanken kehrten zurück zu dem Streit und der Frage, die ihn interessierte, während seine Finger sich unbewusst in den schwarzen, dicken Haaren vergruben, sachte hindurch strichen und daran zupften.

Dass Mimoun einschlief, bemerkte er nur am Rande. Erst, als er sich endlich dazu durchgerungen hatte, endlich zu fragen, wurde er der Tatsache gewahr, dass sein Freund auf ihm schlief. Seufzend schloss er die Augen. Dann musste das eben bis zum nächsten Morgen warten.

Doch am nächsten Morgen erwartete sie eine böse Überraschung. Schon in den frühen Morgenstunden wurden sie von einem Regenschauer geweckt.
 

Die ersten Tropfen registrierte er nur als lästigen Störfaktor. So wie eine Fliege. Träge wischte er sich über die Haut, wo er getroffen worden war. Zu den ersten gesellten sich weitere dazu und es wurden immer mehr. Mimoun erhob sich gähnend von seiner weichen Unterlage und streckte sich.

Regen war gut, versprach er immerhin ein Ende der Hitzeperiode. Aber genauso war er lästig, wenn man ganz gemütlich ausschlafen wollte. Missmutig sah er zu Dhaôma und versuchte zu ergründen, ob dieser für das zeitige Wecken verantwortlich zu machen war, dieser lag jedoch noch immer auf dem Rücken. Es war also nicht zu erkennen. Auch sah dieser aus, als wäre er dadurch geweckt worden. Und eigentlich würde der Magier nicht so fies zu Werke gehen. Bis auf wirklich sehr wenige Ausnahmen, hatte er ihn immer ausschlafen lassen.

Sein Blick glitt als nächstes zu den Wolken hoch, um abzuschätzen, wie lange dieser Regenguss anhalten würde. Vielleicht konnten sie ja die Zeit nutzen, um ohne Hitzschlag vorwärts zu kommen. „Frühstücken und Abmarsch?“, schlug Mimoun vor und suchte sich ihr Essen aus den Taschen zusammen. Den Regen auf der Haut zu spüren, empfand er noch nicht als unangenehm.
 

„Sicher.“ Dhaôma grinste. Seitdem sie wieder Sommer hatten, genoss auch er den Regen auf der Haut und in den Haaren. Jede sich bietende Gelegenheit hatte er wahrgenommen – oder selbst verursacht. Dank Cerel brauchte er sich auch keine Sorgen mehr um seine Samen machen, die sicher in einer gewachsten Haut untergebracht waren.

Der Regen wurde etwas stärker, kurz nachdem sie losgegangen waren, und benetzte die Welt mit seinem gleichmäßigen Nass. Es war angenehm und Dhaôma konnte den Wetterumschwung spüren. Gegen Mittag ließ der Regen nach, danach wurde es schwül. Diese Wetterlage war für Mimoun die allerschlimmste. Die warme Feuchte in der Luft zerrte an seinem Freund, das blieb dem Magier nicht verborgen. Und weil er wusste, was das bedeutete, hielt er Ausschau nach einem Unterschlupf. Bald würde es ein Gewitter geben.

Sie hatten Glück, eine Felswand zu erreichen, in deren zerklüfteten Wänden sie Unterschlupf fanden, als Blitz und Donner über den Himmel zogen, der jetzt schwarz von Wolken war. Als der Regen einem Wolkenbruch gleich wieder einsetzte, war Dhaôma glücklich, dass sie es trocken hatten. Bei solch einem Wetter draußen zu sein, kam Selbstmord gleich. Immer wieder krachte es, wurde kurzzeitig hell, dann wieder dunkel. Im Grunde war es zu früh, um dunkel zu werden, aber das Unwetter ließ keine Sonne hindurch.
 

Schlapp hatte sich der junge Geflügelte einen Ort gesucht, wo er einerseits vor den schlimmsten Witterungsbedingungen geschützt war, andererseits aber auch vereinzelte Regentropfen abbekam, die ihm Linderung verschafften.

Mimouns Blick glitt nach draußen. Es schien fast so als wolle die Natur selbst verhindern, dass sie ihr Ziel erreichten.
 

Sah wohl so aus, als würden sie nicht mehr weiterkommen heute. Nachdem sich Mimoun wieder halbwegs wohl fühlte, und ordentlich durchgeweicht war, kletterte er das Stück zu Dhaôma hinüber. Noch verspürte er keinen Hunger, sah also keinen Sinn darin, jetzt schon das Essen zu bereiten. Lustlos lehnte er sich neben seinen Freund an die Wand.

Das Gewitter hielt den ganzen Abend bis tief in die Nacht hinein an. Erst zum Morgen hin schwächte es soweit ab, dass sie ihre Reise ungehindert fortsetzen konnten.

Erstaunt sah Mimoun sich um. Am Nachmittag des vergangenen Tages hatte sich ihm nicht die Möglichkeit dazu geboten. Er war einfach nur froh darüber gewesen die Felswand als groben Schutz gefunden zu haben.

Prüfend ging er in Gedanken die Karte noch einmal durch. Mimoun hatte sie sich so häufig angesehen, dass er sie nahezu auswendig konnte.

„Halt mal.“ Sprachs und drückte Dhaôma seine Sachen in den Arm. Es regnete noch immer und seine Flügel fanden kaum Auftrieb, doch es reichte. Er sah, was er sehen wollte. Während sich der Fluss tiefer in die Erde grub, erhoben sich zu beiden Seiten die Wände ein Stück weit empor, verbreiterten sich in der Ferne zu einer Schlucht.

„Gefunden.“, rief er triumphierend, als er wieder neben Dhaôma landete.
 

Dhaôma hatte sich auch schon seine Gedanken gemacht, nun strahlte er. „Wir sind in der Schlucht? Yai!“ Jubelnd hüpfte er durch die Gegend. „Und das noch vor dem Winter!“ Fast hatte er damit nicht mehr gerechnet. „Jetzt müssen wir sie nur noch finden!“
 

Mimoun nickte und lachte. Dieses ausgelassene Treiben des Jungen zu beobachten, erfüllte ihn mit Freude. „So schwierig dürfte das nicht sein. Laut Karte hat sich der Fluss damals nicht geteilt. Also hat auch die Schlucht nur einen Weg. Das wird sich auch im Laufe der Zeit nicht mehr geändert haben. Also brauchen wir ihr nur zu folgen. Das wird einfach.“, befand er, nahm wieder seine Sachen an sich und setzte seinen Weg fort, tiefer in die Schlucht hinein.
 

Mit neuem Elan folgte der Braunhaarige. In seinem Inneren herrschte eine ganz neue Aufregung. War hier der richtige Ort? Waren hier die Drachen? Lebten sie hier, versteckt zwischen den Felsen? Aber war das überhaupt möglich? Addar sagte doch, dass er nur einmal Drachen gesehen hatte. Und wenn seine Insel so nahe an der Schlucht vorbeischwebte, sollte er sie doch sehen können. Durch diesen Gedanken bekam seine Freude einen kleinen Dämpfer.

Dennoch war die Landschaft atemberaubend. Zuerst nur wenig, dann jedoch immer tiefer und reißender peitschte das Wasser durch die Felsen. Darüber führte bald nur noch ein schmaler Grat an den Felsen entlang, über ihnen waren selbige weit zusammengerückt und ließen kaum noch Licht hindurch. Die Luft war diesig und kalt und Dhaôma war glücklich über seinen Pelzponcho.
 

Der Geflügelte begann sich schnell unwohl zu fühlen. Zwar fiel noch immer Licht in diese Schlucht, so dass sie ihren Weg erkennen konnten, jedoch umgab ihn von allen Seiten starrer Fels und Erde. Und unter ihm rissen die Fluten alles mit sich, was in ihre Fänge geriet. Zumindest klang es mittlerweile in seinen Ohren so. Und der schmale Weg unter seinen Füßen gab ihm alles, nur nicht Sicherheit und Vertrauen. Bald robbte er seitlich an den Felsen entlang, da er sonst immer mit seinen Flügeln hängen blieb, was jedes Mal ein unterdrücktes Zischen als Reaktion hatte. Seine Finger krallten sich fest in den scharfkantigen Fels, um nicht inmitten der Fluten zu verschwinden.

„Ich will wieder nach oben.“, maulte Mimoun schließlich.
 

Dhaôma hatte zwar weniger Probleme auf dem schmalen Grat, aber die Enge in der Schlucht erinnerte ihn schon an die Zeit allein im Berg. Dennoch gefiel es ihm. Alles war neu. Nie hatte er so etwas gesehen. Und selbst die Moose und Farne hier unten waren unbekannt.

Mehrere Male kamen sie unter Felsblöcken hindurch, die im Laufe der vorigen Jahre herunter gebrochen und dann auf halber Höhe stecken geblieben waren. Gegen Mittag erreichten sie einen Vorsprung, der breit genug war, um sich auszuruhen. Dort aßen sie ihre letzten Vorräte auf. Ab jetzt mussten sie fischen oder Pflanzen essen, die Dhaôma wachsen ließ.
 

Mimoun ließ sich bäuchlings darauf fallen. Noch immer waren sie von kühlem Niesel umhüllt, die breite Fläche unter ihm machte gerade es jedoch wett. Auch seine Flügel, die er bisher krampfhaft an den Körper gepresst hatte, wollte er liebend gern ausspannen, was leider Dhaôma seines Platzes beraubt hätte.

Auf der ganzen Klettertour hatte er sich fast völlig auf seine Schritte konzentriert. Nun betrachtete Mimoun seinen Freund ausgiebig. Diesem schien diese Umgebung nicht ganz so unangenehm zu sein. Neugierig betrachtete er auch jetzt noch alles um sie herum.

„Was meinst du?“, begann der Geflügelte leise, mehr zu sich selbst als tatsächlich an Dhaôma gewandt. „Ob wir die ganze Schlucht so entlangkraxeln müssen? Dann wundert es mich nicht, warum der Begriff Tod im Namen enthalten ist.“
 

„Du könntest drüber hinweg fliegen. Das bedeutet nur vielleicht, dass uns der Eingang oder sonst etwas von den Drachen entgehen könnte. Das fände ich unpraktisch.“ Dhaôma setzte sich an Mimouns Kopfseite, damit der andere Platz für seine Flügel hatte. „Wir könnten durch rufen Kontakt halten. Dann müsste nur ich hier unten sein.“
 

„Oh ja.“, murrte Mimoun. „Und der Ruf : aaaaaaah…“ Er wedelte mit den Händen neben dem Kopf herum. „…sagt mir dann, dass du baden gegangen bist.“ Der Geflügelte verschränkte die Hände unter seinem Kinn, krümmte und spannte seinen Rücken und streckte die Flügel aus. „Besser.“, befand er schließlich.
 

„Ich stürze nicht ab. Nicht noch mal.“ Einmal hatte wahrlich gereicht. Aber dann lehnte er sich entspannt zurück und schloss die Augen. „Weißt du, ich bin froh, dass du hier bist. Dann fühle ich mich zumindest nicht, als wäre ich hier lebendig begraben.“
 

Wow, dachte Mimoun belustigt. Das Gefühl drängte sich ihm aber auf. Und das obwohl Dhaôma bei ihm war. Kurz streckte er sich in alle Richtungen und stand schwungvoll auf.

„Los. Abmarsch.“, grinste er. „Machen wir, dass wir hier raus kommen. Je früher, desto lieber.“ Und schon begann er seine Sachen wieder zusammenzuklauben.
 

Der Braunhaarige zog einen Flunsch. „Ist das so weit?“ Das war doch nicht zu fassen. Es war kein Wunder, dass das hier Schlucht des Todes hieß, wer wagte sich den freiwillig auf so einen zermürbenden Lauf, wenn er auch oben laufen konnte.

Als ihm bewusst wurde, dass er derjenige war, seufzte er tief auf. Und wegen ihm musste auch Mimoun diesen Mist ertragen. „Sag mal, Mimoun, zwinge ich dir wirklich meine Verhaltensweisen auf?“, fragte er mit dunkler, wenig glücklicher Tonlage. Noch immer hatte er die Einladung nicht angenommen, sah ihn einfach nur an.
 

Dieser ließ den Arm wieder sinken. Mimoun war sofort klar, worauf Dhaôma hinaus wollte. Und es schien fast so, als würde der Magier das jetzt hier ausdiskutieren wollen. Auch wenn es jetzt nicht gerade der beste Platz dafür war.

„Für mich klang es so, als würdest du den Drachen dafür nutzen wollen, mich daran zu hindern, dir zu helfen.“, erwiderte er nach einigen Augenblicken der Stille. „Ich will nicht, dass du mich dazu zwingst, tatenlos zuzusehen, wenn du leidest. Ich will nicht, dass du dich in dieser Beziehung über meine Wünsche hinwegsetzt.“
 

Das war eine gute Information. Darauf würde er dann achten. Aber das meinte er nicht. Nur, wie sollte er das ausdrücken? Wie sollte er Mimoun verständlich machen, was er dachte? „Aber du bist hier und musst laufen und klettern. Du fühlst dich unwohl. Und du bist nicht bei deiner Schwester, sondern in Einsamkeit hier unten.“ Er holte tief Luft. „Ist das nur, weil du denkst, dass du mir etwas schuldig bist?“ In seiner Brust zog sich vor Angst vor der Antwort etwas zusammen.
 

„Ich bin nicht einsam.“, erwiderte Mimoun schnell und streckte mit einem Lächeln seine Hand in Dhaômas Richtung. „Und wenn man es bis ins kleinste Detail vergleicht, bin ich dir schon lange nichts mehr schuldig.“ Kurz stockte er und tat so, als würde er angestrengt nachdenken. Leise, aber noch immer laut genug, dass sein Freund ihn hören konnte, murmelte er: „Oder hab ich etwas übersehen? Ist mir da vielleicht etwas entgangen?“
 

Unglücklich senkte Dhaôma den Kopf, ließ die Hand, wo sie war in der Luft schweben. Ihm kam es so vor, als würde Mimoun nicht verstehen, was er damit sagen wollte. Und so wie es sich anhörte, schien er zu Anfang tatsächlich nur da gewesen zu sein, weil er sich schuldig fühlte. Und jetzt? Mimoun hatte gesagt, dass er für ihn kämpfen wollte, weil sie Freunde waren. Aber er wollte keinen Freund in den Kampf schicken. Unter keinen Umständen wollte er sehen, wie ein Freund starb. Schon gar nicht für ihn.
 

Mimoun ließ die Hand noch wenige Sekunden in der Luft schweben, bevor er sie wieder an die Felswand legte und zu seinem Freund hinüber kletterte. „Ich bin hier, weil ich hier sein will.“, begann der Geflügelte erneut und legte die Hand unter Dhaômas Kinn, zwang seinen Freund ihn anzusehen. Kein Lächeln auf seinem Gesicht, keine Spur von Wut oder Zorn. Alles was er sagte, meinte er völlig ernst. „Nicht, weil ich dir etwas schuldig sein könnte. Nicht, weil mir vom Rat aufgetragen wurde, auf dich Acht zu geben. Der einzige Grund für mein hier sein ist, dass ich es will. Weil ich es nicht ertragen kann, wenn du einsam bist. Selbst wenn du es von mir verlangen solltest, werde ich nicht gehen. Ich werde dich auf deinem Weg begleiten, egal wohin er dich führen mag.“
 

Kurz huschten die braunen Augen hinauf, nur um sich gleich darauf auf den muskulösen Arm zu richten. Langsam aber sicher erwachte leise Verzweiflung in ihm. „Aber dann wirst du vielleicht Jahre an den Boden gefesselt sein!“, rief er, seine Hände waren zu Fäusten geballt, seine Augen fest zusammen gepresst. „Es ist fast, als würde ich dich anketten! Dir deine Freiheit nehmen!“ Seine Stimme wurde wieder leiser, fast tonlos. „Ich nehme dir genau das, was ich immer haben wollte.“
 

Mimoun trat wieder einen Schritt zurück. Warum wollte dieser dumme Magier es einfach nicht begreifen? „Dann willst du also, dass ich gehe? Du wählst also wieder die Einsamkeit?“ Seine Stimme hatte einen leicht verletzten Unterton. Vielleicht half es, das Ganze von der anderen Seite zu probieren.
 

Dhaôma schüttelte den Kopf, nickte dann. In ihm schrie etwas, was er nicht hören konnte, bis er selbst mit offenen Augen blind zu sein schien. Was sollte er tun? Wenn er ihn gehen ließ, würde Mimoun wieder frei für eigene Entscheidungen sein, litt aber, weil er – wie er selbst gesagt hatte – es nicht ertrug, ihn einsam zu sehen. Aber wenn er ihn bei sich behielt, musste er weiterhin ständig auf ihn aufpassen und sich anpassen und Dinge tun, die ihm nicht gefielen.

„Ich weiß doch auch nicht!“, flüsterte er erstickt. „Ich will, dass es dir gut geht. Und das ist momentan nicht so.“
 

Der junge Geflügelte gab ein abfälliges Geräusch von sich. Es war in der momentanen Situation das Dümmste, das er machen konnte. Es rutschte ihm einfach so raus. „Falls es dir entgangen sein sollte, bin ich ein Wesen der Lüfte.“ Wie zur Bestätigung flatterte er ein wenig mit seinen Flügeln. „Natürlich geht es mir nicht gut, wenn ich von allen Seiten von Fels und Erde umgeben bin. Und der Fluss da unten lädt auch nicht unbedingt zu einer Runde Schwimmen ein. Aber wir hatten ja nicht vor, es zu einem Dauerzustand werden zu lassen. Schau mal. Ich hab mich selbst ans Laufen gewöhnt, obwohl ich dem anfangs nicht viel abgewinnen konnte.“

Er klopfte Dhaôma wie schon so oft mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn. „Und wenn wir hier raus sind, mach ich was Ähnliches wie du, nachdem du nach Monaten endlich wieder auf der Erde warst. Fliegen, fliegen, fliegen.“ Sanft schlang er einen Arm um Dhaômas Hüfte. „Also sorgen wir lieber dafür, dass wir nicht ganz so lange brauchen wie auf den Inseln.“ Noch immer hob er nicht ab, sah abwartend zu seinem Freund, der ja bisher nicht damit einverstanden gewesen war, den Weg abzukürzen.
 

Wie automatisch schlang Dhaôma seine Arme um Mimoun, glücklich war er dennoch immer noch nicht. Der Geflügelte stellte es so hin, als wäre seine Situation mit Dhaômas vergleichbar. Das implizierte jedoch, dass er wirklich gefangen war. So wie der Braunhaarige sich Monate lang nicht von diesen beiden Inseln hatte entfernen dürfen. Wodurch konnte er aber nicht sagen. Pflichtbewusstsein und Ehrgefühl hatte Mimoun verneint, genauso dass der Auftrag der Grund für diese Aufopferungsbereitschaft war. Die einzige Möglichkeit, die ihm als Erklärung blieb, war Freundschaft. Aber eine Freundschaft, die von jemandem soviel forderte, verstand er nicht. Weder konnte er darauf antworten, noch konnte er sie annehmen, ohne dass er sich schuldig fühlte.
 

Mimoun wartete noch einige Sekunden. In diesen beobachtete er seinen Freund genau. Noch immer schien dieser nicht zufrieden zu sein. Weder stellte er weitere Fragen noch sagte er sonst etwas. Und so wusste der Geflügelte auch nicht, was er noch sagen konnte, um Dhaôma zu beruhigen.

Sein Blick glitt kurz zu dem Spalt über ihnen. Noch gab es genug Licht, um den Weg zu schaffen. Aber er konnte hier unten nur schwer einschätzen, wie lange es so bleiben würde. Seufzend blieb er, wo er war. Brachten sie erst einmal dieses Problem hinter sich.

„Was hast du?“, fragte Mimoun.
 

Lange schwieg der junge Magier daraufhin. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, kreisten um die vertrackte Situation zwischen ihnen, aber die Antwort wollte sich nicht bilden.

Letztlich seufzte er. „Was genau bedeutet Freundschaft?“, stellte Dhaôma eine Gegenfrage statt einer Antwort.
 

„Äh.“, brachte Mimoun hervor. Was sollte denn jetzt diese Frage? Vor allem… wie erklärte man etwas, das irgendwie selbstverständlich war? „Ein Freund ist jemand, dem man bedingungslos vertraut und der immer da ist und dich auffängt, wenn es dir schlecht geht. Jemand, der dich mag, so wie du bist. Ach Mist. Warum ist es so schwierig, etwas so Einfaches zu erklären?“
 

Nach dieser Definition hatte er noch nie einen Freund besessen. Nicht einmal in der Zeit, als die anderen noch mit ihm gespielt hatten. „Ich mag dich auch.“, sagte er irgendwann leise. „So wie du bist. Ich kann nicht mit ansehen, wie du dich meinetwegen verbiegst.“ Ernst erwiderte er den grünen Blick. Verstand er nun, was er sagen wollte?
 

„Verbiege ich mich denn?“, fragte Mimoun verblüfft. Das war ihm gar nicht aufgefallen. „Sieht es wirklich so für dich aus?“
 

Dhaôma nickte und wandte er den Blick ab. „Du gibst alles auf. Dein Zuhause und dein Element. Sogar deine Ziele stellst du für meinen Traum zurück. Dabei könntest du ein schönes Leben haben. Bei deiner Familie, vielleicht mit einer eigenen Familie. Jadya hatte dich gern. Gern genug, um dir schöne Augen zu machen und mich zu bitten, auf dich aufzupassen.“
 

„Oh.“, entfuhr es Mimoun. Das mit Jadya hatte er irgendwie nicht mitbekommen. Aber es würde zumindest eine Menge erklären.

Danach schwieg er eine ganze Weile. Der Geflügelte hielt die Augen geschlossen und dachte nach. Über sich, über sein Verhalten, seine Wünsche und Ziele.

„Ich habe nichts von alledem aufgegeben.“, begann er zögerlich. „Schließlich bin ich nicht hier gebunden. Ich kann jederzeit zurück nach Hause. Auch meinem Element hab ich nicht den Rücken gekehrt. Es ist zwar nicht gut und viel, aber selbst hier ist es mir möglich zu fliegen. Und was eine eigene Familie betrifft…“ Er zuckte in einer hilflosen Geste mit den Schultern. „Noch kam in mir nicht das Bedürfnis danach auf. Irgendwann schon, da bin ich mir sicher, aber jetzt noch nicht. Momentan möchte ich mein Leben genießen. Hier und jetzt. So wie es ist. Das ist das, was ich mir wünsche. Und hey. Unsere Ziele sind gleich. Wir wollen beide den Frieden bringen.“
 

Dhaôma gab auf. Entweder verstand Mimoun ihn nicht, oder er war tatsächlich zufrieden damit, wie ein Hund hinter ihm herzudackeln. Im Grunde genommen freute es ihn ja, aber die Unsicherheit hatte ihn dennoch fest im Griff. Und vor allem ein Faktor machte ihm Angst: dass Mimoun gehen könnte. Einfach so. Weil er genug von ihm hatte. Weil er erkannte, was ihm offenbar noch nicht bewusst geworden war. Weil er doch lieber zu Hause sein wollte. Wenn er sich jetzt abwandte, könnte er sich wenigstens noch damit trösten, dass es das Beste für den Schwarzhaarigen war, wenn er aber später ging, wenn er sich in Sicherheit und Vertrauen wiegte…

„Fliegen wir zu deinen Sachen. Ich möchte mich hinsetzen.“ Er war geistig erschöpft. Und seine Beine wollten langsam auch nicht mehr.
 

Mimoun nickte, schlang nun endlich auch seine andere Hand um Dhaôma und stieß sich ab. Sein Blick suchte nun nicht mehr die Wände nach möglichen Hinweisen ab, wie auf seinem Hin- und Rückflug. Ein drittes Mal würde sicher keine anderen Ergebnisse bringen. Und so konzentrierte er sich völlig auf den Flug.

Seine Gedanken drehten sich in der Zeit um ihr Gespräch. Irgendwie hatte Mimoun nicht das Gefühl, als wäre die Geschichte zwischen ihnen nun geklärt. Doch was war es, was Dhaôma solche Schwierigkeiten bereitete? Kurz huschte wieder die Frage durch sein Bewusstsein, was Freundschaft nun eigentlich bedeutete. Der Magier war sein Lebtag lang allein gewesen, hatte sich immer auf sich selbst verlassen müssen, dieses Gefühl der Verbundenheit hatte er nicht kennen gelernt. Lag da das Problem? Wusste er einfach nur nicht, wie er mit Mimouns Anwesenheit und Verhalten umgehen sollte? War Freundschaft wirklich so schwierig zu verstehen für ihn? War der Geflügelte selbst vielleicht zu aufdringlich und überstürzt in seinen Handlungen Dhaôma gegenüber gewesen? Hätte er es langsamer angehen sollen und seinen Freund mehr sich selbst überlassen sollen?

Entschieden schüttelte er den Kopf. Nein. Das konnte es auch nicht sein. Lebhaft konnte er sich noch daran erinnern, wie glücklich Dhaôma damals ausgesehen hatte, nachdem er sich aus ein paar belanglos dahergesagten Sätzen zusammengereimt hatte, dass Mimoun sein Freund sei. Und er hatte vorhin selbst gesagt, dass er wolle, dass es dem Geflügelten gut ging. Also konnte man behaupten, der Junge hätte das Grundprinzip der Freundschaft zumindest unbewusst begriffen.

Sich dessen nicht wirklich bewusst werdend, erreichte Mimoun die Plattform, die über den Fluss hinausragte. Vorsichtig stellte er den Magier wieder auf die Füße und streunte gedankenverloren zu seinen Habseligkeiten, ließ sich daneben nieder. Der Geflügelte verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen.

Er hatte sich von Dhaôma gewünscht, dass dieser Mimouns Wünsche nicht überging. Und der Magier wünschte sich die Sicherheit und Unversehrtheit des Geflügelten. War es nicht so, dass Mimoun mit seinem Verhalten manchmal die Wünsche Dhaômas missachtete? Konnte er es ihm verübeln, seine Wünsche zeitweise mit Gewalt durchsetzen zu wollen? Eigentlich nicht. Sie waren nun einmal zwei Individuen. Natürlich gab es da Differenzen.

Auch hatte sich Mimoun von Dhaôma gewünscht, dass dieser eigene Entscheidungen traf und Wünsche äußerte. Sollte er das auch tun, damit der Magier nicht mehr den Eindruck gewann, er würde sich für ihn verbiegen?
 

Für Dhaôma wirkte es so, als wolle sich Mimoun abkapseln. Seine verschränkten Arme, die Tatsache, dass er sich wortlos gesetzt hatte und das unwirsche Kopfschütteln ein paar Minuten vorher veranlassten den Jungen dazu, sich Sorgen zu machen. Nur langsam ließ auch er sich nieder, rollte sich ein wenig verzweifelt zusammen, zog den Poncho um seinen Körper. Vielleicht hatte er etwas angestoßen, was ihm zum Nachteil gereichte. Vielleicht hatte er mit seinen Worten Mimoun darauf gebracht, dass es stimmte, dass er tatsächlich ein anderes, besseres Leben haben konnte. Ob er gerade jetzt das Für und Wider abwog?

Innerlich verspürte er Angst. Angst davor, alleine zu sein. Und gleichzeitig wusste er nicht, ob er sich vielleicht freuen sollte, dass er ihm bald nicht mehr im Weg stehen würde.
 

Träge öffnete der Geflügelte die Augen. Er konnte nicht sagen, wie lange er einfach nur da gesessen und nachgedacht hatte. Es war eine festgefahrene Situation. Mimoun wollte Dhaôma beistehen, ihn begleiten und schien diesen damit unglücklich zu machen. Was also sollte er tun? Wie sollte er sich nun gegenüber seinem Freund verhalten? Er konnte aus seinen Gedanken kein ihn selbst zufriedenstellendes Ergebnis herausfiltern.

Nahezu alle Helligkeit war mittlerweile aus der Schlucht verschwunden. Da sich sein Hunger so langsam meldete, wühlte er blind in seiner Tasche. Mimoun wusste nicht, was Dhaôma in den letzten Minuten oder gar Stunden getrieben hatte. Er hatte nichts von seiner Umwelt mitbekommen. Und so konnte er auch nicht sagen, wo genau sich sein Freund gerade befand und ob dieser schon gegessen hatte. Zu spät ging ihm auf, dass sie mittags die letzten Reste vertilgt hatten. Und er hatte sich nicht die Zeit genommen, Lebensmittel zu beschaffen. Zu sehr war er mit Nachdenken beschäftigt gewesen.

„Ach Mist.“, entfuhr es ihm und auf Händen und Knien tastete er sich zu seinem Freund hinüber. Wenn sich das Hungerproblem vorerst nicht lösen ließ, wollte er etwas anderes klären. Vorsichtig arbeitete er sich nach vorn. Erleichtert seufzte er, als seine Finger auf Pelz stießen. Mimoun rollte sich daneben zusammen, mit dem Rücken zu Dhaôma, die Flügel wie zum Schutz über ihn gelegt.

„Ich wünsche mir, bei dir bleiben zu dürfen.“ Wunschäußerung. Einfache Methode. Aber ob der Magier noch wach war und diese Worte gehört hatte, konnte er weder sagen noch interessierte es ihn sonderlich. Er hatte es wie zur Bestätigung an sich selbst wenigstens einmal laut ausgesprochen.
 

Es war eher unbewusst, dass Dhaôma im Schlaf näher an die Wärmequelle heranrutschte und seine Hände gegen den Körper drückte, der wärmer war als die Umgebungsluft.

Soziale Lektionen

Kapitel 28

Soziale Lektionen
 

Am nächsten Morgen war Dhaôma schon früh wach. Und weil er Hunger hatte und Mimoun noch schlief, suchte er sich eine Stelle, an der er etwas wachsen lassen konnte. Auf halber Strecke fand er eine Eidechse, die von der Kälte zu träge war, um schnell genug wegzulaufen, und so nahm er sie als Beute mit. Nur kurz war ihm der Gedanke gekommen, dass Drachen wohl auch Eidechsen waren und sie ihm das übel nehmen könnten, aber dann zuckte er mit den Schultern. Er glaubte nicht daran, dass es irgendwelche Konsequenzen haben würde. Zu oft hatte er schon Eidechsen gejagt und gegessen.

Der Felsen wurde überhängend und Dhaôma musste seitlich ausweichen, um weiter hinaufklettern zu können, doch auf dem Dach des Felsens fand er endlich, was er brauchte: Erde. Ab dort war es einfach. Ein Kern von einem Birnbaum heraussuchen, einpflanzen, wachsen lassen, ernten. Schwierig war der Abstieg. Da er nicht sehen konnte, wo er hintrat, musste er sich auf sein Gefühl verlassen. Dementsprechend lange dauerte die Kletterpartie, bis er zurück bei seinem Freund war. Noch immer war dieser nicht wach. Offenbar hatte er lange nicht schlafen können. So leise er konnte, legte er seine Beute neben Mimoun und setzte sich dann wieder hin, um sich auszuruhen. Klettern war anstrengend geworden. Früher hatte es ihm nicht solche Probleme bereitet.
 

Träge wälzte sich Mimoun herum. Ihm war nicht nach aufstehen. Er fühlte sich noch immer ausgelaugt. Nicht körperlich, emotional. Dabei war es doch nur ein kleiner Streit gewesen. Etwas ganz natürliches. Warum nahm es ihn diesmal so mit?

Seufzend setzte er sich auf und sah in die Runde. Ein Blick nach oben zeigte ihm, dass der Tag längst begonnen haben musste. Als nächstes entdeckte er das Frühstück, das bereits neben ihm bereit lag. Sofort tat sein Magen lautstark sein Verlangen kund. Seine Hand griff nach der Eidechse, packte sie am Schwanz, ließ sie aber noch abschätzig in der Luft schweben und suchte nach Dhaôma.

„Guten Morgen.“, begrüßte er ihn fröhlich. „Magst du auch etwas davon ab haben?“ Bezeichnend wedelte er mit seinem auserkorenen Frühstück herum. Plötzlich löste sich der Körper von der Schwanzspitze und plumpste in Mimouns Schoss. Ups. Da hatte er wohl zu heftig geschüttelt.
 

Ein Lachen versteckend, hielt sich Dhaôma die Hand vor den Mund. Das war ja was. Jeder wusste doch, dass Eidechsen den Schwanz verlieren konnten, wenn man nicht vorsichtig war! Zum Glück konnte das Vieh nicht mehr weglaufen.

„Nein, alles deins.“ Wieder kicherte er, dann schüttelte er sich. War doch logisch, wo es hier kein Holz gab, um das Fleisch zu rösten. „Ich halte mich an die hier.“ Bezeichnend hob er eine Birne hoch, bevor er herzhaft hinein biss. Dank des Flusses war sie saftig und ein wenig davon tropfte über sein Kinn.
 

Grinsend schob sich der Geflügelte den Rest des Schwanzes in den Mund. Er war begeistert, wie einfach man Dhaôma zum Lachen bringen konnte. Und es stand seinem Freund entschieden besser als Grübeln oder Sorgenfalten.

Mimoun versank nun selbst in Grübeleien. Sollte er das Thema von gestern wieder ansprechen oder es einfach auf sich beruhen lassen? Momentan schien ja wieder alles in Ordnung zu sein. Bei den Stimmungsschwankungen des Magiers konnte sich das jedoch auch genauso schnell wieder ändern. Am besten ihm keine Möglichkeit dazu geben.

Mit einem Lächeln und völlig entspannt, wandte er sich dem Hauptteil seines Frühstücks zu. Viel war an dem Tier nicht dran, aber es reichte, um den größten Hunger zu stillen. Und für den Rest bediente er sich ebenfalls an den Früchten. Bei ihm wurde es eine ähnliche Sauerei wie bei Dhaôma. Den Saft, der ihm über das Kinn lief, wischte er mit einer nachlässigen Bewegung seines Armes ab.

Nachdem er sich endlich satt fühlte, streckte sich der Geflügelte wieder auf dem harten Grund aus. Nur um wenige Augenblicke komplett hochzuschnellen. Wurde Zeit, dass sie weiterkamen. Er hatte schon zu lange geschlafen. Mit Bewegungen, die er mittlerweile im Schlaf beherrschte, legte Mimoun seine Rüstung an und nahm sich den Rest seiner Habseligkeiten, sah abwartend zu seinem Freund.
 

„Du bist heute wie eine von den Fadenpuppen, die ich einmal gesehen habe. So viele unerwartete Bewegungen.“, neckte ihn Dhaôma, der nur seinen Rucksack anziehen musste. „Ganz im Ernst. Wir müssen aus dieser Schlucht hier raus, sonst werden wir entweder verhungern oder abstürzen.“

Als er sich dem schmalen Grat zuwandte, fiel das Lächeln allerdings in sich zusammen. Offenbar wollte Mimoun noch nicht gehen. Aber das hieß nicht, dass es sich nicht jederzeit ändern konnte. Aber fragen wollte er auch nicht mehr. Stattdessen würde er genießen, solange er noch konnte, dass er jemanden hatte, auf den er sich verlassen konnte. Sein Fuß setzte sich auf die schmale Stiege, die in einem sanften Bogen abwärts führte. Die Schlucht machte hier einen Knick und das Wasser war reißender, weil es mit dem Richtungswechsel nicht einverstanden war. Er würde Acht geben müssen.
 

Mimoun blieb dort, wo er war, und beobachtete Dhaôma dabei, wie er sich auf dem schmalen Weg vorwärts tastete. Dieser hatte Recht. Sie brauchten etwas zu essen. Sich nur von Eidechsen zu ernähren, würde sehr schnell sehr eintönig werden.

Als sein Freund schon ein gutes Stück geschafft hatte, hob auch er ab und folgte ihm langsam. Sein Blick glitt zu dem schmalen Streifen Himmel, der über ihm zu erkennen war und fasste einen Plan. Er änderte seine Flugrichtung. Immer höher stieg er und verließ schließlich die Schlucht. Beinahe sofort fiel das beklemmende Gefühl von ihm ab, das ihn wie ein dunkler Schleier dort unten immer umhüllt hatte. Kurz tobte er durch die Luft und über die weiten Ebenen, bis er sich wieder ins Gedächtnis rief, was er eigentlich vorgehabt hatte. Suchend glitt sein Blick über die Grasweiten, hielt Ausschau nach Beute und Feuerholz. Zuerst beschaffte er das Holz und lagerte es am Rand der Schlucht. Danach kümmerte er sich um das Fleisch. Er erkor sich eine junge Antilope aus, erlegte und zerlegte sie, bevor er sich, nun schwer bepackt, wieder in die Schlucht stürzte.

In der ganzen Zeit glitten seine Gedanken immer wieder zu Dhaôma. Hoffentlich ging es ihm gut. Nicht, dass er in der Zwischenzeit abgestürzt war. Kaum hatte der Geflügelte den Sims wieder ausgemacht, folgte er ihm. Sein Blick irrte voraus, in der Hoffnung seinen Freund schnell zu entdecken.
 

Dhaôma hatte die Flügelschläge gehört, als Mimoun die Schlucht verlassen hatte. Im gleichen Moment hatte sich sein Herz zusammengezogen und das Atmen war für Minuten zu schwer gewesen, um genügend Luft zu bekommen, bevor sich Ruhe über ihn gesenkt hatte. Die gleiche stoische Ruhe, die er seit seiner Kindheit immer mit sich herumgeschleppt hatte. Sie war es gewesen, die es ihm ermöglicht hatte, seiner Familie vorzulügen, es wäre alles in Ordnung. Und sie war der Grund, warum es ihm gelungen war, sich selbst zu belügen, dass es nicht schlimm war, alleine zu sein, solange man ein Ziel hatte.

Lächelnd hatte er gewunken, seine Kehle zu eng, um Lebewohl zu sagen, aber Mimoun hatte ja auch nichts gesagt. So war es besser.

Seine Beine hatten irgendwann den Dienst wieder aufgenommen. Leicht wie nie hatte er seinen Weg gefunden, war vorangekommen, ohne zu pausieren. Sein Körper floh vor dem, was ihn im Geiste verfolgte: Einsamkeit.
 

Erleichterung durchflutete den Geflügelten, als er seinen Freund schließlich ausmachen konnte. Dieser war weiter gekommen, als Mimoun vermutet hatte und so wuchs seine Sorge mit jeder Minute. Sie verrauchte nun in Nichts.

„Ich warte vorne.“, rief er ihm zu. „Das Zeug ist schwer.“ Und schon war er an ihm vorbei und strebte die nächste sich bietende Möglichkeit zum Ausruhen an. Erschöpft ließ er sich zu Boden sinken, nachdem seine Last der Schwerkraft schneller nachgeben musste. Er ließ sie einfach fallen. Nachdem er sich halbwegs erholt hatte, machte er sich daran, alles für ein Feuer vorzubereiten. Entzünden konnte er es nicht. Er sollte die Feuersteine ab jetzt bei sich tragen, das würde Zeit sparen.
 

Erschrocken war der Braunhaarige zusammengezuckt, als Mimoun an ihm vorbeigesegelt war, und beinahe hätte es in einem schmerzhaften Fall geendet. Geradeso noch hatte er sich festhalten können, während er ihm nachsah, sein Kopf völlig blank.

Letztlich ließ er sich auf ein Knie nieder und lachte leise, obwohl er viel lieber geweint hätte. Seine Gefühle spielten verrückt. Die Hoffnung war zurück, stärker denn je, die vorherige schmerzhafte Hoffnungslosigkeit hatte ein Loch in ihm hinterlassen, das er nicht so einfach stopfen konnte.

Ich warte vorne… Was bedeutete das? Dass er blieb? Aber warum war er nicht mehr bei ihm? Hielt sich auf Abstand, ohne etwas zu sagen. Und was war das für ein Zeug, das schwer war? Schwer ließ er seine Stirn gegen den klammen Fels sinken und schloss die Augen. Er spürte, wie es auf den Wangen kitzelte, und war erstaunt, dass es Tränen waren. Er hatte sie nicht kommen gespürt.

Was sollte er denn nun denken? Was sollte sein Herz erwaten? Was konnte er hoffen und was nicht?

Dhaôma brauchte lange, um sich wieder zu erholen, damit er genug Konzentration aufbrachte, um weiterzugehen. Und auch dann war er sich seiner Sache und der sich bietenden Situation nicht sicher.
 

Nachdem er selbst das Fleisch soweit vorbereitet hatte, dass es nur noch gebraten werden musste, war noch immer keine Spur von seinem Freund zu sehen. Sorgenvoll lauschte er in die Stille hinein. Er spürte noch leichte Erschöpfung und so entledigte er sich aller hinderlicher Habseligkeiten und Rüstung und flog zurück zu Dhaôma. Hoffentlich war nicht doch noch etwas passiert.

Als er seinen Freund endlich entdeckte, war er irritiert. Es sah nicht so aus, als wäre er sonderlich viel weiter gekommen. Hatte er hier etwa Pause gemacht? Mühsam flatternd hielt er sich neben ihm in der Luft. Erschrocken erkannte er Tränenspuren auf dem Gesicht des anderen. „Alles okay?“, fragte er zögerlich und besah ihn sich von oben bis unten. „Hast du dich verletzt?“
 

Mühsam lächelnd schüttelte Dhaôma den Kopf. „Nein. Aber es tut trotzdem weh.“, sagte er.
 

Das verstand er nicht. Wie sollte etwas wehtun, wenn er gar nicht verletzt war?

Wie am Tag zuvor landete Mimoun auf dem schmalen Sims ein wenig abseits von Dhaôma und hangelte sich zu ihm hinüber. Seine Hand tastete über die Stirn des Magiers. Dieser schien nicht krank zu sein. Und er konnte auch sonst nichts Auffälliges an ihm erkennen. „Wo tut es weh?“, verlangte er zu erfahren.
 

Er machte sich Sorgen, Dhaôma konnte es spüren. Aber er wusste es doch auch nicht so genau!

„Hier.“, legte er die Hand auf die Brust, ließ sie weiter hinunterwandern auf den Bauch. „Hier und…“ Er schluckte wieder aufquellende Tränen hinunter, bevor er seinen Hals umfasste. „…hier.“
 

Aufmerksam beobachtete Mimoun ihn dabei. Bei den ersten beiden Regionen hätte er noch darauf getippt, dass er vielleicht was Falsches gegessen hatte, was sehr unwahrscheinlich war, doch je mehr Stellen Dhaôma anzeigte umso ruhiger wurde Mimoun. Er begann zu ahnen, was es war.

„Komm mal her.“, bat er leise und öffnete einladend den Arm.
 

Lange zögerte Dhaôma nicht. Es war nur ein Schritt und schon konnte er Wärme und leichten Atem an seinem Hals spüren. Einem Impuls folgend schlang er seine Arme um Mimouns Mitte. Sagen konnte er nichts. Sein Hals war wie zugeschnürt.
 

Sein Verdacht bestätigte sich nach dieser schnellen Reaktion Dhaômas. Und da wollte dieser Junge tatsächlich, dass er ging? „Dummkopf.“, murmelte er und vergrub sein Gesicht in Dhaômas Halskuhle. „Ich halte meine Versprechen.“ Seine Hand streichelte kurz über den Rücken des Magiers, bevor sie über seine Schulter hinunter zu seinem Arm strich. „Komm. Halt dich richtig fest. Wir fliegen.“ Seine Anweisung unterstrich er mit leichtem Zug an dem Arm, der ihn umschlungen hielt.
 

Das ließ sich Dhaôma nicht zweimal sagen. Er war erschöpft und die Nähe tat gut. Also legte er seine Arme um Mimouns Hals und signalisierte mit einem Nicken, dass er bereit war.
 

Mimoun zögerte nicht lange und hob wieder ab. Die Strecke zu dem Rastplatz war schnell überwunden. Sein Blick glitt kurz über den vorbereiteten Holzstapel, doch ohne ein Wort wandte er sich ab, Dhaôma noch immer im Arm. Umständlich hockte er sich mit ihm zusammen an die Wand. Einen Arm und seine Flügel legte er beschützend um den Körper des anderen. Mit der anderen Hand strich er immer wieder beruhigend durch das weiche Haar.

Dhaôma lehnte sich beinahe suchend in diese Berührung. Es war nicht so, dass er übermäßig viel Kontakt brauchte, aber diesmal tat es gut, war auf tröstliche Weise versichernd. Es half, die Schmerzen zurückzudrängen, von denen er nicht wusste, woher sie kamen.

„Warum?“, fragte er irgendwann. „Wie kannst du so stark sein? Wie kannst du immer wissen, was du tun musst?“
 

Kurz unterbrach er das Streicheln, führte die Bewegung schnell wieder fort. „Ich bin nicht stark.“, wies er diese Tatsache zurück. Tief atmete er durch. „Auch wenn es nicht immer offensichtlich ist, aber ich habe Angst. Angst vor der Zukunft, Angst um meine Familie, Angst um dich. Und ich will euch alle beschützen, doch das kann ich nicht. Ich habe Angst davor, einen von euch zu verlieren.“ Mimoun zog Dhaôma dichter an sich heran und vergrub sein Gesicht in dessen Haaren. „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“, gestand er leise.
 

Er hatte Angst, ihn zu verlieren? Nicht nur seine Familie, sondern ihn auch?

„Aber warum kannst du dann immer vorangehen? Immer leiten, immer Entscheidungen treffen, allen helfen…“
 

„Ich möchte nicht bereuen müssen.“, erwiderte der Geflügelte und entließ seinen Freund aus dem gröbsten Klammergriff, hielt ihn nur noch locker umschlungen. „Ich möchte keiner vergebenen Chance nachtrauern müssen. Niemand kann vorhersagen, was die Zukunft noch bringt. Und nichts kann uns sagen, wie unsere Entscheidungen sich darauf auswirken werden. Ich hab schon einige Fehlentscheidungen getroffen. Auch einige, die sich viel später doch nicht als Fehler herausstellten. Das kann man nicht vorher wissen. Man muss es einfach probieren und sehen, was geschieht. Nur du selbst kannst entscheiden, wie dein Leben laufen soll.“ Kurz schnaubte er. „Du hast mir mal an den Kopf geworfen, dass ich besser als meinesgleichen sei, da ich anfangen würde, frei zu denken. Aber du selbst lässt dich noch immer von den Schatten deiner Familie fesseln. Und egal, was ich auch versuche, ich kann dich daraus nicht befreien. Das ist nichts, was ich schaffen kann. Das musst du tun.“ Erneut strich er ihm durch die Haare. Seine Worte verkamen immer mehr zu einem leisen Selbstgespräch, einem einfachen Verbalisieren seiner Sorgen, Ängste und Gedanken. „Vielleicht ist der Schatten zu stark für dich. Vielleicht sind die Ketten zu stark, als dass du sie sprengen könntest. Und ich muss hier hilflos daneben sitzen und kann nichts tun. Ich hab Angst, dass ich dich ihretwegen verliere. Wegen dem, was sie dir anerzogen und dich gelehrt haben. Von dem du dich nicht befreien kannst.“
 

Beschämt ließ der Braunhaarige den Kopf sinken. Die ganze Zeit hatte er mit offenem Mund an Mimouns Lippen gehangen, aber der Vorwurf war hart. „Und was für ein Schatten ist das, der mich kettet?“, fragte er rau. Bisher hatte er gedacht, er hätte seine Familie hinter sich gelassen, was veranlasste seinen Freund dazu, vom Gegenteil zu sprechen?
 

„Einsamkeit.“, erwiderte Mimoun hart. Und bevor Dhaôma etwas erwidern konnte, fuhr er fort: „Früher hat dich deine Mutter dafür bestraft, dass du Freunde hattest. Dann hat sie diese bestraft. Nun habe ich den Eindruck, als würdest du dich selbst bestrafen, nur weil ich hier bin. Ohne Rücksicht, weder auf meine noch auf deine Gefühle, versuchst du, mich von dir zu stoßen und wieder in die Einsamkeit zu flüchten. Du willst nicht, dass ich gehe, das ist mehr als offensichtlich. Ich will hier ebenfalls nicht weg, es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als hier zu sein. Und dennoch scheinst du Angst davor zu haben, dass ich hier bin. Du willst, dass ich gehe und doch verletzt du dich damit. Und egal was ich auch sage, es kommt nicht bei dir an. Du begreifst nicht, wie sehr du mich mit diesem Verhalten verletzt, aber ich glaube, du kannst nicht anders. Du hast doch nur Einsamkeit und Schmerz kennen gelernt.“
 

Er verletzte ihn. Das war das erste, das in Dhaômas Kopf widerhallte, doch es blieb nicht allein. Bestrafte er sich wirklich selbst dafür, dass er einen Freund gefunden hatte? Suchte er die Einsamkeit, die er so sehr fürchtete? Blicklos hafteten seine Augen im Nichts. Warum? Das ergab doch keinen Sinn! Wieso sollte er etwas suchen, das schmerzhaft war?

Seine Augen weiteten sich. Schmerzen? Waren das die Schmerzen, die er nicht zuordnen konnte? Das, was seine Brust zusammenzog und seinen Hals einengte? Konnte Mimoun es deswegen heilen?

Und warum kettete die Einsamkeit ihn an seine Familie? Das war doch ein Widerspruch!
 

Als Dhaôma nichts mehr sagte, schwieg Mimoun. Vielleicht brauchte der Junge in seinen Armen nun Zeit zum Nachdenken.

Unablässig strich er ihm durch die Haare. Die andere Hand begann seinen Rücken auf und ab zu wandern. Was sollte er auch groß tun? Er musste warten, bis es dem Magier wieder besser ging.
 

Und genau diesem schwirrten die Gedanken durch den Kopf. Was genau hatte er bisher getan? Mimoun hatte ihn einmal gefragt, warum er sich nicht später, als seine Mutter ihn aus den Augen verloren hatte, neue Freunde gesucht hatte, warum er sich selbst lieber isoliert hatte, aber darauf hatte er damals keine zufrieden stellende Antwort gehabt. Wiederholte er jetzt sein Verhalten? Als Mimoun von seiner Familie abgeholt worden war, hatte er auch gespürt, dass er einsam war, hatte sich immer wieder danach gesehnt, dass der Schwarzhaarige wiederkam, selbst wenn die Reise ihn abgelenkt hatte. Besonders im Winter war es schlimm gewesen, als er nicht mehr die Wahl hatte, ob er lieber mit seinen Pflanzen zusammen war oder mit Menschenwesen. Dann war er gekommen und es war etwas von ihm abgefallen, das er nicht beschreiben konnte. Das Drückende in seiner Seele war verschwunden, an seine Stelle war Ruhe und Ausgeglichenheit getreten, eine Leichtigkeit, die das Leben sehr viel farbenfroher gestaltete. Es machte ihm Spaß, Kleinigkeiten zu tun, die Mimoun glücklich machten. Selbst unter den Hanebito war Mimoun immer derjenige geblieben, für den er mehr getan hatte als für die anderen, den er immer im Auge behalten hatte.

Und war es nicht so, dass dort seine Unsicherheiten angefangen hatten? Weil er kennen gelernt hatte, was ein freies Leben in der Luft bedeutete? Aber das hatte nicht bedeutet, dass er ihn von sich stoßen wollte. Im Grunde hatte er doch sogar Mimouns Schwester deswegen nicht gemocht, weil er Angst davor gehabt hatte, dass sie ihn zu sehr an sich band, ihn daran hinderte, weiterhin mit ihm zu wandern. Und anstatt dass er das Geschenk, dass er doch lieber bei ihm blieb, dankend angenommen hatte, wollte er Mimoun zu einem Leben ohne sich überreden. Warum?

Weil er gelernt hatte, dass Mimouns Familie genau das war, was er sich für seine Familie immer gewünscht hatte. Weil er nicht wollte, dass Mimoun das aufgeben musste. Aber das war es nicht allein. Er spürte, dass da mehr war.

„Weil ich Angst davor habe, dass du irgendwann gehst.“, sagte er mehr zu sich selbst als zu seinem Freund. „Es ist einfacher zu wissen, wann man wieder alleine ist, als dass man jeden Tag darauf wartet, plötzlich alleine dazustehen.“ Er seufzte zittrig. Genau das war der Grund, warum er so unsicher war. Aber bedeutete das nicht, dass er Mimoun nicht vertraute? War das nicht ein Vertrauensbruch? Als würde Mimoun sein Wort brechen. Das hatte er noch nie getan. Nicht ihm gegenüber.

Aber hatten ihn nicht alle immer irgendwann allein gelassen? War es vielleicht das, was Mimoun mit seinen Worten meinte, dass er an seine Familie - die Vergangenheit gekettet war? Dass er kein Vertrauen mehr haben konnte? Darin, dass ihn jemand mochte? Darin, dass jemand bei ihm sein wollte? Hatte er verlernt, Freundschaft anzuerkennen?

Wieder atmete er zitternd ein. War das der Grund, warum er Mimoun verletzte? Weil er ihm nicht vertrauen konnte? Nein, weil er Angst hatte, zu vertrauen!

Mimoun im Gegensatz dazu vertraute ihm immer. Dass er in seinem Dorf Freunde fand, dass er ihn heilte, dass er ihm half, wenn etwas nicht funktionierte, dass er Frieden bringen konnte. Dass er seinen Traum erfüllen konnte, Drachen zu finden, und mit ihnen zusammen die Magier und die Hanebito zu versöhnen. „Und du bist doch stark.“, murmelte er mit einem schwachen Lächeln. Im Gegensatz zu ihm war der Schwarzhaarige aufrecht und mutig.

Entschlossen ballte er die Hände zusammen, seine Augenbrauen zogen sich zusammen und bildeten eine steile Falte auf seiner Stirn. So musste er auch werden. Mutig, damit er wieder vertrauen konnte. Stark, damit er seinen Freund und Addar nicht enttäuschen musste. Aufrecht, damit er diejenigen überzeugen konnte, die ihm von Hause aus nie zuhören würden: seine Familie und die Hohen Häuser der Magier.

„Hab ich irgendetwas falsch verstanden?“, wandte er sich urplötzlich an Mimoun, völlig vergessend, dass er diese Diskussion größtenteils in seinem Kopf ausgefochten hatte.
 

Als Dhaôma anfing zu reden, lauschte Mimoun aufmerksam. Er wollte darauf etwas erwidern, doch es schien so, als wäre sein Freund erneut in Gedanken versunken. Also schwieg er weiter, fuhr mit den Fingern immer wieder durch die weichen Haare. Den nächsten vor sich hin gemurmelten Satz beantwortete er mit einem milden Lächeln. Ob sich Dhaôma überhaupt bewusst war, dass er vor sich hinredete?

Aufmerksam verfolgte der Geflügelte jede Bewegung, sah die geballten Fäuste, die gerunzelte Stirn. Was wohl in seinem Kopf gerade vor sich ging? Gerade weil er es nicht sagen konnte, wusste er auf die letzte Frage keine Antwort.

„Ich weiß es nicht.“, lächelte Mimoun weich. „Aber du brauchst keine Angst davor haben, dass ich dich alleine lasse. Ich hatte es dir doch versprochen, nicht wahr?“
 

„Okay.“, beschloss Dhaôma seinen ersten Grundsatz gleich mal zu verfolgen. Mehr Vertrauen ohne zu zweifeln. Seine Hände fuhren durch seine wirren Haare, um sie aus der Stirn zu befördern. Es fühlte sich an, als ob da mehr Knoten drin wären als sonst. Mochte an der liebevollen Behandlung durch den Hanebito liegen.

„Also, gehen wir jetzt weiter oder…“ Sein Blick fiel auf das Holz und das Fleisch und er wurde rot. „Ai.“ Und mit reichlich roten Wangen begriff er im nächsten Moment, warum Mimoun weg gewesen war. Er hatte gejagt. Und sogar Feuerholz gesucht. „Danke.“
 

Mimoun lachte herzhaft und piekte seinem Freund in die roten Wangen. So niedlich.

Mit einem gezielten Griff in Dhaômas Tasche förderte er die Feuersteine zutage, ließ sie zwischen den Fingern kreisen, während er sich endgültig von seinem Freund löste und auf das vorbereitete Feuerholz zustrebte.

„So haben wir doch beide was davon. Ich meinen Ausflug und du vernünftiges Essen.“ Und schon machte er sich daran, das Feuer in Gang zu bringen.
 

Nach ein paar Sekunden, in denen Dhaôma sich endgültig sammelte, folgte er zu den Stöcken und Ästen, die nun langsam Feuer fingen. Sein Kopf war ruhiger als die letzten Tage und er spürte so etwas, wie eine innere Kraft, die ihm Halt gab, als er sich neben den Geflügelten setzte. Gleichzeitig fühlte er eine bleierne Müdigkeit, die vom Weinen und dem vorherigen Gefühlschaos kam.

„Ich hab mich erschrocken, als du einfach verschwunden bist.“ Ohne Wertung kamen die Worte über seine Lippen.
 

Kurz sah Mimoun von dem Feuer auf und schaute seinen Freund entschuldigend an.

„Es tut mir Leid. Es war… eine Übersprungshandlung. Wir hatten kein Essen mehr, du magst keine Rohkost und du hattest gestern richtig festgestellt, dass ich hier jederzeit raus kann. Tut mir wirklich Leid. Ich hatte nicht erwartet, dass es dich verletzt, wenn ich für einige Zeit weg bin. Oh.“ Ihm fiel wieder der Nachmittag in den Bergen ein, den er im Regen auf einem Baum verbracht hatte, weil er dachte, der Magier brauche einige Zeit für sich. Und damals war er auch so panisch hinterher gewesen. Betreten senkte er den Blick wieder. „Verzeih. Du hast Recht. Ich werde ab jetzt Bescheid sagen.“
 

„Danke.“ Danach war das Thema vom Tisch.

Neugierig lehnte er sich vor und lupfte die Haut, in der das Fleisch eingewickelt war, kurz an. „Und was war das da für ein Tier? So ein Fell hab ich noch nie gesehen.“ Es war gelblich und ganz kurz, ähnlich dem eines Hirsches, aber hatte definitiv die falsche Farbe.
 

„Antilope.“, erklärte Mimoun. „Kommen in unserer Region eher selten vor, deshalb hast du so was wahrscheinlich noch nicht gesehen.“

Prüfend besah er sich Dhaôma. Dieser hatte das Thema gewechselt, wirkte auch nicht mehr so niedergeschlagen und verstört. Nun beruhigt wandte er sich wieder seiner Aufgabe zu. Viel war nicht mehr zu machen. Das Feuer brannte, das Fleisch war bereits vorbereitet. Nun hieß es nur noch warten. Und darauf achten, dass Dhaômas Essen nicht verkohlte.
 

Die nächste Zeit wanderten sie die Schlucht entlang. Zwischendurch wurde der Sims immer mal wieder breit genug, damit sie nebeneinander laufen konnten oder aber gemütlich schlafen. Dann wieder war er so schmal, dass Mimoun ihn tragen musste, damit er nicht Gefahr lief, abzustürzen. Generell flog Mimoun oft vor. Bis es plötzlich nicht mehr ging. Mitsamt dem Sims verschwand der Fluss unter dem Fels. Selbst für Dhaôma war es zu schmal, um einfach aufrecht zu gehen. Er würde kriechen müssen.

Etwas ratlos blieb er stehen und sah zu Mimoun zurück, der ihm diese Entwicklung schon angekündigt hatte.
 

Unglücklich verzog dieser das Gesicht, während er sich die Szenerie betrachtete. Entweder er entschied sich dazu, oberirdisch nach dem Ausgang des Flusses zu suchen, nicht wissend wie es seinem Freund in der Zeit dort unten erging, falls dieser dort durchklettern wollte, oder er kroch auf dem Bauch durch die Erde, nicht wissend, ob es irgendwann keine Möglichkeit zur Umkehr mehr geben und er dort elendig feststecken würde. Und niemand konnte sagen, wie weit die Strecke war. Auf die Schnelle hatte er keinen Ausgang finden können.

„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese zum Teil riesigen Geschöpfe in diesem winzigen Loch hocken?“, umging er erst einmal das eigentliche Problem.
 

„Das kommt darauf an, ob es irgendwo noch einen anderen Ausgang gibt oder nicht.“ Unsicher zuckte Dhaôma mit den Schultern. Er war sich selbst nicht sicher, ob er so gerne unter der Erde begraben sein wollte. Andererseits war ein gutes Versteck die Voraussetzung dafür, dass man nicht entdeckt werden konnte. „Aber das Wasser fließt irgendwann ins Meer. Das heißt, der Fluss muss irgendwo wieder an die Oberfläche kommen. Oder?“
 

„Ja.“, erwiderte Mimoun gedehnt. „Das ist aber auch das einzige, was momentan sicher ist. Niemand kann uns garantieren, dass den ganzen Lauf entlang ein Weg ist oder ob der Fluss stellenweise den kompletten Gang ausfüllt. Die Schlucht ist nicht so schlimm, da kann ich jederzeit raus, aber da unten…“
 

„Aber wenn sie hier leben, dann auf jeden Fall dort unten, oder? Wir sind schon seit zwei Wochen in dieser gigantischen Umgebung und du hast schon wenig Platz zum Fliegen. Auch wenn es nicht der richtige Eingang ist. Wir haben sie doch auch nie gesehen, oder?“ In Dhaôma wuchs der Wunsch, wirklich dort unten hineinzugehen, um zu sehen, ob irgendjemand dort war. Oder irgendetwas. „Wir können doch zurückgehen, wenn es zu eng wird, oder?“
 

Mimoun schnaubte verächtlich und verschränkte die Arme. Mit hochgezogener Augenbraue flatterte er ein wenig mit seinen Flügeln. „Niemand kann vorhersagen, ob sich die Möglichkeit zum Umdrehen bietet oder ob ich rückwärts krauchen müsste, was nicht sonderlich einfach ist mit den Dingern. Es sei denn wir brechen die Speichen und Knochen, damit ich um die Ecke passe und du heilst es später. Und was ist mit Licht? Du kannst nicht alle naselang Leuchtmoos wachsen lassen. Das erschöpft dich und wir würden langsamer vorwärts kommen, als wenn wir uns in Dunkelheit vortasten würden. Und Vorräte? Wenn diese Suche dort unten länger dauert? Ob es etwas dort unten gibt, was sich jagen lässt?“ Er schüttelte den Kopf, als ihm bewusst wurde, dass er langsam immer schroffer wurde in seinem Ton. „Entschuldige. Ich fühl mich nicht wohl dabei. Schlimmer noch, als mit der Schlucht an sich.“
 

Betroffen blickte Dhaôma ihn an. Mimoun hatte Recht. Wenn er selbst stecken blieb, konnte er rückwärts krauchen, aber Mimoun hatte natürliche Widerhaken in Form seiner Flügel. Und sie zu brechen kam nicht in Frage. Immerhin hätte er eine Antwort auf die Sache mit dem Leuchtmoos. Man könnte es mit sich tragen. Und auch Vorräte könnten sie mitnehmen. Natürlich nicht so viel, aber immerhin etwas.

„Vielleicht hast du Recht.“ Es gab hunderte Gefahren, die sie nicht einfach mit Flucht oder Fliegen lösen konnten. Andererseits hatte er sich vorgenommen, stärker zu werden, mutiger. „Aber ich möchte deswegen nicht aufgeben. Immerhin könnte hier die erste Etappe zu unserem Traum liegen. Oder unser Ziel. Vielleicht gibt es dort drinnen einen Wegweiser.“
 

Mimouns Gesicht wurde noch ein wenig unglücklicher. Aber er nickte. Hier aufzugeben passte nicht zu ihnen. Sie hatten schon soviel durchgemacht deswegen.

Sein Blick wanderte über den engen Eingang und er seufzte schwer. „Wie wär’s? Ich genieße das letzte Mal für unbestimmte Zeit die freien Lüfte, beschaffe noch ein wenig Fleisch und Holz und du erkundest ein wenig den Anfang davon.“ Mit einem missglückten Lächeln deutete er auf das Höllenloch. „Vielleicht haben wir Glück und es wird nachher breiter.“
 

Nickend besah sich der Braunhaarige das Loch. „Dann verbringen wir einfach die Nacht noch hier draußen und gehen erst am nächsten Tag rein. Und ich erkunde schon mal die ersten paar hundert Meter.“ Aufmunternd lächelte er seinem Freund zu. Das wird schon alles, sollte das heißen.

Doch bevor er hineinging, musste er noch Leuchtmoos wachsen lassen. Vielleicht konnte man das Zeug irgendwie an die Kleider binden, damit er es nicht halten musste. Geschäftig begann er in seinem Beutelchen zu wühlen.
 

Dankbar erwiderte Mimoun das Lächeln. So wurde ihm wenigstens noch ein wenig Aufschub gewährt, bevor er endgültig begraben wurde. Unbewusst schauderte es ihn bei dem Gedanken daran.

„Ich bin gleich zurück.“, kündigte er an. Der Geflügelte sagte das nun immer, selbst wenn er sich für kleine Flüge in Dhaômas Sichtfeld entfernte. Anschließend erhob er sich in die Lüfte. Alles, was er für die Jagd nicht brauchte, legte er vorher bei Dhaôma ab. Es war nur unnötiger Ballast und eine Garantie für seinen Freund, dass er auf jeden Fall zurückkommen würde.

Teils bewusst, teils unbeabsichtigt zog er seinen Flug in die Länge. Erst tobte er durch die Wolken, ließ sich fallen, vollführte Drehungen, zog Kreise. Anschließend strich er im Tiefflug über das Land hinweg auf der Suche nach dem Holz, welches er anschließend am Rande der Schlucht ablegte. Es war besser so, als wenn die Jagdbeute unbeaufsichtigt darauf warten würde, dass er zurückkam oder ein anderer Räuber auftauchte.

Nachdem Mimoun das Holz fallengelassen hatte, stand er kurz am Rande der Klippe und sah in das Dunkel hinunter. Sein Magen krampfte sich erneut bei dem Gedanken zusammen, zwischen den Erdmassen, dicht neben dem unberechenbaren Fluss, eingeklemmt zu sein.

Entschlossen wandte er sich ab und ging auf die Jagd. Zu lange wollte er Dhaôma dann doch nicht warten lassen. Er hielt nach größerer Beute Ausschau, dass sie auch genügend Vorräte hatten und so zog sich das erneut ein wenig in die Länge. Auch weil er es erst einmal auseinander nehmen musste, um überschüssiges Gewicht loszuwerden. Schließlich blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als wieder in die Schlucht zu dem Magier zurückzukehren.

Die Höhle der Dre

Kapitel 29

Die Höhle der Drachen
 

Dhaômas Weg in die Höhle war von angespannter Erwartung geprägt. Das Leuchtmoos verbreitete ein weiches, bläuliches Licht, das kaum hell genug war, um zwei Meter weit zu schauen, da er sich aber Zeit ließ, erkannte er dennoch einige kleinere Details, die ihm durchaus gefielen. Immer wieder kreuzten seltsame Gebilde seinen Weg: die einen wuchsen von unten aus dem Boden und strebten kegelförmig ihren Partnern an der Decke entgegen, die lang gestreckt waren wie Eiszapfen. Sie waren beide aus weißlichgelbem Gestein. Und nass. Manche waren riesengroß, andere kleiner, teilweise gab es monströse Säulen, die wie versteinerte Bäume aussahen. Unter einer dieser Säulen wuchsen Pilze, die einen seltsamen Geruch verströmten.

Längst vergessend, was er hier eigentlich machen sollte, drang der Junge tiefer in diese bizarre Höhle ein. Seine Sinne spielten ihm Streiche, wenn eines der Gebilde aus dem Augenwinkel aussah wie ein zum Sprung gespannter Jaguar oder eines wie ein Mensch. Leise lachend lief er dann einmal darum herum, um sich zu vergewissern, dass sie nicht doch lebendig waren.

Und dann sah er in den Schatten vor sich einen riesigen Felsen. Schon im ersten Augenblick hielt er ihn für einen Drachen, aber selbst als er näher kam, das Herz bis zum Hals hinauf schlagend, blieb es ein Drache. Ruß auf weißem Stein, durchzogen von farbigen Linien, als seien es Adern, und schwefelgelbe Ablagerungen an einigen Stellen, konnten nicht verhehlen, dass diese Statue hier geschaffen worden war. Von wem auch immer, sie war geformt und in faszinierenden Details den Originalen nachgebildet. Zumindest war Dhaôma geneigt, dem zu glauben.

Jedes noch so kleine Detail sog er in sich auf, als er um die gigantische Statue herumging, jeden Fuß vorsichtig vor den anderen setzend. Beinahe hätte er die verwaschenen Zeichnungen an der Wand hinter dem Drachen übersehen, doch das phosphorisierende Licht seines Mooses fing sich in einigen Gebilden und blinkte zurück. Neugierig, was diesen bisher unbekannten Spiegeleffekt ausgelöst hatte, folgte Dhaôma dem Glitzern und fand in den Fels eingelassene Kristalle, die das Licht teilweise auffächerten und zurückwarfen. Sie bildeten die Augen der Drachen, die irgendjemand in mühevoller Kleinarbeit auf den Felsen gemalt hatte.

Es waren Bilder, die in ihrer Einfachheit nicht mit den Drachen mithalten konnten. Einmal war etwas Blaues angedeutet. Vielleicht ein See. Dann wiederum schwebende Inseln, auf denen Häuser, genauer gesagt, ein Haus abgebildet war, das fast wie ein Tempel so schlicht gehalten war. Und dortherum flogen stilisierte Drachen.

Lange betrachtete Dhaôma das Bild. In seinem Innern wusste er, dass ihm dieses Bild etwas sagen wollte, aber er konnte nicht genau erfassen, was das war. Mimoun musste her!

Eilig lief er zurück, ließ nur einen Teil des Leuchtmooses zurück, damit er die Stelle anschließend wieder fand.
 

Als Mimoun zurückkehrte, schien sein Freund noch immer in dem Gang herumzukriechen, denn nirgends war eine Spur von ihm zu entdecken. Kurz huschte sein Blick unsicher über den Eingang. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war der Geflügelte eine ganze Zeit lang weg gewesen. Vorsichtig legte er seine Beute ab und hockte sich vor den Gang, lauschte mit geschlossenen Augen hinein. Nichts. Kein Geräusch war zu hören.

Nach einigem Zögern zog er sich wieder zurück und machte sich daran, das Feuer in Gang zu bringen und das Fleisch haltbar zu machen. Seine Sinne und Aufmerksamkeit richteten sich fast völlig auf das Loch, wo er jeden Augenblick die Rückkehr Dhaômas erwartete. Dieser sollte nur kurz erkunden, nicht schon komplett durchwandern oder sich in Gefahr begeben.

Als hastige Schritte aus dem Gang erklangen, erhob er sich alarmiert. Ob etwas vorgefallen war? Ob er vor irgendetwas flüchtete?
 

„Mimoun!“ Dhaôma rief seinen Namen, ehe er ihn sehen konnte. Lange dauerte es danach nicht mehr, bis er ihn erreichte. Atemlos hielt er sich an dessen Schultern fest und versuchte zu mehr Sauerstoff zu kommen. „Du musst sofort mitkommen! Da sind Bilder und ich verstehe sie nicht! Irgendwas mit einem See und einer fliegenden Insel! Da ist ein Haus drauf, vielleicht kennst du das, dann wüssten wir, wohin wir gehen müssen, denn ein Drachennest ist da auch abgebildet. Und überall Drachen! Manche sind wunderschön! Oder ganz schrecklich gefährlich!“ Endlich atmete er einmal tief durch, bevor er sich aufrichtete. „Los, komm!“
 

Im ersten Moment war Mimoun nicht fähig sich zu rühren. Völlig atemlos kam Dhaôma auf ihn zugehetzt und krallte sich an ihm fest. Schnell glitt sein Blick wieder zum Höhleneingang, ob seinem Freund etwas folgte, erst danach erreichten die Worte sein Ohr. Erstaunt sah er ihn an und stützte ihn mit den Händen so gut es ging.

„Ganz ruhig. Noch einmal langsam.“, versuchte er aus den schnellen Worten schlau zu werden. „Dort drin sind Bilder von Drachen? Und einer Insel? Und ich soll mir das angucken?“
 

„Ja.“ Ein heftiges Nicken unterstrich diese Antwort.
 

Mimoun löste sich mit einem Nicken. „Gut. Wenn es nur Bilder sind, werden sie nicht weglaufen.“, stellte er sachlich fest und wandte sich wieder dem immer noch brennenden Feuer zu. Dhaôma würde nun, bei einem so deutlichen Hinweis, sicher so schnell keine Ruhe mehr geben und so nahm er das Fleisch vom Feuer und löschte es sorgfältig. So könnten sie später vielleicht noch die Holzreste für ein erneutes Feuer nutzen und ihre Arbeit hier beenden. Schließlich klopfte er seine Hände ab und wandte sich widerstrebend dem Höhleneingang zu. „Na dann wollen wir mal.“, erklärte er und deutete Dhaôma an, ihm den Weg zu zeigen. Innerlich wappnete er sich schon für das Schlimmste.
 

Dieser hatte mehr im Weg gestanden, als geholfen, selbst wenn er sich bei der Arbeit um Hilfe bemüht hatte. Seine Aufregung war zu groß und es musste alles zu schnell gehen, als dass er wirklich hilfreich war. Dann musste er sich gehörig zusammenreißen, um nicht vorneweg zu rennen. Mimoun brauchte auch Zeit, um das hier genießen zu können, immerhin sah er das zum ersten Mal. Zu diesem Zweck hatte ihm Dhaôma auch ein wenig Leuchtmoos in die Hand gedrückt, das zu dem, das er auf seinem Weg schon verteilt hatte, leuchtete. Je mehr, desto heller, desto mehr konnte man sehen und bewundern. Trotz Flügel war es hier nicht so eng, dass er überall anstieß. Nur manchmal war die Decke zu niedrig, so dass er die Schwingen abblatten musste.
 

Es ging besser als erwartet, stellte Mimoun verwundert fest. Er war eigentlich vom Schlimmsten ausgegangen. Umso lieber nahm er sich die Zeit, sich im schwachen Licht des Mooses umzusehen. Wie schon Dhaôma bestaunte er die seltsamen Gesteinsformationen und Gebilde, die ihren Weg säumten, vergessend, wo er sich hier eigentlich befand.

Als er nach gefühlten Ewigkeiten bei der Drachenskulptur ankam, blieb er ehrfürchtig in einiger Entfernung stehen und starrte sie wortlos an. Nur zögerlich trat er näher und hob die Hand. Er wagte es nicht, sie zu berühren, ließ sie in wenigen Zentimeter Abstand darüber schweben.

„Beeindruckend.“, murmelte der Geflügelte, während er sich die Statue sorgfältig von allen Seiten betrachtete.
 

Dhaôma stand wie auf Kohlen. Einerseits wollte er nicht drängen, Mimoun seine Zeit lassen, andererseits wollte er ihm die Bilder zeigen. So übte er sich in Geduld, während er von einem aufs andere Bein trat. Als er fand, dass dieser die Statue lange genug angehimmelt hatte, zog er ihn schließlich zu den Bildern.

„Sag mir, was du denkst!“, forderte er. „Sieht es nicht so aus, als wäre das eine Insel über einem See?“
 

Am Rande hatte Mimoun sehr wohl Dhaômas Unruhe bemerkt und es amüsierte ihn. Dabei konnten die Bilder, wie schon erwähnt, nicht wegrennen.

Aber er folgte dieser unnachgiebigen Bitte und wandte sich nun den Bildern zu. Hier zeigte er weniger Scheu sie zu berühren. Seine Finger folgten seinen Blicken, wanderten über die Drachen, zogen weiter über die Insel mit dem Haus und kamen schließlich auf dem Blau zur Ruhe. Prüfend legte er den Kopf schief.

„Ja.“, erwiderte er langsam. „Aber ich kenne keine Insel mit nur einem Gebäude. Oder es heißt einfach nur, dass es sich um eine bewohnte handelt. Und Seen gibt es einige in unserem Territorium. Nur bleiben die Inseln normalerweise nicht darüber schweben. Aber ich weiß von keiner Insel, auf der solche Massen an Drachen zu Hause gewesen wären. Vor allem muss diese Insel riesig sein, wenn die Drachen dort leben sollten. So eine gibt es nicht. Schon gar nicht mit einem See in der Nähe.“

Mimoun löste seine Finger von der Wand. Nachlässig wischte er die Feuchtigkeit, die daran hängen geblieben war, ab und kramte die Karte hervor, die er immer bei sich trug. Kritisch musterte er diese und suchte darauf nach Hinweisen.
 

Dhaômas Enttäuschung hielt nicht lange. Viel zu interessant war das. „Und was glaubst du, was diese Wolken hier zu bedeuten haben? Sogar Blitze haben sie dazu gemalt.“ Seine Finger strichen über die dunklen Schatten mit den gelben Zacken darin. „Vielleicht kann man die Insel nur bei Gewitter finden.“
 

„Na dann leg mal los.“, grinste Mimoun und faltete die Karte zusammen. Auf die Schnelle ließ sich nichts Vergleichbares finden.
 

Wenn es so einfach wäre, hätten sie sich nicht so bemühen brauchen. Dann wären die Drachen immer gekommen, wenn einer der Magier Regen gerufen hätte. Mit einem scheelen Blick bedachte er Mimoun, der das ganze nicht ernst zu nehmen schien.

„Vielleicht ist das auch kein Hinweis.“, zuckte er die Schultern. „Immerhin kann es sein, dass das hier nur jemand gemalt hat, der gerne malt.“ Aber das war nicht das Gefühl, das er hatte. „Vielleicht zeigt es uns aber den Ort. Oder es bedeutet, dass man den Ort nur an bestimmten Tagen finden kann. Immerhin schweben diese Inseln.“

Wieder hob sich seine Hand sehnsüchtig zu der Insel mit dem Tempel, wo die Drachen nisteten. „Aber wenn es diese Insel wirklich geben würde, hätte Addar dann nicht gesagt, dass er sie kennt?“
 

Ja. Das war eine schwebende Insel. Soweit waren sie schon.

„Wenn er sie nicht kennt, bedeutet das, dass sie an einem Ort sein muss, der für Meinesgleichen nicht zu erreichen ist. Irgendwo über Wasser.“ Der Geflügelte runzelte die Stirn und fuhr mit seinen Fingern wieder prüfend über die Wand. Noch immer war sie feucht, beinahe nass. Alles voller Wasser. Viel Wasser. „Großes Wasser.“, flüsterte er mehr zu sich selbst. „Weit hinaus kommen wir nicht, da dort eigentlich keine Inseln schweben. Wir hätten nichts, auf dem man sich ausruhen kann.“
 

Erkennend weiteten sich die braunen Augen. Ja, das Große Wasser! Das musste es sein! Das Buch hatte doch auch gesagt, dass man die Drachen am Großen Wasser finden konnte. Und wenn es damit eine Insel meinte, die über diesem Großen Wasser schwebte, dann waren die Hanebito kaum in der Lage, dorthin zu gelangen. Aber… „Wenn ihr diese Insel nicht erreichen könnt, wie sollen wir sie dann erreichen?“
 

Mimoun verzog erneut das Gesicht, als sich ihm der Magen umdrehte.

„Du… bist doch schon einmal auf dem Wasser gereist.“ Zumindest war das eine Möglichkeit, falls es sich nur um die Entfernung zum Festland handelte. Sollte es wegen der Höhe… nein. Die Drachen waren auch in der Lage dort zu fliegen. Warum sollte es einem leichteren, wendigeren Geflügelten nicht gelingen? „Ich mache mir eher Sorgen deswegen.“, meinte Mimoun und deutete auf die Wolkenbildungen um der Insel. „Warum sind die hier mit eingezeichnet?“
 

„Um zu zeigen, dass die Insel weit oben schwebt?“, mutmaßte Dhaôma nachdenklich.
 

Nur wenig überzeugt zuckte der Geflügelte mit den Schultern. „Hätten sie dann nicht unten das Wasser, dann eine Wolkenschicht und schließlich weit drüber die Insel mit den Drachen malen müssen?“ Erneut legte er den Kopf schief. „Finden wir erst einmal zum großen Wasser. Wir werden dann ja sehen was uns erwartet.“
 

„Meinst du denn, das schaffen wir noch vor dem Winter?“, zweifelnd und mit den Gedanken und Augen noch immer bei den Bildern äußerte er diese Sorge. „Und soll das heißen, es gibt in dieser Schlucht keine Drachen?“ Wieder ging er alle Bildnisse durch. Eines der Bilder war besonders faszinierend und das war ein Drache auf einem Nest, der liebevoll auf die Eier hinab sah.
 

Mimoun nahm sich ein wenig des Mooses und sah sich aufmerksamer in der gesamten Höhle um, doch nichts wies hier auf die Anwesenheit von Drachen hin. Keine Knochen, wie auf dem Friedhof, keine Schuppen, Krallen oder andere Hinterlassenschaften.

Schließlich kehrte er zu seinem Freund zurück. „Nein. Hier gibt es keine Drachen.“ Erneut glitten seine Finger über das Bild der Insel. „Sie ist unsere letzte Chance.“

Innerlich freute er sich. Es hieß, dass sie nicht mehr durch die Schlucht wandern mussten. Ab jetzt konnten sie an ihrem oberen Rand dem Verlauf folgen. Dennoch bedauerte er es auch, hieß es doch, dass ihre Suche noch lange nicht zu Ende war.
 

Dhaôma hatte sich in der Zwischenzeit der Skulptur des Drachen gewidmet. Jede einzelne Schuppe war mit liebevoller Kleinarbeit geformt worden. Selbst die Nüstern waren fingertief. Aber wenn er sich seinen Drachenzahn vergleichend ansah, war dieses Exemplar doch recht klein.

Aufregung wuchs in ihm. Das würde ganz schön Mut erfordern, den Drachen entgegenzutreten! Vor allem, wenn sie groß waren und so böse schauten wie diese Statue hier.

„Mimoun! Ich werde nach draußen gehen und einen Brief an Addar schreiben. Vielleicht weiß er, wo diese Insel ist! Oder er hat schon mal davon gehört.“ Und schon rannte er hinaus, um möglichst noch das letzte Licht des Tages zu erwischen, nur um festzustellen, dass es inzwischen draußen stockdunkel war. Offenbar waren sie länger in dieser Höhle gewesen, als es ihm vorgekommen war.
 

„Tse.“, gab Mimoun von sich, als Dhaôma urplötzlich verschwand. Ein Teil des Lichtes verschwand mit ihm. „Lass mich ruhig allein hier. Ist ja so gemütlich.“

Langsam machte auch er sich auf den Rückweg. Nun allein empfand er seine Umgebung als drückend und einengend. Vorsichtig tastete er sich an der Wand entlang. Zwar war der Weg ganz gut zu erkennen, doch er fühlte sich nun erst recht unwohl hier unten. Als er schließlich aus dem Gang trat, atmete er tief durch.

Aufgrund des Leuchtmooses war es ihm möglich, seinen Freund auszumachen. Zielstrebig steuerte er auf ihn zu und pfefferte ihn seine eigenen Reste dieser Pflanze an den Kopf. „Vielen Dank auch.“
 

Etwas überrascht, reagierte Dhaôma verspätet, so dass er nur noch einen Teil des Mooses auffangen konnte. Das meiste verteilte sich in seinen Haaren und zu seinen Füßen. Er verstand die Wut nicht so richtig. Was genau hatte er falsch gemacht?
 

Mimoun seufzte ergeben. Dhaôma sah ihn nur völlig verwirrt an, schien nichts zu begreifen. Dieser Junge war einfach unglaublich. Er hatte eine Spur zu seinen Drachen und schon vergaß er alles um sich herum.

„Ich geh nur wegen dir da rein und du hast nichts Besseres zu tun, als mich bei der erstbesten Gelegenheit da unten allein zu lassen.“ Er trat weiter auf seinen Freund zu und legte ihm die Hand auf den Kopf. „Würde ich dich nicht kennen, könnt ich glatt auf die Idee kommen, du würdest das mit Absicht machen.“
 

„Nein!“ Der Ausruf kam im Reflex. Er machte so was doch nicht mit Absicht! „Es tut mir Leid! Ich hab nicht darüber nachgedacht. Und ich hab doch Licht gemacht, damit du alles sehen kannst, und…“ Er verstummte, als ihm klar wurde, dass Mimoun schon impliziert hatte, dass er nicht davon ausging, dass er das absichtlich tat. „Entschuldigung.“
 

Mit einem milden Lächeln zog er Dhaôma näher, lehnte seine Stirn gegen dessen Schulter. Seine Hand wanderte weiter, kraulte den Magier beruhigend im Nacken, nur kurz. „Zur Entschädigung will ich Erdbeeren.“, verlangte er mit einem jungenhaften Grinsen. Er pochte seinem Freund mit dem Fingerknöchel gegen die Stirn und wandte sich dem verkohlten Holzstapel zu. Seine Arbeit, die er vor seinem Abstieg in die Erde begonnen hatte, konnte er ruhig noch heute Abend erledigen. Er war noch ziemlich munter, selbst wenn es nun bereits dunkel war. Mit einer leichten Berührung des Felsbodens neben sich, bot er dem Magier an, sich neben ihn zu setzen.
 

Nickend ließ der Junge sich im Schneidersitz neben ihn fallen. „Erdbeeren, die hier auf dem Felsen wachsen, wird es nicht geben. Dazu brauche ich mehr Erde.“ Was schon der Name implizierte. „Sobald wir welche haben, bekommst du welche.“ Kichernd legte er die Hand gegen die kohleartigen Äste. Linien leuchteten schwach auf und schon regenerierte sich das Holz, so dass man es erneut abbrennen konnte.

„Mir ist was eingefallen.“, meinte er leise, während er die Hand sinken ließ. „Wenn wir bis zum Winter nicht gefunden haben, was wir suchen, gehen wir zurück zu Cerel?“ Nachdenklich starrte er blicklos auf die Holzscheite.
 

Dankbar machte sich Mimoun daran, das Feuer neu zu entfachen und das Fleisch fertig zu braten. Dann dachte er über die Frage nach.

„Es wäre schön, sie mal wieder zu besuchen.“, murmelte er. „Und sie würden sich freuen. Aber niemand kann vorhersagen wie streng der Winter wird. Wenn selbst wir anfangen würden mit frieren, bist du dort oben tot.“ Kurz kicherte der Geflügelte. „Oder wir stecken dich in den Ofen, damit du dauerhaft warm bleibst.“ Er legte den Kopf schief. „Oder wir bauen dir unterhalb eine Hütte oder etwas ähnliches. Dann können wir dich ständig besuchen und du wärst nicht allein. Es ist ja nicht so weit nach unten.“
 

„Aber die Inseln fliegen doch weg, oder?“, fragte Dhaôma. Der Gedanke, dass er im Winter erfrieren könnte, war ihm noch gar nicht gekommen. Dabei hatte er sich doch vorgenommen, dass er dieses Mal Vorbereitungen treffen würde, damit es nicht so endete wie im letzten Winter, den er nur mit Glück überlebt hatte.
 

„Ja.“, erwiderte Mimoun gedehnt und verschränkte die Arme, begann laut zu grübeln. „Aber sie bewegen sich nur langsam und auf einem festen Weg. Das heißt für eine gewisse Zeitspanne stellt das kein Problem dar, da wir auf unseren Schwingen ziemlich schnell sind. Aber wie transportiert man eine ganze Hütte von einem Fleck zum anderen?“ Ihm kam wieder das Graszelt Dhaômas in Erinnerung. „Stimmt. Gras und Holz sind da leichter zu transportieren als Stein. Aber reicht so was als Schutz vor der Kälte?“ Hilflos zuckte er mit den Schultern. Er selbst hatte so was nie ausprobieren müssen, konnte es also nicht sagen.
 

„Wenn man immer heizt… Aber bei Holz besteht immer die Gefahr, dass es abbrennt. Felsen ist da sicherer.“ Aber egal, wie man es drehte und wendete, es würde bedeuten, dass er während der schneereichen Zeit wieder allein sein würde. Irgendwie hatte er Angst davor. Lieber wäre es ihm, wenn sie den Drachenhorst schon vorher erreichen könnten, so dass er wenigstens eine der Echsen als Freund in der Einsamkeit bei sich hatte. Andererseits würde das Reptil wohl auch sterben, wenn es kalt wurde. Das hatte er schon oft gesehen, dass sie bei Kälte erstarrten und dann starben.

„Ich glaube, es wäre besser, ich würde mir hier in der Schlucht oder der Nähe des Flusses eine Höhle suchen, abdichten und dann Holz und Vorräte dort lagern, bevor alles einschneit. Aber noch ist es zu früh dafür. Der Sommer ist schließlich noch nicht am Sterben.“
 

„Uns.“, korrigierte Mimoun und wuschelte seinem Freund durch die Haare. „Wenn du hier bleiben willst, bleibe ich auch hier. Ich lasse dich doch nicht den ganzen Winter über alleine. Schon gar nicht in so einer Umgebung.“ Bezeichnend sah er in die Runde.
 

„Danke.“ Freude mischte sich mit Erleichterung, zeigte sich auf seinen Wangen als leichter Rotschimmer, der in den wachsenden Flammen verschwamm. Er ließ sich von Mimoun ein wenig des Fleisches geben, um beim Grillen mitzuhelfen.
 

Durch Dhaômas Hilfe wurden sie schnell fertig mit ihrer Arbeit. Nach der Mahlzeit legte sich Mimoun schlafen, denn es war schon spät. Und die Aufregung durch die Höhlenwanderung hatte mittlerweile nachgelassen und ließ seinen Körper sein Recht fordern.
 

Der nächste Morgen begann sehr zeitig. Wie immer war Dhaôma dennoch vor ihm wach und werkelte bereits geschäftig herum. Mimoun selbst blieb noch ein wenig liegen und beobachtete seinen Freund bei seiner Arbeit. Schließlich erhob auch er sich. Der Geflügelte wollte so schnell wie möglich aus der Schlucht raus, ohne es allzu deutlich nach Flucht aussehen zu lassen.

Dhaôma eröffnete ihm wenig später, dass er einen Brief an Addar verfasst hatte. Mimoun sah nur kurz zu der Höhle. Bericht erstatten. Da war was.

„Das schaff ich innerhalb weniger Stunden selbst. Da brauchen wir keinen Boten dazwischenschalten. Sind da auch gleich Salbenrezepte mit dabei?“, hakte Mimoun nach und begann bereits, seine Sachen zusammenzupacken.
 

Dhaôma wedelte mit einigen der Papierrollen. „Da sind auch Proben mit dabei, damit sie wissen, welche Pflanzen ich meine.“ Die wenigen Dinge, die er ausgepackt hatte, verschwanden in seinem Beutel und schon war er abmarschbereit. „Bringst du mich noch nach oben, dann versuche ich, den Fluss wieder zu finden. In der Höhle findest du mich nie.“
 

Erleichtert nickte Mimoun. Es war gut, dass der Junge selbst auf diese Idee kam, da brauchte er es ihm nicht anraten.

„Natürlich.“, setzte er noch hinzu und schon packte er seinen Freund und trug ihn zum Rand der Schlucht empor. Nach einem sichernden Blick in die Runde stellte er Dhaôma ab, befestigte den Wasserschlauch am Gürtel, nahm die Papierrollen an sich und reichte dem Magier seine Tasche.

„Kannst du darauf aufpassen?“, bat er. „So lange wollte ich ja nicht weg sein und es ist nur unnötiger Ballast.“ Die Rüstung bürdete er seinem Freund dann aber nicht auf. Das konnte dieser gar nicht alles schleppen.

„Ich bin so schnell es geht zurück.“
 

Nickend wartete der Magier noch genauso lange, bis er Mimoun nicht mehr sah, bevor er sich auf den Weg machte. Aufs Geratewohl einfach in eine Richtung, von der er vermutete, dass es die richtige sein würde.

Es war zu heiß in der prallen Sonne, die unbarmherzig vom Himmel brannte. Dhaôma war regelrecht froh, dass Mimoun in der Luft dieser Hitze entfliehen konnte. Diese karge Felslandschaft ohne Fluss war nicht dafür geschaffen, viel Unterschlupf zur Verfügung zu stellen. Fast wie damals in der Wüste.

Schon am ersten Abend hielt er Ausschau nach seinem Hanebito, der nicht kam. Nicht mal am Horizont. Und damit Mimoun ihn auch ja nicht verfehlen konnte, ließ er nachts das Leuchtmoos wachsen. Seinen Weg pflasterte er mit einer Spur aus lilafarbenen Blumen.

Auch am nächsten Tag kam Mimoun nicht zurück. Einsam lag Dhaôma auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte in den nachtschwarzen Himmel. Kein Stern war zu sehen. Es hatte am Abend zugezogen. Vielleicht würde es regnen. Zumindest wurde es sicherlich schwül am nächsten Tag.

Seine Prognose war richtig. Die feuchte Hitze nahm ihm den Atem und die Ausdauer. Das Gewicht der ganzen Sachen ließ ihn noch langsamer vorankommen. Außerdem blickte er alle paar Meter hinauf, um zu sehen, ob Mimoun nicht doch endlich kam. Nie hätte er gedacht, dass er sich solche Sorgen machen könnte. War ihm etwas passiert? Er war doch schon so lange weg. Und hatte er nicht gesagt, dass er nicht lange brauchen würde?

„Wo bleibst du? Geht es dir gut?“ Sorgenvoll starrte er minutenlang in den Himmel, bis die ersten Tropfen fielen. Längst war es Nachmittag und jetzt entlud sich die unheilschwangere Atmosphäre in einem mächtigen Gewitter. Dhaôma fand keinen Schutz in der Felslandschaft, nur seine Sachen bedeckte er mit den riesigen Blättern des Ölbaumes, um sie vor Verderb zu schützen. Ihm selbst machte das Wasser nichts aus, wie es durch seine Haare spülte, den Staub und Schweiß abwusch. Nur die Angst, die in ihm schwelte, konnte der Regen nicht vertreiben.

Auch am nächsten Morgen regnete es noch und Dhaôma wusste, dass sich Mimouns Ankunft weiterhin verzögern würde. Solange es regnete, konnte der Geflügelte nicht so unbeschwert fliegen wie sonst. Mit Unlust machte er sich auf den Weg. Das hatte zum Teil noch einen anderen Grund als Mimouns Abwesenheit. Ihm war klar geworden, dass die Herbststürme eingesetzt hatten. Der Sommer würde bald sterben. Lange würde es nicht mehr dauern, bis die Blätter bunt wurden, bis es kalt wurde. Lange hatten sie nicht mehr, um voranzukommen. Und für ihn hieß das, dass er sich entscheiden musste: Wollte er das Große Wasser noch vor dem Winter erreichen oder wollte er es aus eigener Kraft schaffen? Und wie war das Leben im Winter in der Nähe von so viel Wasser? War das nicht noch kälter als in den Bergen? Wasser gefror doch. Oder konnte soviel Wasser gar nicht gefrieren?

Am nächsten Tag gegen Mittag erreichte er den Fluss wieder. Er hatte ihn schon von weitem gehört, denn er stürzte sich direkt aus dem Felsen Meterweit in die Tiefe und bedeckte alles mit seinem Sprühnebel. Es zauberte seit Tagen das erste Lächeln auf Dhaômas Gesicht. Was ein Wahnsinnsanblick!
 

Mimoun schwang sich in die Lüfte und folgte dem Fluss und der Schlucht in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Obwohl er kaum Pausen machte, um sein Wort an Dhaôma zu halten, überschritt die Sonne bald ihren Höhepunkt. Nachdenklich ließ er sich auf einer Insel nieder und sah sowohl in die angestrebte Richtung, als auch dorthin, wo sein Freund gerade weilte. Dem Geflügelten war gar nicht bewusst gewesen, dass sie sich bereits so weit von Addars Dorf entfernt hatten. Laufen war eine sehr langsame Fortbewegungsart. Deshalb beeindruckte es ihn so. Oder wurde er etwa schneller? Na ja. Meistens flog er. Dhaômas Ausdauer bestimmte also die bewältigte Strecke.

Das war nicht die Frage, die es zu beantworten galt. Sollte er nicht lieber ein Dorf und einen Boten für die restliche Strecke suchen, damit sich der Magier keine Sorgen um ihn zu machen brauchte? Oder sollte er es durchziehen? Schließlich hatte er ja angekündigt, Addar persönlich den Bericht zu übergeben.

Noch einmal sah er in Dhaômas Richtung zurück, bevor er sich mit einem ergebenen Seufzen erneut auf den Weg machte. Auch wenn er sich Mühe gab, auch wenn er das Tempo ein wenig anzog, erreichte der Geflügelte dennoch erst in den späten Nachmittagsstunden die gesuchte Insel. In Gedanken leistete er Abbitte an Dhaôma. Da musste er sich was Besonderes zur Entschädigung einfallen lassen. Oder er verzichtete auf die Erdbeeren, die noch ausstanden.

Freudig wurde er in Empfang genommen. Man bestürmte ihn mit Fragen. Wie es ihnen ginge? Wo Dhaôma denn stecke? Was sie erlebt hätten? Und ähnliche Fragen mehr. Mimoun hielt die Antworten erst einmal ziemlich knapp. Asam und Addar waren bei einer Ratsversammlung und würden erst in einigen Stunden zurück sein. Stattdessen überreichte er Eloyn die Salbenrezepte. Sie kannte sich in dieser Kunst am besten aus. Sie konnte das in den Schriftrollen enthaltene Wissen am besten umsetzen. Kurz warf die Frau einen flüchtigen Blick darauf und wandte sich wieder Mimoun zu. Auch sie war momentan eher an neuen Geschichten interessiert.

Als auch Leoni auf ihn zutrat und ihn nach einer herzlichen Umarmung neugierig und gespannt ansah, kapitulierte er mit einem milden Lächeln. Sanft strichen seine Finger über Serens Köpfchen und sie quietschte vergnügt, als seine Finger über ihren Bauch tanzten. Er ließ sich neben dem Kirschbaum nieder, den der Magier erweckt hatte, das Dorf setzte sich um ihn herum und lauschte aufmerksam seinen Worten. Viel war es nicht, was Mimoun seit ihrem Weiterziehen zu berichten hatte. Die Durchquerung der Schlucht mit ihren Tücken, die Entdeckung der Höhle und ihr Geheimnis.

Kaum hatte er geendet, tauchten Addar und sein Enkel auf. Erstaunt und auch erfreut begrüßten sie den unerwarteten Besucher. Auch ihnen musste Mimoun alles haarklein erzählen, was er dann in gemütlicher Runde nach dem Abendessen in der Hütte tun durfte. Dass er auch alles niedergeschrieben bei sich trug, war unwichtig geworden. Dennoch händigte er Addar das Schreiben zusätzlich aus. Auch erklärte Mimoun ihm, dass er Eloyn bereits einige Rezepte gegeben hatte, wofür sich der Alte bedankte.

Der Abend verlief in gemütlichem Beisammensein. Asam umschwirrte und umflirtete seine Frau noch schlimmer als früher. Seine Tochter wurde von ihm ebenso himmelhoch bejubelt, sie bekam es nur noch nicht so ganz mit. Mimoun konnte nicht sagen, ob dies zum Vorteil des Säuglings war, aber es amüsierte ihn. Diese bedingungslose Liebe Asams zu seiner Familie war schon ein wenig skurril.

Es wurde spät und so entschloss man sich, ausstehende Fragen auf den nächsten Tag zu verschieben. Diesmal wurde kein extra Raum für Mimoun abgetrennt. Er wurde einfach mit in einem der vorhandenen Räume einquartiert.

Der nächste Morgen begann entspannt, aber nur so lange, wie Mimoun auf seinem Lager döste. Sobald er die Hütte verließ, verdüsterte sich seine Miene. Sehr weit entfernt am Horizont konnte er dunkle Wolken ausmachen. Und sie schienen sich noch auszubreiten. Sowohl in seine Richtung als auch in Dhaômas. Es würde ein beschwerlicher Rückweg werden. Bei Regen flog es sich so schlecht. Und er musste doch schnellstmöglich zurück zu seinem Magier. Dieser machte sich sicher schon Sorgen. Dhaôma war nun einmal so.

Addar tauchte am Rande seines Blickfeldes auf und Mimoun konzentrierte seine Gedanken nun auf den älteren Geflügelten. „Machst du dir Sorgen um deinen Freund?“

Mimoun kicherte und wandte seinen Blick wieder in die Ferne. „Nein. Er kommt sehr gut allein zurecht, auch wenn ihm das Alleinsein auf Dauer nicht gut tut. Ich fürchte nur, er macht sich eher Sorgen um mich. Ich hatte schließlich nicht vor, so lange weg zu bleiben.“

Der Älteste nickte verstehend und schwieg eine Weile, bevor er wieder zu sprechen anfing. „In dem Brief war eine Frage bezüglich der gemalten Insel und ihres Aufenthaltsortes.“

Mit einem Nicken zeigte Mimoun an, dass er verstand, worum es gerade ging. „So auf die Schnelle kann ich euch da nicht weiterhelfen. Aber ich werde mich umhören. Ich werde Boten ausschicken und nach Hinweisen forschen lassen.“

Dankbar nickte Mimoun erneut. Ein wenig war er enttäuscht. Es wäre ihm lieber, wenn er sofort Hinweise gehabt hätte, doch es ließ sich nicht ändern. „Ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr das für uns tun könntet.“ Mimoun deutete in die Richtung, in der Dhaôma sich gerade befand. „Wir folgen immer dem Fluss, der von den Wolfsbergen kommt. Er fließt direkt ins Große Wasser, von daher ist dies die einfachste Möglichkeit, es zu erreichen. Und uns zu finden, solltet Ihr eine Nachricht erhalten, die uns nützen könnte.“ Erneut glitt sein Blick in die Ferne und sein Gesicht wurde wieder sorgenvoll.

„Das Gewitter wird dich Zeit kosten auf deinem Rückweg.“, stellte Addar wie nebensächlich fest und Mimoun bestätigte seine Worte mit einem gequälten Lächeln. „Dann solltest du dich wirklich schnellstmöglich auf den Weg machen.“

Der junge Geflügelte nickte dankbar und wandte sich nach einem kurzen Gruß ab. Er streifte durch das Dorf und fragte nach einigen Nahrungsmitteln, die sie entbehren konnten. Es war nicht viel. Man begann bereits für den Winter vorzusorgen. Und an dem Baum waren nicht mehr viele Früchte dran, doch auch davon durfte er sich einige nehmen.

Sich von der Familie Addars zu verabschieden, kostete ihn noch einmal zusätzlich Zeit, da Asam erneut begann von seiner bezaubernden und liebreizenden Tochter zu schwärmen. Sie war ja so süß und knuffig und sein allergrößter Schatz. Selbst Leoni konnte ihrem Mann kaum von seinen Schwärmereien abhalten. Zum Abschluss hielt Asam dem jungen Geflügelten noch einen Brief für Dhaôma hin. Er hatte seine Androhung wahr gemacht und einen fast fünfseitigen Brief über Seren, ihre Verhaltensweisen und Niedlichkeiten verfasst.

Erst gegen Mittag war es Mimoun möglich, zurückzureisen. Die Wolkenwand hatte sich noch ein wenig weiter in seinen Weg geschoben. Und auch wenn er noch nicht darin steckte, so spürte er doch sehr schnell die Winde der Ausläufer. Diese zwangen ihn sehr bald zu einer Rast und der Suche nach einem Unterschlupf. Ein kurzer Blick in den Himmel zeigte ihm, dass es noch dauern würde, bis die Sonne verschwinden würde, und die unberechenbaren Winde ließen ihm trotzdem keine Möglichkeit mehr, noch an diesem Tage weiterzureisen. Zu schnell, zu unkontrolliert wechselten sie ihre Richtung und hinderten ihn eher an seinem Vorwärtskommen, als dass sie ihm halfen.

Am nächsten Morgen wurde er durch Regen geweckt. Der Wind hatte nachgelassen, nun würde ihn nur noch der Regen behindern. Bevor dieser an Stärke zunehmen konnte, ließ sich Mimoun über den Rand der Klippe fallen und segelte dem Erdboden entgegen. Er wollte sich nicht an die Insel fesseln lassen und würde in der Zwischenzeit zu Fuß unterwegs sein. Wann immer sich die Möglichkeit dazu bot, flog er einige Zeit lang. Aber das Wetter war nicht die einzige Schwierigkeit. Seine knappen Nahrungsmittel zwangen ihn dazu, sich auf etwas anderes als seine Rückkehr zu Dhaôma zu konzentrieren. Und die Jagd wurde nicht einfach. Er konnte nicht wie sonst von oben auf seine Beute hinabstürzen. Und der Regen ließ die kleinen Beutetiere unter der Erde Schutz suchen. Die Jagd kostete ihn mehr Zeit, als ihm lieb war.

Welche Freude war es für Mimoun, als er an der Stelle der Schlucht ankam, an der er Dhaôma verlassen hatte. Und noch erleichterter war er, als er die Spur sah. Zwar hatten die Pflanzen ein wenig unter dem vielen Wasser gelitten, für ihn war ihre Bedeutung dennoch deutlich zu sehen: Ich war hier, hier gehe ich lang, folge mir.

Mimoun erhöhte sein Lauftempo. Immer häufiger wehrte er sich gegen die ungünstigen Flugbedingungen und flatterte einige Zeit. Auch wenn es Kraft kostete, auch wenn es ihn immer mehr, immer schneller ermüdete. Er wollte Dhaôma nicht noch länger allein lassen.

Der fünfte Tag begann dann endlich viel versprechend. Der Regen hatte nachgelassen und es kam leichter Wind auf, der an der Ebene entlang strich und Mimouns Flug erleichterte und beschleunigte. Als die Sonne ihren Höchststand ein wenig überschritten hatte, erreichte er das Ende der Schlucht.
 


 

You lift my spirit, take me higher, make me fly,

Touch the moon up in the sky, when you are mine

You lift me higher, take my spirit, make it fly,

Where all new wonders will appear
 

Like the other day

I thought you won't be coming back

I came to realize my lack luster dreams
 


 

[Lift – Poets of the Fall]

Ein Krieger?

Kapitel 30

Ein Krieger?
 

Dhaôma hatte die Last, die er gerade trug, halbiert und kletterte nun die Felsen hinunter. Dazu hatte er sich eine möglichst trockene Stelle gesucht, die von dem Sprühnebel weniger abbekam, aber der teils recht böige Wind schaffte es auch ihn zu besprühen. Auf einer kleineren Felsnase machte er Rast und ließ sich mit geschlossenen Augen den Wind durch die Haare wehen, damit sie wieder trocknen konnten. Hier, vor dem offenen Grasland, das in einiger Entfernung wieder zum Wald wurde, und hoch oben in der Felswand, hatte er einen fantastischen Ausblick einerseits auf den Wasserfall und andererseits auf die Ebene.
 

Mimoun ließ sich am Rand der Felswand oberhalb des Wasserfalls nieder und sah in den Abgrund hinab. Ihm lief es eiskalt den Rücken hinunter. Dhaôma konnte er auf die Schnelle nicht hier oben entdecken. Also war er bereits dort unten. Der Geflügelte runzelte besorgt die Stirn. Hoffentlich unbeschadet.

Aufmerksam schritt er am Rand auf und ab und versuchte dort unten mehr als nur Wasser und Nebel zu entdecken. Keine Spur von dem Magier. Doch die Vernunft verbot es ihm, auch nur daran zu denken, Dhaôma könne hier den direkten, gefährlichen Weg genommen haben. Also ließ er seinen Blick weiter schweifen, auf der Suche nach einem einfacheren Abstieg für Dhaôma. Dabei fiel ihm etwas ins Auge. Eilig schritt er darauf zu. Tatsächlich. Er identifizierte seinen Fund als einen Teil ihrer Ausrüstung.

Er ließ sich auf die Knie fallen, dicht am Rand und spähte nach unten. Wieder vergingen einige Augenblicke, bis er ausgemacht hatte, was er suchte. Mit einem erleichterten Lächeln griff er sich die letzten Ausrüstungsteile und stieß sich ab. Lässig segelte er auf die untere Ebene hinab, entschied sich kurzfristig um. Mit heftigem Flügelschlagen hielt er sich genau vor seinem Freund in der Luft.

„Tut mir wirklich Leid. Ich wollte dich nicht so lange allein lassen.“
 

Braune Augen öffneten sich, als Dhaôma die vertraute Stimme hörte, dann flog ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht. „Du bist wieder da!“, rief er und war schon beinahe dabei, ihm um den Hals zu fallen, als ihm bewusst wurde, wo er sich befand. Mitten in der Bewegung, sich aufzurichten, hielt er inne und lächelte ihn an. „Schön, dass es dir gut geht.“
 

Als er die hastige Aufwärtsbewegung sah, hob sich schon ein Arm, um notfalls zuzugreifen, nachdem Dhaôma aber von selbst innehielt, seufzte der Geflügelte erleichtert auf. „Ich bin gleich wieder da.“, lächelte er, ohne auf die Worte des Magiers einzugehen und brachte seine Last an einen sicheren und trockenen Ort unweit des Wasserfalls. Anschließend kehrte er zu Dhaôma zurück und mit den Fußspitzen an der Felskante Stabilität suchend, breitete er einladend die Arme aus.
 

Wie schon so oft legte dieser ihm seine Arme um den Hals und drückte Mimoun an sich. „Ich hab dich vermisst.“, flüsterte er ihm ins Ohr und selbst aus der Stimme konnte jeder das Lächeln hören.
 

„Ich dich auch.“, erwiderte Mimoun, schlang seine Arme um Dhaômas Hüften und stieß sich wieder ab, schwebte entspannt dem Erdboden entgegen. Als er neben den bereits hier unten befindlichen Habseligkeiten landete, stellte er seinen Freund zwar wieder auf die Füße, hielt ihn aber noch immer umschlungen. „Es tut mir furchtbar Leid.“
 

„Warum? Ist etwas passiert? Geht es Addar vielleicht nicht gut? Oder Seren?“ Besorgt nahm er etwas Abstand.
 

Verständnislos musterte der Geflügelte seinen Freund, blinzelte kurz, bevor er den Kopf schüttelte. „Keine Angst. Es geht ihnen sehr gut. Es tut mir nur so Leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe. Ich konnte nicht ahnen, dass sich die Insel schon so weit entfernt hatte und dann noch dieses verdammte Unwetter die letzten Tage.“ Unglücklich sah er zu Boden. „Dabei hatte ich dir doch versprochen, dich nicht mehr allein zu lassen.“
 

Also war das sein Problem. Dhaôma lächelte weich und wuschelte durch die kurzen, struppigen, schwarzen Haare. „Ich dachte mir schon so was, also ist es nicht so schlimm. Immerhin bist du zurückgekommen.“

Ja, jetzt konnte er so etwas sagen. Damit sich Mimoun keine Sorgen machen musste. Damit das nicht zwischen ihnen stehen musste.
 

Mit einen erleichterten Seufzen nickte Mimoun und entspannte sich nun völlig. „Warte.“ Hektisch begann er an sich herumzutasten und zu suchen. Er hatte doch noch etwas für seinen Freund. Wo hatte er es nur hin gesteckt? Ah, genau. Umständlich zog er unter der Rüstung die zusammengefalteten Papiere hervor, die er dort verstaut hatte, um sie wirksam vor dem Regen zu schützen, und reichte sie dem Magier mit einem breiten Grinsen. „Hier. Für dich.“
 

„Ein Brief?“ Blinzelnd nahm er Mimoun das Papier ab. Auf den ersten Blick wusste er, dass dieser Brief von Asam kam. Er begann mit: ‚Seren ist so goldig!’ Erst danach kam die Begrüßung. Lächelnd betrachtete er das Papier, dann faltete er es wieder zusammen, um es vor dem Nebel zu schützen. „Bilderbuchvater?“, fragte er mit einem amüsierten Unterton.
 

Mimoun verzog sein Gesicht zu einer gequälten Grimasse. „Du glaubst gar nicht, wie anstrengend es ist, stundenlang immer wieder dieselben Lobpreisungen hören zu müssen. Du hast das Ganze ja nur auf Papier und brauchst es dir nur einmal durchlesen.“ Er schnaubte belustigt. „Aber so ist zumindest gewährleistet, dass die Kleine sicher aufwachsen wird.“

Der junge Geflügelte griff sich seine Sachen. Er hatte in den letzten Tagen genug Wasser abgekriegt, mehr als ihm lieb war, und wollte jetzt nur aus dem Wasserstaub hinaus.
 

Lachend und sich vorstellend, wie Asam Mimoun in der Mangel hatte, machte der Braunhaarige sich auf den Weg, dem Fluss weiter zu folgen. Weiter hinten, würde es noch einen Wasserfall geben, aber dieses Mal würde es keine Probleme geben mit dem Abstieg. Mimoun war ja wieder da. „Und welche Neuigkeiten gibt es sonst? Kennt Addar die Insel, die wir suchen?“
 

„Nein.“ Kurz sah er entschuldigend zu seinem Freund hinüber. „Aber er hat Boten ausgeschickt und lässt rumhorchen, ob jemand etwas weiß. Addar kennt unsere Route. Er weiß ja, wie wir zu finden sind und er will uns auf dem Laufenden halten.“ Kurz kicherte er. „Und ich kann mir vorstellen, dass der arme Bote dann mehr als nur diesen Bericht zu schleppen hat.“
 

„Asam.“, nickte Dhaôma und kicherte ebenfalls. Es tat gut, wieder zu lachen, Erleichterung zu spüren. „Hoffentlich kann er dann noch fliegen.“

Dann wurde er wieder ernst. „Mimoun, ich habe nachgedacht. Viel.“ Seine Worte verstummten, als er nachdenklich die Stirn in Falten legte, weil ihm der Name nicht mehr einfiel. „Darüber, was der Hanebito mit nur einem Auge gesagt hat, und darüber was Jadya gesagt hat. Dass du wegen mir nicht mehr kämpfen kannst. Dass du aber solltest in seinen, und nie wieder solltest in ihren Augen.“ Er blickte ihn an. „Warum bist du Krieger geworden? Wirklich nur, damit du deinen Vater rächen kannst?“
 

Kurz stoppte er seinen Lauf und sah Dhaôma an. Wer hatte was gesagt und wer wollte was? Kurz kratzte er sich am Kopf. Das war nicht wichtig. Wichtig war eine Antwort auf die eigentliche Frage. Grübelnd setzte er seinen Weg fort.

„Um zu beschützen, was mir wichtig ist.“, erwiderte er leise, nachdenklich. „Entschuldige, aber je weniger deiner Art leben, umso weniger können meiner Familie, meinem Dorf gefährlich werden. Irgendwie hatte ich gehofft, so die Gefahr für sie zu mindern.“ Er schnaubte verächtlich und fuhr sich mit einer Hand über die Flughaut, die damals zerrissen war. „Aber ich war ein Idiot. Wie konnte ich glauben, dass ich irgendetwas bewirken könnte. Ich war nicht einmal einen Tag an der Front und wurde schon so schwer verletzt. Und anstatt wie andere wenigstens noch ein paar Missgeburten mit in den Tod zu nehmen, hab ich mich feige versteckt. Ein toller Krieger bin ich.“
 

„Das meine ich.“ Dhaôma seufzte leise. „Dein Überlebenswille ist groß. Viel größer als bei den meisten. Auch dein Wunsch zu beschützen ist zu groß, als dass du dich fröhlich in den Tod stürzen könntest. Dagegen ist deine Erfahrung mit Kämpfen nicht besonders ausgeprägt. Zwar magst du im Zweikampf den Kindern und Jugendlichen oder auch Beutetieren überlegen sein, aber gegen Magier auf Distanz…“ Hilflos zuckte er die Achseln. „Sei mir nicht böse, aber ich habe das Gefühl, dass du zu viel Liebe in dir hast, um wirklich ein Krieger zu sein.“ Und mit einem unsicheren Lächeln fügte er noch leise an: „Was nicht wirklich das Schlechteste ist.“
 

Ja, mochte sein, aber... Mimoun warf die Hände in die Luft. „Wie soll ich denn sonst das, was mir wichtig ist, beschützen? Ich verfüge nicht über deine Kräfte. Ich weiß, dass ich nicht stark bin oder ausdauernd genug oder... Ach, was weiß ich.“ Mit einem kurzen, traurigen Lächeln ließ er die Hände wieder sinken. „Ich bin wohl zu nichts zu gebrauchen.“ Kurz und hart lachte er auf. „Na toll. Jetzt bin ich an dem Punkt angekommen, wo du die ganze Zeit immer warst. Ich fühl mich nutzlos.“
 

Dhaôma gab ihm eine sanfte Kopfnuss. „Das hab ich nicht gesagt. Du hast mich vor dem Rat verteidigt, du konntest deine Familie und Freunde davon überzeugen, dass du das richtige tust. Du bist stark. Da.“ Sein Finger tippte gegen seine Brust. „Man kann Schutz auch anders ausüben. Indem man dafür sorgt, dass genügend zu Essen da ist, indem man überzeugt. Nutzlos bist du nicht. Ich verstehe nur nicht, warum du ein Krieger sein willst. Warum du immer frontal angreifst.“
 

Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Heimlichkeit ist die Art der Magier?“ Auch wenn es spaßig klingen sollte, er fühlte sich ganz und gar nicht so. Auch das Lächeln verunglückte völlig. „Was ist, wenn es zu spät ist? Wenn ich jetzt nicht handeln würde, hätte ich später überhaupt noch die Möglichkeit jemanden zu retten?“
 

„Warum bist du dann hier und nicht an der Front?“, wollte Dhaôma wissen, den für ihn nicht sinnigen Satz am Anfang einfach ignorierend. „Wenn du wirklich mit Leib und Seele ein Krieger wärst, dann hättest du dich nicht vom Kämpfen abhalten lassen.“
 

„Weil du mir die Hoffnung gibst, dieses Leid endgültig zu beenden.“ Kurz huschte ein Lächeln, diesmal ein ehrliches und zufriedenes, über sein Gesicht. „Und du hast doch sehr richtig festgestellt, dass ich kein Krieger bin. Ich bin ein Beschützer. Ich weiß, dass ich hier mehr bewirken kann als an der Front.“
 

Zufrieden mit diesen Worten nickte Dhaôma, doch damit war noch lange nicht gesagt, worauf er hinauswollte. „Okay. Und jetzt möchte ich noch, dass du darüber nachdenkst, was du zu tun gedenkst, wenn ich irgendwann zurück nach Hause gehe. Du kannst nicht mitkommen, das ist dir klar, nicht wahr?“
 

„Ich weiß.“, gab er kleinlaut zu. Es war ihm ja selbst bewusst, dass es einem Selbstmord gleichkam, sich innerhalb oder auch nur in der Nähe einer Magierstadt aufzuhalten. Aber er ließ ihn so ungern allein dorthin. Und was sollte Mimoun groß in der Zeit tun? Auf Dhaômas Schmusedrachen aufpassen, sollten sie tatsächlich einen finden. Und sonst?

Der junge Geflügelte versank in grüblerisches Schweigen.
 

„Aber du wirst dich nicht aufhalten lassen, mir zu folgen, auch das ist dir klar.“, stellte Dhaôma fest, das Schweigen einfach als diese Antwort deutend. „Ebenso klar ist, dass sie dich dann töten werden. Einfach so. Und weder ich noch irgendjemand anderes wird sie daran hindern können. Sie würden mich einfach ebenfalls töten, damit ich ihnen nicht mehr im Weg stehe.“
 

Mimoun schnaubte unglücklich. „Ja, ja. Du brauchst es nicht immer wieder betonen. Ich weiß, dass du nicht willst, dass ich dir folge. So langsam hab ich das begriffen.“
 

„Aber da ich dich nicht aufhalten kann, wäre es gut, wenn du lernen könntest, versteckt zu sein und auf Distanz zu kämpfen.“, überging der Junge wieder die Antwort. „Ich meine damit Bogenschießen, Lanzen benutzen oder sonst irgendetwas, was dich in die Lage versetzt, nicht körperlich und wenn möglich sogar nicht in Sichtkontakt mit einem Magier zu treten. Und wenn du nur lernst, Steine gezielt zu werfen. Und falls man dich dann doch entdeckt, solltest du in der Lage sein, mit einem Hieb zu töten, bevor er dir was tun kann.“ Es fiel ihm nicht leicht, diese Worte zu sagen, und seine Stimme klang hart und unnachgiebig.
 

Irritiert runzelte Mimoun die Stirn. Wollte Dhaôma, wollte ausgerechtet dieser friedfertige Magier vor ihm, dass er kämpfen und töten lernte? Wo er ihn doch anfangs ständig davon abhalten wollte zu kämpfen?

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber kein Ton kam über seine Lippen. Irgendwie war er sich nicht sicher, ob sein Freund, sollte Mimoun nun nachfragen, nicht doch einen Rückzieher machen würde oder ihn für verrückt erklärte. Stattdessen nickte er nur.
 

Erleichtert entließ Dhaôma einen Schwall Luft aus seinen Lungen. „Das ist gut. Dann muss ich mir in Zukunft weniger Sorgen machen.“ Lächelnd setzte er seinen Weg wieder fort. „Vielleicht kann dir der Hanebito mit dem einen Auge helfen.“
 

„Kaley? Oh ja. Um jemanden wie ihn besiegen zu können, werde ich eine Menge trainieren müssen.“, murmelte Mimoun wie zu sich selbst. Dann versank er wieder in grübelndes Schweigen. Wie sollte er das machen? Wie sollte er sich von Kaley trainieren lassen, sollte dieser dem überhaupt zustimmen? Es würde Wochen, wenn nicht gar Monate dauern. Sollte er Dhaôma in der Zeit allein lassen? Das konnte er nicht machen. Aber wieder dort oben auf den Inseln gefangen zu sein, nur damit Mimoun stärker werden konnte? Irgendwie konnte sich der junge Geflügelte vorstellen, dass der Magier sogar soweit gehen würde.

Nachdenklich runzelte er die Stirn. Dhaôma wäre gar nicht gefangen, wenn sie die Drachen gefunden hatten und er tatsächlich einen als Begleiter kriegen würde. Dann wäre es für ihn nicht das Problem. Oder würde Dhaôma den Drachen bei ihm dort oben lassen und allein zu den Magiern gehen? Wie sollte Mimoun dann noch wissen, wann sein Freund seine Hilfe brauchte? Wie sollte er ihm so beistehen?

„Und wie stellst du dir das vor? Ich meine, kommst du mit hoch oder gehst du zu den Magiern in der Zeit oder was wirst du tun? So was geht nicht von heute auf morgen.“
 

„Ich werde viel Zeit dafür benötigen, meinen Drachen zu erziehen, nicht wahr? Freundschaft braucht Zeit. Die will ich mir nehmen, denn Freunde - das hast du mir beigebracht - lassen einander nicht im Stich. Ich möchte, dass er weiß, dass ich sein Freund bin und ihn beschütze.“ Ein weiches Kichern ließ Dhaômas Stimme wanken. „Und zu diesem Zweck werde ich mir eine Insel suchen, die keine Bewohner hat, damit ich in deiner Nähe sein kann. Dann kann ich dich besuchen kommen.“
 

Einem plötzlichen Impuls folgend, trat Mimoun näher an seinen Freund heran und schlang seine Arme um Dhaômas Hals.

„Danke.“, flüsterte er ihm ins Ohr.
 

„Wofür?“ Leicht irritiert erwiderte Dhaôma die freundliche Geste, bevor er kicherte. Irgendwie schien sein Freund schmusebedürftig. „Ich hab dich auch lieb.“ Seine freie Hand wuschelte durch schwarzes Haar und ließen es wirrer denn je zurück.
 

„Einfach so.“, murmelte der Geflügelte und ließ die Misshandlung seiner Haare über sich ergehen. „Einfach dafür, dass du da bist.“ Kurz verstärkte er den Druck noch ein wenig und löste sich wieder, um seinen Weg fortzusetzen.
 

Ja, dieses Gefühl kannte er. Glücklich und in sich Wärme aufsteigen spürend folgte Dhaôma Mimoun zum Fluss zurück und dann an diesem entlang. „Der Sommer stirbt schon.“, sagte er wie nebenbei, als an ihnen ein gelbes Blatt vorbeischaukelte, das den Wasserfall überstanden hatte. „Bald müssen wir einen Ort suchen, an dem wir bleiben können, wenn der Schnee fällt.“
 

Mimoun ließ seinen Blick über die Ebene schweifen, bevor er nickte. Es würde eine Menge Arbeit auf sie zukommen. Sie brauchten schließlich nicht nur eine Unterkunft. Auch Vorräte mussten herangeschafft und Holz gelagert werden.

„Ein Wald oder etwas Ähnliches wäre da vielleicht das Beste für dich.“, erwiderte der Geflügelte. „Mit ein wenig Hilfe würde es den meisten Wind und Schnee abhalten können und Holz wäre ebenfalls vorhanden.“ Hastig hob er abwehrend eine Hand und grinste. „Und ja. Trocken lagern.“ Den Fehler hatte er anfangs zu häufig gemacht, als dass er ihn sich nicht selbst noch eine ganze Weile nachtragen würde.
 

„Mir wäre eine Höhle lieber. Mit ein paar Bäumen in der Nähe, die genügend Holz liefern können. Im Wald wäre natürlich perfekt, aber solche Höhlen sind rar und meistens von Bären oder anderen Raubtieren bewohnt.“ Sein Finger legte sich wie von selbst an seine Wange. „Nett wäre Aussicht, aber wenn Schnee fällt, ist die sowieso nicht mehr vorhanden.“
 

„Und eine freie, flache Fläche, eine Art Lichtung meinetwegen, damit ich vernünftig starten und landen kann.“, sinnierte Mimoun. „Muss nicht groß sein. Sollte nur nicht völlig von Unkraut zugewuchert sein.“ Er begann zu schmunzeln. Bei all ihren Wünschen und Vorstellungen fanden sie sicher nie etwas Geeignetes. Nicht vor Anbruch des Winters.
 

„Das wird eine harte Suche.“, jammerte Dhaôma gespielt leidend, doch er lachte. „Eine Lichtung wird kein Problem sein. Notfalls liefert uns das Holz, das die Lichtung vorher bewachsen hat, eben unser Feuer im Winter.“ Immerhin war es nicht besonders schwer, Pflanzen zu töten.

Sie setzten ihren Weg am Fluss entlang fort. Einmal noch flog Mimoun zu einer passierenden Insel hinauf, um Rezepte abzugeben, aber es wurde immer kälter. Irgendwie hatte Dhaôma das Gefühl, dass sich der Winter im letzten Jahr mehr Zeit gelassen hatte.

Bald hatten sie den Wald hinter sich gelassen und wanderten zwischen den Felsen eines Mittelgebirges entlang, das der Fluss rigoros teilte. Das Tal war breiter als gewöhnlich und die Hänge waren hell und boten viel Sonne auf der einen Seite und Dhaôma beschloss, dort einen Platz zu finden, der sie im Winter beherbergen konnte. Das Licht würde ihnen Wärme schenken.

Es dauerte auch nicht lange, da fanden sie eine geeignete Höhle. Den Bewohner hatte Mimoun vor Schreck schlichtweg getötet, als dieser sie angegriffen hatte. Es war ein Berglöwe gewesen, nun hing sein Fell in der Sonne und trocknete, nachdem Dhaôma es gewaschen hatte. Er brauchte sowieso noch warme Sachen für die kalte Jahreszeit.
 

Der Geflügelte machte es sich zur Aufgabe Fleisch und Felle heranzuschaffen, nahm dafür auch größere Strecken in Kauf, um tiefer ins Gebirge vorzudringen. Die Gemse, die er im letzten Winter erlegt hatte, hatte einen dichten Pelz besessen. Genau das, was Dhaôma für den Winter brauchte, und so suchte er gezielt nach solchem und ähnlichem Wild.

So fiel Dhaôma die Aufgabe zu, sich um das Holz und die pflanzliche Abwechslung auf ihrem Speiseplan zu kümmern. Um ihre Vorräte und sich selbst vor weiteren Raubtieren zu schützen, mussten sie sich noch etwas einfallen lassen. Anfangs half die kleine Blüte, die den Geruchssinn verwirrte, doch diese würde den Winter nicht überstehen können. Allerdings ließ sich nirgends ein weiteres dieser Tiere blicken.

Die Wochen zogen ins Land und es wurde immer kälter. Die Blätter färbten sich immer schneller und fielen zu Boden, die Herbststürme kamen und zogen vorbei. Mimoun stand vor der Höhle und sah in die Ferne. Gedankenverloren spielte er mit dem Anhänger um seinen Hals. Zu gern würde er wieder mal bei sich zu Hause vorbeisehen.

Sein Blick glitt zu seinem Freund. Genug Vorräte, um einige Zeit allein zurechtzukommen, hatte er ja. Und nun im Winter, wo sie sowieso nicht vorwärts kommen würden, ließ sich ein Besuch bei seiner Familie am einfachsten einrichten. Es widerstrebte ihm trotzdem, Dhaôma allein zurückzulassen. Die Reise zurück würde Wochen dauern. Immer wieder hatte er Briefe zu ihnen geschickt, aber das war nicht dasselbe.

Seufzend ging er zu dem Magier hinüber, setzte sich zu ihm. Unsicher suchte er nach einem Anfang, wie er seinen Zwiespalt offen legen sollte. „Ich würde gern meiner Familie einen Besuch abstatten. Aber ich möchte dich auch nicht so lange allein lassen.“, erklärte er. „Was soll ich machen?“
 

„Hinfliegen.“, war Dhaômas einfache Antwort. Er war gerade dabei, den Eingang zu verengen, so dass Mimoun gerade hindurchpasste. Einerseits wollte er mit den dichten Haselstämmen den Wind abhalten, andererseits versteckte er damit die Höhle. „Du hast genug geholfen. Ich kann hier sicher drei Monate leben, ohne einen Finger krumm machen zu müssen.“
 

Mimouns Gefühle stritten miteinander. Einerseits war er dankbar dafür, dass sein Freund ihn ohne Schwierigkeiten ziehen ließ, andererseits machte es ihn unglücklich, dass sich Dhaôma so weit zurücknahm und wieder das Alleinsein akzeptierte.

„Ich möchte dir aber nicht weh tun.“, erklärte er und berührte die Brust seines Freundes, deutete auf dessen Herz. „Hast du es vergessen?“
 

Dhaômas Magie versiegte. Er hatte es nicht vergessen. Aber er konnte verstehen, wenn Mimoun seine Familie sehen wollte. Und damit er es ihm nicht schwerer machte, als es ihm ohnehin fiel, wollte er ihm keine Sorgen bereiten. „Du tust mir nicht weh.“, erklärte er ernst. „Ich weiß, dass du zurückkommst. Ich werde nicht für immer alleine sein. Aber deine Mutter ist alleine. Und deine Schwester fühlt sich auch alleine, wenn du nie da bist. Außerdem könnte es sein, dass sie deine Hilfe brauchen, weil sie es nicht geschafft haben, genügend Beute zu finden.“ Er lächelte. „Ich mag dein Dorf. Du solltest nachsehen, ob es ihnen gut geht.“
 

Nachdenklich schwieg Mimoun und schließlich nickte er. „Okay.“, gab er sich geschlagen. Zwar glaubte er nicht, dass es schlimm um sie stehen könnte, aber er verstand, dass Dhaôma ihm einen Gefallen tun wollte. Und es war doch nicht schlimm. Dhaôma hatte richtig festgestellt, dass der Geflügelte zurückkommen würde. Aber drei Monate, wenn die Schätzung stimmte?

Mimoun neigte leicht den Kopf zur Seite und lächelte sanft. „Du bist lieb.“, stellte er wie schon so häufig fest und machte sich daran, seine Sachen zu packen. Die Nacht würde er aber noch hier verbringen und erst in den frühen Morgenstunden loszufliegen.
 

Am nächsten Morgen winkte Dhaôma Mimoun hinterher. Sie hatten noch zusammen gefrühstückt, nun trennten sich ihre Wege für ein paar Wochen. Und Dhaôma hatte beschlossen, bis dahin noch ein wenig aufzustocken, was so fehlte. Solange es noch nicht geschneit hatte, würde er jagen. Jetzt, da Mimoun nicht mehr da war, sollte er sich wieder mal darin üben. Er hatte sein Training diesbezüglich zu sehr schleifen lassen.

Schon die erste Jagd ging grandios schief. Der Speer, den er sich gebastelt hatte, lag nicht gut in der Hand, seine Beute war schneller als er. Also übte er weiter. Im Großen und Ganzen war das seine Art, sich selbst abzulenken von der Einsamkeit. Wenn er den Eindruck hatte, er müsse um sein Leben kämpfen, dann fehlte ihm Mimoun nicht so sehr.

Nachts kam dann die Sehnsucht. Gerade, wenn es kalt wurde, fühlte er sich furchtbar. Und wenn es dunkel wurde, war es noch schlimmer. Dann kuschelte er sich in die Felle, die Mimoun für ihn gejagt hatte, und musste sich davon abhalten, zu weinen.

Dann kam der Schnee. Über Nacht wehte er den Eingang zu und wollte die nächsten Tage nicht abflauen. Da konnte er den Schnee so oft schmelzen, wie er wollte, immer wieder wurde der Eingang verschüttet. Erst eine Woche später konnte er wieder hinaus, ohne völlig weiß zurückzukommen. Der Himmel war blau wie ein Bergsee und die Luft schneidend kalt. Lange blieb er auch nicht draußen, es war nur, um Luft zu holen.

„Ob Mimoun das hier wieder findet?“ Und er konnte nichts wachsen lassen, um ihn zu rufen. Stattdessen legte er die Lichtung großflächig schneefrei. Erstens war das ein deutliches Signal und zweitens würde Mimoun es damit leichter beim Landen haben.

Natürlich war es nicht das letzte Mal, dass es schneite und so verbrachte er die größte Zeit damit, diese Kraft zu entfalten, damit Mimoun auch ganz bestimmt zurückkommen konnte. Auch sein Eingang wollte immer wieder enteist werden, damit der Rauch abziehen konnte. Dennoch wurde die Zeit lang.
 

Während seiner Reise spielte Mimoun mit dem Gedanken, der Insel des Ältesten einen Besuch abzustatten, entschied aber doch, dies besser auf dem Rückweg zu machen. Und er konnte versuchen, Kaley aufzusuchen und ihn bezüglich der Sache mit der Kriegerausbildung zu fragen. Aber des erste Ziel war und blieb sein Dorf.

Die Tage zogen sich dahin, wurden zu Wochen. Nur selten ging er auf die Jagd und dann nur nach Kleintieren, um sein Gewicht so gering wie möglich zu halten. Dörfer auf seinem Weg umging er. Zu groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn mit neugierigen Fragen aufhielten. Nur wenn er gegen Abend ein Dorf fand, quartierte er sich für die Nacht dort ein, befriedigte ihre Neugier und ließ sich ebenfalls Neuigkeiten berichten.

Als die Inselformationen endlich vertrauter wurden, legte er noch einmal an Tempo zu, doch er konnte es nicht lange durchhalten. Zu weit war er an diesem Tag schon geflogen. Und so musste er nur wenige Stunden von seinem Ziel entfernt eine letzte Pause einlegen.

Unruhig lief der Geflügelte auf der Insel herum und musste sich regelrecht dazu zwingen, sich zu setzen und zu entspannen. Zu sehr freute er sich auf das bevorstehende Wiedersehen. So fiel die Ruhephase kürzer aus, als sie nötig gewesen wäre.

Gerade als seine Kräfte erneut zu erlahmen begannen, sah er endlich sein Ziel. Und an den Schatten, die sich in die Lüfte erhoben, erkannte Mimoun, dass auch er entdeckt worden war. Seine Schwester war wie zu erwarten, die erste, die ihn erreichte. Sie ließ ihm nicht die Zeit zu landen und fiel ihm noch mitten in der Luft um den Hals. Als er unter ihrem Gewicht zu ächzen begann, löste sie sich sofort wieder von ihm. Dafür nahm sofort Elin den Platz von Silia ein. Das Kind war nicht annähernd so schwer wie die junge Frau und so landete Mimoun mit Elin auf dem Arm auf einer unter ihm schwebenden Insel. Die anderen, die ihm zur Begrüßung entgegen geflogen waren, ließen sich dort ebenfalls nieder. Dabei dienten die meisten von ihnen nur als Transportmittel für die Kinder, die ihren Magier begrüßen wollten. Groß war ihre Enttäuschung, dass dieser nicht hier war.

„Wo ist Dhaô?“, war das Erste und Einzige, das die Kleinen wissen wollten.

Bevor der Geflügelte darauf antworten konnte, klebte wieder Silia an ihm. „Wieso hast du so lange gebraucht?“

Ergeben seufzte Mimoun. Natürlich. Entweder wurde nach Dhaôma gefragt oder ihm wurden Vorwürfe gemacht. Warum sollte man sich auch freuen, dass er wieder hier war? „Dhaôma konnte nicht mitkommen.“, erklärte er den enttäuschten Kindern. „Er verträgt doch Kälte nicht so gut. Aber er vermisst euch und macht sich Sorgen, dass ihr den Winter nicht gut überstehen könntet. Also sollte ich mal nachschauen.“

„Und wie lange bleibst du?“, warf Silia dazwischen.

Nachdenklich kaute Mimoun auf seiner Unterlippe herum. Darüber hatte er sich schon auf der Reise hierher Gedanken gemacht. „Ich weiß es noch nicht. Eine Woche mindestens, damit sich die Reise auch gelohnt hat.“ Er befreite sich von den Kindern und seiner Schwester und schwang sich wieder in die Luft. „Aber das können wir auch im Dorf klären.“, kündigte er an und legte auch die letzte Strecke zurück, dicht gefolgt von seinem Empfangskomitee.

Der Tag neigte sich bereits dem Ende zu und so dauerte es nicht lange, bis sich das ganze Dorf um den Besucher versammelt hatte und ihn herzlich begrüßte. Zwar hatten sie durch die Briefe schon eine Menge über die Reise der beiden erfahren, dennoch waren Berichte aus erster Hand viel interessanter und man konnte Fragen stellen, Begebenheiten genauer hinterfragen. Besonders die Höhle mit der Statue und den Zeichnungen wollten sie bis ins kleinste Detail beschrieben bekommen. Und so wurde es ein langer Abend, doch das störte niemanden.

Im Ganzen verbrachte Mimoun fast zwei Wochen in seinem Dorf. Er half bei der Jagd und bei der Ausbesserung und Absicherung der Hütten. Überall, wo Hilfe benötigt wurde, sprang er mit ein. Silia war in der Zeit richtig friedfertig. Schließlich lief hier nirgends der Magier herum, der ihr ihren Bruder streitig machen konnte. Zu Mimouns Erleichterung klammerte sie sich nicht völlig an ihn, ließ ihm auch Zeit für sich und war selbst guter Laune.

Das änderte sich erst wieder, als klar wurde, dass er sich auf den Rückweg machen wollte. Sie hinderte ihn nicht. Weder mit Worten, noch mit Gesten. Sie bat ihn nur auf sich aufzupassen und schnell wieder im Dorf vorbei zu sehen. Ebenso verlangten die Kinder, dass ihr Magier schnell wieder kommen sollte. Sie steckten ihm kleine Zettel zu, auf denen sie mit sehr krakeliger Schrift bekundet hatten, wie sehr sie diesen vermissten und dass es ihnen gut ginge, er sich keine Sorgen machen musste. Auch von Cerel bekam er einen Brief für Dhaôma in die Hand gedrückt. Es war ein Bericht, was in den Monaten ihrer Abwesenheit in dem Dorf alles geschehen war und dass man sich über jeden einzelnen Brief von ihnen gefreut hatte.

Als Mimoun schließlich abhob und sich auf den Rückweg machte, winkten die Dorfmitglieder noch lange hinter ihm her.

Da er nicht genau wusste, wo Kaley lebte, führte ihn sein Weg zu der Ratsinsel. Von dort würde er sich durchfragen müssen. Mimoun brauchte fast drei Tage, bis er den Gesuchten endlich ausfindig machen konnte.

Unsicher landete er auf der direkten Nachbarinsel. Er war bereits bemerkt worden und man sah neugierig zu dem Neuankömmling hinüber, aber Mimoun wusste nicht, wie er seine Bitte an das Ratsmitglied herantragen sollte. Mit Addar und seinem Enkel kam er mittlerweile gut zurecht, aber bei Kaley? Und es betraf nicht Dhaôma, für den er sich ohne zu zögern in größte Gefahren stürzte, sondern es ging um ihn selbst. Obwohl, wenn er sich einredete, dass es nur zum Schutz seines Freundes diente - was es genau genommen ja auch war…

Mit einem schweren Seufzen überwand Mimoun den letzten Abstand und landete inmitten des Dorfes. Es umfasste etwa genauso viele Hütten wie das des ältesten Geflügelten.

„Ich habe gehört, du suchst nach mir?“, erklang es hinter dem jungen Geflügelten, bevor dieser sich vorstellen und die Dorfgemeinschaft begrüßen konnte. Langsam drehte er sich herum und sah zu dem Größeren auf.

„Ja. Ich brauche Eure Hilfe.“, offenbarte Mimoun und betrachtete das Ratsmitglied aufmerksam. Dieser sah genauso aufmerksam auf ihn herab. Er schien auf eine Erklärung zu warten. Kurz huschte Mimouns Blick über die Versammelten. Unsicherheit ergriff ihn, dennoch straffte er sich und sah Kaley fest in das verbliebene Auge. „Um beschützen zu können, was mir wichtig ist, muss ich stärker werden. Mit meinen jetzigen Kräften und Fähigkeiten werde ich nie erreichen können, was ich mir vorgenommen habe.“, erklärte er. „Deshalb wollte ich Euch bitten, mich zu trainieren. Oder mir zu helfen, einen geeigneten Lehrer für mich zu finden.“

Kaley lachte brüllend los. „Na wenigstens das hast du begriffen.“

Mimoun biss sich auf die Innenseite der Lippen, um ruhig zu bleiben. Er fand nicht, dass dies ein Anlass zum Lachen war. „Werdet Ihr mir helfen?“, hakte er noch einmal nach.

Kaleys Lachen erstarb schlagartig und eine Faust schoss nach vorn. Mit einem erschrockenen Keuchen wich Mimoun zurück, stolperte über seine eigenen Füße und stürzte. Die Faust verfehlte ihn. Verdattert sah er zu dem Ratsmitglied auf. Dieser schnaubte nur verächtlich. „Reflexe hast du ja, aber was du daraus machst, ist furchtbar. Kannst du überhaupt etwas?“

Perplex blieb Mimoun noch eine Weile im festgetretenen Schnee hocken. Er war unfähig zu antworten. Wieso sollte er damit rechnen müssen, in den eigenen Reihen angegriffen zu werden?

Kaley kratzte sich am Hinterkopf. „Na mal sehen.“ Der Koloss drehte sich herum und winkte Mimoun, ihm zu folgen.

„Verzeiht, aber ich habe keine Zeit.“, erwiderte der junge Geflügelte und erhob sich wieder. „Ich war nur hier, um zu fragen, ob Ihr überhaupt bereit dazu währt. Dhaôma wartet bereits auf mich. Ich muss zurück.“

Kaley blieb stehen und runzelte missbilligend die Stirn. Sein Blick glitt über den Rand der Insel hinab.

„Er ist nicht hier. Ich habe mich schon vor Wochen von ihm getrennt, um meinem Dorf einen Besuch abzustatten. Deshalb muss ich ja auch zurück.“, erklärte Mimoun mit einem leisen Kopfschütteln.

„Aber nicht sofort.“, bestimmte Kaley unnachgiebig und fixierte den Jungen vor sich fest.

„Doch.“, widersprach Mimoun und wollte noch mehr sagen, wurde jedoch mit einer wütenden Handbewegung unterbrochen.

„Nicht einmal das kannst du?“, fragte Kaley scharf. Mimoun blinzelte ihn verwirrt an. Wovon sprach er? „Spätestens heute Abend wird ein Schneesturm aufziehen. Man kann es im Wind riechen. Wenn du jetzt losfliegst, wirst du mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr lebend bei dem Magier ankommen.“

Betroffen schwieg Mimoun. Nein. Das hatte er nicht geahnt. Und das zwang ihn nun schon wieder zu einer unvorhergesehenen Pause. Aber nachzufragen, wie lange der Sturm anhalten würde, traute er sich nicht.

„Komm.“ Erneut winkte der Riese dem jungen Geflügelten und diesmal widersprach dieser nicht. Er folgte dem Älteren zu einer der Hütten. Sie war größer gebaut, so dass eindeutig war, dass Kaley hier hauste. Dieser verschwand in einem der Räume. Unschlüssig blieb Mimoun im Vorraum stehen. „Leg deine Sachen ab. Du kannst sie dort vorne verstauen.“, drang es gedämpft hinter der Lederplane hervor und zögerlich folgte Mimoun den Anweisungen. Also war er nun ein Gast Kaleys. Irgendwie beschlich ihn ein leises Unwohlsein bei dem Gedanken.

Schon nach wenigen Augenblicken erschien sein Gastgeber wieder im Vorraum, eine kleine Tasche in der Hand haltend. Stirnrunzelnd sah er auf den Jungen herab. „Deine Rüstung auch.“

Mimoun hatte sich im Laufe der Monate so sehr an das Ding gewöhnt, dass er ihr Gewicht kaum noch spürte und sie so völlig vergessen hatte. Hastig legte er auch die Rüstung ab. Seine Unruhe wuchs. Kaley verhielt sich nicht wie ein Gastgeber. Aber was wollte er dann von ihm?

„Komm.“, wies dieser erneut an und verließ die Hütte. Gerade als auch Mimoun ins Freie trat, hob der andere ab. Der Jüngere musste sich beeilen, um ihm folgen zu können. Auf dem fast halbstündigen Flug legte Kaley ein Tempo vor, das Mimoun kaum halten konnte. Auch unterband der Veteran jede Art von Gespräch oder Frage. Schließlich landete Kaley am unteren Teil einer völlig aus Fels bestehenden Insel und sah zu Mimoun zurück. Dieser schwebte kurz noch in der Luft, um sich diese Insel genauer betrachten zu können und der andere winkte ihn unwirsch heran. Der junge Geflügelte landete dicht unterhalb des Ranghöheren. Dieser deutete nur wortlos auf den Höhleneingang, neben dem er hing. Mit einem verstehenden Nicken kletterte Mimoun hinein. Ihm blieb nicht viel Zeit sich zurechtzufinden und seine Augen an das im vorderen Bereich herrschende Halbdunkel zu gewöhnen, denn die Geräusche hinter ihm kündeten davon, dass auch Kaley hereinkam. Der Schwarzhaarige musste tiefer in den Gang hinein, um ihm Platz zu machen.

„Weiter.“

Still folgte Mimoun der Anweisung und tastete sich vorwärts. Es dauerte nicht lange, da stieß er auf eine Höhle. An der Decke befanden sich vereinzelt Durchbrüche, die diffuses Licht hineinließen, aber nicht genug, um wirklich viel erkennen zu können. Das einzige, was er mit Sicherheit sagen konnte, war, dass diese Höhle fast die gesamte Insel umfasste.

Ein Schlag traf ihn unerwartet im Rücken und schleuderte ihn auf den etwa zwei Meter unter ihm befindlichen harten Felsboden hinab. Schmerzerfüllt keuchte Mimoun auf.

„Zeig mir, wozu du fähig bist.“, verlangte die Stimme Kaleys irgendwo über ihm.

„Bitte was?“, japste Mimoun und erhob sich schwankend.

„Du hast den Sturm über Zeit.“ Die Stimme befand sich nun genau hinter dem jungen Geflügelten. „Überzeuge mich, dass du es wert bist.“ Erneut traf Mimoun ein harter Schlag in den Rücken und schleuderte ihn gegen die Wand.

Nachdem dieser die Schleier der Bewusstlosigkeit zurückgedrängt hatte, wirbelte er herum. „Aber hier kann man kaum etwas sehen.“, protestierte er.

„Dann gibst du etwa jetzt schon auf?“ Die Stimme erklang links von ihm und der Junge wich zur anderen Seite aus. Leicht spürte er den Lufthauch eines an ihm vorbeigehenden Schlages.

„Nein.“, knurrte er und flatterte einige Meter zurück. Die Landung fiel unglücklich aus. Da er den Untergrund nicht klar sehen konnte, trat er in eine Spalte und blieb stecken.

„Schwach.“, wurde diese Aktion kommentiert. Der Kopf des Jungen ruckte herum. Die Stimme klang wieder dicht vor ihm. Doch wie konnte sich dieser Koloss in dieser Finsternis so völlig lautlos bewegen? In Erwartung eines erneuten Schlages hob er abwehrend die Arme. Nichts geschah. Mit mühsam unterdrücktem Atem und weit aufgerissenen Augen versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen und seinen Gegner ausfindig zu machen. Als noch immer alles ruhig blieb, hockte er sich langsam hin und zog seinen Fuß aus der Spalte. Kaum war er frei, traf ihn ein Hieb unter dem Kinn und schleuderte ihn zurück. Ein Platschen erklang in seinen Ohren, bevor er völlig von Wasser umschlossen wurde. Mit Prusten und Röcheln kam er wieder an die Oberfläche.

Ein abfälliges Geräusch ließ ihn wieder aufmerksam in die Runde blicken. Nichts. Schatten blieben Schatten.

„Wenn das alles ist, gib besser gleich auf.“

Mimoun befreite sich aus dem Wasser und blieb am Rand in Abwehrhaltung stehen. Er würde nicht aufgeben. Er musste stärker werden. Er musste Dhaôma beschützen können! Tief durchatmend schloss er die Augen. Bei dem kaum vorhandenen Licht konnte er sich nicht auf sie verlassen. Der junge Geflügelte konzentrierte sich völlig auf sein Gehör, doch außer seinem eigenen rasenden Herzschlägen, seinem stoßweisen Atem und dem letzten Plätschern des Wassers hinter ihm konnte er keine Geräusche vernehmen. Minutenlang verharrte er in Bewegungslosigkeit. Er zwang seinen Herzschlag zur Ruhe, bemühte sich, flach zu atmen. Er kannte das. Er musste zum Jäger werden. Und Kaley war seine Beute. Und in Geduld musste er sich nicht erst üben. Das beherrschte er.

Stille senkte sich über die Höhle. So war das minimale Rascheln von Leder fast überdeutlich zu hören. Mimouns Kopf ruckte in die entsprechende Richtung und reflexartig fuhren auch seine Hände weiter in die Höhe. Erschrocken registrierte er, wie sich seine Nägel tief in Fleisch bohrten. Hastig zog er seine Hände zurück und gab seine Verteidigungshaltung auf. Das Resultat war eine riesige Pranke, die sich auf sein Gesicht legte und ihn wieder ins Wasser warf.

„Besser. Aber zu weich.“, waren die Worte, die er vernahm, als sein Kopf wieder die Wasseroberfläche durchbrach.

Die Löcher in der Decke der Höhle verdunkelten sich und einzelne Schneeflocken wirbelten herein. Und das Pfeifen des Windes verwirrte Mimouns Gehörsinn. Dennoch ließ er nicht locker. Er musste es schaffen, Kaley zu überzeugen.

In den drei Tagen, die der Sturm andauerte, gönnte Kaley dem Jungen kaum eine Ruhepause. Immer wieder griff er aus dem Dunkel an, umschlich ihn und narrte seine Sinne. Mimoun blieb standhaft. Immer wieder steckte er Prügel ein, und sein ganzer Körper fühlte sich taub und zerschlagen an. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel, seine Ohren konnten das dauerhafte Pfeifen des Sturmes ausblenden und sein Körper erinnerte sich bald an jede Spalte im Boden, die Dimensionen des Teiches und die Vorsprünge in den Wänden. Ihm fiel es mit der Zeit immer leichter diesen Dingen auszuweichen und für sich zu nutzen. Nur der Schlafmangel machte ihm zu schaffen. Zudem gesellte sich auch schnell der Hunger hinzu. Damit sein Magenknurren ihn nicht verriet, betäubte er ihn mit einem Übermaß an Wasser. Den Geräuschen zu urteilen, hatte der Ältere ein wenig Nahrung bei sich, doch als Mimoun um etwas bat, wurde er unnachgiebig abgeschmettert. Dazu müsse er Kaley erst einmal erreichen, war die Erwiderung gewesen.

Dies gelang dem jungen Geflügelten in den drei Tagen aber nicht. Auch der Schlafmangel forderte von seinem Körper schließlich seinen Tribut. Völlig erschöpft kippte er einfach um. Er spürte nicht den Aufprall auf den Felsboden, die zusätzlichen Kratzer und Prellungen, die er sich dabei zuzog. Auch dass Kaley näher trat, meldeten ihm seine Sinne nicht.

Der Mann sah nur auf den Jungen herab. Nach einigen Augenblicken legte auch er sich zum Schlafen nieder. Er befand, dass es genug war.

Mimoun schlief fast einen ganzen Tag durch und als er schließlich erwachte, saß Kaley neben ihm und streckte eine Hand in seine Richtung. Einem in den letzten Tagen antrainierten Reflex folgend, hob er abwehrend seine Hand, doch der Veteran hielt ihm nur getrocknetes Fleisch entgegen. „Iss.“

Zögerlich setzte Mimoun sich auf und nahm es entgegen. Noch immer mit misstrauischen Blicken in Kaleys Richtung biss er hinein. Sein Hunger überwog schnell. Ohne weiter auf den anderen zu achten, schlang er alles hinunter.

„Komm.“

Erstaunt sah der junge Geflügelte auf und schluckte den letzten Bissen hinunter. Seine Augen hatten sich so weit an das Halbdunkel gewöhnt, dass er schemenhaft erkennen konnte, wie der Veteran sich dem Ausgang zuwandte. Schnell schloss sich der Junge an.

Unruhe ergriff ihn wieder. Der Sturm war vorbei. Das Pfeifen der letzten Tage war fast völlig verschwunden. Das hieß, nun würde die Entscheidung fallen. Er selbst schätzte seine Chancen schlecht ein, aber das letzte Wort hatte Kaley.

Am Eingang der Höhle stach das ungewohnt grelle Licht in Mimouns Augen und dieser wandte sich mit einem Zischen ab.

„Komm.“

Der junge Geflügelte blinzelte ins Licht und sah, dass der andere sich bereits abgestoßen hatte und seinem Dorf entgegen strebte. Hastig folgte er ihm. Ein wenig war er erstaunt, dass dieser nicht wieder so ein scharfes Tempo vorlegte wie auf ihrem Hinflug. Aber etwas dagegen sagte Mimoun auch nicht. Ebenso wagte er es nicht, das Thema anzusprechen, das ihm auf der Zunge brannte.

Schließlich im Dorf angekommen, wandte sich Kaley zu dem Jüngeren um. „Du hast Potenzial, das sich ausbauen lässt.“, begann er. „Aber ich werde nicht ewig warten, bis der Herr sich bequemt, hier mal aufzutauchen. Ich habe Wichtigeres zu tun.“

„Ich danke Euch.“ Mimouns ganze Haltung entspannte sich, als er den Kopf neigte. Anschließend glitt sein Blick über den wolkenverhangenen Himmel. Der Tag neigte sich ebenfalls seinem Ende zu. Heute würde er nirgendwo mehr hinkönnen.

„Für heute Nacht kannst du mein Gast sein.“, gestattete Kaley, dem der Blick und die gerunzelte Stirn nicht entgangen waren. Mimoun nickte zum Zeichen seines Einverständnisses. Den Abend verbrachte er damit, sich dem Dorf vorzustellen, was bei seinem ersten Eintreffen hier ja nicht möglich gewesen war, und wieder Geschichten seiner Reise mit dem Magier zum Besten zu geben.
 

Am nächsten Morgen erwachte Mimoun sehr zeitig. Da sein Gastgeber noch schlief, schlich sich der junge Geflügelte zu seinen Habseligkeiten und bereitete alles für seine Weiterreise vor. In Gedanken ging er die Route zu seiner nächsten Station durch, schätzte die Zeit, die er dafür benötigte.

Leises Rascheln ließ ihn erschrocken herum fahren. Kaley ließ die Lederplane wieder zurück gleiten. „Guten Morgen.“, begrüßte Mimoun seinen Gastgeber. „Verzeiht. Hab ich Euch geweckt?“

Dieser verneinte mit einem Kopfschütteln und beobachtete den Jungen, wie dieser seine Rüstung wieder anlegte. „Das Training wird, selbst wenn ich dich übermäßig fordere, Monate dauern. Was macht dein Magier in der Zeit? Willst du ihn hier mit einquartieren?“, wollte der Veteran wissen.

„Dhaôma hofft, zu dem Zeitpunkt seinen Drachen bereits zu haben. Er möchte dann auf einer Insel außerhalb wohnen, um Euch keinen Grund zur Sorge zu geben, aber mich dennoch jederzeit besuchen zu können.“, erklärte Mimoun und schloss seine Vorbereitungen ab. Er erhob sich und sah Kaley offen an. Dieser erwiderte den Blick nachdenklich und schließlich nickte er.

Der junge Geflügelte sah kurz aus der Hütte. Der Morgen begann zu grauen. Es waren ideale Bedingungen zur Weiterreise, doch er konnte nicht ohne Frühstück los fliegen. Das würde seine Reise nur behindern. Als er sich wieder seinem Gastgeber zuwandte, drückte dieser ihm ein kleines, in Leder eingeschlagenes Päckchen in die Hand. „Verschwinde.“

Verblüfft schielte er unter das Leder und entdeckte einige Fleischstreifen. Ideal zum Verzehr während des Fluges geeignet. Dankbar verneigte er sich noch einmal vor dem Ratsmitglied und wandte sich nach einem abschließenden Gruß zum Gehen. Die bereits erwachten Dorfmitglieder verabschiedete er ebenfalls mit ein paar letzten Worten und schwang sich in die Lüfte. Nun musste er nur noch bei Addar vorbeisehen und Neuigkeiten austauschen. Dann konnte er endlich zu Dhaôma zurückkehren. Er war schon viel zu lange weg.

Winter

Kapitel 31

Winter
 

Nur das Wetter spielte ihm nicht in die Hände. Immer wieder hatte er mit Schneefall und scharfen, kalten Winden zu kämpfen, die ihm stark zusetzten, und er entschied sich in tieferen, wärmeren Luftschichten zu fliegen. Als seine letzte Station Tage später endlich vor ihm auftauchte, seufzte er erleichtert auf. Nun hieß es nur noch, hier alles schnell zu erledigen, damit er bald weiter konnte. Mit einem Schmunzeln ahnte er aber, dass dies nicht so einfach werden würde.

Erschöpft landete er am Rande der Insel. Es dauerte nicht lange, da war der Besucher von neugierigen Geflügelten umringt, allen voran natürlich Asam, der sofort zu einem Drückwettbewerb ansetzte. Mimoun ließ es sich nicht nehmen, ihm gehörig Kontra zu geben. Diesmal war es Asam, der aufgeben musste. Bei der Rüstung, die sein Gegner trug, befand er sich aber von Anfang an in der schlechteren Position.

Lachend schob das jüngste Ratsmitglied den Neuankömmling in die Hütte, in der der Rest der Familie zusammen saß. Erschrocken und besorgt bemerkte Mimoun die Felle, in die sich Addar gehüllt hatte.

„Ich bin alt.“, erklärte dieser lachend, als er den Blick bemerkte. „Ich spüre das Wetter deutlicher als ihr Jungen.“

Nur wenig beruhigt, ließ sich Mimoun nieder und sah sich plötzlich mit wachen Augen konfrontiert. Amar war zu ihm herüber gekrabbelt und sah zu ihm auf. Er erwartete neue, spannende Geschichten. Vor allem die vielen Blessuren, die deutlich zu sehen waren, interessierten ihn brennend. Schließlich mussten die von einem heftigen Kampf stammen.

Lachend begann Mimoun zu berichten. Viel war es nicht. Seit dem letzten Bericht waren sie nicht viel weiter gekommen. Und Dhaôma harrte allein im Gebirge aus. Viel passierte ihm also gerade auch nicht. Aber er erzählte, dass er die Zeit genutzt hatte, seiner Familie einen Besuch abzustatten und von seinem Vorhaben sich von Kaley im Kampf trainieren zu lassen. Wortlos deutete Addar auf Mimouns geschundenen Körper. Dieser nickte mit einem Schnauben.

„Er wollte sicher sein, dass ich es auch wert bin, sich die Mühe zu machen.“, erklärte der junge Geflügelte.

Amar war enttäuscht. Er hatte sich Aufregenderes erhofft. Gelangweilt wandte er sich ab und zog sich mit den anderen Kindern zurück.

Da Mimoun nicht so lange bleiben wollte, kam er auch schnell auf das Thema zu sprechen, wegen dem er überhaupt den Weg hierher gemacht hatte, doch er wurde bitter enttäuscht. Soweit die Boten auch geflogen waren, wo auch immer sie gefragt hatten. Bisher konnte ihnen niemand weiterhelfen. Es gab keinen, der auch nur einen kleinen Hinweis darauf kannte.

Missmutig begann Mimoun auf seiner Unterlippe zu kauen und starrte zu Boden. Einen Moment herrschte bedrücktes Schweigen in dem Raum. Schnell wurde es von einem begeisterten Quietschen unterbrochen und ein Baby schob sich in sein Gesichtsfeld.

„Ist sie nicht das niedlichste Wesen, das du je gesehen hast?“ Asam zog seine Tochter wieder an sich und drückte und knuddelte sie. „Ja. Du bist das süßeste Geschöpf dieser Welt.“ Fröhliches Quietschen und Lachen antworteten ihm.

Mimouns angespannte Gesichtszüge lockerten sich und schließlich löste sich sogar ein Kichern von seinen Lippen. Mit einem Lächeln betrachtete er sich die Szene. Als sich eine Hand auf seinen Unterarm legte, sah er zu Leoni.

„Keine Angst. Ich bin mir sicher, ihr schafft das auch so.“, erklärte sie leise, um ihren Mann bei seinen Lobpreisungen nicht zu stören, in die er sich immer mehr hineinsteigerte. Mimoun nickte dankbar.

Auch wenn die Sonne gerade erst ihren Höchststand überschritten hatte, entschied sich der junge Geflügelte hier eine längere Rast einzulegen und erst am nächsten Morgen weiterzureisen. Ein wenig Gesellschaft tat ihm gut. Mit Bedauern dachte er dabei an seinen Magier, der völlig allein warten musste.

Auch hier reiste er schon im ersten Morgengrauen weiter. Da im Winter die Tage nicht ganz so lang waren, musste er jede Minute nutzen. Er kannte die grobe Richtung, in die er musste, sein Hauptaugenmerk lag aber erst einmal darauf, den Fluss zu finden. Auch wenn er nicht schnurgerade zu Dhaôma führte, war er doch der sicherste Wegweiser.

Mimoun folgte dem Fluss bereits einige Tage, als erneut ein Schneesturm sein Vorwärtskommen behinderte. Erst im letzten Moment hatte er eine Felsspalte in einer Insel finden können, die ihn zwar nicht vollständig schützte, ihn aber auch nicht komplett den Naturgewalten aussetzte. Wenigstens tobte dieser Sturm nicht so lange wie der letzte. Dennoch verlor er weitere wertvolle anderthalb Tage. Frustriert machte er sich wieder auf den Weg.

Als der Geflügelte eine Woche später die ersten Ausläufer des Gebirges vor sich auftauchen sah, flog er tiefer über das Land hinweg. Er war lange genug durch die Berge geflogen, um sich halbwegs auszukennen, aber dafür musste er weiter unten fliegen. Erleichterung durchflutete ihn, als er später schließlich das Tal fand, an dessen Hang sich die Höhle befand, in der Dhaôma Unterschlupf gefunden hatte. Und es fiel ihm auch nicht schwer, den von Schnee befreiten Kreis auszumachen. Die letzten Kraftreserven nutzte er dafür, bis dorthin zu kommen. Für die Landung ließ er sich einfach aus geringer Höhe fallen. Hastig sah er sich in alle Richtungen nach seinem Freund um, rief nach ihm. Als keine Reaktion kam, erfasst ihn Unruhe und er eilte auf den Höhleneingang zu.

„Dhaôma?“, rief er, nur den Kopf hineinsteckend. Hoffentlich war er hier.
 

Die Stimme drang durch seine Träume. Es war schon oft so gewesen, dass er geträumt hatte, Mimoun wäre wieder zurück. So wie jetzt waren sie beide in einem Wald, der gerade zum Leben erwachte, und Mimoun kam von seiner Reise zurück.

Lächelnd kuschelte er sich tiefer in seine Felle. Er wusste, wenn er die Augen öffnete, war der Traum vorbei und er musste sich wieder der Langeweile stellen, die er seit neustem damit bekämpfte, Eisskulpturen von Drachen zu schaffen. Aber wenn er sich gegen das Aufwachen sträubte, waren ihm vielleicht ein paar Momente mehr mit seinem Schatz vergönnt.

Dann waren seine Augen schlagartig offen. Etwas war anders, als sonst. Die Stimme klang besorgt oder irrte er sich? Sehen konnte er nichts. Es war vollkommen dunkel. War es Nacht draußen? Die Nächte im Winter vergingen so gut wie gar nicht.

„Bist du da, Mimoun?“, fragte er leise, Hoffnung schwang in seiner Stimme mit, als er sich langsam aus den Fellen schälte.
 

Angesprochener stieß die angehaltene Luft aus, als er die Stimme hörte. Mühsam zwängte er sich durch den engen Spalt und tastete sich vor. Tasche und Bogen ließ er halb achtlos auf den Boden fallen, dicht gefolgt von den Rüstungsteilen.

Lächelnd steuerte auf den sich bewegenden Fellberg zu und hockte sich davor. Unfähig irgendetwas zu sagen, streckte er die Hand aus und strich seinem Freund durch die wirren Haare.
 

Im ersten Moment wollte Dhaôma sich zurückfallen lassen, weil keine Antwort kam, zum Glück hörte er im nächsten Geraschel. Sofort war sein ganzer Körper angespannt. Es war schon einmal vorgekommen, dass ein Raubtier versucht hatte, einzudringen, doch das hier war anders. Und war es nicht doch Mimouns Stimme? Hatte er den Eingang etwa so eng gemacht, dass sein Freund nicht mehr hindurch kam?

Glück wallte in ihm auf, unbändige Freude und er wollte ihm entgegenlaufen und ihn fest umarmen, aber mitten in der Bewegung hielt er inne. Hatte er sich nicht vorgenommen, Mimoun kein schlechtes Gewissen zu machen? Und daher sollte er ihm besser nicht zeigen, wie sehr er ihn vermisst hatte. Also wartete er schweigend, bis er die kühlen Finger in seinen Haaren und auf seiner Kopfhaut fühlte. Sacht schmiegte er sich der Hand entgegen.

„Wie war deine Reise?“ Seine Stimme war ebenso leise wie vorher, als hätte er Angst, dass es die Wiedersehensfreude stören konnte.
 

„Zu lang.“, erwiderte der Geflügelte schlicht und zog seinen Freund dichter an sich, schlang vorsichtig seine Arme um dessen Mitte.

Mimoun fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. Die ganzen Tage war er voller Tatendrang gewesen, hatte sich nur die nötigsten Ruhepausen gegönnt. Aber jetzt, hier bei Dhaôma, wollte er einfach nur seine Ruhe und dösen. Müde lehnte er seinen Kopf gegen die Schulter des anderen, schloss mit einem erleichterten Seufzen die Augen.
 

Der Braunhaarige lachte leise. „Du bist müde, was? Leg dich richtig hin, dann ruhst du besser.“ Sanft strich er ihm durch die Haare und über die Haut an seinen Wangen. „Und morgen zeige ich dir was Schönes, okay?“
 

Mimoun kicherte leise. „Aber ich sehe doch schon etwas Schönes. Du bist wieder bei mir.“ Aber er ließ sich gehorsam in die Felle kippen, Dhaôma noch immer fest umschlungen.
 

Wortlos ließ dieser das geschehen. Es freute ihn, dass Mimoun wieder da war. Und es freute ihn, dass er in Kuschellaune war. Das war fast so, als wolle er wettmachen, was das Wetter draußen ihm nicht gönnte: Wärme.

Sanft streichelte er die Kuhle zwischen Haar und Hals. Der Atem wurde ruhiger und gleichmäßiger. Es war, als würde er wirklich schlafen. Die Reise musste erschöpfend gewesen sein. Probehalber ließ er seine Magie nach Verletzungen suchen, aber bis auf ein paar schon beinahe verschwundene Kratzer konnte er nichts feststellen. Es war beruhigend, dass es ihm gut ging.
 

Am Rande seiner Wahrnehmung spürte er das Streicheln. Es war angenehm und störte sein Dösen überhaupt nicht. Mit einen zufriedenen Seufzen kuschelte er sich tiefer in die Berührung und schlief endgültig ein.
 

Als Mimoun wenige Stunden später langsam wieder erwachte, meldeten ihm seine Sinne als erstes einen vertrauten Geruch, der ihn umhüllte. Blinzelnd öffnete er die Augen. Erst als er Dhaôma neben sich liegen sah, kam ihm wieder ins Gedächtnis, dass er endlich zurückgekehrt war.

„Ich hab dich vermisst.“, offenbarte er leise.
 

Es war inzwischen hell genug in der Höhle, dass Dhaôma Mimoun erkennen konnte, so machte er sich einen Spaß daraus, ihn beim Schlafen zu beobachten. Jede Regung konnte er sehen, jede noch so kleine Veränderung oder das kleinste Lächeln. Bis er schließlich aufwachte.

„Ich hab dich auch vermisst.“, antwortete er. „Aber ich bin besser geworden im Jagen deswegen.“
 

Nun war es an Mimoun seinen Freund nach offensichtlichen Verletzungen abzutasten. Aber erkennen konnte er so auf die Schnelle nichts. „Wehe, du hast dich übernommen.“ Langsam setzte er sich auf und rieb sich über die Augen, gähnte herzhaft.
 

„Selbst wenn. Es ist nicht so, als müsste ich es aussitzen.“ Dhaôma zuckte mit den Schultern. „Ein Kratzer ist nur noch eine Sache von ein paar Minuten, eine Beule nicht einmal der Rede wert.“ Kichernd kratzte er sich am Kopf. „Aber nichts desto trotz bin ich meistens viel zu ungeschickt, um tatsächlich in Kontakt mit meiner Beute zu kommen. Wenn ich ankomme, ist sie immer schon tot. Verblutet oder erfroren.“
 

Der Geflügelte klopfte seinem Freund wieder gegen die Stirn. „Und ich soll auf mich aufpassen? Während du so nachlässig mit deinem Körper umgehst? Deine Kräfte sind nicht unbegrenzt, du Dummkopf. Nimm sie nicht als selbstverständlich.“

Mit einem milden Kopfschütteln lehnte er sich zurück. „Aber es ist schön zu hören, dass dir nichts Schlimmes passiert ist.“
 

„Aber genau das sind sie. Unbegrenzt.“ Der Braunhaarige rieb sich die Stirn. Sie kribbelte dort, wo Mimoun sie berührt hatte. „Wenn ich sie trainiere, werden sie stärker. Ich kann meine Magie länger fließen lassen als zu Beginn der Reise. Und ich haben ihr Endpotential noch lange nicht erreicht. Ich werde die Kraft brauchen, deshalb trainiere ich sie.“
 

„Soll ich ein paar Mal von der Klippe springen, damit du üben kannst?“ Hastig schüttelte er den Kopf und hob abwehrend die Hände. „Schon gut. Ich werde es nicht tun. Sonst bist du nur wieder böse mit mir.“

Der Geflügelte erhob sich, bedeutete dem Magier, dort sitzen zu bleiben, und klaubte seine Tasche wieder auf. Mit dieser in der Hand kehrte er zu dem Fellhaufen zurück, machte es sich darin gemütlich.

„So. Themenwechsel.“ Mit geschlossenen Augen wühlte er in der Tasche, bis er einen Zettel in der Hand hielt. Abschätzig wendete er ihn, bevor er ihn auf die Felle legte. Dann begann er die Prozedur von vorne, legte den nächsten Brief neben den ersten und so weiter bis schließlich alle vor ihm aufgereiht lagen.

„Na? Mit welchem willst du anfangen?“, grinste er.
 

Gespannt hatte Dhaôma die Show verfolgt, aber jetzt konnte er sich kaum rühren. So viele Menschen hatten an ihn geschrieben? Hatte er inzwischen so viele Freunde? „Von wem sind die alle?“
 

Nacheinander deutete Mimoun auf die entsprechenden Briefe. „Die Kinder. Meine Mutter, aber sie hat zusammenfassend für das ganze Dorf geschrieben. Als Addar hörte, dass ich sowieso schon Bote spielen durfte, musste ich mit seinem gleich weitermachen. Amar. Leoni. Dreimal darfst du raten.“ Bei dem letzten grinste er. Dieser Brief fiel ein wenig umfangreicher aus.
 

Lachend deutete der Magier auf die Zettel der Kinder. „Damit fange ich an. Zum Glück sind sie nicht besonders viel besser geworden mit dem Fliegen, sonst hätten wir sicherlich Anhang bekommen. Das wäre für dich sehr anstrengend geworden.“
 

„Ich hab sie einfach gefesselt und ihren Eltern in die Hand gedrückt.“, scherzte Mimoun. „Du glaubst gar nicht, was das für ein Kraftakt war, die kleinen Plagen einzufangen und zu knebeln, da sie immer in Gruppen aufgetreten.“
 

„Doch, ich glaube dir.“, antwortete Dhaôma leichthin. „Immerhin sind ihre Augen größer als alles andere, wenn es darum geht, um etwas zu bitten.“ Vorsichtig faltete er den ersten Zettel auseinander und las ihn. Viel stand nicht drauf: ‚Komm bald wieder. Alle Pflanzen sind tot!’ Fast hätte er gelacht. Natürlich schliefen Pflanzen im Winter. Das hatte er ihnen doch schon beigebracht. Die nächsten drei Briefe waren auch nicht viel länger und sagten in etwa das gleiche aus. Nur Harus war etwas anders. ‚Ich bin schon viel besser im Fliegen. Nächstes Jahr kann ich dich begleiten! Du wirst schon sehen!’ Ja, das konnte er sich gut vorstellen. Haru würde das fertig bringen und damit das ganze Dorf in Aufregung versetzen.

Es dauerte den ganzen Vormittag, um alle Briefe zu lesen. Besonders der von Cerel bedurfte viel Zeit, da sie klein und sehr eng schrieb. Es war schön, von ihr zu lesen. Sie sorgte sich, als wäre sie seine echte Mutter.
 

Mimoun saß stumm daneben und beobachtete Dhaômas Mienenspiel. Ohne dass es ihm selbst bewusst wurde, schlich sich jedes Mal ein Lächeln auf sein Gesicht, wenn die Augen seines Freundes zu leuchten begannen oder dieser selber lächelte.

Nach einiger Zeit setzte er sich halb hinter seinen Freund, den Kopf auf seine Schulter gestützt, so dass er mitlesen konnte. Es waren Dhaômas Briefe. Mimoun hatte es nicht gewagt sie anzurühren, bevor sein Freund sie gelesen oder zumindest in der Hand gehalten hatte.
 

Irgendwann war der letzte Brief zu Ende. Er hatte sich Asams bis zum Schluss aufgehoben und wie erwartet war es der anstrengendste gewesen, aber gleichzeitig war es auch der netteste. Wenn er sich vorstellte, wie verliebt sich dieser Mann um seine beiden Mädchen verhielt, dann musste er jedes Mal lachen. Asam war definitiv ein Original, das man einfach gern haben musste.

Sorgfältig legte er alle Papiere zusammen, rollte sie in eine dichte Lederhaut und blickte Mimoun dann an. „Also wird jetzt gegessen, dann zeige ich dir, was ich gelernt habe, okay?“
 

Neugierig horchte Mimoun auf und erwiderte den Blick. Dhaôma hatte etwas Neues gelernt? Das wollte er sehen. Also nickte er zustimmend und erhob sich, um alles für die Mahlzeit zusammenzusuchen. Dem Magier bedeutete er erneut, sitzen zu bleiben. Zwar kannte dieser sich sicher besser in der Höhle aus, aber Mimoun wollte seinem Freund heute etwas Gutes tun und ihn bedienen. Leise vor sich hin murmelnd suchte der Geflügelte die besten Leckerbissen heraus und kehrte zu dem Magier zurück.

„Lass es dir schmecken.“ Mit einem Lächeln legte Mimoun die Nahrungsmittel in ihre Mitte und setzte sich, begann zu essen. Zu seiner inneren Ruhe, die begann, als er die Höhle betreten hatte, gesellten sich nun Glück und Zufriedenheit hinzu.
 

Dhaôma nickte und griff ordentlich zu. Er brauchte Essen, um warm zu bleiben im Winter. Und seit Mimoun angekommen war, hatte er das Frühstück verschoben. Jetzt hatte er Hunger. Seltsamerweise schmeckte es viel besser als sonst! Das lag unter Garantie nur daran, dass sein Freund da war. Kurz kicherte er, dann aß er auf. Seine Laune war auf einem Höhepunkt.

„Fertig?“, fragte er kaum ein paar Minuten später. „Können wir hinausgehen?“
 

Auch Mimoun hatte sich nicht unbedingt Zeit mit dem Essen gelassen. Er war neugierig auf das, was sein Freund ihm zeigen wollte. So beantwortete er Dhaômas Frage nur mit einem Nicken. Reden konnte er nicht, da er sich gerade den Rest in den Mund schob und nun Schwierigkeiten beim Kauen bekam. Dennoch grinste er gutgelaunt und erhob sich. Der Geflügelte streckte eine Hand in Richtung des Magiers aus, um diesem hoch zu helfen.
 

Das Grinsen erwidernd zog er sich hoch. „Warte, ich mach den Eingang ein bisschen größer, damit du besser durchpasst.“ Und schon strichen seine Hände über das blaue Eis, bis Wasser floss. Nur oben herum ein bisschen mehr, damit die Flügel sich nicht verletzen würden.

Dann strebte er nach draußen. Anziehen brauchte er sich nicht extra. Momentan schlief er mit all den Klamotten und sogar mit seinem Umhang, damit sie keine Chance bekamen, auszukühlen.

„Hier lang!“, rief er winkend und zeigte in eine Richtung den Hügel ein wenig hinauf. Dort oben lag seine Galerie. Die Skulpturen, die er schon gemacht hatte.
 

Fasziniert beobachtete Mimoun mit welcher Leichtigkeit Dhaôma das Eis am Eingang zum Schmelzen brachte. Er schien schon eine Menge Übung mit dieser Art der Magie gesammelt zu haben.

Beim Verlassen der Höhle hatte er nicht mehr ganz so viele Schwierigkeiten wie beim Eintreten. Erleichtert atmete er tief durch, bevor er mit Blicken dem Fingerzeig den Hügel hinauf folgte. Zwar schüttelte er kurz die Flügel aus, folgte seinem Freund dann aber zu Fuß, nutzte dabei die Spur, die dieser durch den Schnee zog.
 

Ein kalter Wind empfing sie, als sie die Kuppe erreicht hatten. Jetzt standen sie auf dem Dach der Höhle, die sie bewohnten, und es war zugig wie selten etwas. Aber das war der Grund, warum Dhaôma hier oben übte. Es war leichter, das Eis wieder einzufrieren, wenn der Wind kalt war.

„Und, was sagst du? Ich habe sie alle selbst gemacht. Ich kann Wasser jetzt auch wieder einfrieren, wenn ich es geschmolzen und in Form gebracht habe.“
 

Erst war Mimoun sprachlos. Vorsichtig schlich er um die Eisskulpturen herum, die unterschiedliche Arten von Tieren und Pflanzen zeigten. Auch Drachen konnte er erkennen.

„Das ist fantastisch.“, murmelte er leise, als fürchtete er, durch eine zu laute Stimme irgendetwas kaputt zu machen. Seine Finger glitten in wenigen Zentimeter Abstand über die glatten Flächen von Blüten. Etwas zu berühren, wagte er nicht.

Kurz huschte die Tatsache, dass es gefrorenes Wasser gewesen war, das seine Begegnung mit Dhaôma ermöglicht hatte, durch sein Bewusstsein. Ihm lief ein Schauer über den Rücken bei dem Gedanken. In dieser Form gefiel ihm dieses Element entschieden besser.
 

„Nicht wahr? Sie sind wunderschön! Wenn es geschneit hat und der Wind die Flocken verwirbelt, dann wirken sie wie echt, als würden sie sich bewegen!“ Er lachte und berührte einen der Drachen zu seiner Rechten sanft an der Nase. Sie waren von den Bildern inspiriert, die sie in der Höhle gesehen hatten, aber er bezweifelte, dass sie lebensecht waren. Dann wurde er rot.

„Ich hatte auch dich gemacht.“, murmelte er gerade laut genug, dass er hoffte, Mimoun würde es noch hören können. „Aber ich konnte es nicht ertragen, dass du dich nicht bewegt hast, deshalb hab ich ihn geschmolzen.“ Seine Wangen waren brennend rot vor Hitze. Zum Glück konnte man nicht erkennen, ob es Scham oder die Kälte waren, die sie färbten.
 

Mimoun erstarrte, als Dhaôma ihm von einer Nachbildung des Geflügelten berichtete. Gefühle wirbelten wild in seinem Inneren herum. Glück, über die Ehre, überhaupt verewigt worden zu sein. Bedauern, weil er sie nicht sehen konnte. Reue, weil Dhaôma anscheinend sehr unter der Einsamkeit gelitten hatte.

Kurz schweifte sein Blick über die Skulpturen und ihre Wirkung änderte sich. Sie waren noch immer faszinierend, doch nun sprach eher die Einsamkeit und Langeweile ihres Schöpfers aus ihnen. Wie sollte er aber nun mit dieser Information umgehen? Rückgängig konnte er die letzten Wochen nicht machen.

„Ich bin froh, dass ich sie nicht sehen musste.“, schnaubte Mimoun abfällig. Nach wenigen Augenblicken Stille warf er sich in Pose. „Sie wäre dem Original nie gerecht geworden. Ich bin doch viel schöner und stärker und besser als so ein doofes Eisbildnis.“
 

„Genau das dachte ich mir auch, deshalb ist sie ja jetzt Wasser.“ Dhaôma lachte. Es tat gut, mit Mimoun zu reden. Und weil das so war…

Ein Schneeball war schnell zusammengeformt und schon traf er den posierenden am Hals. Noch immer war er im Werfen nicht besonders gut, hatte er doch auf die Brust gezielt. „Ups.“, meinte er, bevor er lachend Fersengeld gab.
 

„Ups?“, fragte Mimoun mit amüsiert gerunzelter Stirn nach und wischte sich mit einer nachlässigen Bewegung die Schneereste weg. Diesen hatte er nicht kommen sehen. Und da behauptete Kaley allen Ernstes, dass er über Reflexe verfügte? Oder er fühlte sich in Gegenwart des Magiers einfach zu sicher.

Während sein Freund flitzte, zog Mimoun sein Hemd aus und füllte es mit sehr viel lockerem Schnee. Hinterhältig grinsend schwang er sich in die Luft und folgte Dhaôma. Es fiel ihm nicht schwer den Flüchtenden einzuholen. Als er dicht über ihm war, ließ er bis auf eine alle Ecken los und die Last ergoss sich in Richtung Erdboden.
 

„Iiiiiii!“, quietschte Dhaôma, als ein wenig der weißen Kälte in seinen Kragen rutschte. Doch das hieß nicht, dass er nicht zurückkämpfen konnte. Eine Menge Schnee in die Hände nehmend, pustete er dagegen. Das war das zweite, das er gelernt hatte. Er konnte den Wind, der in der Luft war, mit seinem Atem verstärken. Nicht besonders stark, aber genug, um Schnee in die Höhe zu pusten, in der Mimoun sich befand.
 

Erstaunt über die ihm ungekannte Fähigkeit war dieser nicht schnell genug mit Ausweichen und wurde eingestäubt.

Aber das war nichts, was er nicht bereits wusste. Magier konnte man nicht aus der Entfernung bekämpfen. Im Sturzflug schoss er in Dhaômas Richtung, landete dicht vor ihm und nutzte den verbliebenen Schwung, um ihn zu packen und mit ihm in den Schnee zu stürzen.
 

Ein weiterer Schreckensschrei entkam Dhaôma, dann lachte er. Der Schnee war weich und er hatte nicht damit gerechnet, umgeworfen zu werden. Seine Hand griff nach dem kalten Zeug und drückte es seinem Angreifer direkt gegen die Wange. Im gleichen Atemzug versuchte er, unter ihm wegzukommen.
 

Mimoun akzeptierte diesen erneuten Angriff auf sich und begann, über seinem Freund kniend, von beiden Seiten Schnee auf den unter ihm Liegenden zu schaufeln. Er hielt den Magier nicht fest. Dies sollte ein Spiel werden, das beiden Spaß machen sollte, und er wollte nicht, dass Dhaôma schon nach wenigen Augenblicken als Verlierer feststand. Und er verzichtete darauf, gezielt Schnee unter die Kleidung des anderen zu befördern. Er wollte keine Krankheit heraufbeschwören.
 

Verzweifelt versuchte der Junge, den Schnee abzuwehren, aber das einzige, das ihm gelang, war die versehendliche Aktivierung seiner Kräfte. Der Schnee über ihm schmolz zu Wasser. Wie als ihn das Zeug damals begraben hatte, es war einfach ein Reflex. Und das Wasser war kalt!

„Iiiieks!“ Er drehte sich um und krabbelte unter Mimoun hervor, sich wundernd, warum er nicht festgehalten wurde, dann schüttelte er sich im Laufen und wäre beinahe gefallen. Erstmal Abstand zwischen sie bringen, danach würde er weitersehen.
 

Erstaunt hielt Mimoun inne, als sich der Schnee plötzlich in Wasser verwandelte. Warum setzte der Magier Magie ein, wenn sie nur ein wenig balgten? Vor allem, wenn es ihm keinen Vorteil brachte. Doch dem Ausruf zu urteilen, war das nicht wirklich beabsichtigt gewesen und Mimoun konzentrierte sich wieder auf ihr Spiel.

Aufmerksam beobachtete er, wie Dhaôma auf Abstand ging und sich schüttelte. Er vergrub seine Finger im Schnee und duckte sich wie ein Raubtier auf der Jagd, die Flügel zum Start bereits leicht gespreizt.
 

Ein kurzer Blick zurück und Dhaôma wusste, was ihm blühte. Er würde verlieren. Dieses Funkeln in den Augen war eine Kampfansage, die besagte, dass ihr Spiel eine Beute beinhaltete: ihn.

„Komm doch!“ Er bückte sich und hob Schnee auf. „Ich geb mich nicht so leicht geschlagen!“, rief er und warf den ersten Ball. Nicht weit von ihm war der Wald. Dort hatte er eine reelle Chance, nicht wahr?
 

„Sehr schön.“, erwiderte Mimoun. „Es wär ja sonst langweilig.“ Ihm fiel es nicht schwer, dem Schneeball auszuweichen. Es war eher wie eine beiläufige Bewegung, eine leichte Drehung seines Körpers. Noch einige Augenblicke blieb er auf seinem Platz hocken. Und von einem Moment zum anderen spannte er seine Muskeln an und schnellte nach vorn, sein Ziel direkt im Blick.
 

Dhaôma hatte das schon oft gesehen. Wenn Mimoun mit den Kindern spielte oder kämpfte, dann sah das ähnlich aus. Er musste nur rechtzeitig ausweichen, so dass der andere an ihm vorbei flog und Zeit benötigte, um zurückzukommen.

Dummerweise wartete er zu lange. Gerade wollte er zur Seite springen, da berührten ihn die Finger schon.
 

Mimoun umschlang seine auserkorene Beute und warf ihn erneut in den Schnee. Mit leicht enttäuschtem Gesicht hockte er wieder über dem Magier, seine Hände neben ihn gestützt. „Ich dachte, du gibst nicht so leicht auf. Warum rennst du dann nicht weg?“ Eine Hand fing wieder ein wenig Schnee ein und ließ ihn langsam über Dhaômas Kopf rieseln.
 

„Ich versuche wegzulaufen!“, empörte sich der andere und pustete den Schnee zurück. „Was denkst du, was ich hier mache?“ Wieder schmiss er Schnee nach seinem Widersacher. „Ich gebe mir die allergrößte Mühe, dich zu besiegen!“
 

Schnell drehte er den Kopf aus der Wurfrichtung, nur war der Abstand nicht sonderlich groß und der Erfolg somit minimal. „Ich glaub, ich hätte die Bälger doch mitbringen sollen. Die müssen dich erst wieder trainieren.“, lachte Mimoun. Er löste seine Finger aus dem Schnee und schob sie unter Dhaômas Kleider, ließ sie über dessen Seiten tanzen.
 

„Arg, lass das!“ Mit ganzer Kraft versuchte er ihn wegzuschieben. „Du bist eiskalt! Nimm… nimm deine Finger da weg!“ Die letzten Worte gingen in einem Lachen unter, das ihn schüttelte, als seine Selbstbeherrschung brach.
 

„Dann musst du sie wärmen.“, bestimmte der Geflügelte und ließ die Hände flach auf dem vom Lachen bebenden Bauch liegen. Schnell kehrten seine Finger zu ihrer Arbeit an den Flanken des Magiers zurück. Die Bemühungen seines Freundes perlten durch geschickte Drehungen des Körpers nahezu wirkungslos an ihm ab.
 

„Wärm sie am Feuer!“, presste der Braunhaarige zwischen zwei Lachattacken hindurch. Es kostete seine ganze Kraft, Schnee zusammenzuklauben und sie Mimoun ins Gesicht zu drücken. Diesmal traf er besser.
 

Hastig zog er seine Finger zurück und wischte sich den Schnee aus dem Gesicht.

„Duuuu…“, drohte er dunkel, mit einem Funkeln in den Augen, der deutlich von seinem neu entfachten Jagdtrieb kündete. Leicht löste er sich noch weiter von Dhaôma und zog sich ein wenig zurück. „Lauf.“, forderte er.
 

„Damit du mich wieder umwerfen kannst? Sicher!“ Dhaôma stand auf, in seiner Hand wieder Schnee. Ein schneller Schritt und schon hatte Mimoun eine zweite Ladung im Gesicht.
 

Mimoun hatte zu einer Erwiderung angesetzt und so war er nun sekundenlang damit beschäftigt, den Schnee wieder auszuspucken. Mit heftigem Kopfschütteln beförderte er letzte Reste aus seinen Haaren und ging krauchend ein wenig auf Abstand.

„Ich wollte dir nur eine Chance geben.“ Mit fließenden Bewegungen erhob er sich und schlich in leicht geduckter Haltung um Dhaôma herum. „Aber wenn du nicht magst…“ Den Satz ließ er offen. Stattdessen bückte er sich und schnellte noch in der Bewegung nach vorne. Seine Hände pflügten durch den schon stark aufgewühlten Schnee und beförderten zwei Ladungen in Richtung des Magiers.
 

Dieser drehte sich weg und bedeckte schützend sein Gesicht, bis das Gefühl von fallendem Schnee vorbei war. „Also echt!“, empörte er sich und bekam die nächste Ladung genau ins Gesicht. Blinzelnd schüttelte er sich. Weg hier!

Dann lief er los.
 

Mimoun hockte sich hin. Er ließ dem Magier ein wenig Vorsprung, bevor er sich wieder in die Lüfte erhob. So machte ihm das Spiel Spaß. Schalk blitzte in seinen Augen auf, als der Geflügelte im Tiefflug Schnee aufklaubte und ihn über den Magier stäubte, als er sehr dicht an diesem vorbei flog. Es fehlte nicht viel und er hätte ihn tatsächlich gestreift. Da er sich nun vor diesem befand, landete er auf allen Vieren, wendete noch im Rutschen und kaum kam er zum Stehen, lief er auch schon wieder in Dhaômas Richtung.

Begeistert sah der Geflügelte, dass der Magier wie ein Kaninchen die Richtung änderte und erneut vor ihm flüchtete, aber als er wieder nach ihm greifen wollte, war dieser plötzlich weg.

Mit einer Mischung aus Schrecken, Erstaunen und Freude sah er zu, wie Dhaôma abwärts schlitterte. Versuchte dieser echt auf diese Art vor ihm zu flüchten? Nicht dass es helfen würde. Außerdem war es gefährlich.

Wieder stieß sich der Geflügelte ab und folgte dem Magier Richtung Tal, streckte fordernd eine Hand in dessen Richtung aus.
 

Dhaôma ergriff sie ohne nachzudenken. Er hatte nicht einmal um Hilfe rufen müssen, da war Mimoun schon da. Zweimal verlor er das Gleichgewicht, bevor er sie endlich erreichte, aber dann ließ er nicht mehr los. Seine Augen waren wie festgeklebt an dem schlitternden Schnee, während seine Füße sich von ihm lösten.

Dankbar sah er zu seinem Freund auf. Zum Glück war er da gewesen.
 

Erst jetzt begriff Mimoun, dass der Spaß beendet gewesen war. Der Schneeabgang war nicht von Dhaôma geplant gewesen, das zeigte dessen Verhalten deutlich.

Fest hielt der Geflügelte seinen Freund umschlungen und flog noch ein wenig höher, um von dort dem Schnee mit Blicken zu folgen. „Himmel hilf. Was würdest du nur ohne mich machen?“, murmelte er. Er flog zurück zum Höhleneingang und landete auf dem sicheren Platz davor.
 

„In diesem Fall?“ Dhaôma ließ sich auf die Knie sinken und atmete tief durch. „Warten, bis es vorbei ist, mich selbst befreien und notfalls heilen, dann umziehen… Aber das ist es nicht, was du meinst, oder?“ Seine Hände rieben über sein Gesicht. Ihm war die ganze Zeit während Mimouns Abwesenheit nicht das Geringste passiert. Auch davor niemals. Es war erst seit sie zusammen waren. Warum war das so?
 

Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete er seinen Freund, verzichtete aber auf eine Antwort. Nicht, dass er überhaupt mit einer Antwort auf seine Aussage gerechnet hatte.

Seine Finger fuhren über die Kleider des Magiers. Sie waren nass.

„Umziehen ist eine gute Idee.“, bestimmte Mimoun und zog Dhaôma wieder auf die Füße, schob ihn in Richtung Höhleneingang. „Nicht, dass du wieder krank wirst.“
 

„Ja.“, nickte der Braunhaarige und ließ sich schieben. Dann wurde er rot, als ein Gedanke ihn überfiel. „Können… können wir wieder kuscheln? Dann wird mir ganz schnell warm. Vorn Feuer, hinten du?“ Hoffnungsvoll blickte er ihn an.
 

Mimoun lächelte weich. Wenn Dhaôma ihn mit solchen Augen ansah, konnte er ihm nichts abschlagen. Er nickte. „Wir kriegen dich schon wieder warm.“, versprach er und zwängte sich nach seinem Freund durch den Spalt in die Höhle hinein.
 

Schnell war die Glut zu einem ordentlichen Feuer angefacht und Dhaôma verschloss den Spalt der Höhle so weit, dass die Hitze nicht mehr so einfach entweichen, der Rauch aber abziehen konnte. Dann schälte er sich aus den nassen Fellen und dem Leder und hängte es über die Felsen in die Nähe der Flammen, damit sie trocknen konnten. Kichernd hüpfte er zu Mimoun und kuschelte sich an ihn. Mit der freien Hand zog er ein paar der Felle heran und wickelte sie um Mimouns Schultern. „Wo ist dein Hemd?“, wollte er wissen. Der Hanebito war kühl und seine Haut leicht feucht. „Du solltest es aufhängen.“
 

„Öhm.“, erwiderte der Geflügelte sehr intelligent, ging in Gedanken noch einmal die Geschehnisse durch und sah auf den fast verschlossenen Eingang. „Draußen?“ Die Felle empfand er als unnötig, aber er kuschelte sich hinein und zog Dhaôma dichter an sich, bevor dieser irgendetwas sagen konnte. Er sorgte dafür, dass der Magier zwischen seinen Beinen saß und mit dem Rücken an seiner Brust lehnte. Beschützend und wärmend schlang er seine Arme um den Leib des anderen. „Ich hole es später.“, erklärte er. „Erst einmal kümmere ich mich um dich.“
 

Glücklich kuschelte sich Dhaôma tiefer und drückte die Arme vor sich sacht mit seinen Händen, die dank des Feuermachens inzwischen wieder warm waren. „Ganz ehrlich, ich sollte vielleicht auch kämpfen üben. Dass ich so jämmerlich verlieren würde…“
 

Mimoun begann mit seinen Händen über den anderen Körper zu reiben, um mit dem leichten Druck zusätzliche Wärme zu erzeugen. „Versuch beim nächsten Mal am besten mich auf Abstand zu halten. Dann stehen die Chancen anders. Aber wenn du einen Lehrer brauchst, nimm nicht Kaley. Der ist brutal.“
 

„Ai? Du hast ihn schon gefragt?“ Das überraschte Dhaôma. Andererseits war er neugierig. „Was hat er gesagt? Nimmt er dich an?“
 

Mimoun gab ein Schnauben von sich, das genauso gut auch ein unterdrücktes Kichern sein konnte. „Ich dachte, wenn ich sowieso schon eine Rundreise durch unser Territorium mache, kann ich ihn auch gleich mal fragen.“ Seine Hände kamen zur Ruhe und er lehnte seinen Kopf gegen die Schulter des Magiers. „Er wollte überzeugt werden, dass ich es wert bin, überhaupt von ihm trainiert zu werden. Während eines Schneesturms musste ich in einer fast völlig abgedunkelten Höhle gegen ihn kämpfen. Drei Tage Prügel beziehen, hungern und Schlafmangel…“ Nach einer genau bemessenen Pause reckte er triumphierend die Faust in die Höhe. „Aber ich hab ihn… fast. Er hat mich vorgewarnt, dass er nicht ewig warten wird.“
 

In Dhaômas Ohren klang das nicht gerade ermutigend. Prügel und hungern? Das war nicht angenehm. „Dann sollten wir uns wirklich beeilen, damit er dich nicht sitzen lässt.“, murmelte er. „Falls du ihn dann noch willst.“
 

„Hey. Ich hab die Tage durchgestanden, damit ich ihn als Lehrmeister bekomme. Er hat mir mehrfach angeboten aufzugeben. Ich hab jedes Mal abgelehnt. Vielleicht wollte er auch nur wissen, wie ernst mir das mit meiner Bitte war. Wie seine Lehrmethoden sein werden, muss ich erst einmal herausfinden.“, erwiderte Mimoun.
 

„Hmhm.“ Danach schwieg Dhaôma. Hoffentlich hatte er Mimoun mit seiner Idee nicht in Schwierigkeiten gebracht. Seufzend lehnte er sich schließlich gegen ihn und schloss die Augen. Er war erschöpft und die Wärme lullte ihn ein. „Hoffentlich wird es bald Frühling.“
 

„Es dauert sicher nicht mehr lange.“, murmelte Mimoun und begann wieder Dhaôma zu streicheln. Nicht zur Wärmeproduktion sondern einfach nur um der Berührung Willen.

Der Magier erwiderte nichts darauf und sein Atem wurde ruhiger, gleichmäßiger. Mit einem amüsierten Lächeln zog er alle erreichbaren Felle zu sich und stopfte sie so in seinen Rücken, dass er eine gut gepolsterte Stütze hatte, an die er sich sinken ließ. Dabei geriet er leicht in Schräglage, aber das war nicht schlimm. So war es bequemer.

Die Wärme und die entspannte Atmosphäre ließen auch den Geflügelten eindösen. Im Halbschlaf zog er eines der Felle unter sich hervor, um es über Dhaôma zu breiten. Wenn er jetzt schlief, konnte er nicht auf das Feuer achten und dafür sorgen, dass es nicht abbrannte.

Wieder auf den Inseln

Kapitel 32

Wieder auf den Inseln
 

Der Winter verlief ab diesem Tag recht eintönig. Die Kälte nahm noch einmal zu, so dass Dhaôma gezwungen war, in der Höhle zu bleiben, und selbst Mimoun nicht gern hinausgehen wollte. Auch der Schnee kam noch einmal zurück, heftiger denn je, bis sie völlig eingeschneit waren. Zum Glück hatten sie genügend Vorräte, um diese Zeit zu überstehen. Sobald es jedoch möglich war, rannte Dhaôma draußen herum und schmolz einige Flächen frei, um dem Wild, das unter der Schneedecke garantiert nichts mehr fand, den Zugang zu Gras zu ermöglichen. Auch zu sehr eingeschneite Bäume befreite er von ihrer Last, damit sie nicht abbrachen.

Trotzdem war der Winter ziemlich hart gewesen. Als der Schnee endlich taute, konnte man sehen, dass er vieles einfach erdrückt hatte, Bäume wie Tiere. Auch zog er sich nur widerwillig zurück. Die Kälte kehrte noch einmal mit brutaler Härte zurück, bevor der Frühling sich durchsetzen konnte.

Die warme Luft und der unbestechliche Geruch, den der tauende Boden verbreitete, machten Dhaôma kribbelig und hyperaktiv. Wie im letzten Frühjahr auch rannte er draußen herum, ließ Pflanzen wachsen und half den Bäumen beim Treiben. Er drängte darauf, weiterzureisen, endlich den Stillstand hinter sich zu lassen, zu dem er so lange gezwungen worden war.
 

Kaum war auch Mimoun nicht mehr in der Höhle eingeschlossen, zog es ihn in die Lüfte und er durchstreifte in ausgedehnten Flügen das Gebirge. Und immer, wenn sein größter Bewegungsdrang befriedigt war, ließ er sich still in Dhaômas Nähe nieder und beobachtete amüsiert dessen quirliges Verhalten.

Aber er verstand seinen Freund. Der Winter musste eine grausame Jahreszeit sein für jemanden, der Pflanzen so über alles liebte. Die Bewegungslosigkeit und das triste Weiß mussten arg an den Nerven des Magiers gezerrt haben. So fiel es dem Geflügelten auch nicht schwer, dem Drängen Dhaômas nachzugeben.
 

Obwohl es schon Nachmittag war, als sie fertig mit Zusammenpacken waren, bestand Dhaôma darauf zu gehen. Die schweren Sachen ließen sie in der Höhle, die er noch versiegelte, um vielleicht irgendwann zurückkehren zu können.

Der Frühling war noch nicht wirklich weit außerhalb der Lichtung, die Dhaôma bezaubert hatte, und sie kämen niemals voran, wenn er damit anfangen würde, also marschierten sie stramm, nur unterbrochen von gelegentlichen Pausen, in denen Dhaôma eine Blume entdeckte, die er Mimoun unbedingt zeigen musste.
 

Belustigt ließ Mimoun das Ganze über sich ergehen, freute sich sogar mit seinem Freund. Endlich wurde es wieder wärmer. Die Natur erwachte und nichts zwang den Geflügelten noch irgendwo auszuharren. Zwar blieb er stets in Dhaômas Nähe und Sichtweite, doch ließ Mimoun es sich nicht nehmen frühlingshaft warme Winde zu nutzen.

Ihr Weg führte die beiden Freunde in den nächsten Tagen weiter durch das Gebirge, wieder dem Fluss folgend, der ihren Weg bestimmte. Sie mussten vorsichtig sein, konnten sich ihm streckenweise nicht weit nähern, da er durch Schmelzwasser über die Ufer getreten war, aber Dank Mimoun war es nicht schwer, immer wieder zu ihrem Leitfaden zurückzufinden.

Je flacher die Landschaft wurde, durch die sie kamen, desto schneller schritt auch der Frühling voran. Bald begannen auch wieder vermehrt Inseln über ihnen zu schweben. So ließ auch die erste Begegnung dieses Jahres mit Geflügelten nicht lange auf sich warten. Mimoun konnte bei einem morgendlichen Rundflug eine relativ kleine Gruppe von Jägern in der Nähe ausmachen. Aus geringer Höhe ließ er sich neben Dhaôma fallen und zeigte aufgeregt in die entsprechende Richtung.

„Dort sind Geflügelte.“, erklärte er freudig. „Ich würde mich ihnen gern zur Jagd anschließen und mich nach Neuigkeiten umhören, ist das okay?“
 

Warum sollte es nicht okay sein? Sie hatten das doch bisher immer so gehalten, dass Mimoun machen konnte, wozu er Lust hatte. Aber wahrscheinlich war es seine unbeholfene Art ihm mitzuteilen, dass er ihn nicht gern allein ließ.

„Natürlich. Viel Spaß. Du findest mich irgendwo in der Richtung, falls du mich suchst.“ Er deutete mit dem Zeigefinger geradeaus. Eigentlich würde er gerne mitgehen und sie kennen lernen, aber bei einer Jagd war er überflüssig bis hilflos, deshalb war es besser, wenn er Mimoun alleine gehen ließ. Schließlich fügte er mit einem schalkhaften Grinsen an: „Aber jagt nicht aus Versehen mich, ja? Je nachdem wie gut ihr seid, habe ich vielleicht keine Chance, mich zu heilen.“
 

Mimoun lachte herzhaft zurück. „Warst du es nicht, der mal gesagt hatte, ich wäre gut in so was? Und dich fang ich schließlich immer wieder ein, wenn du mal ein wenig zu weit von mir weg bist.“

Ohne auf eine weitere Reaktion Dhaômas zu warten, erhob sich der junge Geflügelte in die Lüfte, strebte der Richtung entgegen, in der er die Jäger entdeckt hatte. Schnell konnte er sie ausfindig machen und landete unweit von ihnen. Sie begrüßten ihn höflich, doch Mimoun spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie wirkten bedrückt. Als er sich dann vorstellte, glitten unsichere Blicke zwischen ihnen hin und her. Leise geflüsterte Worte erklangen, die er nicht ausreichend verstand. Schließlich wagte sich einer von ihnen vor.

„Wie viel weißt du bereits von den Geschehnissen der letzten Wochen?“, wollte der Bursche wissen. Mimouns ratloser Blick war ihnen Antwort genug und was sie ihm nach einigem Zögern berichteten, ließ seine gute Laune und die Lust auf eine gemeinsame Jagd schlagartig schwinden. „Wir sollten…“, begann der Bursche erneut, als Mimoun nach Minuten noch immer wortlos in der Gegend stand.

Völlig in Gedanken versunken, schreckte dieser durch die Worte auf. Er zwang sich zu einem missglückten Lächeln „Ja.“, murmelte er und trat zögerlich einen Schritt zurück. „Eigentlich… hoffte ich, mich eurer Jagd anzuschließen, aber nun gibt es Wichtigeres.“

Ein verständnisvolles Nicken reichte aus und er flog, so schnell ihn seine Flügel trugen, zu der Stelle, an der er seinen Freund zurückgelassen hatte, und folgte seiner Spur.
 

Dhaôma war nach kurzem Lächeln weitergegangen. Bald fand er eine kleine Blume, die er abbrach und mitnahm. In seiner Hand bildete sie Samen und neue Knospen, die wiederum erblühten. Es war ein wenig Kurzweil und lenkte von der Zeitspanne ab, die sie getrennt sein würden.

Es war seltsam, aber da sie einen Großteil des letzten Winters über ununterbrochen zusammen gewesen waren, kam ihm die Zeit, die Mimoun nicht an seiner Seite war, wie eine Ewigkeit vor, als würde etwas fehlen.
 

Es dauerte nicht lange und trotzdem schien es ihm ewig, bis er seinen Freund ausmachen konnte. Nicht gerade sanft ließ er sich vor ihm einfach fallen und nutzte den Schwung, um ein paar Schritte auf ihn zuzugehen. Kaum öffnete er seinen Mund, um etwas zu sagen, da schloss er ihn auch schon wieder. Wie sollte er es ihm denn nun am besten sagen? Darüber hatte er gar nicht nachgedacht. Und so schwieg er erst einmal, das Gesicht von Kummer und Sorge gezeichnet.
 

Der Braunhaarige war mittelmäßig erschrocken, als er seinen Freund so plötzlich wieder sah, obwohl er schon zuvor das unterschwellige Geräusch vernommen hatte, das die Flügel machten, aber die Sorge erschütterte ihn viel mehr. In Sekundenschnelle fielen ihm hundert Möglichkeiten ein, die Mimoun so besorgt machen konnten, und eine davon gefiel ihm gar nicht.

„Ist was mit deiner Mutter?“
 

Mimoun starrte ihn kurz an, bevor sich sein noch immer sorgenvolles Gesicht ein wenig mit tiefer Zuneigung aufhellte. „Ich weiß nicht, wie es ihr momentan geht. Ich hoffe doch, gut.“ Kurz druckste er herum. „Nein. Es ist wegen Addar. Schon als ich Anfang des Winters bei ihnen war, wirkte er leicht angeschlagen. Und nun… Er wurde schon seit Wochen nicht mehr außerhalb seiner Hütte gesehen und Asam sagt immer nur, dass es ihm gut ginge und er sich von den Strapazen des Winters erholen müsse. Aber die Geflügelten glauben ihm nicht. Sie befürchten, dass Addar nicht mehr lange hat.“ Tief seufzte Mimoun auf. Er trat einen Schritt zurück und lehnte sich gegen einen Baum. „Und die Magier. Es kam früher als sonst zu Kämpfen. Mein Volk hatte noch nicht ausreichend Möglichkeiten seine Nahrungsreserven wieder aufzufüllen. Es klang so, als hätte sich unser Jagdgebiet deutlich verkleinert.“
 

War schon bei den ersten Worten Sorge in ihm erwacht, war Dhaôma nun regelrecht entsetzt. „Sie kämpfen?“, fragte er zittrig. „Warum? Es ist doch noch Winter! Und... Sie gehen doch sonst selten auf die Ebenen. Das ist doch unmöglich! Wie sollen wir die Kämpfe denn noch stoppen, wenn sie schon kämpfen?“ Seine Gedanken überschlugen sich vor Angst, was mit den Geflügelten geschehen mochte, sollten die Magier ihre Strategie verändert haben. Oder was mit den Magiern geschehen würde, wenn die Hanebito zurückschlugen. „Warum mussten sie schon anfangen?“ Und das ausgerechnet, wenn es Addar nicht gut ging. Er war es doch, der das letzte bisschen Rationalität darstellte, eine kleine Stimme der Vernunft und...

„Mimoun, bring mich zu Addar! Ich kann der Magier wegen nichts tun, aber vielleicht kann ich wenigstens für ihn etwas tun! Und vielleicht kann er uns einen Rat geben, was wir tun können.“
 

„Es wird Tage dauern, bis wir bei ihm sind.“, wandte Mimoun ein. „Und dann müsste ich dich noch tragen. Unsere Sachen lassen wir einfach in dem Dorf hier in der Nähe, aber du bist kein Fliegengewicht.“ Er lief einige Schritte auf und ab. „Wenn wir unterwegs jemanden finden, der dich streckenweise tragen würde... Kleine Umwege fliegen, gezielt Dörfer anfliegen und sie um Hilfe bitten. Aber dennoch dauert es Tage.“
 

„Was sollen wir sonst tun? Ich kann das doch nicht ignorieren!“ Flehend blickte Dhaôma den Schwarzhaarigen an.

Dann seufzte er. Man hatte ihm schon oft gesagt, dass er zu überstürzt handelte. „Wie es aussieht, bleibt uns keine Zeit, die Drachen zu finden. Vielleicht solltest du mich nach Hause bringen. Auch wenn das Tage dauert, vielleicht kann ich ja doch irgendetwas erreichen.“ Auch wenn das nicht sehr wahrscheinlich war. Als ob sie auf jemanden wie ihn hören würden. „Vielleicht kann ich sie daran hindern, weiter zu kämpfen...“, suggerierte er leise mit hoffnungslosem Tonfall.
 

Mimoun hielt in seinen Schritten inne, sah seinen Freund lange und schweigend an. „Du weißt schon, dass das auch nicht viel kürzer ist? Und außerdem ist Addar da die angenehmere Anlaufstelle.“ Dann begann er zögerlich zu lächeln. Er trat auf Dhaôma zu und streckte seine Hände nach dessen Sachen aus. „Ich schau mal, ob ich jemanden für den ersten Teil der Strecke als Hilfe auftreiben kann.“
 

Dhaôma blickte ihn wortlos an und presste die Lippen aufeinander. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Warum musste seine Rasse eine so unangenehme sein?

„Mimoun?“ Unbewusst hatte er nach seinem Hemd gegriffen und hielt ihn fest. „Ich... Es tut mir Leid. Ich konnte das nicht wissen, sonst hätte ich mir nicht so viel Zeit gelassen.“
 

Mimoun ließ die Sachen achtlos fallen und zog den Jungen an sich, führte mit einer Hand den Kopf so, dass er auf der Schulter des Geflügelten zur Ruhe kam. Er kraulte beruhigend den Nacken, während die andere über den Rücken strich. „Es ist okay. Niemand konnte das voraussehen. Niemand trägt die Schuld hierfür. Du am allerwenigsten.“ Er lehnte sein Kinn gegen Dhaômas Kopf und atmete einmal tief durch. „Sehen wir jetzt einfach zu, dass wir Schadensbegrenzung betreiben, okay?“
 

Schweigend nickte Dhaôma. Es beruhigte ihn, dass Mimoun ihm nicht die Schuld gab. Ob das die anderen auch nicht tun würden, musste er abwarten. Zu oft hatte er unbegründete Anschuldigungen gehört. Wenn sie die Drachen schon gefunden hätten, dann wäre das alles leichter. Wenn er die Hanebito bloß dazu bringen könnte, noch ein wenig zu warten, den Kampf noch ein wenig zu meiden, vielleicht könnten sie dann die verlorene Zeit aufholen, vielleicht würden die Geflügelten dann länger überleben…

Mit einem schwachen Lächeln winkte er Mimoun nach, als dieser losflog, um ihre Sachen zu der Insel hochzubringen. Dann setzte er sich auf den kalten Boden. Nur kurze Zeit darauf sprang er auf und lief ein wenig herum. Seine Gedanken rasten, suchten Möglichkeiten durch, die ihm blieben. Dann wieder blieb er stehen.

„Verdammt!“, brüllte er und ein paar Vögel stoben erschrocken davon. Das brachte sein neues Leben völlig aus den Fugen! „Ich hasse euch! Warum könnt ihr mich nicht einfach leben lassen?! Warum könnt ihr euch nicht einfach benehmen?!“
 

Dem Geflügelten passte es gar nicht, den Magier in dieser Situation allein zu lassen. Zwar hatte er Dhaôma gesagt, dass er keine Schuld hatte, doch ob er es selbst glaubte, war da noch eine andere Sache.

Mit einem raschen Kopfschütteln versuchte er lästige und sorgenvolle Gedanken zu vertreiben und sich auf seine vorliegende Aufgabe zu konzentrieren. Das einfachste dürfte sein, die Jäger wieder aufzuspüren und diese um Hilfe zu bitten.

Am Ende stellte sich das als schwieriger heraus als angenommen. So lange war es doch noch nicht her, seit er sich von ihnen getrennt hatte. Dennoch dauerte es ihm zu lange und er schraubte sich bis zu den Inseln empor und hielt selbst nach dem Dorf Ausschau. Was dann nicht ganz so schwierig wurde, wie anfangs vermutet.

Kaum gelandet, hielt sich Mimoun nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln und Vorstellungen auf, sondern kam ohne Umschweife zu dem Grund seiner Anwesenheit. In möglichst kurzen Sätzen schilderte er ihr Vorhaben und schnell erklärten sich die Dorfbewohner bereit, die Habseligkeiten für die zwei Reisenden zu verstauen, aber da der Winter sich dem Ende zuneigte, wurden alle Hände benötigt. Es war enttäuschend, ließ sich jedoch nicht ändern. Nach einem kurzen Gruß trat er den Rückweg an. Da würde er wohl auf die Heilfähigkeiten seines Magiers vertrauen müssen.

Diesen fand er an der Stelle, an der er ihn zurück gelassen hatte. „Sie verwahren unsere Sachen, anderweitig können sie uns nicht helfen. Trotzdem hoffen sie, dass du es schaffst, und wünschen dir viel Glück.“
 

Das war beruhigend, stellte Dhaôma für sich fest, und zauberte ein kleines, erleichtertes Lächeln auf sein Gesicht. Weich legte er die Arme um seinen Freund. „Dann müssen wir es auch schaffen, nicht wahr?“
 

„Von nichts anderem gehe ich aus.“, erwiderte Mimoun und stieß sich ab.
 

Der Flug wurde hart. Wann immer seine Flügel sie nicht mehr trugen, bestand Mimoun aufs Laufen. Er wollte Dhaômas Kräfte so gut es ging schonen, damit er nicht so wie bei Leoni zusammenbrach. Natürlich ließ es sich nicht immer vermeiden, wollten sie schnell vorwärts kommen.

Wie von Mimoun in Betracht gezogen, flogen sie gezielt Dorf für Dorf an. In einigen ließ sich Hilfe finden, die sie bis zum nächsten unterstützten. Von anderen wurden sie, weil sie sonst nicht helfen konnten, mit Nahrung versorgt. Da auf den Inseln oben noch kältere Temperaturen herrschten, beschränkten sich die Besuche des Magiers auf ein zeitliches Minimum. Geflogen wurde immer in tieferen Luftschichten, doch auch das war für Dhaôma nicht einfach.

Als nach drei Wochen endlich Addars Heimatinsel in Sicht kam, atmeten beide erleichtert auf. Mimoun, momentan ohne Unterstützung und schon gut erschöpft, legte noch einmal an Tempo zu, holte alles an Kraftreserven, die er noch hatte, hervor. Er konnte schon jetzt sagen, dass die Landung wieder einmal nicht gerade weich ausfallen würde. Das würde er in Kauf nehmen.
 

Dhaôma ließ ihn machen. Sie hatten das durchdiskutiert, dass er seine Kräfte für Addar aufsparen sollte und nur dann half, wenn Mimoun ihn darum bat. Dennoch wünschte er sich, er hätte etwas gesagt, denn Mimoun stolperte bei der Landung so hart, dass sie beide auf dem harten, vereisten Stein landeten. Die neugierigen Leute kamen Mimoun zu Hilfe, andere begrüßten ihn. Und Amar fiel ihm jubelnd um den Hals. Natürlich war längst bekannt geworden, dass sie kamen und er hatte lange gewartet und Ausschau nach ihnen gehalten. Jetzt lachte er und flatterte aufgeregt mit den Flügeln, bis er Dhaôma wieder von den Beinen holte. Lachend blieb der Magier liegen.

„Lass mich am Leben, Amar!“, rief er.

Und der Junge hüpfte von ihm runter. „Komm mit! Du musst Seren sehen! Sie ist schon ganz groß geworden und kann krabbeln!“
 

Mimoun spürte zwar die Hände, die ihm hilfsbereit aufhelfen wollten, doch er wischte nur träge mit der Hand in der Luft herum und rollte sich auf die Seite. Er war müde und völlig ausgelaugt. Schlafen war eine gute Möglichkeit, um Kräfte zu regenerieren. Und das würde er tun. Hier und Jetzt. Ohne Wenn und Aber. Da störte noch nicht einmal der Terz, den der Urenkel Addars veranstaltete.
 

Lächelnd ließ sich Dhaôma hochziehen. Ein Blick auf Mimoun reichte, um ihn ruhiger werden zu lassen. „Kann mir einer helfen, ihn in ein Bett zu bringen? Er war wirklich fleißig, da er die ganze Strecke seit dem vorletzten Dorf mit mir geflogen ist.“

Wie selbstverständlich kamen zwei Hanebito und hoben Mimoun hoch, der davon nicht mal aufwachte. Sie folgten dem drängelnden Amar zur Hütte des Ältesten und übergaben den jungen Mann Asam, der sich diebisch darüber freute. Nur dank Dhaôma ließ er Mimoun schlafen. Stattdessen belagerte er ihn.

„Ich bin so froh, dass ihr da seid.“ Er zog den Magier zu seiner Frau, die in dicke Decken eingewickelt gerade das Kind säugte. Strahlend ließ er sich vor ihr in die Hocke gleiten. „Ist sie nicht wunderschön?“

Dhaôma ging das Herz auf. So ein schönes Bild. „Ist sie. Hallo, Leoni.“

„Hallo.“, gab sie warm zurück. „Schön, dass du da bist. Wie geht es dir?“

„Gut.“ Er zögerte. „Gut genug. Es ist kalt hier oben, trotz der warmen Felle.“ Dann lachte er, als sie ihm eine ihrer Decken anbieten wollte und lehnte ab. „Ich will nach Addar sehen. Ich komme später zu euch, ja?“

Sie nickte und schickte ihrem Mann einen warnenden Blick, so dass dieser sich genötigt fühlte, ihn zu führen. Eine Lederhaut weiter traf Dhaôma auf Addar und seine älteste Enkelin, die dabei war, ihn zum Essen zu überreden. Er wehrte sich erfolglos, als der Gast sich neben ihnen niederließ. Nach nur einem belustigtem Blick von dem Heiler begann er zu essen.

„Ihr seht gut aus, Addar.“, meinte Dhaôma leise. „Ich hatte Schlimmeres befürchtet.“

„Ich bin alt, nicht krank.“

„Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass Ihr das Alter nicht so sehr spürt, ist das okay?“

Addar betrachtete ihn. „Wie willst du das machen?“

„Das kommt darauf an, was Euer Leiden hervorruft.“, erwiderte der Braunhaarige und lächelte. „Vielleicht vertreibe ich auch nur die Kälte aus Euren Knochen.“

„Das könntest du viel eher brauchen.“, murrte der Alte, aber er klang nicht wirklich abgeneigt.

„Vielleicht. Aber bei mir ist es eine andere Art von Kälte.“ Er wartete ab, bis Addar einen weiteren Bissen genommen hatte, bevor er fragte: „Wie schlimm ist es? Die Sache mit den Magiern? Und was kann ich tun, um zu helfen?“
 

„Was kann ein Kind tun, um den Streit Erwachsener zu beenden?“, fragte Addar wie zu sich selbst, musterte aber den Magier vor sich. „Gar nichts.“, beantwortete er seine Frage selbst. „Nicht mit den wenigen Möglichkeiten, die sich dir bieten. Bau dir erst eine solide Grundlage und Rückendeckung auf, bevor du dich in diesen Krieg stürzt. Überlege dir deine Schritte genau. Plane voraus. Wäge die Handlungsmöglichkeiten deiner Gegner ab. Mache dich mit ihren Stärken und Schwächen vertraut.“
 

Das war gar nicht so leicht getan, denn wer waren die Gegner? Er wollte keinen Krieg, er wollte keine Gegner. Und er hielt nichts davon, Schwächen auszunutzen. „Aber dann werden weiter Menschen sterben, nicht wahr?“ Er senkte den Kopf. „Aber Ihr habt Recht. Ich kann nichts tun. Meine Magie ist nicht die des Kampfes. Und sie wäre auch zu wenig, um das Kämpfen zu verhindern.“
 

„Würdest du dir denn wünschen, dass sie das ist?“ Erneut zwang er sich einen Bissen runter, denn seine Enkelin ließ ihm da nicht wirklich eine andere Wahl. „Ich finde es gut so. Du wärst nicht hier, all das wäre nicht passiert, wenn es anders wäre. Sei stolz auf dich. Auf das, was du bist, und auf das, was du bisher vollbracht hast. Du hast so viel bewirkt bei uns. Warum sollte es dir nicht auch bei deinesgleichen gelingen? Doch so was braucht Zeit. Überstürze nichts. Versuche nicht, mehrere Probleme gleichzeitig zu lösen. Das verschlimmert manche Situationen nur.“ Erschöpft ließ sich der alte Mann in die Decken zurücksinken. Das viele Reden strengte an.
 

„Ja. Ihr habt Recht.“ Dhaôma ließ sich auf seine Fersen sinken und lächelte. Obwohl er es vorher gewusst hatte, erleichterte es ihn, dass er es einmal hören durfte. Es bestätigte ihn auch.

Janna seufzte tief. „Du solltest lieber essen, Großvater, anstatt so viel kluges Wissen zu erzählen.“ Die Schale auf ihrem Schoß war nicht einmal halb leer. Und was er essen musste: gelagertes Fleisch, das wahrscheinlich schwer zu kauen war, und ein paar trockene Äpfel vom letzten Jahr. Offenbar waren die Jäger nicht sehr erfolgreich gewesen.

„Wenn Ihr erlaubt, werde ich mich jetzt gleich um Euch kümmern. Mimoun hat mir verboten, ihn zu unterstützen, damit ich mich ganz Eurer Probleme widmen kann. Vielleicht fällt es Euch danach leichter, zu essen.“

Mit einem kurzen Nicken stimmte Janna zu und ein scharfer Blick zu ihrem Großvater warnte diesen davor, dieses Angebot abzulehnen.
 

Addar lächelte und nickte. „Er ist ein guter Junge.“
 

Dhaôma stimmte dem stumm zu, während er näher trat. Kurz informierte er Addar Maral darüber, dass er ihn jetzt berühren würde, bevor er seine Finger sanft an dessen Schläfen legte. Die Linien in seinem Gesicht begannen immer wieder schwach zu leuchten, während er seine Finger langsam den Körper entlang nach unten wandern ließ.

Addar war alt geworden. Sein Körper war längst im Verfall begriffen und es gab eine Menge Schäden in seinen Knochen und Gelenken. Auch einige der inneren Organe waren schwach, aber sein Herz kräftig wie eh und je. Er würde etwas tun können, den Verfall aufhalten und rückgängig machen. Und danach würde er der Familie beibringen, wie man altersgerechte Nahrung zubereitete.

„Ich fange an.“, merkte er kurz an, bevor die Linien heller glühten.

Addar hatte das Gefühl, als würden die Finger des Jungen wärmer, dann spürte er die Wirkung dieser unglaublichen Macht. Eine seltsame Hitze in seiner Brust schien seine Lungen zu belüften und plötzlich ging das Atmen leichter. Die eine Hand wanderte zu seinem Bauch und unter das Hemd, bis sie flach auf seiner Haut lag. Auch dort wurde es warm und genießend schloss er die Augen. Was war es, das nun besser funktionierte? Die Mattigkeit der letzten Monate war verschwunden, die unterschwellige Übelkeit gegangen, selbst sein Magen meldete zum ersten Mal seit langer Zeit Hunger an!

Von Dhaôma kam ein leises Seufzen, als er kurz durchatmete. Dann waren die Hände auf seinen Oberschenkeln und auch dort floss diese angenehme Wärme, während er plötzlich wieder etwas in den Füßen spürte. Sie kribbelten, fühlten sich lebendig an.

Dhaôma zog seine Hände zurück. „Ich bin noch nicht fertig, aber Mimoun wird böse werden, wenn ich hier zusammenbreche, deswegen werde ich erst morgen weitermachen, ist das in Ordnung?“
 

„Er ist ein guter Junge.“, merkte der Alte erneut an. „Er macht sich immer zuerst um andere Sorgen.“ Probeweise streckte er seine Beine, zog sie wieder an, streckte sie erneut, bevor er zu strahlen begann. „Das ist großartig!“ Mit Schwung erhob er sich und musste sich kurz an der Wand abstützen. Zu lange hatte er nun schon gesessen. Seine Enkelin war ebenfalls aufgestanden und streckte einen Arm nach ihm aus. Die Sorge stand ihr noch immer ins Gesicht geschrieben.

„Ein wenig Sonne und frische Luft wird mir sicher nicht schaden. Den Rest werde ich draußen essen.“, merkte er an und nahm ihr die Schüssel aus der Hand.
 

„Übertreibt es aber nicht, Addar. Ihr hattet wenig Übung in letzter Zeit.“ Im Grunde war Dhaôma froh, dass er ihm nicht sagen musste, dass er jetzt täglich einige Zeit spazieren gehen sollte. Solange jemand laufen wollte, war alles okay.

Lächelnd erhob auch er sich, während Janna ihrem Großvater hinterher ging. Ihre Stirn hatte sich geglättet, die Sorgenfalte war gegangen.

„Großvater!“, erklang von draußen Asams Stimme. „Du bist ja auf!“

Neugierig folgte nun auch Dhaôma. Er wollte sich die kleine Seren eh ansehen, da konnte er auch das nette Wiedersehen beobachten.
 

„Ja. Dank unserem jungen Freund geht es mir sehr gut.“ Er ließ es zu, als sein Enkel ihn erleichtert umarmte. „Aber nach seinen Worten zu urteilen, hab ich es noch nicht vollständig überstanden.“

Sofort ließ Asam den Älteren wieder los, betrachtete ihn einmal von oben bis unten, was dieser lachend über sich ergehen ließ.

„Ich wollte mich ein wenig in die Sonne setzen und draußen etwas essen. Leistet ihr mir Gesellschaft?“

Asam nickte sofort und wandte sich dann mit einem Ruck zu dem Magier um. Er ließ diesem kaum eine Chance für eine Reaktion und zog ihn in eine heftige Umarmung. „Danke. Du bist einfach der Beste.“, jubelte er ihm ins Ohr, während sich die restlichen Familienmitglieder um Addar sammelten.
 

Dhaôma hatte tatsächlich nicht damit gerechnet, dass Asam so schnell war, deshalb befand er sich ein Mal mehr in dessen schraubstockartigem Griff. Leise ächzte er, doch er konnte ihm nicht böse sein. Dieser Mann war einfach der Inbegriff an einem schmusebedürftigen Wesen.

Irgendwann wurde er losgelassen. „Mit Mimoun hat man da mehr Spaß.“, erklärte der Mann ein wenig enttäuscht. „Er wehrt sich wenigstens.“

Unglücklich lächelte Dhaôma. „Warum? Es ist doch nett gemeint.“

„Trotzdem.“ Die Enttäuschung schlug schnell wieder um. „Los, komm, wir gehen raus, dann kannst du was essen und endlich Seren sehen. Sie kann schon krabbeln, weißt du?“

„Amar hat es erwähnt.“, lachte Dhaôma, ließ sich aber mitziehen.
 

Diesen Einwand überhörte der junge Mann dezent und begann jede Einzelheit aus ihrem Leben, die er für erwähnenswert hielt, bis ins kleinste Detail zu schildern. Das hieß also, alles.

Derweil hatte sich der Rest der Familie bereits nach draußen begeben und ein Fleckchen in der Sonne gesucht. Um Addar auch weiterhin zu schonen, wurde für ihn extra ein Fell draußen ausgebreitet und ein weiteres um seine Schultern gelegt. Es dauerte auch nicht lange, bis sich das ganze Dorf zusammengefunden hatte und sich nach seinem Befinden erkundigte. Schon wenige Minuten später stoben mehrere Geflügelte in alle Himmelsrichtungen davon und trugen die Kunde von der Tat des Magiers und der Genesung Addars in die benachbarten Dörfer, von denen die Nachricht weiterverbreitet werden würde.
 

Es dauerte nicht lange, bis Dhaôma etwas gegessen hatte und dann Seren auf dem Schoß sitzen hatte. Die kleine Hanebito starrte ihn wie hypnotisiert an. Ihre Augen waren blau und ihre Hand klammerte sich um seinen Finger. Neben ihm redete Asam, aber die Worte wuschen nur über ihn hinweg. Sie war interessanter. Und vollkommen gesund.

„Du bist wirklich erstaunlich.“, bemerkte Leoni irgendwann und strich ihrer Tochter über den Kopf. „Sie hat noch nie so lange bei jemandem ausgehalten, ohne zu weinen.“

Janna hatte da eine einfache Erklärung. „Vielleicht kennt sie ihn noch. Immerhin hat er euch beiden geholfen.“

„Das wird es wohl sein.“

Dhaôma kicherte, als sie mit ihrem Sabber kleine Bläschen produzierte. Sie hatte das Interesse an seinem Gesicht verloren, losgelassen hatte sie aber nicht.

„Dhaôma?“ Er sah auf. Amar stand vor ihm. „Spielst du mit mir?“

„Was möchtest du denn spielen?“

Der Junge grinste über das ganze Gesicht. „Ich habe trainiert. Ich werde dich sicher schlagen, diesmal.“

Schlagen? Wobei denn? Aber ihm dämmerte, dass er einmal mit ihm um die Wette gelaufen war. Meinte er das? „Und du glaubst, dass es eine gute Idee ist, das bei vereistem Stein zu machen? Wenn wir dabei ins Rutschen geraten ist keinem geholfen. Und ich kann nicht fliegen, wenn ich über den Rand falle.“

Betroffen sah er ihn an. „Das ist ja doof.“ Er sah ein, dass es bisweilen glatt war.

„Aber wenn du ein oder zwei Tage wartest, dann mache ich das Eis weg und wir können laufen.“

„Das kannst du?“

„Ja.“ Dann zuckte er zusammen, als etwas Warmes an seinem Finger kitzelte. Die kleine Seren nuckelte an ihm. „Hast du Hunger?“

„Nee.“ Amar schüttelte den Kopf. „Die sabbert alles an, was ihr unter die Augen fällt.“

Leoni lachte. „Wenn es dich stört, dann nehme ich sie weg.“

„Es stört mich nicht.“ Dhaôma lächelte und kitzelte die kleine Maus am Bauch. „Du würdest Mimoun auch gefallen. Und ich bin mir sicher, du wirst Amar mal richtig fertig machen.“

„Was meinst du damit?“

„Dass sie sicher eine wundervolle Schwester für dich ist. Glaub mir, du wirst alle Hände voll zu tun haben, sie beschäftigt zu halten. Frag mal Mimoun.“

Er wirkte irritiert. „Spielen wir jetzt?“

„Sicher.“ Er hob Seren von seinem Schoß und gab sie Leoni zurück. Dann erhob er sich und sah Amar abwartend an. „Schneeballschlacht?“

Und keine Minute später hatte Dhaôma die Hälfte der Kinder gegen sich, während er lachend davonlief und auswich. Dafür schlug sich Amar auf seine Seite und irgendwann verschanzten sie sich gegen den Rest. Die Hanebito, die von diesem Magier ja schon einiges gewöhnt waren, beobachteten das fassungslos. Wie hatten sie je denken können, dass dieser Junge gefährlich war? Selbst wenn sie ihn alle auf einmal angriffen, wehrte er sich maximal mit einer Kitzelattacke. Addar hatte wirklich gar nicht übertrieben, als er davon erzählt hatte, dass die Kinder bei diesem Jungen besser aufgehoben waren als bei vielen anderen.

Am Ende waren sie alle nass und kalt und müde. Aber gleichzeitig auch furchtbar glücklich. Amar beschloss, diese Nacht bei Dhaôma und Mimoun zu verbringen, und obwohl seine Mutter ihn daran hindern wollte, hatte sie gegen die beiden keine Chance. Der müde Kleine schlief noch in Dhaômas Armen ein und er versprach, gut auf ihn aufzupassen. Später schlief er an Dhaôma gekuschelt, welcher wiederum Mimoun im Rücken hatte und mit sich völlig zufrieden war. Nie hätte er gedacht, dass er menschliche Gesellschaft so sehr genießen könnte wie heute.
 

Es war angenehm und bequem, als er erwachte. Mimoun wusste nicht, warum sich gerade dieser Eindruck als erstes bei ihm bemerkbar machte, aber da schien etwas gewesen zu sein.

Träge sah der junge Geflügelte sich im Dunkeln um, so gut es ging. Bei den Sichtverhältnissen musste noch Nacht sein. Er konnte einen Körper neben sich ausmachen, von dem etwas Vertrautes ausging. Als er sich über die Person beugte, erkannte er Dhaôma, in dessen Armen ein Kind schlief. Amar, wie der Geflügelte nach kurzer Zeit feststellte. Da fiel ihm auch wieder ein, wo er war und warum seine Muskeln schon bei dem bisschen Bewegung aufbegehrten. Die letzte Etappe war eine ziemlich lange Strecke gewesen. Und die Landung war nicht die beste gewesen - mal wieder.

Während Mimoun sich die letzten Ereignisse ins Bewusstsein rief, spürte er wieder, warum er überhaupt erwacht war. Missmutig ächzte er. Seine Unlust, sich bewegen zu müssen, überwog fast sein Bedürfnis. Dennoch zwang er sich, sich zu erheben und über den Magier hinweg zu kriechen. Auf Händen und Knien, bemüht kein Geräusch zu machen, schlich er sich aus dem Raum. Auch hier war es dunkel. Eine Lederbahn vor dem Eingang verhinderte das Eindringen der winterlich-kalten Winde, ebenso drang auch kein Sternenlicht herein. Vorsichtig erhob er sich und schlich an der Wand entlang, da er nicht bestimmen konnte, ob auch hier jemand lag und atmete erst durch, als er draußen war.

„Ist es nicht noch ein wenig früh zum Aufstehen?“

Mimoun wirbelte erschreckt herum. Auf der vom Mond beschienenen Insel konnte er unweit von sich entfernt Addar ausmachen. Dieser lehnte in Felle gewickelt an der Hauswand. „Sollte ich nicht besser Euch die Frage stellen? Was tut Ihr hier draußen?“ Flink trat er einige Schritte auf den Ältesten zu und kniete sich vor ihn. „Wie fühlt Ihr Euch? Geht es Euch besser?“

Addar nickte. Eine Hand schob sich aus den Decken und klopfte neben sich auf die Erde. „Wo du schon mal wach bist, leiste mir doch ein wenig Gesellschaft.“ Er musste Mimouns unglücklichen Gesichtsausdruck wohl richtig gedeutet haben, denn er lachte verhalten. „Sobald du zurück bist, natürlich.“

Als dieser nach etwa fünf Minuten zurückkehrte, bedurfte es keiner erneuten Einladung Addars, damit der junge Mann sich neben ihn setzte. Da Mimoun nicht wusste, worüber sie reden sollten, schwiegen sie eine Zeit lang.

„Eine schöne Nacht, nicht wahr?“, brach der Älteste schließlich die Stille.

Mimoun, dessen Augen gedankenverloren in die Ferne sahen, richtete seinen Blick nun auf den Himmel. Kaum eine Wolke schob sich zwischen sie und den Mond. „Mhm.“, stimmte er deshalb zu.

„Warum seid ihr zurückgekommen?“

Mimoun fuhr herum. „Das ist doch klar. Es ging Euch schlecht. Und Dhaôma war der einzige, der Euch helfen konnte.“

Addar, dessen Blick bis eben auf dem Jungen gelegen hatte, sah nun ebenfalls zu den Sternen. „Ich bin alt.“, brach er nach einigen Minuten wieder die Stille. „Älter als Geflügelte im Allgemeinen werden. Auch meine Zeit wird bald kommen. Zwar hat der Magier es ein wenig hinausgezögert, doch ich weiß, dass ich nicht mehr lange habe.“ Er hob eine Hand, als Mimoun etwas einwenden wollte. „Ich bin ihm dankbar für seine Hilfe. Sehr sogar. Durch ihn wurden mir noch weitere Wochen und Monate geschenkt, in der ich die Kleine wachsen sehen kann. Dennoch, er muss sich klar darüber werden, was er will.“ Wieder richtete sich der Blick des Alten auf Mimoun. „Du musst ihm helfen. Er sollte seinen Weg zielstrebig gehen, wenn er sein Ziel erreichen will, trotzdem weicht er immer wieder davon ab. Sein Ziel war es, Drachen zu finden und doch kehrt er zurück, um einem alten Narren ein wenig Wärme und Zeit zu schenken.“

„Egal wie sehr er behauptet, Drachen zu finden wäre sein größter Wunsch, ich glaube eher, dass es Frieden ist, nachdem er sich am meisten sehnt.“, wandte Mimoun ein. „Und es macht ihm sehr zu schaffen, dass die Magier bereits so früh mit den Kämpfen begonnen haben.“

Addar kicherte. „Ja. Wenn man das mit den Ohren eines unerfahrenen Jungen hört, klingt das sicher furchtbar.“ Erneut unterband er einen Einwurf Mimouns mit einer Handbewegung. „Der Winter ist noch nicht völlig vorüber und auch sie werden sich noch nicht von den Strapazen erholt haben. Dadurch, dass sie ihre sowieso noch schwachen Kräfte für die Angriffe nutzen, werden sie sich früher oder später ins eigene Fleisch schneiden. Wenn wir nur geduldig sind und ihre hartnäckigsten Angriffe abwehren, sind wir bald in einem strategischen Vorteil. Er braucht sich um uns also erst einmal keine Sorgen zu machen.“

Es beruhigte Mimoun dies zu hören. Auch wenn die Situation sicher nicht halb so harmlos war, wie gerade von Addar geschildert. „Ihr sagtet, Dhaôma hätte einem alten Narren ein wenig Wärme geschenkt.“ Mimoun schnaubte belustigt. „Ob ich dem alten Narren sagen darf, dass er das Geschenk nicht hier draußen in der Kälte vergeuden sollte? Der Magier würde sich nur wieder Sorgen um ihn machen, wenn er davon erführe.“

Es vergingen einige Augenblicke in Stille, bis Addar erst schallend, dann schnell hinter vorgehaltener Hand zu lachen begann. „Ja. Du hast wahrscheinlich Recht. Wir sollten wieder hineingehen und noch ein wenig Schlaf suchen. Ich kann mir vorstellen, dass ihr nicht sehr lange bleiben werdet. Schont euch.“

Der junge Geflügelte nickte und erhob sich. Anschließend half er dem Ältesten auf die Beine. Als er die Lederplane am Eingang für ihn aufhielt, konnte er erkennen, dass niemand im Eingangsbereich lag und so konnte er schnell wieder in den Raum mit Dhaôma huschen. Als die Plane hinter ihm zu glitt, blieb er erst einmal mit angehaltenem Atem stehen, um zu lauschen, ob er jemanden geweckt hatte.
 

„Mimoun?“ Dhaôma sah seinem Schatten entgegen. Er war vor einiger Zeit aufgewacht und hatte seinen Freund und dessen Wärme vermisst. Sein Verstand vermittelte ihm, dass er nur warten brauchte, aber die Zeit wurde irgendwie länger und wäre es draußen nicht so kalt gewesen, hätte er sich sicher auf die Suche gemacht. Aber da er jetzt wieder da war, breitete sich die Ruhe wieder in ihm aus. „Ist alles in Ordnung?“
 

Mit einem Seufzen entließ er die angehaltene Luft aus seinen Lungen. Also hatte er Dhaôma doch geweckt. Dabei hatte er sich doch Mühe gegeben. „Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht wecken.“, flüsterte er, damit wenigstens das Kind in Ruhe weiterschlafen konnte. Er kniete sich vor seinen Freund und zupfte leicht an dessen Haaren herum. „Es ist alles in Ordnung. Schlaf ruhig weiter.“
 

„Kommst du auch?“ Einladend hob der Braunhaarige seine Felle etwas an. „Du riechst nach Winterkälte.“
 

Seine Reaktion war Antwort genug. Rasch schlüpfte er mit unter die Felle und widerstand dem Drang, seine kalten Finger unter Dhaômas Hemd zu schieben. Auch wenn es verlockend war.

Erneut strich er über die Haare seines Freundes. „Wie geht es dir?“, wollte er leise wissen.
 

Vertrauensvoll lehnte sich Dhaôma in das Streicheln. „Ich habe nachgedacht. Dass wir so viel Zeit verlieren, liegt in erster Linie an meinem kindischen Wunsch, es aus eigener Kraft schaffen zu wollen, aber es steht viel zu viel auf dem Spiel, um daran festzuhalten.“ Er drückte seine Nase gegen Mimouns kühle Haut am Hals. Er roch wirklich nach Winter und Schnee. „Vielleicht sollten wir doch fliegen. Selbst wenn wir uns Zeit lassen, dauert es bei weitem nicht so lange, wie wenn ich laufe.“
 

„Warum ist es ein kindischer Wunsch, es alleine schaffen zu wollen?“ Seine Finger begnügten sich nun nicht mehr damit, nur den Kopf zu streicheln, sondern fuhren den ganzen Rücken hinunter und wieder hinauf. Der warme Atem an seinem Hals kitzelte ein wenig, doch er hielt still. „Ich finde es großartig, etwas aus eigener Kraft schaffen zu wollen und andere nicht ständig dafür auszunutzen.“
 

„Aber es gefährdet andere. Und die Wünsche anderer.“ Zum Beispiel Addars, der gerne noch den Frieden erleben würde. Oder Silias, die ihren Bruder bei sich haben wollte. Oder Asams, der Frieden für seine Familie wollte. „Vielleicht wenn die, die mir wichtig sind, in Sicherheit sind. Nein, ich kann ein andermal aus eigener Kraft ans Große Wasser gelangen, jetzt zählt erstmal, dass wir… äh… eine solide Grundlage und Rückendeckung aufbauen.“
 

„Natürlich sind die Wünsche anderer wichtig. Und es ist schön, dass du auf alle Rücksicht nehmen willst. Aber zählen deine Wünsche denn gar nichts?“ Nach kurzem Überlegen kicherte Mimoun. Irgendwie waren sie wieder am Anfang ihrer Diskussionen angelangt. Der Magier sollte sich nicht ständig zurücknehmen. „Okay, okay.“, lenkte er ein, bevor das Ganze wieder ausufern konnte. „Und wie wollen wir uns eine Grundlage und - was? - Rückendeckung aufbauen? Was mich zu der Frage bringt, wie du nun auf so was kommst.“
 

„Addar hat so was gesagt.“, zuckte der braunhaarige Magier mit den Achseln. „Und ich denke, die Rückendeckung und Grundlage sind die Drachen, die uns den Frieden bringen können. Wie in den Legenden: Drachenreiter bringen Frieden. Und wenn ich einer bin, bin ich stark genug, um alle in Sicherheit zu bringen und danach zu tun und zu lassen, was ich will.“
 

Mimoun spürte es, er konnte es dennoch weder vermeiden noch unterdrücken. Er gähnte herzhaft. „Tust du doch jetzt schon. Du suchst Drachen. Du streifst mit einem Geflügelten durch die Welt. Und da lässt du dir von niemandem etwas sagen, oder hab ich da etwas nicht ganz mitbekommen?“ Ein erneutes Gähnen unterbrach ihn. „Außerdem bist du schon stark. Auch so eine Sache, die du dir nicht sagen lassen willst.“
 

„Doch, doch, ich habe es begriffen.“ Dhaôma kicherte. „Und du bist müde und musst jetzt schlafen. Wir reden morgen weiter, ja?“

Er bekam das seltsame Gefühl, dass sich Mimoun gar nicht beeilen wollte. Und dazu zwingen wollte er ihn auch nicht. Aber er verstand es auch nicht. Oder vielleicht doch, denn die Arbeit würde an Mimoun hängen bleiben, wenn sie flogen. Und nachdem sie jetzt so lange gebraucht hatten, um dorthin zu kommen, wo sie jetzt waren, würde es noch mal doppelt so lange dauern, bis sie wieder zum Großen Wasser kamen. Das erste Mal, das er auf einer Insel gewesen war, hatte er es sehen können, aber offenbar waren die Inseln weiter gezogen, hatten ihre Position verändert und nun konnte man es nicht mehr sehen. Er hatte gestern lange danach gesucht - ohne Erfolg.

Vielleicht war er aber auch einfach zu ungeduldig. Wie immer. Aber was hatte Addar dann gemeint, als er sagte, er solle sich eine solide Grundlage schaffen? Wie lange dauerte so was im Allgemeinen? Und was hatte er sonst noch gesagt? ‚Versuche nicht mehrere Probleme gleichzeitig zu lösen. Das verschlimmert manche Situationen nur.’ Was definierte ein Problem? War die Suche nach den Drachen auch ein Problem? Und die Rückkehr zu seiner Familie? Und sein Wunsch, den ganzen Weg alleine zu schaffen? Seine Angst davor, Mimoun zu verlieren?

„Addar ist ein gemeiner Lehrer.“, murmelte er, leise, denn er war schon dabei, wieder einzuschlafen. Mimoun war wie ein Schlaftrunk für ihn. Und kurz bevor er endgültig ins Reich der Träume glitt, kam ihm noch etwas, das von Addar stammte: ‚Lass dir Zeit.’ Aber wie viel Zeit blieb ihm noch, damit er noch etwas von dem retten konnte, das er begehrte?

Das wichtigste Ziel

Kapitel 33

Das wichtigste Ziel
 

Amar war am nächsten Morgen zeitig wach. Und völlig verwirrt. Er lag an einem anderen Ort als sonst. Und der Rücken vor ihm war größer als der seiner Mutter. Und ohne Flügel! „Dhaôma!“, rief er, sprang auf und landete im nächsten Moment halb auf dem Braunhaarigen, halb auf dessen Kuschelpartner. Es gab ein erschrockenes Ächzen, das Amar zum Lachen brachte. „Aufwachen! Je eher du aufwachst, desto mehr können wir heute spielen!“
 

„Du kleiner…“, begann Mimoun, der vor Schreck hochgefahren war. Da streifte man durch die schönsten Träume und dann tauchte so ein Quälgeist auf. „Gib Ruhe. Manche wollen noch schlafen.“, knurrte er und seine Hände schossen flink vor, ergriffen den Jungen um die Hüfte und zogen ihn in eine schraubstockartige Umarmung. Um den Jungen bewegungsunfähig zu halten, nahm er auch seine Beine zu Hilfe.
 

Dhaôma begann nach dem ersten Schreck zu lachen. Jetzt hatte er Ruhe, denn Mimoun würde den Störenfried nicht mehr loslassen, bevor er bereit war, aufzustehen. Dennoch war er jetzt wach. Und es war Frühling! Wie sollte er da liegen bleiben?

„Mimoun.“, säuselte er liebevoll. „Stehen wir auf und gehen schwimmen?“
 

Und da war der Nächste. Den Mund missmutig verzogen, öffnete er ein Auge und schielte zu dem Magier. War das jetzt wirklich sein voller Ernst? Schien so.

„Wage es nicht, wieder krank zu werden.“, verlangte er und entließ seufzend seine zappelnde Beute. „So etwas will ich nicht noch einmal mitmachen müssen.“ Er rollte sich auf den Rücken und zog das Fell bis über beide Ohren. Eigentlich wollte er noch nicht aufstehen.
 

„Deshalb musst du ja mit. Damit ich danach wieder warm werden kann.“

„Du willst schwimmen gehen? Es ist immer noch Eis auf dem See.“, mischte sich Amar ein.

„Durchgehend?“

„Das nicht, aber… Bist du nicht empfindlich?“

„Aber ich muss doch trotzdem ab und zu baden, nicht?“

Der Junge nickte verunsichert. „Kann ich mit?“
 

„Ich soll dich wärmen?“, fragte Mimoun noch einmal nach und lugte misstrauisch unter dem Fell hervor. „Nachdem ich die Temperatur des Wassers angenommen habe? Dir hat es hier oben wohl schon den Kopf vereist.“ Dennoch zwang er sich zum Sitzen. Jetzt war sowieso jede Hoffnung auf Schlaf verloren. Da konnte er auch genauso gut mit nach draußen gehen.
 

„Aber trotzdem bist du warm.“ Dann wandte er sich an Amar. „Und du darfst nur mit, wenn du bei Mimoun bleibst. Ihr könnt beide nicht richtig schwimmen.“
 

Dieser ließ den Jungen gar nicht erst zu Wort kommen. Noch während er sich vollständig erhob, griff er nach dem Handgelenk des Jungen und schwang ihn sich auf den Rücken. „Ich pass schon auf ihn auf.“, versprach der junge Geflügelte und bückte sich. Er klaubte eines der Felle auf, um Dhaôma nach dem Bad darin einzuwickeln und hielt diesem anschließend die Lederplane auf.
 

Dhaôma folgte leise. Noch war niemand wach, deshalb beeilten sie sich, nach draußen zu kommen. Sein Atem bildete weiße Wölkchen, so kalt war die Luft, und der Magier überlegte, ob er wirklich baden sollte, aber es war zu lange her, dass er sauber gewesen war. Deshalb zog er seinen Poncho eng um sich und sie beeilten sich, zum Wasser zu kommen. Kaum waren sie da, zog Dhaôma sich aus, warf seine Kleider einfach auf den Boden. Mit einem breiten, schelmischen Grinsen zu Mimoun hechtete er ins Wasser. Mit einem lauten, unterdrückten Quietschen schoss er wieder heraus, dann lachte er ausgelassen und machte sich auf den Weg zur nächsten Eisscholle. Dieser Weg musste reichen, immerhin musste er noch mal zurück.
 

Mimoun stand nicht der Sinn nach einem Bad. Er blieb am Rand stehen und versuchte einerseits seinen Freund im Blick zu behalten, andererseits darauf zu achten, dass das Kind nicht zu weit hinterher watete. Bald nutzte er seine ganze Aufmerksamkeit für Amar, der schneller als erwartet vom Waten zum Paddeln übergegangen war. Doch er wollte ihm den Spaß nicht nehmen und so entledigte sich auch der junge Geflügelte schließlich seufzend seiner Kleidung und stieg in den See. Kleine, treibende Eisplättchen schob er beinahe sanft aus seiner Laufrichtung, während er dem kleinen Jungen folgte.
 

Dhaôma erreichte unterdessen die Eisscholle. Sein Atem ging schnell und schnaufend, damit er die Kälte in Schach halten konnte, und so schnell es ging, machte er sich auf den Rückweg, tauchte noch ein paar Mal unter, bevor er Amar erreichte.

„Du bist unartig.“, sagte er lachend und trat vor ihm Wasser. „Du hattest doch versprochen, bei Mimoun zu bleiben.“
 

Dieser schüttelte energisch den Kopf. „Er hat versprochen auf mich aufzupassen.“ Dann sah er sich nach Besagtem um, der nicht weit entfernt war. Dicht genug, um jederzeit hilfreich eingreifen zu können. „Außerdem ist er doch bei mir.“
 

„Ja, ja, schon g…gut.“ Kurz klapperten seine Zähne und er wusste, dass er schnell machen sollte, bevor ihn seine Kräfte verließen. „B…bis gleich…ch.“ Und damit machte er sich auf den Weg zum Ufer. „Mimo…Mimoun, du a…auch ganz untert…tauchen.“
 

Mit einem Achselzucken tat dieser, wie ihm befohlen. Nur kurz untertauchen. Und da sich Dhaôma nun auf dem Rückweg befand, griff er sich wieder Amar und trug ihn ebenfalls ans Ufer. Dieser war damit nicht einverstanden, wollte noch ein wenig im Wasser spielen. Diesmal ließ Mimoun ihm nicht seinen Willen. „Du bleibst bei mir, vergessen? Und ich geh jetzt auch raus.“
 

Dhaôma schüttelte sich so schnell er konnte – das hatte er von Mimoun gelernt, dann schlüpfte er in seine Kleider und legte sich das Fell um, das Mimoun ihm mitgebracht hatte. Jetzt zitterte er richtig, aber er war glücklich. Ein wenig ungeduldig wartete er darauf, dass auch die anderen sich wieder angezogen hatten, bevor er Mimoun bittend ansah. Das war wie immer: dieser Blick bedeutete, er wolle kuscheln.
 

Ah. Welpenblick. Mimoun grinste und legte den Kopf schief. „Wirklich hier draußen, wo Wind geht oder doch lieber rein?“, fragte er zwar, trat aber bereits auf den Magier zu und breitete die Arme und Flügel einladend aus.
 

Zufrieden kuschelte sich Dhaôma in die warmen Arme. Ja, Mimoun war noch nass und ein bisschen kühl, aber es dauerte nicht lange, da wurde es warm. Zumal die Flügel den Wind ausschlossen.

Amar sah sich das kritisch an. Er wusste ja, dass diese beiden wirklich eng befreundet waren, aber das sah doch seltsam aus. Als wären sie viel eher Geschwister. Oder wie Asam und Leoni. Aber er sagte nichts, sondern wartete, bis sie sich in Bewegung setzten, um dann mit ihnen zurück zu gehen.

Außer ihnen war nur Leoni wach, die Seren fütterte und ihnen einen guten Morgen wünschte. Die drei Jungen setzten sich zu ihr. „Dhaôma, deine Haare sind eingefroren.“, bemerkte sie besorgt. „Erkälte dich nicht.“

Daraufhin strich der braunhaarige Magier sich mit den Händen über seinen Kopf, taute das Wasser wieder und die Haare waren wieder nass. Jetzt lohnte sich das wenigstens, da sie nicht mehr einfrieren konnten.
 

Kaum hatte Dhaôma seine Haare enteist, griff Mimoun nach dessen Fell und zog es soweit hoch, dass es auch die Haare mit bedeckte. Dann erhob er sich fließend. Es würde nicht mehr lange dauern, bis auch die anderen Hausbewohner erwachten. Und da er nun schon häufiger hier zu Besuch war, wusste er, wo sich die Speisekammer befand. Der junge Geflügelte griff sich Amar, damit dieser ihm half, alles für das Frühstück bereit zu machen.

„Ich will aber, dass Dhaôma das noch mal zeigt.“, protestierte der Junge und sah den Magier mit großen Augen an.

„Dazu müsste er seine Haare wieder einfrieren und das tut ihm nicht gut.“, widersprach Mimoun. Gut. Dhaôma könnte das auch mit einer Schüssel voll Wasser machen, aber das war nicht der Punkt. Der Junge sollte sich nützlich machen.

Leoni protestierte, als ihr klar wurde, dass Mimoun das Frühstück bereiten wollte. „Du bist Gast.“, wies sie ihn darauf hin. „Du musst das nicht machen.“

Dieser grinste sie nur frech an.
 

„Das ist schon okay, Leoni.“, sagte Dhaôma. Er lächelte über ihren Gesichtsausdruck. „Es ist nicht so, als wäre es viel Arbeit und er macht gerne anderen eine Freude.“

Sie bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick, bevor sie Amar dazu anhielt, zu helfen. Dieser wollte zunächst nicht so recht, doch als Dhaôma ihm versprach, dass er das mit Sicherheit noch einmal sehen würde, wenn der rechte Zeitpunkt gekommen war, beeilte er sich, Mimoun zur Hand zu gehen.
 

Auch wenn die Familie Mimouns bei weitem nicht so zahlreich war wie diese hier, dauerte es auch hier nicht so lange, bis alles fertig war. Nun hieß es nur noch zu warten.

Die Zeit, bis es soweit war, vertrieb sich der junge Geflügelte mit dem Baby. Schließlich hatte er sie auch seit einigen Wochen nicht mehr gesehen. Amar wandte sich derweil wieder Dhaôma zu.
 

Um ihn davon abzuhalten, zu laut zu werden, spielte Dhaôma mit ihm ein Fingerspiel. Dabei mussten sie beide ein paar Nüsse in die Hand nehmen und der andere musste raten, wie viele es waren. Amar war gar nicht schlecht bei dem Spiel, zumal er sie danach beinahe alle knackte.

Und dann erschienen die anderen nach und nach auf dem Plan. Zuerst Asam, der besorgt gewesen war, weil seine Frau nicht neben ihm gelegen hatte, als er erwacht war, dann die Kinder des Haushaltes, die sich an dem Spiel beteiligten, diesmal ohne die Nüsse zu knacken. Durch das Kinderlachen wurden schließlich auch die anderen wach, bis alle einträchtig am Tisch saßen. Amar erzählte von seiner Schwimmstunde und Dhaômas Auftauaktion, die anderen planten ihren Tag. Asams Schwestern würden sich der Jagdgruppe anschließen, um Wild aufzuspüren. Jetzt, da es Probleme gab, mussten alle mithelfen. Dhaôma würde noch einmal Addar behandeln und hatte kaum eine andere Möglichkeit, als die Kinder danach wieder zu bespaßen. Kurz gab er Mimoun zu verstehen, dass sie noch einmal reden mussten. Sobald er mit Addars Behandlung fertig war, wollte er wieder zurück zum Fluss. Inzwischen hatte er beschlossen, dass er sich eine weitere Verzögerung nicht leisten konnte.
 

Mimoun entschied für sich, die Jagdgesellschaft zu unterstützen. Dhaôma würde mit dem Ältesten und den Kindern erst einmal beschäftigt sein. Worüber er wohl reden wollte? Vielleicht sollte das erst einmal geklärt werden, bevor er sich den Jägern anschloss.

Mit einem Nicken machte er deutlich, dass er verstanden hatte und deutete mit dem Kopf fragend nach draußen.
 

Dhaômas Antwort bestand darin, dass er seinen Poncho ergriff und aufstand. Mit einem entschuldigenden Nicken in die Runde ging er zum Ausgang und wartete auf Mimoun. Amar, der folgen wollte, wurde von seiner Mutter aufgehalten. Mit ein paar leisen Worten brachte sie ihn zur Raison.

Draußen war es kalt und seine Haare noch nicht wieder ganz trocken, deswegen zog er den Poncho einfach über den Kopf, damit der Wind nicht so in den Ohren pfiff. Den paar mutigen, die um diese Uhrzeit ebenfalls schon draußen waren, nickte er begrüßend zu.

„Addar hat Recht.“, begann er, sobald sie ganz alleine standen. „Egal, was ich mache, wenn ich mehrere Ziele gleichzeitig verfolge, dann bleiben sie alle auf der Strecke. Und ich denke, bevor ich diese Inseln weiter begrüne, muss ich den Frieden dauerhaft erhalten. Vielleicht bekomme ich dann sogar Hilfe. Und den Frieden bekomme ich mit den Drachen. Addar ist vorerst gesund und vor dem nächsten Winter muss ich wieder da sein, damit das auch so bleibt. Ich habe ihm ein Versprechen gegeben, dass er den Frieden noch erleben kann, deshalb…“ Er verstummte. Das war das eine Ziel, das sich einfach nicht nach hinten verschieben ließ. „Ist die Reihenfolge okay? Es würde bedeuten, dass du den ganzen Weg zum Fluss zurückfliegen musst. Und das möglichst schon übermorgen. Länger wird die Heilung nicht mehr dauern.“
 

Übermorgen. Mimoun verschränkte die Arme und dachte nach. Das würde bedeuten, dass er heute mit auf die Jagd gehen könnte. Dann hätten sie auch kleine Rationen für den Weg. Morgen würde er sich komplett schonen müssen. Vielleicht kleine Albernheiten mit den Kindern, obwohl diese ganz schön anstrengend werden konnten. Damit hätte er dann sicher genug Kraft, um die erste Etappe ohne Dhaômas Hilfe schaffen. So konnte sich dieser wieder erholen. Und für die restliche Strecke suchten sie sich entweder Unterstützung oder Dhaôma zauberte ein wenig. Nun musste er sich ja nicht mehr so zurückhalten.

Aber wenn sie wieder an ihrem Ausgangspunkt waren… Es musste einen Weg geben, wie sie einerseits schnell vorwärts kamen, aber andererseits ihr Gepäck vernünftig mit sich führen konnten.

Plötzlich ging ihm auf, dass der Magier ja noch neben ihm stand und auf eine Antwort wartete. Entschuldigend lächelte er. „Kein Problem. Kümmere du dich um seine Heilung. Ich kümmere mich schon um den Rest.“
 

„Mimoun, du siehst besorgt aus. Ist was?“ Der Braunhaarige hatte das Minenspiel seines Freundes beobachtet, jetzt war er unruhig. Drängte er ihn zu sehr? „Hab ich einen Fehler in meinen Gedanken?“
 

Nun legte sich Erstaunen auf die Züge des Geflügelten. Dann lachte er amüsiert. „Es ist alles in Ordnung. Ich überleg mir nur gerade, wie wir das alles schaffen.“ Und dann begann er aufzuzählen, damit sein Freund seinen Gedankengängen folgen konnte. „Heute austoben. Morgen viel ruhen. Übermorgen arbeiten. Und du schonst dich.“, bestimmte er schon einmal vorweg. „Ab dem Tag danach Hilfe anderer Geflügelter in Anspruch nehmen oder auf deine Kräfte zurückgreifen. Damit sollten wir den Rückweg schneller schaffen als den Hinweg. Das Problem ist nur die Zeit danach. Wollen wir so weiter verfahren? Und was wird mit unseren Sachen, die wir in dem Dorf gelassen hatten? Schleppen wir das alles mit?“ Ihm kam ein Gedanke. „Kannst du ein Boot bauen, dass schneller schwimmt als der Baumstamm damals? Wir brauchen ja nun nicht mehr auf Deckung achten.“
 

Das war ein interessanter Gedanke. Nur hatte er keine Ahnung, wie man ein echtes Boot baute. Und für den Fall, dass sie wieder einem Wasserfall begegneten… Das konnte man sicher mit einer kurzen Strecke des Fliegens lösen. „Ich kann es versuchen.“ Er lächelte, denn ihm gefiel der Gedanke immer besser. „Es dauert einige Zeit, aber wenn ich danach immer ein wenig besser mache, was nicht so gut läuft, dann sollte das schon irgendwie funktionieren.“ Und sie würden viel schneller vorankommen, als wenn er lief. Und dann konnten sie es gleich auch auf dem Großen Wasser benutzen. Wenn sie Glück hatten, dann waren sie noch bevor der Sommer starb dort. „Ich könnte dazu noch Paddel machen, dann kann ich dich vielleicht sogar abhängen.“ Es war ein Scherz und das zeigte sein Lachen. „Amar und Haru würde das gefallen!“
 

Wie im Spiel duckte sich Mimoun und spannte seine Flügel weit aus, die Finger zu Klauen gekrümmt. „Versuchs nur. Mir entkommst du ja doch nicht.“ Oh ja. Das würde ein Spaß werden. Sollte er es mal ruhig versuchen.
 

„Nur dass du es weißt, ich werde es versuchen. Außerdem musst du weiterhin Briefbote spielen, nicht wahr? Da hab ich sogar eine reelle Chance.“ Dhaôma streckte ihm die Zunge raus. Es war nicht so, dass er glaubte, gewinnen zu können, aber jetzt würde er es wenigstens versuchen.

Dann fiel ihm noch ein, was er machen wollte. „Bringst du bitte auch Holz mit? Ich wollte doch Janna beibringen, wie man Suppe kocht. Damit das Essen für Addar leichter verdaulich wird.“
 

Kaum war das Gesprächsthema wieder in ernstere Bahnen gerutscht, entspannte Mimoun seine Haltung wieder. „Natürlich.“, nickte er. Dann trat er einen Schritt auf seinen Freund zu und schob seine Hand unter dessen Poncho, befühlte dessen Haare. Noch immer nicht richtig trocken. „Na los. Rein mit dir.“, bestimmte er in sanftem Tonfall und hielt Dhaôma die Lederplane auf. „Oder gibt es noch etwas Wichtiges, das Klärung bedarf?“
 

„Nein. Nicht, dass mir was einfällt.“, grinste dieser. Und damit trat er wieder ein, woraufhin er sich mit einem vor Neugier sterbenden Amar konfrontiert sah. Er wollte ihm nicht sagen, was sie besprochen hatten. Das Kind würde Theater machen.

Während die anderen aufräumten und sich für die Jagd bereitmachten, zog sich Dhaôma mit Addar und Leoni zurück. Es war Zeit. Amar erquengelte sich, dabei sein zu dürfen, denn er wollte soviel wie möglich von der für ihn so faszinierenden Magie miterleben. So wurde es ein wenig eng in dem winzigen Raum. Niemanden störte das. Einmal kam jemand, um sich zu verabschieden, doch weder Dhaôma noch Addar antworteten, denn sie waren in die Heilung vertieft.

Später am Tag spielte der Magier wieder mit den Kindern, die testeten, wie tragfähig das Eis auf dem See noch war, und dann quietschend aufflatterten, wenn es nachgab. Dhaôma war dabei Schiedsrichter, wer am mutigsten war. Dann versuchten sie zu viert, ihn zu tragen, mussten aber bald aufgeben, was in einer obligatorischen Schneeballschlacht endete. Gegen Abend kehrten die Jäger zurück, die tatsächlich erfolgreich gewesen waren. Sie hatten ein paar schöne Steinböcke im nahen Gebirge erjagt. Sie wurden hoch gefeiert, immerhin würde das das Dorf für ein paar Tage satt machen.

Und das nächste Highlight des Tages war das Lagerfeuer vor dem Haus des Ältesten und so lernte das gesamte Dorf, wie man Suppe kochte, denn das Fleisch musste dank der Kälte nicht sofort verarbeitet werden. Mimoun nutzte das Feuer, um für seinen Freund Vorräte zu machen, die sie mitnehmen konnten.

So war es kein Wunder, dass Dhaôma am Ende des Tages sofort einschlief.
 

Am nächsten Tag musste nicht mehr viel gemacht werden. Zusammen mit Janna, Eloyn und Addar sprach Dhaôma Salbenrezepte durch, die er geschrieben hatte, und stellte gewisse Verhaltensregeln auf, die man als alter Mensch zur Erhaltung der Gesundheit durchführen sollte, Mimoun half dabei, die Beute endgültig zu zerlegen und Luftzutrocknen. Danach legte Dhaôma die Insel schnee- und eisfrei, damit er mit Amar seinen Wettlauf machen konnte, was die anderen Kinder begeistert aufnahmen. Selbst einige der Jugendlichen machten mit, begeistert, dass man wieder laufen konnte, ohne seine Krallen in das Eis zu versenken. Dennoch war der geübte Dhaôma schneller. Sie nutzten ihre Beine einfach nicht genug. Nur Mimoun konnte ihm das Wasser reichen, ein Resultat daraus, dass er doch öfter mit dem Magier Schritt hielt.

Und dann mussten sie den Kindern doch sagen, dass sie am nächsten Tag gehen würden. Mit Addar war das abgemacht und so konnte man die Kleinen schnell beruhigen. Aber dafür ertrotzte sich der kleine Amar, dass er bei seinen beiden Spielkameraden schlafen durfte. Schließlich wollte er möglichst viel Zeit mit ihnen auskosten.
 

Mimoun blieb an diesem Abend ein wenig länger auf. Natürlich brauchte er Ruhe und seine Kraft für den nächsten Tag, doch auch er wollte möglichst viel Zeit nutzen. Zeit, die er unter Seinesgleichen verbrachte, Zeit, in der er nicht nur Dhaôma um sich hatte.

Er saß unter dem Kirschbaum, der letztes Jahr von dem Magier wiedererweckt worden war, und beobachtete das Dorf, lauschte auf die Geräusche. Es wirkte alles so friedlich, so fernab des Krieges. Die einzigen Schwierigkeiten, mit denen die Leute hier zu kämpfen hatten, waren die Folgen des Winters.

Ein scharfer Wind fuhr über die Insel und riss ihn aus seinen Gedanken. Es wurde Zeit, dass er sich zur Ruhe begab. In dem Raum schlüpfte er unter die Felle und kuschelte sich an Dhaôma, schlief fast augenblicklich ein.

Die Nacht war kurz und traumlos. Zwar fühlte sich der junge Geflügelte noch nicht komplett ausgeschlafen, doch auch nicht mehr richtig schläfrig. Er wühlte kurz mit seiner Nase durch die Haare seines Freundes und erhob sich leise. Das Kind schlief noch und das sollte nach Möglichkeit noch ein wenig so bleiben. Darum bat er Dhaôma, noch ein wenig liegen zu bleiben.

Auch heute bereitete Mimoun das Frühstück vor und wartete bis sich alle versammelt hatten.

Addar war der Nächste, der aus seinem Raum trat. Kurz huschte sein Blick über die Lederplane, hinter der der Magier lag, und deutete mit einem kurzen Nicken nach draußen, bevor er sich in die entsprechende Richtung bewegte.

„Ihr wollt also heute schon gehen.“, stellte er ruhig fest. Mimoun antwortete nur mit einem Nicken. Was sollte er auch schon groß sagen. Es war beschlossene Tatsache. „Seid vorsichtig. Hier in der Nähe gibt es ein Magierdorf.“ Der Blick des Alten suchte einen Punkt jenseits der Insel, der in der Richtung lag, in die sie wollten. „Ihr solltet ihnen vielleicht nicht zu nahe kommen. Macht einen großen Bogen um sie.“ Nachdem er das gesagt hatte, verschwand Addar ohne ein weiteres Wort wieder in der Hütte.

Mimoun blieb noch einen Augenblick länger. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, aber er konnte nicht sagen, woran es lag. Schließlich trat auch er wieder ein.

Damit Dhaôma wunschgemäß schnell vorwärts kam, verließen die beiden Freunde das Dorf schon kurz nach dem Essen. Sie wurden laut und zahlreich verabschiedet. Viele begleiteten sie noch ein Stück des Weges, doch nicht weit genug, um wirklich als Unterstützung zu dienen. Mimoun war ausgelassen, schlug einige Kapriolen und tobte trotz seines zusätzlichen Gewichtes durch die Luft. Es war egal. Nun konnte Dhaôma ihm ja im Notfall helfen. Nicht, dass er beabsichtigte, es soweit kommen zu lassen. Er drückte seinen Freund fest an sich und ließ sich einige Meter einfach fallen. Vielleicht mochte Dhaôma es als Spiel ansehen, als Übermut, aber insgeheim bezweckte der junge Geflügelte etwas anderes damit. Nahezu unmerklich hatte er seine ursprüngliche Flugroute geändert. Er wollte das Dorf, vor dem Addar ihn gewarnt hatte, umgehen, ohne dass der Magier überhaupt etwas von der Anwesenheit seines Volkes bemerkte. Mimoun wusste nicht, wie dieser da reagieren würde und ehrlich, er wollte es gar nicht erst austesten. Ein wenig fürchtete er sich davor, scheute die Zeit, in der sie bewusst zu den Magiern gehen würden.

Etwas ließ ihn in seinem Spiel innehalten, ein Gefühl, eine unbestimmte Ahnung. Bevor er sich überhaupt richtig bewusst wurde, was los war, wurden sie von einer heftigen Windböe erfasst, die sie wie einen Spielball hin und her schleuderte. Krampfhaft presste Mimoun seinen Freund an sich, um ihn durch den starken Wind nicht zu verlieren, der sie mit sich riss, ohne ihnen eine Chance zu lassen. Der Geflügelte fluchte unterdrückt, während er darum kämpfte, in tiefere Luftschichten zu gelangen. Immer wieder verlor er dabei die Orientierung. Wo war unten? Als er es nach gefühlten Ewigkeiten endlich geschafft hatte, aus der Strömung zu gelangen, blieb ihm nicht mehr die Kraft für eine sorgfältige Orientierung. Die erstbeste kleine Lichtung in dem sich unter ihnen erstreckenden Wald, die ihm auffiel, steuerte er an und ließ sich dort auf die Knie sinken, nachdem er seinen Freund vorsichtig abgesetzt hatte.

„Entschuldige.“, keuchte er atemlos. „Ich hätte besser aufpassen sollen.“
 

„Als ob das deine Schuld wäre.“ Dhaôma schüttelte den Kopf, was sich als großer Fehler herausstellte. Ihm war schwindelig von dem Kreiseln und Kopfstehen. Langsam setzte er sich hin. „Wow. Wie ihr das aushaltet. Echt beneidenswert.“ Er hielt sich den Kopf und ließ sich schließlich hintenüber fallen. Unter ihm schwankte noch immer der Boden, so dass er die Augen kurz zusammenpresste.

Als er sie wieder aufmachte, sah er den Rauch über den kahlen Baumwipfeln aufsteigen. Die Augenbrauen zusammenziehend überbog er den Kopf nach hinten, um besser sehen zu können, bevor er ruckartig herumfuhr und sich hochstemmte. Was war das?
 

Der Geflügelte hatte sich nicht aus seiner knienden Position bewegt und bewusst ruhig ein- und ausgeatmet. Mit geschlossenen Augen wartete er darauf, dass sein rasender Puls wieder langsamer ging. Die Aussage Dhaômas quittierte er nur mit einem müden, kurzen Grinsen. Sein Gehör war das Einzige, was sich noch auf etwas anderes als nur seinen Körper konzentrierte. So war das heftige Rascheln von Kleidung schon sehr verdächtig. Verwundert folgte er dem Blick Dhaômas und runzelte die Stirn. Dieser Rauch. Es musste ein Feuer in der Nähe sein. Schlagartig fiel ihm Addars Aussage wieder ein. Es musste sich um das Magierdorf handeln. Schon wollte er es nun doch ansprechen, wollte den Vorschlag unterbreiten, es zu umgehen, als das Stirnrunzeln tiefer wurde. Der Rauch wirkte nicht, wie von einem einfachen Feuer, so wie er es gewohnt war. Unruhe ergriff ihn, als er sich erhob. Was sollten sie tun?
 

Die gleiche Frage stand Dhaôma quer ins Gesicht geschrieben. Im Grunde gab es für ihn nur eine Möglichkeit: da vorne hatte ein Blitz die Steppe in Brand gesetzt. Die Alternativen: Sommerbrand und Kriegsgeschehen kamen nicht in Frage oder waren ihm zuwider. Aber für einen echten Blitzschlag war es zu viel Rauch. Das dort vorne war großflächiger…

„Mimoun, was ist das da?“ Vielleicht hatte der andere das gesehen. „Meinst du, jemand braucht unsere Hilfe?“ In seinem Bauch war ein seltsames Gefühl dunkler Vorahnung. Er wollte dort nicht hin. Ganz und gar nicht.
 

„Soll ich nachgucken gehen?“, bot Mimoun an. In ihm stritten widerstrebende Gefühle. Wenn dort Magier waren, wollte er ihnen nicht begegnen. Aber wenn dort jemand in Schwierigkeiten steckte, musste man doch helfen.
 

Dhaôma nickte geistesabwesend, doch dann zuckte er zusammen. „Geh da nicht alleine hin.“, sagte er. Das Gefühl in seinem Bauch war zu bedrückend. „Wenn es doch… Nein, nein, falls es ein Dorf ist, dann sind die Bewohner Magier und die würden dich töten, wenn sie dich sehen. Das kann ich nicht zulassen, hörst du?“ Er wandte sich ihm zu und sah ihm beschwörend in die Augen. Besser sie gingen einfach weg. Besser, sie mischten sich nicht ein!

Dennoch sah es so aus, als würde etwas in Flammen stehen. In ungewollten Flammen. „Hat es hier gewittert?“, fragte er leiser, unsicher und wieder in die Richtung sehend, in der der Rauch aufstieg.
 

Die Umgebung war feucht, stellte Mimoun mit einem Blick in die Runde fest. Ob es vom geschmolzenen Schnee stammte oder von einem Gewitter, konnte er nicht bestimmen. Aber von Gefühl her würde er die Frage bejahen. Die Luft fühlte sich danach an.

Unglücklich grinste er. „Ich glaub schon. Aber warst du nicht unser Gewitterspezialist?“, versuchte der Geflügelte die Situation ein wenig zu lockern. Dhaômas Aussage bezüglich der Vorgehensweise der Magier traf seine eigenen Befürchtungen ziemlich genau.
 

„Vielleicht sollte ich hingehen.“, murmelte er. „Mich greifen sie zumindest nicht gleich an.“ Aber große Lust hatte er nicht. Er glaubte zwar auch nicht, dass man ihn hier kannte, aber dennoch war die Ankunft eines Heilers mitten im Nirgendwo schon etwas seltsam, wo man die doch sonst immer in den Städten zusammenpferchte.

Eigentlich wollte er gehen, aber er wusste, spürte, dass wenn er jetzt einfach floh, dass er sich ewig fragen würde, was dort passiert war, und ob er nicht vielleicht hätte helfen können. „Ich möchte da hin.“, sagte er schließlich entschlossen, auch wenn sein Gesicht nicht wirklich von Sicherheit gezeichnet war. Bittend sah er Mimoun an. „Kannst du dich bereithalten, falls ich weglaufen muss?“
 

Unruhig schlugen die Flügel leicht durch die Luft. Eine unbewusste Reaktion auf seinen inneren Kampf. Einerseits war es sicherer, wenn Dhaôma alleine ging. Sollte dort wirklich das Magierdorf liegen, vor dem Addar ihn gewarnt hatte, drohte seinem Freund dort schließlich keine Gefahr. Andererseits bedeutete der Rauch sicher nichts Gutes.

Die Gestalt des Geflügelten straffte sich. Er hatte einen Entschluss gefasst und er lächelte zuversichtlich. „Ich werde mich bereithalten.“
 

„Das ist sehr beruhigend.“, murmelte Dhaôma und mit einem versichernden, aufmunternden Blick zu seinem schwarzhaarigen Freund machte er sich auf den Weg durch den Baumbestand.

Lange musste er nicht laufen. Schon bald lichtete sich das Unterholz und durch die kahlen Stämme wurde das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar: die Häuser waren verbrannt, die Gärten in Asche und Matsch getaucht, Wasser floss in kleinen Rinnsalen über die zerstörten Kieswege, rosa gefärbt von dem Blut der Menschen, die überall herumlagen. Viele davon waren verkohlt und reckten grotesk vereinzelte Glieder in die Luft, andere waren zerrissen und zerfleddert und hingen über umgeworfenen Zäunen oder auf den verbrannten Dächern. Nicht weit vom Wald entfernt konnte der Junge einen zersplitterten Eisblock sehen, aus dem an einigen Stellen Blut tropfte. Die Enden von Flügeln ragten gerade so heraus. Doch die meisten Menschen hier hatten keine Flügel. Es waren Magier. Es gab keinen Zweifel, dass hier ein Kampf getobt hatte.

In Dhaôma erwachte ein schier unerträgliches Gefühl. Es schnürte ihm die Kehle und die Brust zu und er spürte Tränen in seinen Augen brennen, als er wieder zurückwich. „Mimoun!“, wisperte er, doch es kamen kaum Töne hervor.

Warum? Warum gab es immer noch Kämpfe? Konnten sie denn nicht sehen, dass die Erde sich freute, weil der Winter endlich vorbei war? Konnten sie sich nicht mit ihr freuen, dass sie noch am Leben waren? Mussten sie sich wirklich gegenseitig umbringen?

„Mimoun!“ Schon rannen die ersten Tränen, trotzdem konnte er nicht wegsehen. Es war genauso wie damals, als seine Schwester gestorben war. Trotz des schrecklichen Anblicks hatte er den Blick nicht abgewandt.
 

Kaum war der Magier aus seinem Sichtbereich verschwunden, schlich Mimoun ihm hinterher. Zwar besaß er weder sonderlich viel Übung noch Talent für eine derartige Aktion, dennoch schien Dhaôma ihn nicht zu bemerken. Als er ihn schließlich wieder sehen konnte, duckte er sich in das Unterholz und behielt ihn genau im Blick. Aus dieser Entfernung müsste er trotz des lichter werdenden Baumbestandes nicht zu sehen sein.

Misstrauisch beobachtete der junge Geflügelte, wie Dhaôma einige Schritte zurücktaumelte. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht hören, ob jemand etwas zu ihm sagte, ob er etwas sagte. Vorsichtig schob er sich noch wenige Meter weiter nach vorn. Er wollte nicht von einer Flucht überrascht werden, sondern rechtzeitig eingreifen können. Dafür musste er seinen Freund für einen Augenblick aus den Augen lassen. Als er wieder zu dem Magier hinüber sah, bemerkte er das leichte Glimmen, das von ihm ausging und immer mehr an Intensität zu gewinnen schien.

Der Geflügelte ließ alle Vorsicht fahren. Die Flügel dicht an sich gezogen, preschte er durch das Unterholz auf seinen Freund zu. Seine Augen suchten die drohende Gefahr, doch alles was sie erblickten waren Tod und Zerstörung. Seine Geschwindigkeit verringerte sich, bis er langsam neben dem Magier zum Stehen kam. Er hatte bereits einmal in einem Kampf gesteckt, hatte die Menschen um sich herum sterben sehen, aber ein Dorf so komplett ausgelöscht vorzufinden, war etwas anderes. Übelkeit stieg in ihm auf, als der Geruch von verbranntem Fleisch in seine Nase stieg.

Schaudernd wandte er sich ab und Dhaôma zu. Mimoun schloss ihn in die Arme, was diesen nicht daran hinderte, mit Tränen auf das Grauen zu blicken. Sanft schob er seine Hand über dessen Augen.

„Sieh nicht hin.“, flüsterte er. Lauter wagte er es nicht zu reden. Wagte es nicht, das Knistern der letzten Glutreste zu übertönen. Und den Rat, den er seinem Freund gegeben hatte, befolgte er selber nicht. Er ließ seinen Blick über die grausige Szenerie gleiten, nahm den ganzen Schrecken in sich auf, bis er etwas fand, das seine durch Schock zurückgehaltenen eigenen Tränen emporsteigen zu lassen. Dort lag eine Person, völlig verbrannt, zusammengerollt wie ein Fötus. Viel schlimmer jedoch war der kleine tote Leib, nicht ganz so schlimm zugerichtet, den sie in den Armen hielt.
 

Minutenlang ließ sich Dhaôma die Hand auf seinen Augen gefallen, spürte der Wärme nach, die ein lebendiger Körper abgab. Ein Krieg zwischen Magiern und Hanebito. Wenn er daran dachte, dass er Mimoun auch so hätte sehen müssen… Zerfetzt oder wahlweise mit Hass in den Augen auf sich zurasend. Er versteifte sich und zitterte. Was für ein grausamer Gedanke!

„Verfluchte Kämpfe!“, wisperte er und kämpfte sich dann aus der Umarmung. „Lass uns nach Überlebenden suchen. Vielleicht können wir jemanden retten!“

Magierdorf in Flammen

Kapitel 34

Magierdorf in Flammen
 

Zu mehr als einem Nicken war der junge Geflügelte nicht fähig. Widerstandslos hatte er zugelassen, dass sich Dhaôma seinem Griff entwand. Alles in ihm sträubte sich dagegen, tiefer in diese Hölle einzudringen oder auch nur zuzulassen, dass der Magier sich das antat. Dennoch setzte er sich mechanisch in Bewegung. Der Geruch und die damit verbundene Übelkeit verstärkten sich mit jedem Schritt, den er in die Richtung der leblosen Körper tat.

Seine Schritte lenkten ihn wie automatisch als erstes zu der verbrannten Leiche mit dem Kind. Krampfhaft schluckend ließ er sich vor ihnen auf die Knie sinken und strich vorsichtig ein vereinzeltes blondes Löckchen zur Seite, das sich löste und mit einem blutigen Stück Kopfhaut auf die russschwarze Erde fiel.

Innerlich flehte Mimoun darum, seine Hand zurückziehen zu können, aber sie schwebte noch immer bewegungslos über der Haarlocke. Er kämpfte darum, die Übelkeit nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Etwas steifbeinig schaffte er es schlussendlich sich zu erheben und seinen Weg fortzusetzen. Ab jetzt machte er um jede offensichtlich tote Person einen Bogen. Doch bei einigen war es nicht auf den ersten Blick erkenntlich und so blieben ihm noch einige unangenehme Entdeckungen nicht erspart.

In der Mitte des Dorfes blieb er stehen und sah sich um. Niemand, der sich unter freiem Himmel befunden hatte, war noch am Leben. Es bestand nicht mal der Funken einer Hoffnung, dass jemand am Leben sein konnte. Blieb also nur noch die Möglichkeit, die zerstörten Gebäude abzusuchen.

Mit einem tiefen Seufzen machte er sich an die Arbeit. Minutenlang kämpfte er sich über Trümmerstücke, kroch unter umgestürzten und zerborstenen Möbeln herum, zog sich mehr als einen Splitter dabei zu und schürfte sich die Hände auf, während vereinzelte Russbröckchen auf ihn hernieder regneten. Mit einem Arm wischte er sich die Tränen aus den Augen. Sie hinterließen Spuren in dem Ruß, der sich auf seinem Gesicht festgesetzt hatte. Er bemerkte es nicht. Seine geschundene Hand schlug er gegen die Wand neben sich, auch auf die Gefahr hin, dass sie nachgab.

Das konnte nicht sein. Es konnte doch nicht sein, dass ein komplettes Dorf völlig ausgelöscht wurde. Es konnten doch nicht…

Ein leises Wimmern drang an sein Ohr. Sein Kopf ruckte herum und angespannt lauschte er. Es kam nicht aus dem Gebäude, das er gerade untersucht hatte. Vorsichtig, um unnötige Geräusche zu vermeiden, folgte er dem fast unhörbaren Laut. Schließlich blieb er vor einem ihm völlig unbekannten Gebilde stehen. Es sah fast wie ein Haus aus, doch er konnte trotz fast intakter Wände das Innenleben, die darin wuchernden Pflanzen sehen. Vorsichtig berührte er mit seinen Fingern das Material. Kühl und glatt fühlte es sich an und er glaubte sich dunkel daran zu erinnern, dass Dhaôma von so etwas schon einmal gesprochen hatte. Er kam nicht auf den richtigen Begriff.

Wieder schob sich das Wimmern in sein Bewusstsein. Suchend sah er sich um. Die Wand auf der hinteren Seite war eingerissen, ebenso fehlte das Dach. Ohne sich lange mit der Suche nach einer Tür zu machen, erhob er sich in die Lüfte und nutzte das fehlende Dach aus. Der Raum war nicht groß und er sah sofort die junge Frau. Aus ihrem ganzen Körper ragten Splitter dieses durchsichtigen Materials und ihre Kleider waren angesengt. Nun war das Weinen deutlich zu vernehmen.

Als der Geflügelte um die Leiche herum ging, zog er sich einen tiefen Schnitt am Oberarm zu. Einer der Splitter hatte sich in einer Pflanze auf seiner Höhe verfangen und diesen hatte er übersehen. Zu sehr war er mit der Quelle des Geräusches beschäftigt. Halb unter der Frau begraben lag ein kleines Bündel. Ein Bündel, das sich leicht bewegte. Kurz mischte sich Verwunderung in seine Freude. Wie konnte seinesgleichen so nachlässig gewesen sein. Es erklärte sich schnell. Ein Splitter hatte sich durch den Arm der Mutter und in die Decke gebohrt. Das Blut aus der Wunde der Frau ließ es so wirken, als wäre auch das Kind mit aufgespießt worden. Vorsichtig befreite er den Winzling aus der schützenden Umarmung und drückte ihn an sich. Sanft wiegte er das Baby hin und her und murmelte beruhigende Worte. Er zog sich einen weiteren Schnitt am Bein zu, als er durch das zerstörte Dach flog und mehr mit dem kleinen Lebewesen in seinen Armen beschäftigt war als mit gefährlichen Gebäuderändern.

Erschöpft aber glücklich ließ er sich neben dem Gewächshaus auf die Erde sinken und konzentrierte sich voll und ganz darauf, das Kind zu beruhigen. Was ein Wechseln der Windel beinhaltete.

Als das kleine Mädchen sich halbwegs beruhigt hatte, hielt er nach seinem Freund Ausschau. Es würde ihn sicher freuen, die Kleine zu sehen. Doch diesen konnte er nicht entdecken. Und nach ihm rufen, kam nicht infrage. Es wirkte für ihn wie ein Frevel, die Stille dieses Ortes zu stören. Also erhob er sich von seinem Platz und begab sich auf die Suche nach dem Magier. Es vergingen Minuten, bis er ihn schließlich entdeckte.

„Dhaôma.“, begann er leise.
 

Dhaôma hatte den Toten nur einen kurzen Blick geschenkt und ging dann einfach an ihnen vorbei. Er konnte Tod nicht ertragen. Es tat zu sehr weh, wenn ihm vor Augen geführt wurde, wie schnell ein Leben enden konnte. Seine Augen irrten über die Trümmer und blieben auf einer eingestürzten Wand hängen. Dort hatte sich etwas bewegt.

Mit einem leisen Keuchen hastete er zu der Stelle und sah dort einen Mann, der sich zu erheben versuchte. Seine Beine waren beide zerstört. Er würde nicht laufen können, egal, ob er es schaffte, aufzustehen.

Dhaôma war so nervös, dass er beinahe nicht über die niedrige Wand klettern konnte, doch seine Geräusche lösten bei dem Mann Angst aus. „Wer ist da?“, rief er und Dhaôma konnte sehen, dass seine Augen blind waren. Diesen Mann zu heilen würde ihn eine Menge Energie kosten.

„Ich bin Dhaôma und hier, um zu helfen.“

„Ich kenne niemanden mit diesem Namen.“, krächzte er und versuchte, von ihm wegzurutschen.

Dhaôma verhielt im Schritt. Das hatte Mimoun damals auch gemacht. Hatte Angst vor ihm gehabt, weil er sicher war, dass er ihn töten würde. Tief holte er Luft. Was für ein Glück war es für ihn gewesen, diesen Jungen damals zu finden. Wenn er bedachte, dass Mimoun vielleicht gestorben wäre…

„Was ist?“ Der Mann lachte jetzt trocken. „Wirst du mich schnell töten oder wirst du mich qualvoll sterben lassen.“

Seufzend schüttelte der Braunhaarige den Kopf. Krieg war etwas Schreckliches, wenn er bedachte, dass dieser Mann keine anderen Alternativen in Betracht zog. „Wie wäre es, wenn ich dich heile?“, fragte er sanft. „Ich tue dir nichts. Mach dir keine Sorgen.“ Leise trat er näher. „Ich beteilige mich nicht an diesem Krieg.“

Das schmerzverzerrte Gesicht hatte sich misstrauisch bewegt. Dhaôma ignorierte es und ging neben ihm auf die Knie. Er konnte sich glücklich schätzen, dass dieser Mann offenbar nicht einmal mehr genügend Kraft hatte, um sich zu verteidigen. Sanft berührte er die Schulter und lächelte, bemühte sich, ihn nicht weiter zu verängstigen. Trotzdem zuckte der Mann zusammen.

„Ich heile deine Augen, ja? Dann kannst du mich wenigstens sehen.“ Und schon berührten seine Hände die Lider, die schmerzvoll flatterten. Unter seinen Fingern spürte er seine Magie in den Mann fließen, fühlte die zerstörten Bahnen, wie sie heilten, wie sich verbranntes Gewebe regenerierte. Es zehrte jetzt schon sehr viel Kraft auf. Verbrennungen hatte er nie zuvor geheilt, er hätte nie erwartet, dass es so schwer war, komplett zerstörtes Fleisch zu regenerieren. Letztlich nahm er die Hand weg.

Der blonde Mann blinzelte noch zweimal, dann blickte er ihn an. Seine Augen weiteten sich, dann lächelte er. „Dich schickt wirklich der Himmel.“

„Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich wurde von dem Sturm hierher geweht.“

Die blutverkrustete Stirn runzelte sich, doch die Schmerzen überlagerten das Misstrauen. Und in diesem Moment begriff Dhaôma, dass er diesem Mann auf keinen Fall soviel Kraft wiedergeben durfte, dass seine Magie wieder erwachte, denn wenn er Mimoun sehen würde, dann würde er ihn sicher angreifen.

„Dein Name ist Dhaôma?“

„So ist es. Und ich bin mit Mimoun da. Und damit du dich nicht erschreckst, sage ich dir gleich, dass er ein Hanebito ist. Er ist mein Freund.“

Entsetzt fuhr der Mann auf und sank gleich darauf wieder schmerzerfüllt zusammen. „Was soll das heißen? Bist du etwa…?“

„Ich habe diese Stadt nicht angegriffen und er auch nicht. Uns hat der Sturm hierher gebracht und wir haben den Rauch gesehen. Wir sind hier, um zu helfen.“

Seine Worte trafen auf taube Ohren. „Von einem Hanebito kann man so etwas nicht erwarten. Und von dir offenbar auch nicht, wenn du einem von ihnen vertraust. Oder hast du ihn gezähmt? Du bist ein Heiler. Hast du seinen Verstand unterworfen?“

Konnte denn das wahr sein? Glaubte er tatsächlich, dass so etwas auch nur im Rahmen des Denkbaren lag? „Nein! Ich sagte doch, er ist mein Freund.“ Seine Wut beiseite schiebend legte der Braunhaarige die Hände auf die kaputten Beine und begann sie zu heilen, nachdem er die Knochen geradegerichtet hatte. Es war noch mehr in diesem Körper kaputt, aber er konnte nicht alles heilen, wenn er nicht ohnmächtig werden wollte.

„Wie kann man mit einem Hanebito befreundet sein?“, keuchte der Mann. „Sie sind schreckliche Wesen. Grausam, blutrünstig und bestialisch. Sie greifen uns an und rauben unser Vieh, töten sogar Kinder!“

„Die, die ich kenne, töten keine Menschen.“, antwortete Dhaôma ruhig und zog letztlich seine Hände zurück. „Kannst du jetzt aufstehen? Ich kann nicht mehr für dich tun, denn meine Kräfte sind bei weitem noch nicht stark genug.“

Er sah ihn zweifelnd an, dann stand er auf. Es kostete ihn sichtlich Mühe und er schwankte fürchterlich, aber es ging, wenn er sich festhielt. „Vielen Dank.“

„Kennst du den Weg in eine Stadt?“

„Ja. Aber was macht ein Heiler in der Wildnis, noch dazu bei einem Wilden?“

Gnädig überging Dhaôma die Beleidigung seines Freundes. „Ich suche einen Weg, den Krieg zu beenden.“ Fragend hielt er ihm den Wasserschlauch hin und dankbar nahm der Mann an. Gierig trank er. „Erzähle mir, was hier passiert ist.“, forderte er schließlich, als der Schlauch leer war.

Und der Mann erzählte. Es hatte dieses Gewitter gegeben, dann war eine Feuerwand über das Dorf gejagt. Wahrscheinlich hatte irgendeiner der Magier seine Feuermagie entwickelt, was immer in einer mittleren Katastrophe endete. Und nachdem man die Brände einigermaßen wieder unter Kontrolle gebracht hatte, waren die Hanebito gekommen und hatten angegriffen. Kaum einer hatte noch genügend Magie, um sie wirklich abzuwehren. Und dann hatte es eine zweite Feuerwelle gegeben, die das Dorf endgültig zerstört hatte und ihm sein Augenlicht genommen hatte. Zum Glück hatten die Hanebito ihn nur verletzt, denn er hatte sich tot gestellt.

Dhaôma lauschte schweigend. Also hatten zwei Magier an diesem Tag die Feuermagie gelernt. Das war Pech. Oder eine Kettenreaktion. Er hatte schon gehört, dass ein Magier als Reaktion auf die Angst vor dem Feuer oder Wasser die gleiche Magie entwickelte, um sich zu schützen. „Draußen sind alle verbrannt oder anderweitig gestorben.“, sagte er schließlich. „Ich kann dich nicht in die nächste Stadt bringen, deswegen musst du es selbst schaffen.“

„Ein Heiler sollte nicht herumstreunen. Komm mit. Du kannst uns gute Dienste leisten.“

Ein Schauder lief über seinen Rücken, als er die Worte vernahm, vertrieb aber nicht das Lächeln. „Ich komme nicht mit. Ich halte nichts von dem Krieg.“

„Dann kämpfe gegen die Hanebito, dann ist er schneller vorbei.“

„Ich sagte doch schon, dass ich sie mag.“

Der Mann sah wütend aus. „Wie kann das sein?“

Und Dhaôma begriff, dass er hier auf taube Ohren stieß. Das war keine Frage von Verständnis, sondern eine Frage von Ethik. Er wollte sie hassen, also hasste er sie. Er wollte nicht hinter das Erscheinungsbild in ihr Herz sehen, er wollte nur die schrecklichen Klauen und die bösen Augen sehen. Er konnte nicht verstehen, warum jemand mit ihnen befreundet war. Bei Mimoun war es am Anfang ganz genauso gewesen, aber dennoch irgendwie anders. Warum hatte er bei diesem Mann das Gefühl, dass er es niemals verstehen würde?

„Dhaôma.“, kam es von der zerstörten Wand und schon an den sich weitenden Augen des Mannes wusste er, dass Mimoun sich offen zeigte. Er drehte sich um und begann unwillkürlich zu lächeln. Mimoun hatte ein Baby im Arm. Ein kleines, blondes Kind. So ein herziges Bild. Wäre da nicht das Blut. War das Kind in Ordnung? War Mimoun in Ordnung?

„Mimoun. Braucht es Hilfe?“ Er wollte zu ihm gehen, doch er wurde festgehalten. Als er sich umdrehte, sah er den Hass in den Augen, die er gerade geheilt hatte.

„Bleib weg von ihm, Heiler! Er wird dich töten!“

„Nein!“ Unwirsch wischte Dhaôma die Hand beiseite. „Ich sagte doch, dass er mein Freund ist. Und vielleicht braucht das Kind Hilfe!“

„Es ist eh verloren!“ Und er griff wieder nach seinem Arm. „Wahrscheinlich ist es längst tot!“

„Jetzt reicht es aber! Lass mich los! Ich entscheide selbst über mein Leben, also misch dich nicht ein!“ Er schlug die Hand weg und wich zurück, Wut in seinem Gesicht. „Es ist immer das gleiche mit euch! Warum könnt ihr nicht verstehen, dass ich keine Marionette bin?“
 

Erschrocken weiteten sich Mimouns Augen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass noch ein erwachsener Magier am Leben sein könnte. Bei dem Baby war es ja schon fast ein Wunder gewesen. Mit Schrecken erkannte er, dass Dhaôma ihn geheilt haben musste.

Um den Mann nicht weiter zu verängstigen, rührte er sich nicht von der Stelle, aber es half nichts. Dieser Kerl versuchte Dhaôma daran zu hindern, zu dem Geflügelten zu gelangen und das sogar mehrfach. Er hörte auch nicht auf die Worte und Beteuerungen des Jungen. Unwillkürlich fing er an zu knurren, presste jedoch schnell die Lippen zusammen. Er wollte die Situation nicht noch weiter verschärfen.

„Sie ist unverletzt.“, erklärte er schnell. Unwillkürlich fragte er sich, was er in seinem geschundenen Zustand für einen Eindruck hinterlassen musste. Den Mann behielt er aufmerksam im Auge. „Nur ein wenig hungrig, fürchte ich.“
 

Nach einem letzten wütenden Blick zu dem Mann ging Dhaôma zu ihm und ließ sich das kleine Geschöpf aushändigen. Tatsächlich, ein Mädchen. Und wie hübsch. Blond war sie und hatte grünblaue Augen. Einzig die Blutspuren und der Dreck störten den Eindruck und ihr definitiv unglückliches Gesichtchen. Sie starrte ihn an, als wolle sie weinen. Wahrscheinlich hatte sie das schon ausgiebig getan.

Weich tastete er über ihren Körper, die Zeichen in seinem Gesicht leuchteten auf. Sie war unverletzt. Bis auf ein paar kleinere blaue Flecken, die er heilte. „Na, hast du Hunger?“

Sie quäkte und er ließ sie sanft wippen, wie er das bei Leoni gesehen hatte, und sie verstummte wieder.

Der Stein kam unerwartet für ihn.
 

Dhaôma mit Kindern zu beobachten, war immer wieder ein schöner Anblick und so ließ sich Mimoun nur einen Augenblick ablenken. Diesen hatte der Mann genutzt, um den Stein zu schmeißen. So sah der Geflügelte nur aus dem Augenwinkel den kleinen Gegenstand, der auf sie zuflog und hob reflexartig den Arm. Fangen konnte er den Stein nicht, aber immerhin verhinderte er, dass Dhaôma oder das Baby getroffen werden konnten.

Tief in sich wusste Mimoun, dass das, was er tat, nicht gut enden konnte, sein Körper reagierte jedoch schneller als sein Verstand. Wütend knurrend und mit weit ausgebreiteten Schwingen stürzte er auf den Mann zu und warf ihn in den Ruß und Dreck. Die Krallen des Geflügelten schlossen sich gefährlich eng um den Hals des Magiers.

„Hängst du wirklich so wenig an deinem Leben, Magier?“ Seine Stimme war nur ein dunkles Grollen.
 

„Mimoun!“, schrie Dhaôma und fuhr entsetzt herum. Das Kind fing an zu weinen, als er versuchte, zu seinem Freund zu kommen. Die Mauer war im Weg. „Lass das bleiben!“ Und dann wesentlich ruhiger. „Bitte. Tu ihm nichts. Das ist nicht das, weshalb wir hier sind.“ Aber weil er wusste, dass der andere angefangen hatte, seufzte er. „Hast du sonst noch jemanden gefunden, der meiner Hilfe bedarf? Ansonsten gehen wir eben. Ich will nicht, dass du diesem Hass ausgesetzt bist.“ Den Mann unter Mimoun ignorierte er bewusst.
 

Langsam schlossen sich die Finger enger um den Hals des Mannes. Dieser wand sich unter seinem Griff, doch der Geflügelte wies momentan die größeren Kraftreserven auf. Als der Mann kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren, löste Mimoun seine Finger wieder. Dafür schlug er mit Kraft seine Faust gegen das Brustbein des unter ihm Liegenden. Zufrieden sah er, wie dieser sich zusammenkrümmte und zu röcheln begann.

„Punkt eins. Wage es nie wieder die anzugreifen, die mir wichtig sind. Es bekommt dir nicht.“, begann der Geflügelte. „Punkt zwei. Du solltest besser hier liegen bleiben, bis wir wieder verschwunden sind, sonst kann ich nicht garantieren, dass Dhaôma mich wieder bremsen kann.“ Nun endlich erhob er sich und nach einem letzten abschätzigen Blick wandte er sich völlig seinem Freund und dem Liegenden den Rücken zu.
 

Dieser sah ihn unglücklich an. Das Kind schrie, dennoch beachtete er es nicht. Er war enttäuscht und traurig. Ja, er wusste, dass die Mauer aus Hass zu dick war, als dass Mimoun die Konsequenzen sehen konnte, aber dennoch hätte er sich gewünscht, er hätte wenigstens seine Worte nicht lügen gestraft.

Die Lippen zusammenpressend wandte er sich schließlich ab, kümmerte sich um das Mädchen in seinen Armen, beruhigte es mit leichten, wippenden Bewegungen und leisen Worten, bis es zu schreien aufhörte, was ziemlich lange dauerte. Es hatte sich wohl wirklich erschreckt.

„Was machen wir bloß mit dir?“, murmelte er leise und strich ein paar blonde Fusseln zurück. Ihr Haar war so weich, dass er es kaum fühlen konnte. „Dich bei diesem Mann zu lassen ist sicher keine Alternative und alleine kannst du noch nicht leben.“
 

Ein scharfer Stich ließ ihn zusammenzucken, als er das Gesicht Dhaômas erblickte. Er wusste, dass er ihn enttäuscht hatte und dennoch... Mit Worten war diesem Mann im Moment nicht beizukommen.

Mit verzweifeltem Blick hob er eine Hand, ließ sie wieder sinken, da der junge Magier sich dem Winzling auf seinem Arm zugewandt hatte. Unruhig kaute er auf seiner Unterlippe herum, als er näher heran trat. „Ich hatte nie vor ihn zu töten.“, flüsterte er leise. „Ich wollte nur…“ Unglücklich brach er ab.
 

„Ich weiß das.“ Dhaôma schickte ihm einen Blick, der besagte, dass es das nicht besser machte. „Aber er wusste es nicht. Du hast gedroht, ihn zu töten! Du hast ihn sogar geschlagen!“ Er wurde unbewusst lauter. „Dabei hatte ich ihm gesagt, dass meine Freunde das nicht machen würden!“
 

Davon hatte er nichts gewusst, es nicht mitbekommen. Wäre es anders, hätte er vielleicht anders reagiert, doch nun ließ es sich nicht mehr rückgängig machen.

Gequält ließ er Schultern und Kopf sinken. Mimoun wollte nicht, dass sein Freund mit ihm böse war. Das würde nur wieder zu schmerzhaften Missverständnissen kommen. „Es tut mir Leid.“, hauchte er fast unhörbar.
 

„Du hast keine Ahnung.“ In Dhaôma begann sich Mitleid zu rühren, aber die Wut war auch noch da. „Dieser Mann war zu schwach, um zu kämpfen. Er war sogar zu schwach, um Magie zu wirken. Er hätte sich mit dir auseinandersetzen müssen, ob er wollte oder nicht. Vielleicht hätte er gesehen, dass eben nicht alle Hanebito böse sind, aber jetzt wird er in die Stadt gehen und denen erzählen, was er erlebt hat. Und es wird nicht sein, dass ein Hanebito ihm geholfen hat, sondern dass ein Magier auf der Seite der Hanebito steht. Er wird ihnen sagen, dass es ein Heiler ist und wie viele Heiler sind schon verschwunden ohne eine Nachricht oder einen Kampf.“ Er seufzte. Wenn er Pech hatte, würde seine Familie dann wissen, dass er es war und das wäre gar nicht gut, denn wie sollte er mit jemandem reden, der ihn schon von vornherein für einen Verräter hielt.
 

Erneut begann sich Übelkeit in dem Geflügelten zu regen, diesmal aus Furcht. Hatte er seinem Freund etwa durch diese unüberlegte Tat jede Hoffnung auf Frieden verwehrt? Mimoun taumelte und biss sich auf die Unterlippe, bis sie blutete, nur um halbwegs klar zu bleiben. Er stützte sich an der Wand ab. Seine Augen waren vor Entsetzen geweitet, als er an Dhaôma vorbei ins Freie stolperte. Innerhalb der verfallenen Hütte war es ihm mit einem Mal zu eng geworden. Er musste raus, weg. Er brauchte Luft. Nach wenigen Schritten blieb er wieder stehen. Nein. Er konnte nicht weg. Er konnte seinen Freund doch jetzt nicht allein lassen. Was, wenn der Mann sich für die Tat des Geflügelten an Dhaôma rächen wollen würde? Dennoch blieb er nun auf Abstand zu der Hütte, hockte sich etwas entfernt davon in den Staub.
 

Dhaôma sah ihm nach, dann zu dem Mann, der noch immer schwer atmete. Das mindeste, das er tun konnte, war, die Schmerzen zu lindern. Doch als er näher kam, fauchte ihn der Magier an, er solle ihn nicht berühren. „Du bist verflucht! Ich will mich nicht anstecken!“

Der Braunhaarige betrachtete ihn mit einem Gefühl hilfloser Verzweiflung, bevor er sich umdrehte und ging. Seine Schultern waren fest gespannt und sein Bauch hart vor Unwohlsein. In seinem Kopf begann sich ein gemeiner Druck auszubreiten. Diese Rettungsaktion war gar nicht gut gelaufen.

„Wenigstens bist du in Sicherheit.“, sagte er zu der Kleinen. „Dabei wissen wir nicht einmal deinen Namen.“ Und den Mann wollte er nicht fragen. Wahrscheinlich war auch sie in seinen Augen verflucht, nur weil sie ihn und Mimoun berührt hatte.

Sie gurrte und begann an seinem Poncho zu saugen, sabberte ihn an. Weich streichelte er sie und sah dann erneut zu Mimoun hinüber. Was sollte er bloß tun? Wenn dieser Hanebito jedes Mal ausrastete, wenn man ihm einen Stein hinterher warf, dann würden sie niemals Frieden finden. Was war schon ein Stein? Er konnte die Wunde schließlich heilen. Und man konnte doch nicht jede Ungerechtigkeit mit gleicher Münze zurückzahlen! Dann fing man sich in dem gleichen Teufelskreis, in dem sich dieser Krieg gefangen hatte! Er sollte mit ihm reden, aber nicht hier. Später. Wenn mehr Ruhe herrschte, wenn alles gesackt war.

Langsam trat er zu ihm. „Wollen wir von hier verschwinden? Es riecht nach Tod.“ Dann hielt er inne. „Oder…“ Doch er wagte es nicht, diesen Gedanken auszusprechen, denn seine Kehle wurde sofort so eng, dass er kaum atmen konnte. Würde Mimoun ihn wegschicken, weil er ihn gescholten hatte?
 

Die wenigen Minuten hatte der Geflügelte genutzt, mehrfach tief ein und aus zu atmen. Das Wissen, Dhaômas Wunsch, den er ihm erfüllen wollte, sabotiert zu haben, nagte noch immer schmerzhaft an ihm. Immerhin war er nun ein wenig ruhiger. Sie fanden sicher eine Möglichkeit, das Ganze wieder in die richtigen Bahnen zu lenken.

Als die Schritte näher kamen, sah er auf. Er wagte es nicht, vorsichtig zu lächeln, fürchtete, dass Dhaôma es in seiner Wut falsch verstehen würde. Er hörte die Frage und… „Was oder?“, hakte er zögerlich nach. Irgendwie wollte er die Antwort gar nicht wissen. Langsam erhob er sich und klopfte sich den Dreck so gut es ging von der Hose.
 

„Nein, später.“, entschied der Magier, bevor er zu ihm ging und seine Hand sachte über die bloße Schulter gleiten ließ. Der Schnitt dort zog sich zurück und schloss sich. „Lass uns einfach gehen.“
 

Seine Finger glitten ebenfalls kurz über die Stelle, die der Magier eben berührt hatte. Es fürs Erste auf sich beruhen lassen, war vielleicht keine so gute Idee. Je länger sie warteten, desto länger schwelten negative Gefühle wie Kummer und Wut in ihnen. Aber das hier war auch kein geeigneter Ort für eine derartige Unterhaltung.

„Halt Winzling gut fest.“, wies er darum an und schlang seine Arme um Dhaômas Hüften. Besser sie verließen diesen unwirtlichen Ort so schnell es ging. Sein Blick glitt kurz über die Hütte, in der sich der Mann befand, und der Geflügelte stieß sich kraftvoll ab. Die Richtung, in die er flog, war ihm egal. Sie mussten erst einmal einfach nur weg.
 

Der Flug war ungewöhnlich ruppig, aber das mochte an dem zusätzlichen Gewicht liegen. Die Kleine hatte sich schnell beruhigt, nun starrte sie mit offenen Augen nach unten. Wahrscheinlich war das ein neues Gefühl für sie.
 

Mimoun suchte die Ebene auf. Sie war Geflügeltenterritorium und daher sicher. Sanft setzte er seinen Freund ab und trat einen Schritt zurück, sah diesen unsicher an.
 

Nach dem Landen, ließ sich Dhaôma zu Boden sinken und setzte sie ab. Wie erstarrt blieb sie sitzen. Immerhin konnte sie aufrecht sitzen bleiben und fiel nicht um. Was sollten sie jetzt mit diesem Kind machen? Es in eine Magierstadt bringen? Aber das war zu gefährlich für Mimoun. Und offensichtlich auch für die Magier, wenn er bedachte, wie der Hanebito sich verhalten hatte. Was für ein Dilemma.

Seufzend wandte er sich ab und an Mimoun. „Hast du Hunger?“, fragte er.
 

Ein leises Seufzen drang über seine Lippen, als er kurz über diese Frage nachdachte. Es war eigentlich nicht das, was er nun erwartet hatte.

Durch seinen Geist streiften wieder die Bilder verbrannter Menschen und sein Gesicht verzog sich. Er würde wohl eine Weile brauchen, um Dhaôma wieder beim Essen machen zuzusehen. Zögerlich schüttelte er den Kopf. „Nein.“
 

Das war schade, denn so hätte er etwas machen können, um die seltsame Stimmung zwischen ihnen zu lockern. Es war so seltsam. Zwischen ihnen schien eine starre, hohe Mauer zu stehen. Wieder sah er zu dem Kind, das sich immer noch nicht bewegt hatte, nur seine Augen wirkten kleiner. Sein Blick wanderte in die Richtung, aus der sie kamen, dann in die, wo er den Großen Fluss vermutete.

„Was machen wir jetzt?“, wollte er wissen. Seine Finger fühlten sich kribbelig an, als wären sie eingeschlafen, in seinem Bauch herrschte Aufruhr. Was war das?
 

„Ich weiß es nicht.“, gestand der Geflügelte leise. Ihm waren Dhaômas Blicke nicht entgangen. Er ging auf das Kind zu und hockte sich davor. Seine Hand legte er sanft auf ihren Kopf. „Wir müssen erst einmal entscheiden, was wir mit ihr machen. Weder können wir sie hier lassen, noch können wir sie mitnehmen.“ Der Geflügelte sah Dhaôma direkt an. „Hat er gesagt, ob es hier irgendwo noch weitere Magier gibt? Irgendeinen Platz, zu dem wir sie bringen können?“
 

„Es soll eine Stadt geben, die er erreichen kann, aber ich weiß nicht, wo die liegt.“ Wieder verstummte er, denn in ihm sträubte sich alles, dieses Kind in die Obhut dieser Menschen zu geben, denn wenn dieser Mann dort eintraf und sie erkannte, brachte er sie vielleicht um, weil sie ‚verflucht’ war. Und das alles nur, weil sie von einem Hanebito auf dem Arm gehalten worden war. Vielleicht konnten sie sie ja doch mitnehmen. „Was essen Babys in dem Alter eigentlich? Suppe? Brei?“
 

Zweifelnd betrachtete Mimoun das kleine Geschöpf. „Ich hab noch keins gehabt. Und ich kann nicht einschätzen wie alt sie ist. Bekommt sie noch Milch, wurde mit der Umgewöhnung schon begonnen, ist sie komplett umgestellt. Ich weiß es nicht.“ Der Geflügelte erhob sich wieder, hob dabei auch das Baby hoch. Wer konnte schon sagen, ob es ihr gut tat, wenn sie auf nasser, kalter Erde saß. „Und ich weiß auch nicht, ob wir ihr nicht damit schaden, wenn wir es einfach ausprobieren.“
 

„Vielleicht können wir Leoni fragen.“, schlug Dhaôma halbherzig vor. „Immerhin hat sie auch so einen Krümel. Und dann, wenn wir ein bisschen weiter gezogen sind, suchen wir für sie eine Familie, so dass dieser Mann sie nicht erreichen kann.“
 

Genauso halbherzig nickte der junge Geflügelte. Zwar war die Kleine gerade ihr vorrangigstes Problem, aber es gab andere Sachen, die ihm im Kopf herum schwirrten. Besonders eine Frage drängte sich ihm immer wieder ins Bewusstsein, doch etwas in ihm scheute sich davor, diese laut zu stellen. Vielleicht würde er das heraufbeschwören, was sie beinhaltete.

„Und wenn sie noch Milch braucht? Was, wenn sie noch nicht soweit ist? Wie sollen wir sie dann mitnehmen? Oder willst du erst suchen und ich hol sie dann später nach?“
 

„Und wo willst du sie lassen? Nein, auf sich selbst gestellt wird sie sicherlich sterben. Dann nehmen wir sie lieber mit. Notfalls jagen wir ein Tier, das Milch gibt, um sie zu ernähren.“ Oh ja, das würde anstrengend werden, aber sie sterben zu lassen, war auch keine Variante.

Sachte piekte er dem Kind in den Bauch. Inzwischen ruhte sein Kopf an Mimouns Brust und es schlief. „Wenn du nur sprechen könntest, dann wäre das alles viel einfacher.“
 

Verständnislos sah Mimoun Dhaôma an. „Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass wir sie solange bei Leoni lassen würden. Du hast ihr und Seren das Leben gerettet. Vielleicht würde sie dir den Gefallen tun. Obwohl…“ Sein Blick irrte nun ziellos über die karge Landschaft und er kaute wieder auf seiner zerbissenen Unterlippe herum. „Du hast wahrscheinlich Recht. Du kannst den Winzling ja nicht unbeaufsichtigt bei Monstern lassen.“ Sein Gesicht wirkte mit einem Mal gequält und er sah auf die Hand, die noch vor kurzem den Hals des anderen Magiers zusammengedrückt hatte.
 

Der Gedanke, das Kind einfach bei Leoni zu lassen, war so einleuchtend, dass er fast gelacht hätte, doch Mimouns letzter Satz erschütterte ihn zutiefst. Monster? Wie kam er auf…

Es kam wie ein Schlag, als er begriff. Mimoun bezeichnete sich selbst, seine Familie und Freunde, seine ganze Rasse als Monster! Ihm entgleisten alle Gesichtszüge und in seinem Körper schwoll die Wut wieder hoch, aber diesmal eine andere Art von Wut. Er fühlte sich verraten.

Zittrig holte er Luft. „Sag das noch mal.“, forderte er, seine Stimme leise und drohend.
 

Obwohl er es zu unterdrücken versuchte, glitzerten seine Augen feucht. „Bin… ich ein Monster?“, fragte er leise, sein Gesicht noch immer von Verzweiflung geprägt, als er Dhaôma direkt ansah.
 

Dieses Häuflein Elend und diese Unsicherheit glätteten die Wogen in seinem Inneren beinahe zur Gänze. Sacht hob er die Hand und strich dem Schwarzhaarigen über den Kopf. „Nein, bist du nicht, aber das ist es ja. Für ihn warst du eines, hast dich wie eines benommen, dabei bist du eigentlich ein freundlicher, herzlicher, liebevoller Kerl! Was ist nur in dich gefahren da hinten?“
 

Er stieß die Hand nicht unbedingt beiseite, wandte sich aber fast ruckartig ab und begann auf und ab zu laufen. „Hast du es nicht gesehen?“, überging er dessen Frage. „Sie haben sogar wehrlose Kinder getötet. Einige waren nicht viel älter als Amar oder Haru. Wer so was tut, muss ein Monster sein. Und ich bin auch nicht besser. Ich hab ihn angegriffen, obwohl er gerade mal die Kraft hatte, einen Stein zu schmeißen. Wie aus Instinkt hab ich einfach gehandelt und nicht nachgedacht. Nur weil ich dich bedroht sah. Und damit hab ich vielleicht deinen sehnlichsten Wunsch zerstört. Ich bin wie sie! Ich bin ein Monster!“ Mit jedem Satz wurde er ein wenig lauter. Das Kind in seinen Armen begann zu quengeln. Sanft wiegte er sie hin und her. „Und nun hab ich den Winzling auch noch aufgeweckt.“
 

Da war seine Antwort. Mimoun hatte aus Instinkt gehandelt, weil er gedacht hatte, er, Dhaôma, sei in Gefahr. Und war er es nicht gewesen, der Mimoun gesagt hatte, er solle schneller werden, dass wenn er jemals angegriffen würde, dass er mit einem Schlag töten konnte, bevor er selbst starb?

Schwach rieb er sich über die Augen. Und jetzt hielt Mimoun sich und die seinen für Monster. Wie lange war es her, dass er das über die Magier gesagt hatte? Ob er den Blick auf das Wesentliche verloren hatte? Nämlich, dass es solche und solche gab?

„Mimoun?“ Seine Augen folgten seinem Freund. „Mimoun, sieh mich bitte an.“
 

Es wurden noch einige Spuren in den Erdboden gedrückt, bevor die Füße, die sie formten, zum Stehen kamen. Dennoch sah der Geflügelte nicht auf. Hochkonzentriert sorgte er dafür, dass das Kind weiterschlief. Er wollte Dhaôma nicht ansehen. Er hatte Angst davor, dass sein Freund ihm noch immer böse war, er es ihm ansehen konnte.
 

„Mimoun.“, beschwor er ihn mit sanfter Stimme und wartete.
 

Dieser zuckte beim Klang seines Namens zusammen. Es klang nicht so, als wäre der Magier wütend, dennoch… Zögerlich sah er auf.
 

Endlich sah er ihn an. Und er konnte die Unsicherheit in diesen dunklen Augen regelrecht lesen. Als hätte er plötzlich Angst. Angst vor sich oder Angst vor ihm?

Dhaôma verzichtete darauf, ihn erneut zu berühren, als er zu lächeln begann. „Hast du es vergessen? Den Schmerz und die Angst an dem Tag, bevor wir uns getroffen haben? Dass dein Vater getötet worden ist von meinesgleichen? Auch dort gibt es Monster. Genauso gibt es sie bei den Hanebito. Zum Beispiel diejenigen, die den Angriff geführt haben. Hey, wir suchen sogar echte Monster. Aber das heißt nicht, dass es nicht auch nette Menschen gibt. Denk an deine Mutter. Sie war immer nett zu mir, obwohl ich ein potentieller Feind bin. Oder Asam oder Leoni. Wenn du sie nicht angreifst, würden sie niemals jemandem schaden. Und du bist genauso. Du hast mir doch gerade gesagt, dass du ihn nur deshalb angegriffen hast, weil du dachest, ich sei in Gefahr. Sollte man dir wehtun, würde ich auch nicht zögern, zurückzuschlagen.“ Tief holte er Luft. „Ob du ein Monster bist, entscheidet sich erst daran, ob du es gerne tust oder ob du dazu gezwungen bist, ob du abstumpfst und wahllos tötest oder ob du es nur in Ausnahmefällen tust. Verstehst du?“
 

Das wusste er doch. Eigentlich musste Dhaôma es ihm ja nicht sagen, aber es zu hören, beruhigte sein aufgewühltes Inneres ein wenig. Der Geflügelte versuchte sich an einem zaghaften Lächeln.

„Es war dennoch nicht richtig, was ich getan hab.“, merkte er an. „Obwohl ich nie vorhatte, ihn zu töten. Aber es verschaffte mir Genugtuung, ihn röchelnd am Boden liegen zu sehen.“
 

„Das solltest du wirklich nicht mehr tun, selbst wenn du es willst. Egal, wie ernst es dir ist, sie werden es falsch verstehen. Entweder sie fürchten dich oder aber einer tötet dich, wenn er es sieht. Und ich kann mich auch selbst verteidigen, das weißt du, oder?“
 

Mimoun hob spöttisch eine Augenbraue, bis ihm wieder bewusst wurde, wie ernst ihr momentanes Thema war und sich seine Gesichtszüge wieder glätteten. „Du beschwörst Gewitter herauf, du heilst Verletzungen und Krankheiten, lässt Pflanzen sprießen und verdorren, du kannst Eis schmelzen und wieder gefrieren lassen… ah ja, doch, das kann schon gefährlich werden.“, gab er zu. „Aber du hast deine Magie noch nie als Waffe eingesetzt. Du scheust dich doch immer davor. Und nur mit bloßer Körperkraft kannst du nicht gegen dein Volk bestehen. Du bist stark, das weiß ich sehr wohl, doch ob du dich selbst verteidigen kannst… Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.“
 

Dhaôma sah ihn an. In den Augen des Hanebito musste es tatsächlich so wirken, aber er wusste zumindest, dass er den Heilungsprozess auch umdrehen konnte, wenn er das wollte.

Ohne den Blick von seinem Freund zu nehmen, griff er in die Tasche und holte ein wenig ihres Proviants heraus. Fleisch, das nur getrocknet worden war. In sich suchte er die Kraft, von der er wusste, dass sie da war, obwohl er sie noch niemals wissentlich benutzt hatte, und in seiner Hand wurde das Fleisch erst schwarz und dann zu Erde. Wortlos sah er Mimoun weiterhin in die Augen.
 

Dieser trat schweigend auf seinen Freund zu und befühlte mit seinen Fingern die Erde. Prüfend begegnete er dem Blick seines Freundes. „Kannst du das auch bei einem lebenden Wesen?“, wollte er wissen.
 

„Ja.“, gab Dhaôma unumwunden zu. Das war ja die Gefahr, denn wenn seine Leute die Linien auf seinem Körper zu interpretieren begannen, würden sie genau diese Fähigkeit sehen können und sie für sich nutzen wollen. „Das ist kein sehr schöner Anblick, denke ich, aber es ist möglich.“
 

„Das meine ich nicht.“ Mimoun schüttelte den Kopf. „Ich will nicht wissen, ob du die Fähigkeit dazu besitzt, sondern ob du es…“ Ihm fiel nicht die richtige Bezeichnung ein. „…emotional schaffst.“, behalf er sich schließlich.
 

Ach da lag der Hund begraben. Dhaôma sah ihn Stirn runzelnd an. Er hatte es einmal tun wollen, als Mimoun Ziel von böswilligen Handlungen war, aber ob er es tun konnte, ohne einen triftigen Grund? „Ich denke, dazu bedarf es der richtigen Situation.“, wich er aus.
 

Ja. Anfangs bedurfte es immer der richtigen Situation. Der Blick des Geflügelten glitt in die Richtung des zerstörten Dorfes. Doch wenn man nicht aufpasste, fand man Gefallen daran und am Geschmack des unschuldig vergossenen Blutes.

Mimoun schauderte. Ob es mit ihm auch geschehen würde? Er hatte sich ja gerade bereits an einem Wehrlosen vergriffen, ohne zu zögern und ohne Reue. Wie weit war der Schritt, auch Kinder zu morden?

Geistesabwesend streichelte er das Köpfchen des kleinen Lebewesens auf seinem Arm. „Ich will nicht so werden. Ich will das nicht tun.“, flüsterte er und drückte ihr einen Kuss auf die weichen Haare.
 

Der braunhaarige Magier war dem Blick gefolgt, jetzt lächelte er. „Das ist doch gut so. Ich pass schon auf dich auf, ja? Verlass dich einfach darauf, dass ich dir sage, wenn du dich benimmst wie ein Monster.“ Er streckte sich ausgiebig. Irgendwie war für ihn das Gespräch damit vorbei. „Und jetzt, denke ich, sollten wir zurück zu Leoni, damit unser kleines Fundstück hier nicht Hunger leiden muss.“
 

Zögerlich händigte er das Baby an seinen Freund aus. Sie zu halten, gab ihm das beruhigende Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben. Ebenso zögerlich legte er seinem Freund die Arme um die Hüften. „Du musst sie gut warm halten. Vielleicht wird es da oben härter für sie. Sie ist doch noch so winzig.“ Und damit stieß er sich ab.
 

Zur Antwort zog Dhaôma seinen Poncho über das kleine Mädchen, bevor er meinte: „Meinst du, du schaffst es, dort hoch? Es ist ziemlich viel passiert heute.“ Außerdem sollte er Mimoun vielleicht wieder herrichten. Die kaputte Lippe war schon etwas verstörend. „Sag mal, hast du noch mit jemand weiterem gekämpft? Wie hast du es geschafft, so viele Verletzungen davonzutragen?“
 

Ein zögerliches Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Ja. Ich habe gekämpft.“ Ein leises Kichern erklang. „Gegen Steine und Möbel und durchsichtiges Material. Ich wollte den Menschen dort doch helfen.“ Ja. Er hatte helfen wollen. Mit einem leisen, erleichterten Seufzen fiel die größte Anspannung von ihm ab. Er war nicht böse. Es war… ein Unfall gewesen. Einfach eine Verkettung unglücklicher Umstände.

„Und keine Angst. Das schaff ich mit Sicherheit.“ Seine Zunge glitt über seine Lippe, um Blutrest zu entfernen. „Dafür musst du deine Kräfte nicht beanspruchen. Schließlich hast du sicher auch viel gegeben, um dem Mann zu helfen, nicht wahr?“
 

Ja, hatte er. Zuviel, um an diesem Tag noch irgendetwas Großartiges zu bewirken. „Solange du nur rechtzeitig Bescheid gibst…“ Zufrieden schloss er die Augen. Irgendwas hatte sich gerade verändert. Vielleicht war es die Körperspannung oder die Atmosphäre um Mimoun herum, aber es war positiv. Es nahm eine Menge Druck von ihm.
 

Vielleicht hätte er etwas geantwortet, doch als er sah, dass Dhaôma die Augen schloss, behielt Mimoun seine Worte für sich. Sollte er nur schlafen.

Vorsichtig verbesserte und festigte er den Griff um seinen Freund und strebte dann der Heimatinsel Addars zu. Na, die würden Augen machen, wenn die beiden Freunde schon nach so kurzer Zeit erneut dort auftauchen würden. Und was würde man erst zu dem Baby sagen? Würden sie sie dort behalten? Mimoun hoffte es wirklich sehr.
 

............
 

Echt, sie lassen sich so leicht ablenken...

Aber sie sind so süß...
 

Leute, es tut mir Leid, dass ich es nicht schaffe, wirklich alle Woche zwei Kaps hochzuladen. Ich vergesse es, obwohl sie dann schon fertig sind, oder bin nicht da, weil auf Urlaub.

Meckert mit mir oder sagt bescheid, wenn ich es mal wieder vergesse.

Integrationsprobleme

Kapitel 35

Integrationsprobleme
 

Aber bevor er sich mit anderen Problemen befasste, sollte er erst einmal im Dorf ankommen. Zuerst hieß es, sich orientieren. Der Sturm hatte sie gut weggewirbelt. Zusätzlich zu seinen eigenen Kursänderungen, befanden sie sich nun irgendwo im Nirgendwo. Zuletzt war den Rückweg zu finden nicht so schwierig wie erwartet. Dafür schwanden aber seine Kräfte schneller als erwartet. Um ihre Zeit nicht mit Landen zu verschwenden und seinen Freund nicht durch Pieken in die Seite zu erschrecken, rieb er vorsichtig seinen Kopf an dem seines Freundes.
 

Das holte diesen aus seinem Dämmerzustand und als er verstand, warum er geweckt worden war, verwandte er doch alle restliche Energie auf Mimoun. Zusätzlich zum Erneuern seiner Energie, suchte er nach Schmerzen und linderte sie, bis er spürte, dass er nicht mehr konnte. Aber in diesem Zusammenhang fiel ihm auf, dass ihm das Heilen bei Mimoun und seinesgleichen wesentlich leichter fiel als bei dem Magier. Woran das wohl liegen mochte?
 

Ergeben seufzte Mimoun auf. Dabei hatte er gerade noch anmerken wollen, dass er nur einen kleinen Energieschubs brauchte. Er hatte nicht einmal etwas heilen oder lindern sollen. Und nun hatte der junge Magier sich doch noch völlig verausgabt. Weil Mimoun nicht auf sich achten konnte.

Schon bald danach sah er die Insel vor sich auftauchen und nur wenig später kamen ihnen Geflügelte entgegen. Verwirrt sahen sie ihn an und wollten Fragen stellen, doch mit hastigem Kopfschütteln und einen energischen Zusammenpressen der Lippen zeigte er an, dass sie schweigen sollten. Die paar Minuten Schlaf wollte er seinem Freund noch gönnen. Und da sich der Tag nun sowieso schon dem Ende neigte, konnte er auch bis zum nächsten Morgen durchschlafen, wenn es sich einrichten ließ.

Die Rechnung hatte er natürlich ohne Amar gemacht. Lautstark tat dieser seine Freude darüber kund, dass die beiden wieder da waren. Ihm war es egal, welche Umstände sie dazu getrieben hatten. Das Ergebnis zählte.

„Du dummer Junge.“, herrschte er den Kleinen zischend an. Dass er Dhaôma geweckt hatte, bedeutete nicht unbedingt auch, dass das Baby erwacht war.
 

Blinzelnd musste sich der Braunhaarige erst einmal orientieren, bevor er Amar mit einer beschwichtigenden Geste beruhigte. „Wir sind wieder da.“, sagte er und mit einem leisen Kichern: „Und wir haben etwas mitgebracht, deshalb musst du ganz leise sein.“

Amars Augen wurden groß. Sie hatten etwas mitgebracht, was auf Lärm reagierte? Vielleicht ein Fanra? Neugierig versuchte er in Dhaômas Armen etwas zu erkennen und war damit Mimoun beim Fliegen im Weg und schließlich rief ihn Asam zur Raison. Er solle Geduld üben.

Endlich konnten sie landen und Dhaôma wurde abgesetzt. Seine Knie waren weich wie selten und er hielt sich an Mimoun fest, als Amar seine Ungeduld nicht mehr zügeln konnte und ihm in die Arme flog. Das Erschrecken Amars, als er auf unerwarteten Widerstand traf, und das Schreien des überrumpelten Babys taten ihr Übriges, dass Dhaôma in die Knie sank und lachte.

„Hey, hey, Kleine, nicht weinen.“, säuselte er unter unterdrücktem Lachen.

„Wow.“, staunte Amar, nachdem er seine Überraschung überwunden hatte. „Dhaôma ist Mutter geworden. Ich hatte ja keine Ahnung.“
 

Als das Brüllen des Babys erklang, war auch Mimoun sofort zur Stelle und schob seine Finger unter den Poncho, um Dhaôma zu helfen, sie hervorzuholen. Sanft streichelte er ihr Köpfchen.

„Haben wir dir nicht gesagt, du sollst leise sein?“, fragte er schärfer als beabsichtigt. Eigentlich hätte er aufgrund der Aussage lachen müssen, aber ihm war irgendwie nicht danach.

Die Menge, die sich um sie herum versammelte und neugierig ihre Hälse reckte, wuchs innerhalb kürzester Zeit zu beachtlicher Größe an. Wütend schob Mimoun seine Flügel um Dhaôma und das Kind. „Macht gefälligst Platz.“, verlangte er. „Sie sollte dringend aus der Kälte raus.“
 

Jetzt lachte Dhaôma. Mimoun war so süß, wie er sie gegen diese neugierige Menge verteidigte. So gab er dem kleinen Amar das Gefühl, Recht zu haben, so dass er glaubte, dass sie wirklich die Eltern waren. Nichts desto trotz hatte er Recht. Der Wind hier oben war schneidend kalt.

„Los, Amar, sag Leoni und Addar bescheid.“, schlug er vor, denn beide hatte er noch nicht gesehen.

Und der Junge ließ sich das nicht zweimal sagen. Wie ein Irrwisch rannte er los, während Asam sich jetzt von der anderen Seite dafür einsetzte, dass Dhaôma und Mimoun in Ruhe gelassen wurden. „Sie werden es früh genug erklären.“ Auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck, der zwischen Amüsement und Sorge schwankte. „Ich gebe euch dann Bescheid.“

Und auf diese Weise erreichten sie den Eingang der Hütte. Dhaôma wurde hindurch geschoben und von Amar an den Tisch gezogen. Addar, seine Tochter Marai, Leoni mit Seren auf dem Arm, Janna und ihre beiden Töchter Juri und Yaji sahen ihm entgegen. Schüchtern hob er eine Hand, um sie zu begrüßen. „Hallo. Entschuldigt, dass wir schon wieder stören.“

Hinter ihm kamen Mimoun, Asam und seine Schwester Karo herein, die wissen wollte, was los war. Damit waren alle vollständig.
 

Mimoun hielt sich dagegen nicht mit langen Begrüßungsformeln auf. „Leoni. Wir brauchen deine Hilfe.“, platzte er heraus. Der junge Geflügelte ergriff Dhaômas Schultern und schob ihn noch ein wenig in ihre Richtung. „Ich fürchte, wir sind nicht dafür gemacht, diesen Winzling zu versorgen.“ Hoffnungsvoll sah er sie an.

Addar hob mahnend eine Hand. „Erklärt doch erst einmal, was geschehen ist.“, bat er.

Mimoun wandte sich dem Ältesten zu. Alle Emotionen unterdrückend erklärte er knapp: „Das Magierdorf wurde ausgelöscht. Sie ist die Einzige, die überlebt hat.“, log er eiskalt. „Aber nicht lange, wenn wir keine Möglichkeit finden, sie zu versorgen.“
 

Dhaôma fühlte sich mit der ganzen Situation überfordert. Erst war es ihm peinlich, diese Familie ein weiteres Mal zu behelligen, dann überfuhr Mimoun sie auch noch mit dem Ende der Geschichte. Woher sollte Addar denn jetzt wissen, was passiert war?

„Mimoun, setz dich. Und Winzling, du hörst jetzt auf mit Schreien.“ Seinen Worten folgte ein schwaches Leuchten seiner Wangenlinien und tatsächlich beruhigte sie sich. Stattdessen starrte sie ihn mit großen Augen an, während er sich umständlich setzte. Amar klebte an seiner Seite.

„Ist das ein Magierbaby? Ist sie wirklich deins?“

„Mimoun sagte doch schon, dass wir sie gefunden haben.“, erwiderte er ruhig und Amar nickte verstehend. An die anderen gewandt sagte er leise: „Wir sind durch einen Sturm in die Nähe eines Magierdorfes geraten und haben sie dort inmitten von Trümmern gefunden. Ihr ist wie durch ein Wunder nichts passiert.“ Dann sah er zu Mimoun. War es Absicht gewesen, dass er den Mann nicht erwähnt hatte? Sollte er das etwa auch nicht tun?
 

Mimoun seufzte ergeben, als er sich setzte. „Wir haben außer ihr niemand anderen mehr gefunden. Niemand, der uns sagen konnte, wie sie heißt, wie alt sie ist oder wie man sie versorgt. Es tut mir Leid, Leoni. Du warst die Einzige in der Nähe, die uns einfiel. Wir konnten sie doch nicht dort lassen.“ Seine Finger strichen über ihr Bäuchlein und berührten dann ihre Faust, die sich öffnete und die Finger packte. Sanft lächelte er über diese Reaktion. „Wir können nicht bestimmen, wann das Dorf zerstört und wann sie das letzte Mal gefüttert wurde.“ Da er den Winzling angesehen hatte, überraschte es ihn, als plötzlich Leoni neben ihm hockte.

„Gib sie mir mal.“, bat sie leise.
 

Wortlos reichte Dhaôma sie weiter. Es war gut, sie nicht mehr halten zu müssen, da seine Arme der Müdigkeit nachgeben wollten.

Leoni wirkte nicht abgeneigt, als sie sie hochnahm. Vorsichtig setzte sie sie auf ihren Schoß und sah sie neugierig an. Wie hypnotisiert starrte der Winzling zurück und versuchte die Finger, die sein Gesicht streicheln wollten, einzufangen. Als Leoni das zuließ, begann die Kleine selig daran zu nuckeln.

Und die ganze Zeit saß Dhaôma schweigend dabei und hoffte darauf, dass sie nicht auf den Gedanken kommen würden, sie sei gefährlich, denn dann wäre es um sie mit Sicherheit geschehen.
 

„Ist sie nicht süß?“, fragte Mimoun und beugte sich ein wenig vor. Auch seine Finger suchten ihr Köpfchen. Als er sie berührte, begann sie zu quäken. Erschrocken zog er seine Hand zurück, doch es lag nicht an ihm, sondern an der Tatsache, dass die Finger in ihrem Mund nicht das gaben, was sie brauchte.

„Was sollen wir tun?“ Hilflos sah er die junge Mutter an, die seinen Blick nicht erwiderte, sondern auf das Baby auf ihrem Schoß starrte. Sofort begannen um sie herum die Diskussionen.

„Sie ist ein Magierkind.“, begann eine der Frauen. Sofort hob Addar die Hand.

„Das wird sicher keine Unterhaltung, der ein Kind beiwohnen sollte.“, wies er auf die Tatsache hin, dass seine Urenkel noch allesamt anwesend waren. Seren war zwar noch zu klein, um auch nur ansatzweise zu verstehen, was hier vor sich ging, bei Amar und seinen Cousinen sah das jedoch anders aus. Nur widerwillig verließen sie die Hütte. Zu spannend war das neue Baby.

„Es ist völlig egal, ob sie Magier oder Geflügelte ist. Sie ist ein Baby.“, warf Mimoun ein, nachdem auch das letzte Kind durch die Lederplane verschwunden war. „Sie ist hilflos.“

„Das ist ja gerade die Frage. Ist sie wirklich hilflos?“, fuhr Janna mit ihrer vorherigen Aussage fort. „Beherrscht sie bereits Magie? Welche wird sie lernen? Und was passiert, wenn sie die Kontrolle verliert?“
 

„Ich kann sehen, ob und welche Magie sie beherrscht.“, bot sich Dhaôma leise an. „Bekomme ich sie kurz zurück?“

Leoni reichte sie ihm und der Junge begann sie zu entkleiden. Die Sachen waren eh blutig und schmutzig und er würde sie waschen, bevor er ins Bett ging. Schon als er das Hemd entfernt hatte, wusste er es, und es gefiel ihm überhaupt nicht. So war das also. Sie war der Grund für die Zerstörung des Magierdorfes. Wahrscheinlich war sie nicht für die erste Welle an Feuer verantwortlich, aber die Reaktionswelle, die zweite, die kam sicherlich von ihr, sonst hätte sie nie so früh Magie entwickelt. Die Zeichen auf ihrer Brust verrieten es. Sie gebot über das Feuer. Schweigend suchte er weiter, fand außer den gewundenen Zeichen auf ihrer Brust aber nirgends einen Hinweis auf eine weitere Gabe. Dafür war ihre Windel voll. Urg.

„Und?“ Addar hatte ihn beobachtet und ihm war die leichte Sorge mit Sicherheit nicht entgangen.

„Feuer.“, war Dhaômas einzige Antwort. „Sie wird einmal das Feuer beherrschen.“

In der kleinen Hütte trat gespanntes Schweigen ein. Das war eine beunruhigende Nachricht.

„Sie wird es nicht wirklich nutzen können, dafür fehlt ihr der Wille und das Wissen. Und da die Magie schon erwacht ist, wird sie auch nicht in einer Katastrophe ausbrechen. Dennoch wird sie früher oder später jemanden brauchen, der sie anleitet.“ Seine Hoffnung, dass sie hier bleiben durfte, sank.

Dann begann sie auch noch zu quengeln und dann zu weinen. Leoni hatte genug. „Sie ist ein Baby, sie ist hier. Ich werde sie kurz füttern, danach sehen wir weiter.“ Und so resolut wie sie sich gerade fühlte, würgte sie ihren Mann und dessen Großvater mit einem einzigen Blick und dem Kommentar, sie hätte genügend Milch, ab, als sie Dhaôma das Baby abnahm und damit nach hinten verschwand. Asam folgte ihr besorgt.

„Und was, wenn sie dich verbrennt?“

„Er sagte doch, dass sie die Magie nicht nutzen kann, also stell dich nicht so an. Mir passiert nichts und falls doch, dann ist Dhaôma da, um mir zu helfen. Und jetzt suchst du Ersatzkleider von Seren für sie.“

„Aber…“

„Jetzt, bevor sie erfriert!“

„Leo…“ Die Häute schlugen vor den separaten Raum und schlossen die Stimmen aus. Janna begann zu kichern. Sie liebte es, wenn Leoni das tat, wenn sie die Dinge in die Hand nahm, bevor sie sich wirklich festfahren konnten.

„Also.“, begann Addar erneut. „Sie wird Feuer einsetzen können. Wer sagt uns, dass sie das nicht gegen uns tut?“

„Aber, sie ist ein Baby. Sie kennt noch keinen Hass, nicht wahr? So wie Amar keine Angst vor mir hatte, wird sie keine vor euch haben, also gibt es keinen Grund, sich zu verteidigen.“

Die Erwachsenen nickten und warfen sich Blicke zu. „Wie hattet ihr euch das gedacht?“

Dhaôma versuchte sich in einem Lächeln, das sichtlich misslang. „Gar nicht. Dass Leoni uns irgendwie hilft, bis wir Ersatzeltern gefunden haben, oder sie stark genug ist, dass sie bei mir bleiben kann.“

„Du willst sie auf deine Such zu den Drachen mitnehmen?“

„Warum denn nicht?“ Und dann seufzte er. „Nein, ich will sie nicht mitnehmen. Ich traue mir nicht zu, ein Baby zu versorgen. Mit Haru oder Amar zu spielen ist eine Sache, aber ein Kind wirklich zu versorgen, das bedeutet eine Verantwortung, die ich mir nicht zutraue. Ich weiß nicht, was ein Vater tut, damit es seinem Kind gut geht. Ich…“ Er schloss kurz die Augen, um sich zu überwinden, das Thema anzuschneiden. „…hatte nie einen netten Vater, den es gekümmert hätte, wie es mir geht.“
 

Er hat auch keine Mutter, die es kümmern würde, fügte Mimoun in Gedanken hinzu. Sacht suchten seine Finger den Rücken des Magiers, strichen vorsichtig auf und ab.

„Das sind meistens die besten Voraussetzungen.“, erwiderte Addar in die aufkommende, betroffene Stille. „All das, was du in deiner Kindheit vermisst hast, kannst du der Kleinen geben. Kleidung und Nahrung sind Grundvoraussetzungen, damit sie am Leben bleibt. Aufmerksamkeit und Liebe würdest du ihr mit Sicherheit im Überfluss angedeihen lassen. Sie wäre bei dir in den besten Händen.“
 

War das so? Dhaôma war den Tränen nahe, was nicht zuletzt der Müdigkeit geschuldet war. Er glaubte nicht daran! Er war nicht wie Asam, der sein Leben dafür aufgab, sein Kind zu beschützen, der nichts anderes tat, als an einem Ort dafür zu sorgen, dass es ihm gut ging. Er wüsste nicht einmal wie! Und es stand nicht in seiner Macht, an einem Ort zu bleiben, er wollte doch frei sein. Frei, dorthin zu gehen, wo noch niemand zuvor war. Er wollte zu den Drachen! Eine Reise über weites Land, über Flüsse und das Große Wasser. Und das möglichst schnell. Ein Kind würde sie aufhalten.

„Ihr traut mir zuviel zu, Addar.“, sagte er leise. In Gedanken suchte er schon die Karte ab, wo vielleicht Magier leben könnten, damit er sie dorthin bringen könnte, aber er war zu müde zum Denken. Außerdem würde das ein Kampf werden, von dort unbehelligt wieder zu verschwinden.

„Mal angenommen, sie würde bleiben.“, mischte sich jetzt Karo, Amars Mutter, ein. Sie hatte die ganze Zeit über geschwiegen. „Was würden wir mit ihr machen? Jetzt ist sie noch klein, dennoch wird sie mit vielen Kindern aufwachsen, die allesamt fliegen können. Sie wird es auch wollen und im schlimmsten Falle versuchen. Oder sie fühlt sich ausgeschlossen, weil sie anders ist als die anderen, oder wird von ihnen gehänselt. Und wenn sie älter ist, wird sie sich vielleicht verlieben…“

„Ich sehe darin kein Problem.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Würde sie bei mir bleiben, würde ich sie auch mitbringen, wenn ich euch besuche. Andererseits könnte es doch auch sein, dass sie davon profitiert, Menschen zu kennen, die anders sind als sie. Wenn sie lernt, ihre Fähigkeiten zu formen, dann kann sie euch helfen, indem sie die Hütten warm hält oder Feuer macht.“

„Und wenn sie beim Spielen jemanden verletzt? Oder verletzt wird und daraufhin zurückschlägt? Du weißt am besten, dass Kinder ihre Kräfte nicht so gut unter Kontrolle haben.“

Oh ja, das wusste er tatsächlich. Oft genug hatte er Kratzer davon getragen, weil die Fingernägel der Kleinen viel zu scharf waren. Dennoch war das kein Grund. „Wenn man Kindern sagt, dass sie vorsichtig sein sollen, dann sind sie es im Allgemeinen. Und Unfälle passieren immer mal. Das würde nicht zu einem handgreiflichen Krieg werden, in dem sie sich absichtlich gegenseitig verletzen. Wenn man sie richtig erzieht, dann kann man ihr auch von vornherein beibringen, dass ihre Gabe ein Segen ist und nicht dafür da, jemanden zu verletzen.“
 

„Ist es, weil sie eine Magierin ist?“, fragte Mimoun leise. Plötzliches Schweigen breitete sich in dem Raum aus und so fuhr er fort: „Wäre sie eine Geflügelte, würde niemand diskutieren, ob sie hier bleibt oder nicht. Im Gegenteil. Man würde darüber streiten, wer sie nun nehmen dürfte.“

Sein Blick war fest auf die Lederplane gerichtet, die ihm momentan die Sicht auf das Streitobjekt verwehrte. Er wirkte mit einem Mal müde. Zu viel war an diesem Tag geschehen, körperlich wie emotional. Und nun traten sie das weitere Schicksal dieses Kindes breit.

„Mit unseresgleichen wissen wir umzugehen. Natürlich fällt uns dort die Entscheidung einfacher.“, erwiderte der Älteste.

„Sie ist ein Baby. Wie jedes Kind muss sie einfach nur erzogen werden und ihre Kräfte und Grenzen austesten. Aber sie wird lernen. Und wenn sie hier sogar eine liebevolle Familie finden würde, warum sollte sie euch dann absichtlich Schaden zufügen wollen?“ Seine Hand hob sich schnell, bevor jemand einen Einwurf machen konnte. „Das ist es doch, was ihr befürchtet, nicht wahr? Dass sie ihre Andersartigkeit erkennt, sich ausgegrenzt fühlt und mit ihren Kräften austeilt.“ Sein Kopf wandte sich dem Ältesten zu. „Natürlich wisst ihr nicht, wie man mit Magiern umgehen soll. Das streite ich nicht ab. Dhaôma ist der Erste, mit dem wir engeren Kontakt haben und auch besseren Kontakt als blutiges Morden. Ich habe viel von ihm gelernt, aber ich bin mir auch sicher, dass ich bei einer Begegnung mit anderen garantiert… Fehler machen würde. Aber das liegt nur daran, dass wir zu wenig voneinander wissen. Dieses Kind ist noch unvoreingenommen. Sie kann noch lernen. Sie kann von beiden Völkern lernen.“ Bei diesen Worten sah er zu dem jungen Magier. „Aber sie müsste halt die Chance dafür kriegen.“
 

„Und sie braucht eine Chance, zu erkennen, dass Menschen, egal ob Hanebito oder Magier, einfach nur Menschen sind.“, fügte Dhaôma an und riebt sich über die Augen, die zufallen wollten. „Sollte ich sie tatsächlich zurück zu den Magiern bringen, wird sie so erzogen werden, wie alle, nämlich mit den Worten: Hanebito sind gefährlich, hüte dich vor ihnen und fürchte sie. Wenn ihr sie aufziehen würdet, als wäre sie ein normales Kind, ohne Vorurteil oder Hass, käme sie nicht auf den Gedanken, euch für gefährlich zu halten. Vielleicht wäre sie sogar diejenige, die den Magiern beibringt, mit euch zu leben, wenn der Krieg vorbei ist. Sie könnte euren Kindern vermitteln, dass es nicht nur Gut und Böse gibt, sondern, dass es in jeder Rasse solche und solche gibt. Und vielleicht fördert das gute Vorbild ja auch die Integrität von euch bei den Magiern, wenn es soweit ist.“

Dhaôma schüttelte sachte den Kopf, um die Müdigkeit ein weiteres Mal zu vertreiben. „Ihr lasst mich machen, wenn ich sage, ich suche Drachen, um den Frieden zu schaffen. Und Ihr, Addar, sagtet, ich solle eine solide Grundlage schaffen. Wäre sie nicht ein Anfang dafür? Ihr sagtet auch, dass ein Kind wie ich nichts machen könnte, um einen Krieg zu beenden, aber ihr alle könnt es. Ihr könnt den Streit, den ihr Erwachsenen miteinander habt, von den Kindern fernhalten. Ihr könntet ihnen wirklich Frieden geben, indem ihr ihnen nicht euren Hass aufbürdet. Ihr…“

Die Emotionen schwappten über. Nie hatte er darüber nachgedacht, aber jetzt erschien es ihm so einleuchtend. Natürlich war es so. Der Grund, warum keiner den Sinn hinter dem Krieg kannte, war der, dass man den Hass vererbte, ihn seinen Kindern anerzog. Im Grunde waren sie alle nur Opfer der Menschen, die vor Jahrhunderten gelebt hatten! Weil die ihre Kinder nicht aus ihren Streitigkeiten heraushalten konnten!

Unwirsch wischte er sich über die Augen. „Es tut mir leid.“ Seine Stimme stockte. „Ich… ich wollte Euch nicht… nicht beschuldigen und…“
 

„Das hast du nicht.“, erwiderte Addar ruhig. „Du hast uns nur Möglichkeiten aufgezeigt.“

„Du bist müde.“, stellte Mimoun dagegen sachlich fest. Es war verständlich. Der Magier hatte sich erst mit der Heilung des Mannes im Dorf verausgabt und dann noch Mimoun geheilt. Und die Erholungsphase war nicht sehr lang gewesen. Sanft ließ er seine Finger, die ihn die ganze Zeit gestreichelt hatte, höher wandern und zog ihn unnachgiebig in eine liegende Position, ließ keinen Protest zu. Anschließend wanderten sie weiter und blieben auf den Augen seines Freundes liegen. „Schlaf ruhig. Ich kümmere mich um den Rest.“ Entschuldigend fügte er für die Anwesenden hinzu. „Erst musste er mir nach dem Sturm wieder auf die Beine helfen, dann bei dem Rückflug unterstützen, damit wir es schnell schaffen.“

Ein verständnisvolles Nicken ging durch die Geflügelten. Darüber hinaus hatte der junge Magier ja am Vortag noch einmal zu Addars Genesung beigetragen.
 

„Mimoun! Wie soll ich jetzt schlafen?“, murrte Dhaôma - entgegen dem Verständnis der anderen, war er nicht einverstanden. „Es geht doch um den Winzling! Das ist doch wichtig.“ Dennoch wollten die Tränen nicht stoppen und er konnte die Hände auch nicht wegschieben, also gab er die Gegenwehr irgendwann auf.
 

„Sie werden ihr nichts antun. Keine Angst. Du kannst beruhigt schlafen.“ Mit der anderen Hand begann er sanft den Haarschopf auf seinem Schoß zu kraulen.

„Dann solltest du das auch tun.“ Mimoun blickte verständnislos auf und sah den Ältesten an. „Du hattest einen schweren Tag hinter dir. Und das obwohl ihr nicht einen Meter weiter gekommen seid.“

„Aber…“, begann der junge Geflügelte seinen Widerstand, wurde jedoch durch eine zurückgeschlagene Lederplane unterbrochen. Leonie kam zurück und hockte sich vor ihn. Das Baby in ihren Armen wirkte nun zufrieden Mit einem Lächeln löste er seine Finger von Dhaôma und nahm sie entgegen.
 

Dhaôma setzte sich auf, verdrängte die Müdigkeit noch einmal. Es war nicht so, als wäre er besorgt, aber sie hatte jetzt andere Kleider an und das erinnerte ihn daran, dass er die anderen waschen wollte. „Wie süß.“, wisperte er, als er sie ganz sah. „Jetzt sieht sie fast aus wie Seren. Nur die Flügel fehlen.“ Und die Hautfarbe war ein bisschen anders. Weich lächelnd rieb er sich über die Augen, bevor er aufstand.

Und Janna wusste sofort, was er vorhatte. „Vergiss es, Dhaôma, das kannst du morgen machen.“

„Aber…“

„Sie hat Recht. Seren wird ihre Kleider heute nicht mehr brauchen, also kann sie sie auch längere Zeit tragen.“ Addar amüsierte sich über die beiden Jungen. Sie waren so herzlich, dass es beinahe schon unglaublich war. Da fanden sie ein Baby und beide fühlten sich augenblicklich dafür verantwortlich, dabei waren sie selbst noch Kinder.

Janna nahm dem Braunhaarigen die Babykleider aus der Hand, während die anderen begannen, den kleinen Raum vorzubereiten, den sie vorher schon benutzt hatten. „Ihr schlaft beide erstmal und morgen sehen wir weiter.“

Wehren war zwecklos, wusste Dhaôma und fügte sich.
 

Eigentlich hatte er noch eine private Frage an Addar, also zögerte Mimoun noch, aber schlussendlich entschied er sich dafür, das ebenfalls auf morgen zu verschieben. Dhaôma würde versuchen, wach zu bleiben, sollte er nicht bei ihm sein. Und so zog er sich in den kleinen Raum zurück, Dhaôma vor sich herschiebend. Viel war da nicht vorzubereiten gewesen, hatten sie ihn doch am Morgen erst verlassen.

Erschöpft wickelte er das Baby in dicke Felle und schlüpfte unter die Decken. Die Decken für seinen Freund hob er so an, dass er auf der anderen Seite des Säuglings lag.
 

Dhaôma nahm das Angebot an. Und er bekam nicht mehr mit, dass Karo ein ernstes Wort mit Amar wechselte, als dieser sich zu ihnen legen wollte. Viel zu schnell schlief er ein.

Und erwachte am nächsten Morgen davon, dass jemand schrie. Wie schnell war er aus seinen Träumen heraus und saß senkrecht im Bett, bevor er merkte, dass es der Winzling war. Mitleidig nahm er sie hoch und seufzte.

„Du bist auch nicht gewollt, was?“, fragte er leise und ließ sie auf seinen Knien auf- und abwippen. „Ich frage mich, was wohl dein Name ist. Ob wir dir einfach einen geben können? Und ich frage mich, ob sie dich akzeptieren können, so wie sie mich akzeptieren.“ Sie schrie lauter und er seufzte. Wahrscheinlich hatte sie Hunger.

„Na?“ Leoni streckte den Kopf herein. „Ich bin grade mit Seren fertig, soll ich sie übernehmen?“

Dankbar nickte er und gab sie ihr.
 

Dhaôma war nicht der Einzige, der aus seinen Träumen geschreckt war, doch Mimoun war nicht undankbar. Seine Träume waren von Feuer und Blut geprägt. Fast meinte er, den Rauch noch schmecken zu können.

Müde wischte er sich über die Augen. Er wollte noch nicht aufstehen, doch ebenso widerstrebte es ihm, sich zum Dösen wieder zurückzulehnen.

Als Leoni mit der Kleinen aus dem Raum verschwunden war, umfing er Dhaômas Schultern. „Sie ist nicht ungewollt. Ich bin mir sicher, ihre Eltern haben sie geliebt. Ihre Mutter hat ihr Leben dafür geopfert, sie zu beschützen. Und wir wollen sie doch auch, nicht wahr? Wir sind halt nur noch nicht in der Lage, sie richtig zu ernähren.“ Der junge Geflügelte zog seinen Freund enger an sich. „Und du bist auch nicht ungewollt, hörst du? Lass uns das nicht schon wieder durchdiskutieren.“
 

Seufzend nickte Dhaôma, dennoch kam es ihm so vor. Die Hanebito wollten sie ja offenbar nicht und sie konnten sie nicht nehmen. Noch nicht.

Schmusebedürftig kuschelte er sich enger an Mimoun und schloss die Augen wieder. Und hätte die Ruhe ein Weilchen gewährt, dann wäre er sicher wieder eingeschlafen, aber Amar wusste, dass sie wach waren, und natürlich kam er herein.

„Was ist denn? Seid ihr noch müde? Ihr habt länger geschlafen als ich und gestern nichts mehr gegessen. Steht auf. Es gibt doch Frühstück.“

„Ja.“, gab Dhaôma wenig begeistert von sich. „Warte noch ein bisschen. Wir sind gleich da.“

Der Junge zuckte mit den Achseln und ging. Und der Magier seufzte tief. „Dann geht der Bittkampf von vorne los, nicht wahr?“
 

Unruhig begann der Geflügelte wieder auf seiner Unterlippe zu kauen. „Ehrlich gesagt, hab ich auf den Mist keine Lust mehr.“, offenbarte er zögerlich. „Für mich ist eigentlich nur noch wichtig zu wissen, wie lange es dauern würde, Winzling umzugewöhnen und ob Leoni bis dahin bereit wäre, sie mit durchzufüttern.“ Er ließ seufzend den Kopf in den Nacken fallen und betrachtete die Decke. „Das würde unsere Reise aber schon wieder zurückwerfen. Wahrscheinlich sogar um Wochen.“ Nun ließ er sich komplett zurückfallen, zog Dhaôma einfach mit sich.
 

Ja, so sah es aus. Das war alles ziemlich schwer. Und um diese Jahreszeit war es hier oben einfach noch immer zu kalt, um für längere Zeit unter freiem Himmel zu sein, dabei hatte er sich so auf den Frühling gefreut. Es würde bedeuten, dass er das zweite Jahr in Folge den Frühling verpasste.

„Du willst sie wieder mitnehmen?“, fragte er leise. „Sie aufziehen?“
 

Während die eine Hand begann, Dhaôma zu kraulen, legte er den anderen Arm über seine Augen. „Ja. Nein… Ich weiß nicht.“ Er seufzte abgrundtief. „Sie hat doch nun niemanden mehr. Und die anderen zerfleischen sich ja fast in der Diskussion, ob sie bleiben darf. Sollten… sollten sie noch immer so abgeneigt wirken, würde ich sie ungern hier lassen. Aber selbst wenn wir sie mitnehmen. Nicht nur, dass sie nicht laufen kann und somit momentan nur zusätzliches Gewicht wäre. Ständig wechselnde Umgebungen, ständiges Versteckspiel vor den Magiern, Suche nach Drachen, keine Gleichaltrigen oder einfach nur andere Kinder zum Toben und Kräftemessen.“ Der nächste Seufzer folgte. „Ich weiß nicht, ob man ihr so etwas antun sollte. Das würde sie kein halbes Jahr überleben. Und ich denke, zum glücklich Aufwachsen gehört ein gefestigtes Umfeld, sowohl menschlich als auch territorial, dazu.“ Er hob den Arm und seinen Kopf, um Dhaôma ansehen zu können. „Oder irre ich mich? Ist das bei euch anders?“
 

„Ich weiß es nicht.“, sagte der Braunhaarige nachdenklich. Im Grunde konnte er nichts Falsches daran finden, wechselnde Umgebungen und Drachen zu suchen. Und Magiern waren sie bisher Dank Mimoun nicht begegnet, sah man mal von dem Dorf ab. „Aber sobald wir die Drachen gefunden haben, hätte sie ein festes Umfeld, nicht wahr?“ Aber das war es wohl nicht, was Mimoun meinte.

Murrend wurschtelte er sich aus der Umarmung. „Das ist sooo doof.“, knurrte er, dann stülpte er sich den Pocho über den Kopf und hielt Mimoun die Hand hin. „Los, auf in den Kampf! Das hier ist unsere erste echte Friedensmission und wir dürfen nicht scheitern.“
 

Ein Stöhnen drang über seine Lippen, doch schnell begann er zu kichern. „Nicht kämpfen, doch kämpfen. Entscheide dich endlich mal.“ Er wusste genau, welchen Unterschied Dhaôma zwischen diesen beiden Arten des Kampfes finden würde, aber ein wenig Schabernack musste sein. Er griff nach der dargebotenen Hand und zog sich schwungvoll hoch. Er streckte sich ausgiebig, breitete die Schwingen dabei weit aus und füllte damit den kleinen Raum komplett aus. Noch kurz die Kopfhaut kratzen, Nacken einrenken und Schultern straffen. Als er endlich mit seinen Turnübungen fertig war, streckte er angriffslustig die Faust in die Luft.

„Auf geht’s!“, flötete er gut gelaunt und hielt die Plane für seinen Freund auf. Dadurch folgte seine nächste Äußerung prompt: „Uff.“ Amar hatte gucken wollen, wo sie blieben. Und um die Plane nicht umständlich aus dem Weg zu drücken, wollte er durchrennen. Da sie aber genau in dem Moment weg war, rannte er voll in Mimoun hinein.
 

Dhaôma begann zu lachen und fing den taumelnden Jungen ein. „Immer mit dem Kopf durch die Wand, Amar. Was bist du, ein Steinbock?“

„Steinböcke sind Beute!“, sagte dieser angewidert und hielt sich die Nase. „Ich bin ein Jäger.“

„Soso.“ Den Jungen vor sich herschiebend, trat Dhaôma endlich hinaus. Sie waren alle schon wach. Und es war ein herziges Bild, wie Juri und Yaji vor einem Korb saßen, in dem zwei blonde Schöpfe zu sehen waren. Die beiden waren leise am Diskutieren, man konnte sie nicht verstehen, aber dem Braunhaarigen hüpfte das Herz in der Brust. Sollte das vielleicht heißen, dass…?

„Guten Morgen.“, wurden sie begrüßt. Janna deckte den Tisch. Sie hatte eine seltsame Miene im Gesicht, als wüsste sie nicht, ob sie froh war oder wütend. Leoni war ganz ruhig, während Asam sie beobachtete, als warte er auf den richtigen Zeitpunkt, um sich zu entschuldigen. Addar nickte ihnen zu, war ernst und zurückhaltend, und Karo schien wirklich wütend zu sein.

„Uha…“ Am liebsten wäre Dhaôma wieder zurückgegangen, aber das ging ja nicht. Also riss er sich zusammen. „Guten Morgen.“, gab er zurück. Was war hier bloß los?
 

Diese seltsame Stimmung ließ auch Mimoun erst einmal einen Schritt zurückweichen, bis er sich dazu durchringen konnte, zurückzugrüßen. Unsicher ließ er seinen Blick über die Versammelten gleiten. All seine Selbstsicherheit und Energie schien mit einem Mal verflogen.

Nach einem letzten absichernden Blick auf das Babykörbchen ließ er sich an dem Tisch nieder. Solange gefrühstückt wurde, solange die Kinder anwesend waren, würde die Diskussion sowieso nicht von vorne starten. Obwohl… sie hatte anscheinend bereits begonnen. Wenn auch ohne sie.

„Sie wird erst einmal hier bleiben können.“, begann Addar. „Doch das sollte euch keinen Anlass zu überschwänglicher Freude geben.“

Das hatte Mimoun sowieso nicht geglaubt, als die Worte ‚erst einmal’ fielen. Es konnte einfach nichts Gutes verheißen. Seine Miene verfinsterte sich und er presste die Lippen aufeinander, als er den weiteren Worten des Alten lauschte.

„Sie kann nichts für das, was sie ist, aber sie ist eine Magierin. Sie wird, wie Dhaôma uns berichtet hat, ein gefährliches Element beherrschen. Diese Entscheidung müssen alle treffen.“

Mimoun runzelte die Stirn. „Alle im Dorf oder alle…“ Er ließ es unausgesprochen; Addars ernster Blick sagte alles. Die Hände des Jungen fuhren seufzend über sein Gesicht. Wegen dem Winzling sollte ein Rat einberufen werden. Das konnte doch nicht deren Ernst sein.
 

„Ja und das in seiner Kondition!“, fauchte Karo und schoss ihrem Großvater einen wütenden Blick zu. „Dabei hat Dhaôma dir Wärme verschrieben und keinen Tag in Zugluft.“

Da lag der Hase begraben. Deshalb war sie sauer. Dennoch… „Wovon wird hier geredet?“, fragte Dhaôma vorsichtig.

Ihm wurden Trockenäpfel in die Hand gedrückt, als sich Leoni vorlehnte. „Von einer Entscheidung durch den Hohen Rat.“, sagte sie. Ihr schien das ganze nichts auszumachen, während Asams Schultern herabsanken.

Unsicher, ob er sich da einmischen sollte, lehnte sich Dhaôma vor und fragte sie flüsternd, ob sie sich mit Asam gestritten hatte, aber sie lachte nur.

„Nein, nein.“ Und mit einem Blick zu ihrem Mann, der diesen hoffnungsvoll aufsehen ließ, flüsterte sie zurück: „Er muss sich bloß damit abfinden, seinen Schatz einige Tage allein zu lassen.“ Ihr Blick, der den seinen traf, war verschwörend, aber er verstand nicht ganz. Stattdessen empfand er Schuld, da der Rat ja wegen ihm und dem Winzling stattfinden würde. „Und jetzt isst du was, denn immerhin haben wir heute viel zu tun.“

„Haben wir?“

„Na, ihr wolltet doch lernen, wie man ein Kind versorgt, habe ich Recht?“

Perplex nickte Dhaôma, dann lächelte er. „Vielen Dank.“

„Danke mir nicht zu früh, das wird für euch beide sehr anstrengend werden, denn Kinder haben viele Bedürfnisse.“
 

Nach dieser Nachricht war ihm der Appetit gehörig vergangen und so stocherte Mimoun lustlos mit seinen Krallen in dem Fleisch herum. Warum musste alles so kompliziert werden? Warum musste deswegen der Rat einberufen werden? Mochte ja sein, dass es um einen Magier ging, aber im Gegensatz zu Dhaôma damals war sie doch gar nicht in der Lage, eine potenzielle Gefahr darzustellen.

Angewidert schob er die Schüssel unangetastet von sich und rutschte ein wenig zurück, bis er bei den Babys angelangt war. Es gab ein süßes Bild ab, wie die beiden Mädchen zusammengekuschelt in dem Körbchen lagen. Seine Finger suchten die Faust seines Findlings, die sich langsam darum schloss. Große Augen sahen ihm neugierig entgegen.

Er sah auf, als er seinen Namen hörte. Marai zeigte auf seine unangerührte Schüssel. Mit einem entschuldigenden Lächeln schüttelte er den Kopf. „Später vielleicht. Ich hab keinen Hunger.“ Und damit wandte er sich wieder dem Winzling zu. Er runzelte die Stirn. „Du brauchst dringend einen Namen.“, sagte er mehr zu sich selbst. „Sonst bleibt Winzling immer an dir haften.“
 

Nach dem Frühstück wurde aufgeräumt und Leoni zog Mimoun und Dhaôma auf die Seite. Jedem wurde ein Baby in die Hand gedrückt und dann hieß es Windel wechseln. Dhaômas Augen wurden ganz groß, als er die komplizierte Wickeltechnik sah. Wie sollte er das je nachmachen? Aber Leoni hatte da eine ganz einfache Antwort: üben.

Und währenddessen trafen sich Addar und Asam mit den restlichen Mitgliedern des Dorfes, um ihnen zu berichten, was das Baby gestern zu bedeuten hatte.
 

Als Mimoun noch jünger gewesen war und noch nicht mit auf die Jagd durfte, hatte er den Müttern von Haru und den anderen Kindern unter die Arme gegriffen. Da kam man schnell wieder rein. Doof war es nur, wenn die kleinen Plagen die Angewohnheit entwickelten, genau dann ihr Häufchen zu setzen, wenn die Windel gerade gewechselt worden war. Seufzend begann er seine Aufgabe von vorn. Als er auch das hinter sich gebracht hatte und das kleine Wesen hochnahm, entleerte sich Seren auf dem oberen Weg erst einmal auf sein Hemd. Es war nicht viel, nicht mehr als ein Spucken, es roch nur unangenehm. Kritisch musterte er das Kind, das glücklich zu glucksen anfing.

Noch bevor ihm Leoni die Anweisung Bespaßung geben konnte, hatte er sich zurückfallen lassen und damit begonnen, sie hochzuwerfen und wieder aufzufangen. Nicht oft, nur drei-, viermal. Mehr schien ihr nicht zuzusagen. Sie quengelte noch nicht, doch sie hatte ihr Gesichtchen missmutig verzogen. Schnell drückte er sie an seine Brust, das Hemd hatte er mittlerweile ausgezogen, und ließ sich vor und zurückschaukeln, sang leise für das Baby. Er verlor sich ganz darin, sich um das kleine Geschöpf zu kümmern.
 

Dhaôma hatte da mehr Probleme. Ihm wollte es nicht gelingen, die Windel wieder zu verschließen. Als Leoni ihm schließlich half, war er recht erleichtert.

„Keine Sorge, das braucht Übung.“, sagte sie und er nickte wenig überzeugt. Dennoch, als die Kleine ihn anstrahlte und zu lachen begann, als sie ihm an den Haaren zog, konnte er gar nicht mehr anders, als sich vorzunehmen, es wirklich zu lernen.

„Was mache ich jetzt?“

„Nimm sie hoch. Sie scheint das zu verlangen.“

War das so? Woran sah man das? Dass sie an seinen Haaren zog? Aber immerhin würde das Ziepen nachlassen, wenn er sie hochnahm. Und sie begann prompt an seinen Haaren zu nuckeln. Wenig begeistert zog er ihr die Haare aus dem Mund.

„Hier.“ Leoni hielt ihm ein wenig getrocknetes Fleisch hin. „Das ist, damit sie sich an den Geschmack gewöhnt. Es ist besser, wenn sie darauf rumkaut.“

„Sie müssen sich also wirklich daran gewöhnen?“

„Natürlich. Der Bauch geht sonst kaputt.“

Fasziniert betrachtete Dhaôma, wie die Kleine begeistert das Trockenfleisch ansabberte. Bah. „Sie spielt Schnecke.“, meinte er und sah zu Mimoun. Ob das bei ihm auch so war? Was war er erstaunt, als er diesen auf dem Rücken liegend vorfand, singend und mit einer beinahe schlafenden Seren auf der Brust. „Und er spielt Wiege. Man, er ist echt begabt.“

„Das nennt man Übung.“, lächelte Serens Mutter weich und strich dem Winzling auf seinem Arm durch das flaumige Haar. „Du wirst das auch bald können.“

Ja, sicher. Er konnte nicht singen. Und er hatte auch nicht das Talent, mit jedem und allem sofort zurechtzukommen. „Sag mal, Leoni, wie lange dauert es, bis sie feste Nahrung essen kann?“

„Du glaubst nicht, dass sie bleiben kann, oder?“ Offenbar hatte sie durchschaut, dass er fragte, wie lange er jetzt bleiben musste.

Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Sie wirkten gestern so abgeneigt. Und sie haben Recht, wenn sie sagen, dass es ein Risiko ist. Magie ist eine unkontrollierbare Sache, nicht wahr? Ich habe mehrere Gaben entwickelt und jedes Mal ist ganz zu Anfang jegliche Kontrolle abhanden gekommen.“

„Erzähle mir, was passiert ist.“, forderte sie und setzte sich gemütlicher hin. Ihre Augen ruhten auf der kleinen Magierin, die jetzt dabei war, Dhaômas Finger zu zerkauen. Ihn schien das nicht zu stören.

Der Braunhaarige nickte. „Ich erinnere mich nicht mehr wirklich an alles, ich weiß es nur aus Erzählungen. Die Magie der Pflanzen erwachte sehr früh. Als ich fünf war oder so. Und ich weiß noch, dass unser sorgfältig gepflegtes Gewächshaus überwuchert war mit Blumen in den schönsten Farben, bevor ich ohnmächtig geworden bin. Genau weiß ich es aber nicht mehr, denn sie haben es natürlich wieder hergerichtet, während ich geschlafen habe, denn so eine Unordnung kam nicht in Frage.“ Wieder hoben sich seine Schultern, dann lächelte er. „Mimoun hat erzählt, wie sein Flügel wieder heile war, nachdem die Heilkraft erwacht ist. Aber er hat es auch nicht gesehen. Aber ich habe Leder verrotten lassen und einen völlig zerstörten Körper wieder hergerichtet. Das könnte ich wohl jetzt nicht mehr. Wir waren eingeschlossen von lebenden Pflanzen, die eigentlich tot waren, als die Gabe erwachte, totes Holz zum Leben erwachen zu lassen. Und ein Gewitter habe ich gerufen, als die Wettermagie erwachte. Es hat wohl einige Stunden lang gefährlich getobt. Cerel meinte aber, dass es nicht zu ungewöhnlich war. Anscheinend gibt es das öfter hier oben. Die anderen Gaben… Ich weiß es nicht mehr. Das Eisschmelzen kam nach einer Lawine, mehr weiß ich darüber nicht. Du musst dir das so vorstellen, als würde all deine Kraft mit einem Mal aus dir heraus rinnen. Du kannst sie nicht halten, ob du willst oder nicht. Und die Magie tut in diesen Fällen, zu was sie fähig ist.“

Sie nickte. Wenn sie sich das so anhörte, kam es ihr nicht so gruselig vor, wenn Magie erwachte. „Und passiert das öfter?“

„Was?“

„Dass die Magie erwacht.“

„Ach so. Je nachdem. Es ist von Geburt an festgelegt, welche Gaben man hat, aber nicht jede Art ist mit jeder vereinbar. Dass ich zum Beispiel Feuer beherrschen werde, ist sehr unwahrscheinlich. Genauso unwahrscheinlich ist es, dass sie das Wasser beherrschen wird. Diese beiden Elemente vertragen sich einfach nicht.“

„Auch das meinte ich nicht.“, sagte sie geduldig. „Wie oft gibt es so einen Ausbruch?“

„So oft, wie man einen neue Kraft entwickelt.“

„Also wird sie keinen Ausbruch mit dem Feuer haben?“

„Nein, nicht mehr.“ Dhaôma strich dem gurrenden Kind über den Kopf, so dass es zu strampeln begann. „Wuah, was ist denn jetzt los?“, rief er erschrocken.

Lachend schüttelte Leoni den Kopf. „Keine Sorge. Sie will sich nur bewegen. Lass sie einfach runter.“ Vergnügt beobachtete sie, wie Dhaôma das Kind absetzte und wie es dann vorwärts kroch.

„Wirklich, wie eine Schnecke.“, murmelte der Magier fassungslos und brachte sie zum Lachen damit.

„Weißt du, Dhaôma, du bist unglaublich. Da redest du von Ausbrüchen von Magie, als wären sie gar nichts, aber wenn ein Kind sich bewegt, gerätst du in Panik.“ Und dann beobachtete sie mit Freuden, wie seine Wangen hochrot wurden. „Also, welche Magie wäre bei ihr denn noch möglich?“, fragte sie, um ihn nicht ganz verloren stehen zu lassen.

Dennoch benötigte Dhaôma einige Minuten, um sich wieder zu sammeln. „Wind.“, meinte er. „Das ist am Wahrscheinlichsten. Und Erde. Ich habe auch schon gehört, dass das Feuer sich mit Licht und Farben vergesellschaftet.“

„Farben?“

„Ja, diese Magier haben die Macht, die Farbe einer Sache zu ändern. Zum Beispiel können sie ihre Haare färben oder die Dächer ihrer Häuser. Und das Feuer ist in der Lage Gestein zu schmelzen und Glas daraus zu machen, aber diese Fähigkeit erlangen nur wenige. Und manche können Metall verformen oder aus Gestein lösen.“

Sie nickte und drehte die Kleine um, als sie bei ihr angekommen war, so dass sie sich jetzt auf den Weg zurück zu Dhaôma machte. „Danke.“

„Wofür?“

„Dass du ehrlich bist.“

„Ich hätte nichts davon zu lügen.“

„Ich weiß.“, lächelte sie. „Du hast es auch noch nie getan, nicht wahr?“

Er wurde erneut rot. „Doch. Ich habe meine Mutter angelogen, als ich gesagt habe, ich käme bald wieder, damit ich verschwinden kann.“

Sie runzelte die Stirn, dann seufzte sie. Er war zu ehrlich.
 

Als der fast panische Ruf Dhaômas erklang, hatte Mimoun neugierig aufgesehen. Da das Würmchen in seinen Armen völlig ruhig geworden war, konnte er nun mit dem Schaukeln aufhören und sich auf das Gespräch der beiden konzentrieren. Immer wieder verzogen sich dabei seine Mundwinkel zu einem amüsierten Lächeln. Der Kerl war schon lustig in seiner Art und seinem Verhalten.

Dann horchte er auf. Glas. Genau. So hieß das Zeug. Nicht, dass er es sich würde merken können, aber er wusste zumindest jetzt, was damit gemeint war.

Seinen Blick von seinem Freund abwendend, starrte er grübelnd an die Decke. Wie würden die nächsten Tage ablaufen? Da es um einen Magier ging, würde wahrscheinlich bereits am nächsten, spätestens übernächsten Tag eine Sitzung stattfinden. Die Frage war jetzt nur, ob verlangt wurde, dass der Winzling vorgeführt wurde und ob Dhaôma oder er als Fürsprecher auftreten durften. Mimoun runzelte die Stirn. Dhaôma dorthin zu schleusen war die einfachste Übung, Addar könnte ein wenig Wärme vertragen. Dumm wäre es nur, sollte er dann draußen warten müssen, selbst in der Kälte stehend, ungeschützt.

Langsam erhob er sich wieder in die sitzende Position. Seren war davon nicht angetan, aber darum konnte er sich nicht kümmern. Mit einem entschuldigenden Lächeln reichte er sie an ihre Mutter weiter. „Ich bin gleich wieder da.“, versprach er und wuschelte sowohl dem Winzling als auch Dhaôma kurz über den Kopf, bevor er nach draußen verschwand.

Familienzuwachs

Kapitel 36

Familienzuwachs
 

Missmutig versuchte der Magier seine Haare wieder zu ordnen. Warum machte er das? Er wusste doch, dass sie dann verknoteten.

An seinen Knien spürte er eine Berührung. Die Kleine war zurück. Seufzend stupste er sie an. „Und wie sollen wir dich jetzt nennen? Du hattest sicher mal einen Namen. Und so wie du gekleidet warst, irgendetwas Kriegerisches.“

„Uh?“ Leoni runzelte die Stirn. „Wieso gekleidet? Kann man etwa an den Kleidern die Namen feststellen?“

„Ach was. Man kann aber an den Kleidern häufig sehen, welcher Profession die Familie nachgeht. Und sie kommt aus einer Familie, die Feuer beherrscht, damit waren sie wahrscheinlich Krieger und die haben eine Vorliebe für hart klingende, harsche Namen.“

„Das haben wir auch in einigen Familien.“, gab sie zu. „Und, willst du ihr auch einen solchen Namen geben?“

Dhaôma wirkte irritiert. „Ich darf ihr keinen Namen geben.“, sagte er. „Das ist Sache des Vaters oder der Mutter. Und wenn sie keine Eltern hat, dann muss das der Vorsteher des Dorfes machen, der das Kind dann an Adoptiveltern weitergibt.“

„Ihr Magier habt schon seltsame Sitten.“, murmelte sie. „Aber bist du nicht ihr Vater? Immerhin hast du sie gefunden.“ Sie konnte ihm ansehen, dass ihm der Gedanke nicht gefiel. Oder vielleicht stimmte er ihn auch einfach nur traurig. Dabei schien er die Kleine wirklich gern zu haben. Das war doch seltsam. „Was ist es, das dich stört?“, wollte sie wissen.

„Mich stört nichts.“, meinte er, als er die Kleine wieder hochnahm, weil sie an seinen Haaren zu ziehen begann.

„Ich will mal anders fragen: Du hältst nicht viel von der Vaterrolle, oder?“

„Ai. Das…“ Dhaôma lächelte. „Doch, ich halte viel davon. Jedes Kind braucht einen Vater, der es in den Arm nimmt und ihm sagt, was gut und was schlecht ist.“

„Aber?“ Und weil sie sah, dass er wieder nicht verstand, präzisierte sie es. „Du hattest keinen Vater, aber was macht dich glauben, dass du kein guter Vater wärst?“

„Ich hatte schon einen Vater, zumindest in den ersten Jahren. Er hatte nur keine Zeit für mich. Ich hätte alles dafür gegeben, wäre er so gewesen wie Asam.“ Seine Wangen färbten sich rot, als er das beichtete. „Aber er hatte zuviel damit zu tun, Menschen zu töten oder meine Geschwister auszubilden, damit sie in seine Fußstapfen treten konnten.“

Sie nickte und legte die inzwischen tief schlafende Seren in das Körbchen zurück. „Erzähl mir von eurem Leben. Von deinem Leben, bevor du Mimoun getroffen hast.“

Seine Augen weiteten sich ein wenig und dann verschloss sich etwas in seinem Gesicht – sie konnte es genau beobachten. Als wäre da ein Schmerz, den er lieber nicht zulassen wollte. Dennoch begann er zu berichten. Von einer Welt, die ihr so unbekannt war, dass es unheimlich war. Er begann damit, dass die Häuser anders aussahen, dass sie größer waren und Fenster hatten, dass sie aus Stein und Holz gemauert und von großen Gärten umgeben waren. Selbst die Zimmer waren nicht nur durch Lederplanen getrennt, sondern durch feste Wände und waren so eingerichtet und so groß wie eine ihrer Hütten. Die Bewohner trugen Seide oder Wolle oder andere Stoffe, die gewebt waren. Auf ihre vorsichtige Nachfrage erklärte er, was Weben war und welche Materialien man dafür verwendete. Die Städte waren riesig und selbst die Dörfer umfassten mehr Menschen, als eine Insel fassen konnte. Straßen wurden von Kutschen befahren oder beritten – auch das musste er genauer erklären, denn weder das Prinzip, auf Tieren zu reiten oder sie anderweitig für Arbeit zu nutzen, noch Kutschen waren ihr ein Begriff. Und die Städte waren unterteilt. Es gab eine Innenstadt für die höher gestellten Magier, dann einen mittleren Ring für die weniger wichtigen und einen äußeren Ring, in dem die soziale Unterschicht wohnte, die wenig Geld hatte. Selbst nach seiner Erklärung begriff sie nicht, wozu Geld da war oder was es war. Es bestand aus Metall, zumindest soviel war klar, und darauf ließen sie es schließlich beruhen. Auch innerhalb der Unterteilung in drei Klassen gab es noch weitere Einteilungen, etwa Gebiete, in denen sich bestimmte Arbeiter sammelten, zum Beispiel Schmiede oder Färber oder Schreiner oder Weber. Sie alle unterstanden einem Haus, einer Gilde, so nannte er das, die sie überwachte, aber der Grund dafür blieb ihr unbegreiflich.

Die Erzählung wandte sich der Erziehung zu, einem strengen Regime, das dem ihres Militärs nahe kam. Gerade sitzen beim Essen, niemals sprechen, wenn man nicht gefragt wurde, Lesen und Schreiben lernen während stundenlangem Stillsitzen, Manieren, bei denen man nicht lachen durfte, nicht schreien oder toben oder weinen. Es gab Standards, die ein Kind zu einem bestimmten Alter erreichen musste, sonst galt das Kind als wertlos. Man durfte nicht mit anderen Kindern spielen, wenn sie nicht zur gleichen sozialen Schicht gehörten. Es gab eine Rangfolge innerhalb der Familie, die es den Jüngeren nicht gestattete zu essen, wenn die Älteren nicht begannen oder da waren. Und es gab Unterricht für viele Kinder auf einmal, wie man am besten gegen Hanebito vorging und sie tötete.

Leoni lauschte mit mulmigem Gefühl im Bauch der tonlosen, lieblos erzählenden Stimme Dhaômas, wie er Bilder malte, die trist und grau waren, wie sie es niemals gedacht hätte. Irgendwie hatte sie gedacht, Magier wären ihnen ähnlicher, wo sie sich mit ihnen offenbar um die Jagdgründe stritten, aber wozu brauchten sie denn noch mehr Land, wo sie doch ihre Beute selbst aufzogen und sich am liebsten so eng wie möglich an einem Ort aufhielten? Warum zwangen sie ihre Umgebung in eine so unschöne, plane Struktur, wie sie Dhaôma auf den Boden gemalt hatte? Und warum zwangen sie ihre Kinder in solche Fesseln aus Regeln? Mochten sie es etwa, sich selbst die Freiheit zu nehmen? Aber warum mussten sie dann auch versuchen, ihnen die Freiheit zu nehmen? War das vielleicht der Grund, warum sie sie nicht mochten? Weil sie freier waren, als die Magier sich je vorstellen konnten?

Dhaômas Erzählung wandte sich den Erleichterungen des Lebens zu; dass man Fische in einem Teich züchtete oder Schafe auf der Weide, dass man Schweine durch die Wälder trieb, damit sie Eicheln und Nüsse fraßen und dick wurden, dass man Gewächshäuser aus Glas baute, damit Pflanzen besser gediehen, dass man Ziegen ihrer Milch wegen hielt und Pferde für die Arbeit, Hunde passten auf die Häuser auf, damit kein Dieb kam.

„Es ist genug.“, sagte sie schließlich sanft und er sah sie an. Seine Augen waren stumpf und ein wenig hoffnungsvoll. Sie nahm ihm das Mädchen ab und legte sie zu Seren. Die Erzählungen hatten sie eingeschläfert. „Ich hätte nie gedacht, dass ihr so anders lebt.“

Der Braunhaarige zuckte mit den Schultern. „Es wäre nicht so schlecht, wenn nicht alles so feste Regeln hätte. Es erleichtert das Leben schon um einiges.“
 

Draußen suchte Mimouns Blick einen bestimmten Geflügelten. Er wollte endlich eine Ungewissheit geklärt haben, die bereits seit gestern an ihm nagte. Und so ging er zielstrebig auf ihn zu. Mimoun fühlte sich auf seinem Weg zu Addar beobachtet und entdeckte zwei junge Frauen, die kicherten, als er sie anblickte. Es irritierte ihn zwar ein wenig, aber dennoch grüßte er sie freundlich.

Addar befand sich gerade im Gespräch mit zwei weiteren, nicht mehr ganz so jungen Geflügelten. Dennoch wandte er sich sofort um, als er Mimouns Anwesenheit bemerkte.

„Ich würde Euch gern unter vier Augen sprechen.“, erklärte dieser rasch.

Der Älteste nickte zum Zeichen seines Einverständnisses, beendete aber vorher noch das Gespräch mit den beiden anderen. Es ging um Vorbereitungen bezüglich der Ratsversammlung. Als sie endlich allein waren, machte Addar eine einladende Geste, bevor er sich in Bewegung setzte. Er wollte ein wenig laufen, sich wieder bewegen. Mimoun blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

„Habt Ihr es gewusst?“, fragte er leise. Erst im nächsten Moment wurde ihm klar, dass die Frage alles bedeuten konnte.

Doch der Alte schien zu spüren, worum es dem Jungen dabei ging. „Ich wusste, dass es euch nicht gefallen würde.“ Mimoun begann auf seiner Unterlippe zu kauen. „Es ist noch immer Krieg.“, fuhr Addar erklärend fort. „Und sie waren schwach.“

„Ich weiß, aber…“ Er sah den Kindern nach, die johlend über die Insel rannten. Sie übten wohl wieder für ein Wettrennen. „Warum auch Kinder? Warum Hilflose? Einige der Kinder waren nicht viel älter als Amar.“

Der Älteste seufzte und sah auf die Ebene unter ihnen, denn sie hatten mittlerweile den Rand der Insel erreicht. „Sie sollten dezimiert werden. Dieses Dorf komplett auszulöschen, war nie Sinn der Aktion gewesen.“

Mimoun wusste nichts darauf zu erwidern und so herrschte einen Augenblick Stille, bevor Addar sich ihm völlig zuwandte, den Jüngeren mit prüfendem Blick fixierte.

„War sie wirklich die Einzige?“

Mimoun fühlte sich unter dem bohrenden Blick unbehaglich und er wusste, sollte er jetzt erneut lügen, würde Addar es wissen. Also schwieg er. Als er auch nach mehreren langen Augenblicken kein Wort von sich gegeben hatte, runzelte der Älteste missbilligend die Stirn. Gleichzeitig nickte er verstehend. „Befürchtest du, dass ich sie erneut dort vorbeischicke?“

Mimoun seufzte. Er gab auf. Addar würde ja doch nicht nachgeben. „Die… Begegnung… verlief nicht gut. Ich möchte ihm nicht noch mehr zumuten.“

„Warum habt ihr die Kleine nicht bei ihm gelassen?“

„Weil sie dann tot wäre. Entweder verhungert oder von dem Kerl getötet. Es gab keine andere Möglichkeit sie zu retten.“

„Verstehe.“ Addar wandte sich wieder dem Dorfplatz zu, zwang Mimoun sich anzuschließen, wollte er das Gespräch fortführen. Doch dieser wusste nicht, was weiter sagen. Die einzige Frage, die ihm momentan noch auf der Zunge brannte, konnte nur vom Rat beantwortet werden. Dennoch hielt er mit dem Ältesten Schritt.

Erst auf dem Dorfplatz verabschiedete er sich von ihm. Sein Weg führte ihn jedoch nicht sofort in die Hütte zurück. Dafür war er momentan zu angespannt und er wollte seinem Freund keinen Kummer machen. Auch wollte er dadurch unangenehmen Fragen vorbeugen.

Als Mimoun schlussendlich die Hütte wieder betrat, machte er sich um sein eigenes Befinden keine Gedanken mehr. Etwas hier behagte ihm nicht. Etwas an der Stimmung alarmierte ihn. Die Babys schliefen friedlich, wie ihm ein schneller absichernder Blick verriet, auch Leoni zeigte keinerlei Anzeichen, dass bei ihr etwas nicht in Ordnung wäre. Blieb nur… Mit schnellen Schritten war er an Dhaômas Seite und betrachtete ihn sich genauer.
 

„Hallo, Mimoun.“, begrüßte ihn dieser. „Hast du erledigen können, weswegen du gegangen bist?“
 

Anstatt zu antworten, presste dieser die Lippen zusammen. Sein Freund hatte einen Ausdruck in den Augen, den er schon ewig nicht mehr bei ihm gesehen hatte und den er eigentlich nicht mehr sehen wollte.

Ruckartig schoss sein Kopf herum, so dass Leoni erschrocken zusammenzuckte. Verständnislos sah sie seine wütenden Augen. Er sagte nichts. Nicht zu ihr. „Was ist hier geschehen, während ich weg war?“, wollte er vorsichtig von Dhaôma wissen.
 

„Nichts, weswegen du so besorgt sein müsstest. Ich habe ihr erzählt, wie es ist, bei den Magiern zu leben, und in diesem Zusammenhang mal wieder festgestellt, dass ich wirklich Glück hatte, dich zu treffen.“ Und weil er nicht wollte, dass das Thema breitgetreten wurde, piekte er ihm in die Wange. „Da es aussieht, als würden wir hier noch längere Zeit bleiben, könntest du vielleicht Feuerholz suchen? Ich will kein rohes Fleisch essen müssen und ihnen auch nicht ihre ganzen Vorräte an Trockenobst wegessen.“
 

Mimoun runzelte missbilligend die Stirn. Das konnte nicht alles gewesen sein. Nur über Magier und ihr Leben zu reden, hätte ihn nicht so mitnehmen können. Es musste persönlicher geworden sein. Etwas, womit Dhaôma noch nicht klar kam, und was er sich hütete, anzusprechen. Leoni musste es unwissentlich getan haben.

Frustriert stieß er einen lautlosen Seufzer aus und ließ den Kopf hängen. Nun war es zu spät für Warnungen und Bitten um Unterlassung. Nach einigen Sekunden lehnte er seinen Kopf an die Brust des jungen Magiers. „Ich geh gleich.“, versprach er und schloss die Augen.
 

Weich legte er die Hand auf das leicht struppige Haar und strich hindurch, bis er den warmen Nacken erreicht hatte. „Mach dir keine Umstände. Du kannst auch gerne erstmal ausruhen.“, bot er an und streckte die Beine aus. Es war eine Einladung, dass er auf seinem Schoß liegen könnte, wenn er das wollte.

Leoni amüsierte sich über das Bild. Irgendwie war es faszinierend, wie diese beiden Jungen alles andere um sich herum vergaßen und vor anderen so ungeniert herumturtelten. Fast war es wie mit Asam, aber hier lagen die Umstände schon ein wenig anders, denn eigentlich müssten sie Feinde sein. Und auch wenn niemals jemand etwas dagegen sagen würde, wenn zwei Männer einander anziehend fanden, es war nicht üblich, denn auf Kinder verzichteten die Geflügelten nicht gerne. Aber diese beiden… Irgendwie war sie sich sicher, dass es keinem der beiden überhaupt auffiel. Ob sie wussten, was für ein Bild sie nach außen trugen?
 

„Komm schon.“, begann Mimoun zu lachen. Er hob den Kopf, um Dhaôma anzusehen. „Warum sollte ich mich ausruhen müssen? So lange ist es noch nicht her, dass wir aus den Fellen gekrochen sind. Und die Winzlinge sind nicht anstrengend, solange sie noch nicht wegrennen können.“ Er klopfte seinem Freund auf den Oberschenkel und erhob sich in einer fließenden Bewegung. „Aber vielleicht sollten wir hier eine weitere Hütte bauen lassen, wo wir Holz einlagern können. Wasserfest natürlich. Schließlich sind wir ja nun häufig genug hier, für Addars Süppchen brauchen sie auch Holz und je nachdem, ob sich unser Winzling an rohes Fleisch gewöhnen lässt oder nicht, wird man für sie auch regelmäßig Feuerholz brauchen.“ Er winkte zum Abschied über die Schulter. „Aber darum können wir uns später kümmern.“
 

Dhaôma winkte zurück. Darum könnte er sich ganz alleine kümmern. Und wenn die Holzhöhle groß genug war, dann wäre es auch noch ein netter Spielplatz für die Kleinen. Aber noch war es zu kalt dazu. Das kleine Bäumchen, das die Wände bilden würde, würde dann ganz gewiss sterben.

Den Rest des Tages lernte Dhaôma, wie man auf Kleinigkeiten von Babys achtete. Die kleinste Regung konnte etwas bedeuten. Und Leoni erklärte ihm, dass wenn man lernte, darauf zu achten, die Kleinen auch nicht schrieen. Richtig gut wurde er darin nicht, aber auch das war Übungssache, meinte sie.
 

Am nächsten Tag flogen Addar, Asam und Janna los zur Ratsinsel. Die Frau kam zur Unterstützung mit, um nötigenfalls ihren Großvater vor einem Absturz zu bewahren. Und Mimoun und Dhaôma integrierten sich in den natürlichen Ablauf des Dorfes. Mimoun half bei der Jagd und setzte seine Idee einer Hütte in die Tat um, wobei ihm die älteren Kinder halfen, während der Magier die Aufgabe hatte, sich um die jüngeren zu kümmern, hauptsächlich mit Leonis Hilfe um die beiden Babys. Und nachdem er hörte, dass selbige Probleme hatte, beide auf Dauer mit Milch zu versorgen, half er mit seinen Heilkräften nach, damit die beiden Babys nicht hungern mussten. Leoni war beeindruckt und dankbar.

Und es stellte sich heraus, dass sie die beiden Winzlinge ohne Unterschied behandelte. Zwar bekam Seren immer noch zuerst zu trinken, aber Dhaôma hatte nicht das Gefühl, dass sie dafür die Magierin mit weniger Liebe bedachte. Sie gab ein Gefühl von sich, dass sie die Kleine längst adoptiert hatte. Und der Beweis dafür war, dass sie begann, Dhaôma Vorschläge zu machen, wie sie die Kleine nennen könnten. Thalia, Reya, Jaffie, Selly, Mira und Nora waren einige der schönsten Namen, doch beide tendierten sie schon bald zu Fiamma, was in der alten Sprache so viel wie Frieden und manchmal auch Flamme bedeutete. Zu ihrer magischen Gabe passte der Name auch hervorragend, also trugen sie die Vorschläge Mimoun und den anderen beim Abendessen vor. Abwartende Blicke von allen hafteten auf dem jungen Hanebito. Irgendwie hatte jeder im Stillen längst akzeptiert, dass Mimoun der Vater war, auch wenn sie hier bleiben sollte, also lag die letzte Entscheidung bei ihm.
 

Dieser verzog amüsiert-verzweifelt das Gesicht, als er alle Blicke auf sich spürte. Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Frieden und Hoffnung passen doch gut zusammen, oder?“ Also war es beschlossene Sache. Die kleine Magierin würde ab nun den Namen Fiamma tragen.

Die Tage zogen sich dahin und jeder war gut beschäftigt, selbst Amar und seine beiden Cousinen beteiligten sich an der Babypflege, nur Mimoun wurde immer ungeduldiger. Je länger sie fort waren, umso länger dauerte die Ratssitzung an, desto verzwickter schien die Diskussion dort zu verlaufen. Zumindest schien es kein klares Nein zu sein, versuchte er sich Hoffnung zu machen. Die geschätzte Woche, die sie weg bleiben würden, verstrich, ohne dass einer von ihnen wieder auftauchte. Jeden Abend begann er nun mit einigen anderen unruhig am Rande der Insel auf und ab zu laufen. Und jeden Abend ging er enttäuscht zu Bett, dicht an seine beiden Magier gekuschelt.

Welch Erleichterung war es, als die Gesuchten schließlich am Horizont auftauchten. Schnell sprach es sich in dem Dorf herum und alles versammelte sich, um die Heimkehrer zu begrüßen.

„Da stimmt etwas nicht.“, murmelte jemand in der Menge. Mimoun versuchte den Sprecher ausfindig zu machen und entdeckte bei Einigen eine unsicher gerunzelte Stirn. Noch bevor er in irgendeiner Art reagieren konnte, erhoben sich diese in die Luft und flogen den Ankömmlingen entgegen. Dann sah auch er es. Addar flog nicht selber, sondern wurde gestützt.

Hastig sah er sich nach seinem Freund um. „Dhaôma?“
 

Dieser war längst selbst gekommen bei dem Aufruhr, hatte sich aber im Hintergrund gehalten. Besorgt trat er nun auf Mimoun zu. „Lass sie landen.“, sagte er bemüht ruhig, doch seine Stimme zitterte trotzdem vor Sorge. Dass Addar nicht selbst fliegen konnte, war genauso besorgniserregend wie die Nachricht, die er vielleicht überbrachte. „Ich kann bei so vielen Menschen und der Unruhe beim Fliegen kaum etwas tun.“ Dann drehte er sich um und lief los und rief schon bevor er durch den Eingang platzte: „Leoni! Leoni! Bereite bitte Addars Lager. Ihm geht es offenbar nicht so gut!“

Selbige und Karo sahen auf und setzten die beiden Babys sofort zurück in den Korb, Sorge auf den Gesichtern. „Weißt du genaues?“, wollte Asams Schwester wissen und begann auf sein Kopfschütteln hastig mit den Vorbereitungen. Sie entfernten auch die Trennwand, um zusätzlich zu Addars Pflegern auch Dhaôma genügend Platz zu bieten, denn sie wusste schon jetzt, dass es wohl ein ziemliches Gedränge werden würde.

„Ich bereite ein Feuer draußen vor!“, gab Dhaôma Bescheid, bevor er nach draußen verschwand. Inzwischen waren die Heimkehrer schon beinahe da.
 

Ein Großteil der Gruppe trat einige Schritte zurück, um ihnen Platz zum Landen zu lassen. Einige wenige traten näher hinzu, um hilfreich zuzugreifen.

„Ich brauche keine Hilfe.“ Unwirsch versuchte Addar die Hände beiseite zu schieben. Unnachgiebig stützten ihn seine Enkel weiterhin. Auf einen bezeichnenden Wink Mimouns hin, geleiteten sie ihn zu ihrer Hütte, das besorgte Getuschel der Dorfgemeinschaft im Rücken. „Es geht mir gut.“, betonte der Älteste erneut, dem es unangenehm zu sein schien, dass man sich wieder Sorgen um ihn machte.
 

Dhaôma war mit dem Arm voller Holz stehen geblieben und hatte zugesehen, wie Addar sich zu wehren versuchte. Augenblicklich war er beruhigt. Addar ging es gut. Er war erschöpft, aber nicht verletzt oder krank. Und nachdem er den ganzen Winter über kein Training gehabt hatte, war es kein Wunder, dass er die Strecke nicht geschafft hatte.

Lächelnd und beruhigt setzte er seinen Weg fort, während die Reisegesellschaft in der Hütte verschwand. Die Dorfbewohner blieben unschlüssig draußen stehen und redeten durcheinander. Nur Amar schlüpfte ebenfalls in die Hütte, begierig auf Neuigkeiten und Geschichten. Und obwohl Dhaôma ebenfalls neugierig war, traute er sich nicht hinein. Er wollte keine negative Antwort hören. Stattdessen stapelte er seinen Arm voll Holz vor der Hütte.
 

Wenn jemand den Gesundheitszustand einer Person richtig einschätzen konnte, dann Dhaôma. Als Mimoun sah, dass sich sein Freund entspannte, wurde auch er ruhiger. Mit diesem Hinweis ließ sich auch die Menge wieder beruhigen. Zumindest was Addars Verfassung anging. Und da das nun geklärt schien, begannen die Spekulationen um das andere Thema.

Mimoun trat neben seinen Freund und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Kommst du mit? Ich möchte nicht allein sein da drinnen.“
 

Gequält verzog Dhaôma sein Gesicht zu einem Grinsen. „Ich will gar nicht da drin sein, aber weglaufen bringt nichts, oder? Wir erfahren es ohnehin, nicht wahr?“ Dann seufzte er. „Andererseits sollten wir etwas Warmes für Addar machen. Er sah aus, als hätte er die Kälte wieder in den Gliedern und es ist anstrengend, das nur mit Magie zu lindern.“
 

„Okay.“, erwiderte Mimoun nach einigem Zögern. „Wenn du möchtest, kannst du dich hier draußen darum kümmern und ich schau drinnen nach dem Rechten.“ Nach einem aufmunternden Lächeln und einem flüchtigen Streicheln des Kopfes drehte er sich um und verschwand in der Hütte.
 

Der braunhaarige junge Mann seufzte. „Als käme ich drum herum.“, murmelte er, bevor er einen der Hanebito darum bat, Feuer zu machen und Wasser aufzusetzen, wie er es ihnen beigebracht hatte. Froh darum, etwas für ihren Anführer tun zu können, ohne einfach abgeschoben worden zu sein, versprachen sie, sich zu beeilen. Danach folgte Dhaôma seinem Freund in die Hütte, denn immerhin handelte es sich hier um seinen Gastgeber und denjenigen, der Fiammas Zukunft in den Händen hielt, und zusätzlich um seinen Patienten. Da sollte er schon den Mut haben, der Wahrheit zu begegnen.
 

In der Hütte ging es geschäftig zu. Addar war bereits zu seinem Lager gebracht worden, wo er sich unter Protest niedergelassen hatte, und in Felle gehüllt worden war. Karo reichte ihm und den anderen beiden Ankömmlingen Wasser. Asam und Janna hatten sich ein wenig abseits niedergelassen und atmeten einmal durch. Amar wuselte zwischen allen herum und fing sich Schelte von seiner Mutter ein. Seren fing aufgrund der Hektik zu wimmern an. Um dies zu unterbinden, trat Mimoun an den Korb und stellte ihn neben den Eingang. So konnte er einerseits das weitere Geschehen beobachten und Neuigkeiten erfahren, andererseits konnte er die Babys beruhigen.

Die Plane schob sich zurück und Mimoun sah auf. Dhaôma war ebenfalls in die Hütte gekommen. Erleichtert seufzte der junge Geflügelte auf. Er hatte wirklich nicht allein hier rein kommen wollen, aber seinen Freund zwingen ging ja auch nicht.

Da Seren sich nicht beruhigen wollte, hob er sie auf den Arm und bot ihr seinen kleinen Finger zum Nuckeln an. Es half, wenn auch nur bedingt.
 

Das brachte Dhaôma zum Lachen. Und noch mal, als er sah, wie Fiamma versuchte aus dem Korb zu klettern, um ebenfalls zu Mimoun zu kommen. Er lehnte sich vor und flüsterte dem Schwarzhaarigen ins Ohr: „Es ist schön zu wissen, dass sie in guten Händen sein wird, falls sie sie fallen lassen.“ Und damit hob er sie hoch und drückte sie dem Hanebito ebenfalls in die Hände, bevor er sich zu Addar aufmachte.

Leoni sah ihm freundlich entgegen und Yaji machte schnell Platz. Sie hatte ihren Urgroßvater stürmisch wie immer begrüßt und erst jetzt wieder von ihm abgelassen. „Guten Tag, Addar.“, begrüßte Dhaôma den alten Mann. „Ihr habt Euch wirklich gar nicht geschont, oder?“ Leichter Vorwurf war in seiner Stimme zu hören, aber auch leichtes Amüsement.

Addars Blick war mindestens ebenso gemischt und zeigte, dass er die Kritik nicht ernst nahm. „Was soll ich machen, wenn sie reden und reden und reden? Oh ja.“ Er seufzte tief. „Sie hatten wirklich eine Menge zu sagen.“

„Ihr bekommt danach etwas Warmes zu essen. Gargal ist dabei, Feuer zu machen. Aber vorher wäre es schön, wenn Ihr mich Hand anlegen lassen würdet.“

Die alten Augen musterten den braunhaarigen Magier. Irgendwie hatte er erwartet, dass man ihm die Nachricht gleich aus den Lippen reißen würde, aber dieser Junge kümmerte sich stattdessen lieber um sein Wohlergehen. Als würde es ihn nicht kümmern, was aus dem Mädchen wurde. Aber wenn er ihn genau ansah, konnte er die gespannten Schultern sehen und die verkrampften Hände. Warum war das so, dass er sich schon wieder zurücknahm? Er wurde aus diesem Exemplar Magier einfach nicht schlau. Auch jetzt wartete er geduldig, bis er ihm die Erlaubnis erteilte.

„Ich bitte darum.“, sagte er schließlich.

Und wurde im nächsten Moment mit eiskalten Fingern konfrontiert. Selten hatte Dhaôma wirklich kalte Hände, selbst wenn er durchgefroren war, beim Heilen wurden seine Hände automatisch warm. Heute nicht. Er lächelte mitleidig. „Junge, mach dir keine Sorgen mehr.“, sagte er leise, legte seine knorrigen Hände auf die weichen des Magiers. „Sie darf bleiben.“ Und dabei hatte er vorgehabt, es spannend zu machen und selbst Asam verboten, seine überschwängliche Freude gleich kundzutun.

Er wurde belohnt von rotbraunen Augen, die sich in Unglauben weiteten und dann zu strahlen begannen. Fast konnte er fühlen, wie die Hände unter seinen wärmer wurden, wie die Farbe in das Gesicht zurückkehrte und das Licht der Linien heller leuchtete. Er spürte, wie ihn Kraft gleich einer Flutwelle durchströmte, und war sich dennoch sicher, dass Dhaôma das momentan gar nicht wirklich initiierte. Der Beweis kam, als der Braunhaarige sich umwandte und Mimoun anstrahlte.

„Hast du das gehört?“, rief er und die Linien auf seinen Wangen verblassten, ließen die Hütte ein wenig dunkler zurück. „Mimoun!“
 

Nein, hatte er nicht. Mimoun hatte alle Hände voll zu tun mit den Kleinen. Fiamma hatte begonnen, begeistert quietschend an seinem Ohr zu ziehen und Seren war ungehalten, da sie nicht mehr die ungeteilte Aufmerksamkeit besaß. Frustriert holte sie mit ihren winzigen Fäustchen aus und erwischte Mimoun im Gesicht. Erst als er seinen Namen hörte, sah er auf, konzentrierte sich wieder auf die Geschehnisse um ihn herum.

Da war Addar mit seinem gütigen Großväterchenlächeln, Asam mit breitem Grinsen, Leoni, die ihrem Gefährten gerade freudig um den Hals sprang, und dazwischen ein glücklich strahlender Dhaôma. Hieß das etwa?

„Darf sie etwa…?“, fragte er dennoch zögerlich vorsichtig nach.
 

„Sie darf bleiben.“, bestätigte Addar. „Unter der Voraussetzung, dass Dhaôma regelmäßig vorbeikommt, um uns Unterricht darin zu geben, wie man jemanden mit Magie am besten erzieht.“

Diesem fielen förmlich die Augen aus dem Kopf. „So wie ihr das mit euren Kindern macht, ist das doch gut.“

Leoni begann zu lachen. Nachdem sie die letzten paar Tage fast täglich mit dem Magier zu tun gehabt hatte, wusste sie schon, dass er dazu tendierte, alles sehr genau zu nehmen und Fragen nicht bis in den Hintergrund zu verfolgen. Und jetzt gerade dachte er wahrscheinlich, dass er sie den Magiergebräuchen entsprechend aufwachsen lassen sollte. „Dhaôma, er will, dass du ihr beibringst, ihre Magie richtig zu beherrschen.“

„Oh. Na klar.“, antwortete der Braunhaarige und wurde rot. „Vielen, vielen Dank, Addar!“ Er griff nach den Händen und drückte sie. „Ich verspreche auch, alles zu geben!“

„Zumindest davon sind wir ausgegangen.“ Immerhin tat der Magier selten etwas ohne voll dahinter zu stehen. „Und jetzt möchte ich etwas essen. Wie war das? Es gibt etwas Warmes?“

„Aber ich wollte vorher...“

„Hast du doch schon.“

„Hab ich nicht. Ich...“ Nach einer kurzen Prüfung musste Dhaôma einsehen, dass Addars Kraftreserven vollständig wieder aufgefüllt waren. „Aber wann?“

Addar lächelte ihn an. Da hatte er es wirklich nicht bemerkt. „Vorhin.“

Seine Irritation ließ Dhaôma sich nicht anmerken, als er sich überlegte, wann das gewesen sein sollte, aber er kam nicht drauf. „Na dann, ich kann mal sehen, wie weit sie sind.“ Damit stand Dhaôma auf und wollte hinauslaufen, doch er wurde von Asam eingefangen, der ihn fest drückte, dass er das Gefühl hatte, seine Knochen würden knirschen.

„Jetzt habe ich zwei Töchter!“, grinste der Mann. „Dank euch beiden. Vielen Dank!“

„Uh.“

„Schatz, er braucht Luft.“ Leoni wollte nur schlichten, dann hing auch noch Amar freudestrahlend an Dhaôma und kurz darauf die beiden Mädchen. Sie zuckte die Achseln und stellte sich neben Mimoun. „Da sie die Kleine nicht so stürmisch in der Familie begrüßen können, seid ihr die Sündenböcke. Ich nehme dann mal die beiden Kleinen.“ Und gerade rechtzeitig balancierte sie die Mädchen auf ihren Arm, bevor Mimoun sich ebenfalls Asams Schraubstockgriff entgegensah. Leoni stand nur lächelnd daneben, während Karo hinausging, um die Suppe zuzubereiten.
 

Sie konnte bleiben. Sein Winzling war in Sicherheit. Mimoun drückte ihr einen Kuss auf die Wange, als ihm die Babys bereits aus dem Arm genommen wurden. Somit war sein Schutz verschwunden und Asam ließ ihm nicht die Chance zu entkommen. Schnell entwickelte sich das gewohnte Kräftemessen daraus, das zugunsten Mimouns ausschlug. Durch die zahlreichen Tage, in denen er mit Dhaôma geflogen war, stand er gut im Training.

Doch plötzlich dachte er nicht einmal mehr daran sich zu wehren. Von einem Moment auf den nächsten hörte er einfach auf. Ihm ging gerade auf, was diese Aussage wirklich bedeutete. Zwar hatte Winzling nun das, was er sich für sie wünschte, eine richtige Familie, aber er würde sich nun von ihr trennen müssen. Je nachdem wie lange ihre Suche noch dauern würde, würde er sie Wochen, wenn nicht sogar Monate nicht mehr zu Gesicht kriegen! Dieser Gedanke versetzte ihm einen Stich.

Und noch etwas ging ihm dadurch auf: Nämlich, wie schwer es seiner Mutter gefallen sein musste, ihn gehen zu lassen. Mit einem kurzen, harten Ruck befreite er sich aus Asams Griff und ließ diesen verständnislos zurück. Da ihre Habseligkeiten in dem Dorf Tage entfernt legen, durchsuchte er die Kammer nach etwas zu schreiben und hielt sein Fundstück fragend in die Höhe. „Darf ich?“

„Natürlich.“, nickte Addar. Auch er war ein wenig erstaunt über die hektische Reaktion des Jungen.
 

Dhaôma hatte nur gelacht, als Mimoun ihm wenigstens Asam abgenommen hatte. Jetzt erklärte ihm Amar gerade, dass er seine neue Cousine ganz sicher beschützen würde. Er würde ihr alles Wichtige beibringen und Leoni ganz gewaltig unterstützen. Juri und Yaji lachten ihn dafür aus, weil er sich ja nicht einmal um Seren richtig kümmern wollte, aber da hatte er eine einleuchtende Erklärung: „Sie ist ja auch nicht so empfindlich wie Magier!“ Und da sie das einsahen, versprachen auch sie, alles in ihrer Macht stehende zu tun, damit es der Kleinen gut ging.

„Aber ihr müsst auch wiederkommen, ja?“

Große Kinderaugen flehten ihn an. Und der Braunhaarige stellte fest, dass Amar wirklich glaubte, er würde sie vergessen und nie wieder kommen. Plötzlich ernst legte er seine Hände auf Amars Schultern und sagte: „Hör mal, ich würde auch wiederkommen, wenn es sie nicht gäbe. Glaubst du im Ernst, ich würde meine Freunde vergessen?“

„Ja, aber beim letzten Mal warst du mehr als ein halbes Jahr weg!“

„Ich kann die Kälte nicht ertragen, die hier im Winter herrscht. Das weißt du doch.“

„Und was ist dann mit ihr? Kann sie es?“

„Sie kann noch im Haus bleiben. Sie ist nicht darauf angewiesen, hinauszugehen, um sich zu erleichtern oder dergleichen.“

Amar sah zweifelnd aus.

„Glaubst du mir nicht?“

„Doch.“, druckste er.

Und Juri half. „Was ist dann, wenn sie älter wird? Wenn sie hinaus will?“

Dhaôma seufzte tief. „Das weiß ich noch nicht. Ich hoffe einfach darauf, dass ich ihr beibringen kann, Wärme ohne Flammen zu erzeugen. Das hätte auch gleichzeitig noch den Vorteil, dass Addar es im Winter warm hätte.“ Dann kicherte er. „Aber jetzt ist erstmal Sommer und ich hoffe, ich komme noch vor dem Winter zurück. Und dann bringe ich ein viel größeres Lebewesen mit.“

„Einen echten Drachen!“, strahlte Juri und lehnte sich über seinen Rücken, schlang ihre Arme um seinen Hals.

Wieder lachte Dhaôma. Die beiden Mädchen, die zuvor so unglaublich zurückhaltend gewesen waren, hatten ihre Scheu in den letzten anderthalb Wochen verloren. Und jetzt waren sie genauso klebrig wie Amar. „Ja, so sollte es sein.“

„Und wie wirst du ihn nennen?“

„Das weiß ich doch jetzt noch nicht.“, lachte er. Bei einem leisen Gurren sah er auf und konnte beobachten, wie Asam sich Fiamma aushändigen ließ. Sein Gesicht war weich und liebevoll, als er sie betrachtete und sanft streichelte. Als sie die Hände nach seinem Gesicht ausstreckte, drückt er seine Nase vertrauensvoll gegen ihren Bauch, so dass sie an seinen blonden Haaren ziehen konnte. Es beruhigte ihn vollends. Die kleine Magierin war nirgends besser aufgehoben als hier.

Janna zog ihre Tochter von dem Magier herunter. „Du hast unsere Familie ganz schön aufgerüttelt.“, sagte sie verschmitzt. „Wie ein Wirbelwind hast du alles einfach umgeworfen und neu geordnet, hast unsere Familie sogar gleich zweimal erweitert.“ Schuldbewusst wollte Dhaôma etwas dazu sagen, sie ließ ihn jedoch nicht. „Ich finde das gut. Es ist, als würde ein neuer Wind wehen.“

„Aber das ist nicht mein Verdienst.“

„Doch.“, wandte sie ein. „Wenn du Mimoun nicht geholfen hättest, wärst du niemals hergekommen und ich würde immer noch denken, Magier wären gefährliche Kreaturen ohne Herz, immer nur darauf aus zu töten. Stattdessen kann ich ohne Angst akzeptieren, dass ein Magierbaby unter unserem Dach lebt.“

Wenn Dhaôma daran dachte, wie sie am Anfang gegen ihn gewesen war, dann war das ein unglaublicher Schritt. „Ich bin froh, dass es so ist.“

Sie lächelte und drückte ihre Tochter an sich, strubbelte ihr durch die langen Haare. „Und ich will daran glauben, dass dieser Krieg nicht von unseren Kindern weitergeführt werden muss. Sie sollen so leben können wie du und Mimoun, frei von den Vorurteilen gegen die andere Rasse.“ Ihre grünen Augen fixierten ihn, als sie lächelte. „Ich warte darauf, dass ihr es schafft, auch deine Leute dafür bereit zu machen, mit uns zu reden, damit wir alle Streitigkeiten endgültig ausräumen können.“

Uh, ja, das war sicher noch ein Problem, das er angehen musste. Aber er würde es versuchen. Ganz sicher. Und er würde es schaffen. Wie auch immer. „Das wird noch einige Zeit dauern.“, wich er dem Versprechen aus. „Ich kann dir nicht sagen, wie lange.“

„Das weiß ich. Und so wissen es auch alle anderen.“ Sie lehnte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: „Die meisten aus dem Hohen Rat habt ihr auf eurer Seite. Sie haben alle genug vom Kämpfen und vom Krieg.“ Verschmitzt lächelnd fügte sie lauter an: „Aber sie glauben nicht so recht, dass ihr es schafft, also strengt euch an, ihnen das Gegenteil zu beweisen!“

„Warum müssen die beiden das alleine machen?“, wollte Amar wissen. „Ich könnte ihnen doch helfen!“

„Du bist zu klein.“, schmetterte Dhaôma diesen Vorschlag rigoros ab. „Vergiss nicht, dass es kein Spaziergang ist oder ein Spiel.“

„Aber…“

„Wenn du so alt bist wie Mimoun oder ich, dann habe ich nichts mehr einzuwenden, bis dahin musst du dich gedulden.“

Er verzog das Gesicht. „Und wie alt bist du?“

Dhaôma stockte ob der Frage. Äh, ja, wie alt war er noch mal? Als er seine Reise begonnen hatte, war er… sechzehn gewesen? Dann war er jetzt… „Achtzehn.“, antwortete er, doch sicher klang er nicht. „Ist es wirklich erst zwei Jahre her? Hey, Mimoun?“, rief er etwas lauter, damit sein schreibender Freund ihn auch hören konnte. „Wie lange kennen wir uns jetzt? Sind es wirklich erst zwei Jahre?“ Ihm kam es eher vor wie ein ganzes Leben.
 

Nachdenklich wurde das Schreibzeug sinken gelassen. „Zwei Winter.“ begann Mimoun laut zu überlegen. „Aber wir haben uns erst kurz vor dem Ersten kennen gelernt. Und der Zweite ist noch nicht ganz rum. Nicht ganz zwei Jahre.“, korrigierte er. Aber die Zeit, wie lange er den Magier nun kannte, war unwichtig. Ihm war die Zeit wichtiger, die er mit ihm verbrachte. „Warum?“, wollte er wissen. Er hatte den Anfang des Gesprächs ja irgendwie verpasst. „Ist es wichtig?“
 

„Nicht wirklich. Amar wollte wissen, wann er uns begleiten darf.“, kicherte er bei der gerunzelten Stirn. „Also, Amar, ich bin achtzehn Jahre alt. Du musst noch warten, bis du alt genug bist.“

„Aber dann warst du siebzehn, als du deine Reise begonnen hast.“, monierte er. „Ich darf also schon ein Jahr früher mit.“

„Ja. In Ordnung.“, sagte Dhaôma und verschwieg ihm, dass er mit sechzehn gestartet war. „Nichts desto trotz wirst du warten müssen. Und auf deine Familie aufpassen. Immerhin bist du neben Asam der einzige junge Mann.“

Es war wirklich erstaunlich, wie diese winzige Information die Brust des Kindes schwellen ließ. „Ja, ich beschütze sie!“, rief er. „Und wenn ich älter bin, werde ich mit euch die Magier… wie war das? Umkrempeln?“

Janna und Dhaôma begannen zu lachen. War das das Wort, das hier kursierte? Klasse. „Gut.“, nickte Janna schließlich und als ihre beiden Töchter ebenfalls ein solches Versprechen abgaben, strahlte sie. „Ich glaube, du steckst sie irgendwann alle an mit deinem Wunsch nach Frieden.“

„Ich gebe mir Mühe.“
 

Da er sich nun auf die Unterhaltung konzentrierte, konnte sich auch Mimoun eines Lachens nicht erwehren. Laut begann er aufzuzählen: „Haru, Elin, Ramon, Dhara, Yaji, Juri, Amar…“ Nun hatte er den Überblick verloren, starrte auf seine zur Hilfe genommenen Finger und schüttelte lachend den Kopf. „Und wenn die Winzlinge auch noch mitmachen, wird das eine ziemlich große Reisegesellschaft.“ Er grinste verschmitzt. „Und fast ausnahmslos Geflügelte. Das muss dringend ausgewogener werden. Sammeln wir noch ein paar Magierkinder.“ Der junge Geflügelte erhob sich und ließ einmal seinen Rücken einknacken. „Aber bis die groß genug sind, können wir uns längst zur Ruhe setzen. Wir zählen dann auch schon zu den Alten.“

„Werd nicht frech.“, kam lachender Protest von mehreren Seiten.

„Du kannst dich alt schimpfen, wenn du Jungspund es auf mein Alter gebracht hast.“, fügte Addar hinzu.
 

Dhaôma kicherte ebenfalls. „Ich finde auch, dass 29 kein Alter ist.“, meinte er. Dann zeigte er auf den Brief, den Mimoun schrieb. „Ist der an deine Mama? Sagst du ihr, dass du jetzt ein Patenkind hast?“
 

„Ich versuche, ihr irgendwie schonend beizubringen, dass sie jetzt Großmutter geworden ist… mehr oder weniger jedenfalls.“ Er griff nach dem Papier, das er fallen gelassen hatte und hielt es seinem Freund hin. „Möchtest du ihr auch noch was sagen?“
 

„Gerne.“ Und im nächsten Moment klebte diesmal Yaji auf seinem Rücken und umarmte ihn, als er Feder und Papier entgegen nahm.

„Was wirst du schreiben? Ist es wahr, dass ihr ein Paar seid? Habt ihr Fiamma deshalb mitgenommen? Weiß sie es schon?“

Dhaôma verschluckte sich fast, aber es war klar, von wem diese Informationen kamen, denn Amar hatte einen hochroten Kopf. Und alle lachten. Wann würden sie begreifen, dass er kein Mädchen war? „Ich denke nicht, dass es dich etwas angeht, was ich Cerel schreiben will.“, antwortete er. Seine Stimme war freundlich und hintergründig etwas verzweifelt, als er anfügte: „Und wir sind kein Paar. Wir sind Freunde. Und Fiamma haben wir mitgenommen, weil sie sonst niemanden mehr hatte. Das weißt du bereits.“ Er seufzte und strich ihr über den Kopf. „Yaji, du musst noch lernen, dass du nicht alles glaubst, was dir andere erzählen. Anstatt immer nachzuplappern, was andere sagen, denke nach und mach dir dein eigenes Bild, basierend auf deinen eigenen Beobachtungen.“

Sie sah aus, als hätte er sie geschlagen. Das war bei weitem die härteste Schelte, die Dhaôma jemals einem der Kinder hatte zukommen lassen. Dass er dabei nicht lächelte, machte es nur schlimmer. Tränen traten in ihre Augen und rannen über ihre Wangen und Dhaôma sah sie erschrocken an.

„Yaji?“

Sie rutschte von ihm herunter und Janna lächelte. „Du musst zugeben, dass er Recht hat.“, sagte sie und es kamen noch mehr Tränen.

Seufzend zog Dhaôma sie zu sich herunter. „Sei nicht traurig. Ich bin nicht böse. Es war nur ein Rat für die Zukunft.“

Yaji nickte, aber trotzdem schluchzte sie noch. Und durch das Geräusch angesteckt, begann nun auch Seren zu quengeln. Und Dhaôma zog sie in die Arme. Er lächelte und streichelte beruhigend ihren Kopf. Janna tat es ihm nach.
 

„Irks.“ Mimoun kratzte sich am Kopf, als er das sah. Na toll. Diese Kinder würden es doch nie lernen. Sie bauten sich ihre Welt so zurecht, wie sie es wollten. Da halfen keine Erklärungsversuche.

Er lächelte liebevoll, als er ebenfalls seine Hand auf ihrem Haarschopf legte. Aber das war der Vorteil an Kindern, ihre Unvoreingenommenheit. „Ich würde den Brief gerne meiner Mama schicken.“ Er hockte sich hin. „Aber er kann nicht schreiben, solange du traurig bist. Dhaôma kann so was doch nicht ertragen. Was meinst du? Ob du für ihn lachen könntest?“
 

Ihre Augen schauten zu ihm hoch, wässrig und gerötet. Dann nickte sie und schluckte alles hinunter. Noch zweimal erlitt sie einen Rückfall, dann drückte sie sich an Dhaôma und war still.

Dieser grinste Mimoun an und zeigte ihm den erhobenen Daumen. Das hatte er sehr gut gemacht. Er griff nach der Feder und begann zu schreiben. Nur ein paar Zeilen, dass sie ihre Reise unterbrochen hatten, jedoch bald wieder loszögen und dass sie beim nächsten Mal sicher bei ihnen vorbeisehen würden, um ihr die kleine Fiamma vorzustellen, die sie adoptiert hatten. Noch bevor er den Brief an Mimoun zurückreichte, kam Karo mit Suppe herein und reichte eine Schale voll an Addar und die zweite an Leoni, die sie für die Babys brauchte. Sie ging noch einmal hinaus, um auch für Dhaôma eine zu holen, während die Kinder nun den Tisch für alle deckten.
 

Solange Dhaôma noch mit schreiben beschäftigt war, half dessen Freund bei den Vorbereitungen. Als der Magier dann neben ihm auftauchte und ihm den Brief entgegen streckte, lächelte er ihm kurz zu.

„Ich bin sofort zurück.“, merkte Mimoun an, griff sich den Brief und verließ die Hütte. Draußen streckte er sich einmal ganz aus. Heute war ein guter Tag, befand er für sich. So zufrieden und entspannt hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Auch wenn ein kleines nagendes Gefühl des Verlustes in einer winzigen Ecke seines Bewusstseins wühlte. Suchend sah er sich um. Am Rande der Insel befand sich eine größere Ansammlung Geflügelter. Waren sie etwa noch immer am Diskutieren? Ihm konnte es egal sein. So musste er nicht das gesamte Dorf nach jemandem absuchen, der ihm weiterhelfen konnte.

„Verzeihung?“, rief er in die nach innen gerichtete Menge, in deren Rücken er nun stand. „Ich würde gerne diesen Brief an meine Mutter schicken. Könnte ihn jemand überbringen?“ Er hielt das bezeichnete Objekt hoch und wedelte damit ein wenig in der Luft herum. Vor ihm drehten sich einige um, grinsten seltsam und nahmen ihm das Ding aus der Hand. Bevor er so etwas wie ein ‚Danke’ von sich geben konnte, wanderte der Brief von einer Hand zur nächsten. In derselben Geschwindigkeit teilte sich die Menge vor ihm auch, so dass er den Weg verfolgen und beobachten konnte, wie er einer Frau in die Hand gedrückt wurde.

„Auftrag ausgeführt.“, erklang es von der Mitte der Menge.

Mimoun war zu perplex, um in irgendeiner Art zu reagieren, als er auch schon zu Boden gerissen wurde und lautes Lachen um ihn herum erklang.
 


 

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Ich liebe Asam und Leoni. Die beiden sind so toll, dass ich fast weinen will, wenn ich das lese (was ich selbst geschrieben habe...) Voll die Überwesen ^^

Damenbesuch

Kapitel 37

Damenbesuch
 

„Si… Silia.“, murmelte er verwirrt, als er die Stimme erkannte, die seinen Namen rief. Mimoun hob die Hände, um seine kleine Schwester zu umarmen, doch auch dieses Mal ließ sie ihm keine Zeit zur Reaktion. Sie setzte sich auf, saß nun auf seinem Bauch, und trommelte mit ihren Fäusten auf seiner Brust herum.

„Du verdammter Idiot. Nur Ärger hat man deinetwegen. Ist dir eigentlich bewusst, was du angerichtet hast?“

„Silia!“, wurde das Mädchen scharf von ihrer Mutter zurechtgewiesen. „Vergiss nicht, wo du dich hier befindest.“

Missgelaunt zog Silia ihre Nase kraus, bevor sie sich erhob und ihrem Bruder schwungvoll wieder auf die Beine half. Zum Abschluss verpasste sie ihm dennoch einen weiteren Hieb gegen die Schulter.

Verständnislos starrte Mimoun erst seine Schwester, dann seine Mutter an. „Wie kommt ihr hierher?“, wollte er wissen. „Ich meine… nicht, dass ich mich nicht freuen würde, euch zu sehen, aber was tut ihr hier? Warum seid ihr hier?“

Cerel war inzwischen zu ihrem Sohn getreten und zog ihn in eine Umarmung, in die er sich genießend hineinlehnte. „Brauche ich denn einen Grund, um meine geliebten Kinder sehen zu wollen?“

Ein Räuspern ließ Mimoun aufsehen. Karo stand mit einer dampfenden Schüssel neben ihnen.

Hastig löste er sich von seiner Mutter. „Meine Mutter Cerel und meine Schwester Silia.“, stellte er die beiden neu angekommenen Frauen vor. „Und das ist Karo. Schwester Asams und Enkelin Addars.“

„Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen.“, grüßte Karo und lächelte. „Sieht so aus, als müssten wir für zwei weitere Gäste decken.“

„Das ist nicht nötig.“, wehrte Cerel hastig ab. „Weder wollten wir Umstände machen, noch wollten wir lange bleiben. Wir wollten…“

„…mitessen.“, warf Karo ein und deutete auf die Hütte ihres Großvaters. „Kommt. Ihr seid herzlich eingeladen.“

Lachend ergriff Mimoun seine Mutter an der Hand und zog sie zu der Hütte. Silia setzte sich ebenfalls nur widerwillig in Bewegung. Das lag aber daran, dass sie gleich wieder diesem Magier begegnen musste. Karo trat vor ihnen durch die Lederplane.

„Wir haben zwei weitere Gäste.“, kündigte sie innen an.
 

Dhaôma beschäftigte sich unterdessen damit, Fiamma zu füttern. Und damit nicht so viel auf seinen Umhang tropfte, hatte er diesen und sein Hemd einfach ausgezogen. Es sorgte für allgemeine Erheiterung, denn das Baby war viel eher daran gelegen, an seinen Haaren zu nuckeln, als die Suppe wirklich zu essen. Jedes Mal, wenn sie den Löffel kommen sah, griff sie danach, hielt er sie davon ab, schwappte die Suppe über. Und er wurde immer verzweifelter, weil es bei Leoni und Seren viel besser klappte.

Als die Ankündigung kam, sah er auf. Und wurde prompt daran erinnert, dass es nicht gut war, Babys aus den Augen zu lassen, denn Fiammas Hand traf den Löffel und dieser hüpfte ihm aus der Hand gegen seine Wange. „Nein…“, jammerte er, denn jetzt hatte er Suppe in den Haaren und das bedeutete schwimmen gehen. „Das ist doch nicht wahr!“
 

Gleich mehrfaches Lachen erklang. Mimoun, Cerel und der Hauptteil der Versammelten lachten aus Spaß an der Situation, Silia aus purer Schadenfreude.

„Meine Mutter Cerel und meine Schwester Silia.“, stellte Mimoun unter heiterem Glucksen erneut die beiden Ankömmlinge vor. Dann trat er zu Dhaôma und ließ sich vor ihm auf ein Knie sinken. „Du hast da was.“, grinste er und fuhr mit einem Finger an der Wange seines Freundes entlang, um die aufgefangene Flüssigkeit anschließend abzulecken. „Lecker.“

Silias Lachen erstarb schlagartig und ihr Blick wurde finster, erst ein Knuff von ihrer Mutter rief ihr wieder ihre Umgebung ins Gedächtnis.
 

„Cerel!“, rief Dhaôma erfreut und wäre fast aufgesprungen, wenn Mimoun ihn nicht so überrascht hätte, indem er sich so plötzlich neben ihn hockte. „Was machst du denn? Warn mich doch wenigstens vor.“, beschwerte er sich, aber die Freude vertrieb das nicht. Seine Augen leuchteten. „Jetzt können wir ihr Fiamma selbst vorstellen!“ Und nach einem Blick auf die Kleine seufzte er. Sie war voller Suppe. „Auch wenn es Zeitpunkte gibt, an denen sie einen besseren Eindruck machen würde…“
 

Cerel lachte noch immer, wenn auch nun nur noch verhalten. Sie trat tiefer in den Raum und strich ihm zur Begrüßung kurz über den Kopf, bevor sie sich den Bewohnern der Hütte zuwandte. „Verzeiht bitte unser unangemeldetes Erscheinen. Es war nicht unsere Absicht, Euch diese Umstände zu machen.“ Sie verneigte sich leicht. „Und ich danke Euch für Eure freundliche Einladung.“

„Es ist eine Weile her. Ich freue mich, Euch wieder zu sehen.“, bemerkte Addar mit einem gütigen Lächeln und bat die beiden Frauen mit einer Handbewegung, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Das Essen war bereits hergerichtet und zwei weitere Gedecke waren schnell organisiert worden. Kurz wurden diejenigen einander vorgestellt, die sich noch nicht begegnet waren, bevor Addar zum Essen mahnte. Für Gespräche war danach noch genügend Zeit.
 

Vor Ungeduld beinahe platzend fuhr Dhaôma also fort, die kleine Magierin zu füttern, während er abwechselnd selbst immer wieder Suppe aß.

Addar amüsierte sich über dieses Verhalten köstlich. Er hatte Dhaôma als einen besonnenen, ruhigen, jungen Mann kennen gelernt und dass er jetzt so hibbelig war, fand er lustig. Und Mimoun, der Tod und Verderben nicht fürchtete, wenn er unterwegs war, war jetzt und hier wieder ein kleiner Junge, der seine Mutter über alles anhimmelte. Kinder. Sie würden sich niemals ändern.

„Hattet ihr eine gute Reise?“, wollte Asam wissen. „Oh, ich bin wirklich glücklich, dass ihr gekommen seid, denn ihr kennt Seren ja noch gar nicht. Und meine zweite Tochter, Fiamma, habt ihr auch noch nicht kennen gelernt!“ Er strahlte sie an und war kurz davor, die kleine Hanebito aus den Armen ihrer Mutter zu nehmen, doch diese schickte ihm einen vernichtenden Blick, denn sie war dabei, sie an Essen zu gewöhnen. Da sollte er nicht stören.
 

„Es war zwar ein langer Weg, doch unsere Reise verlief angenehm und ohne Schwierigkeiten.“, erwiderte Cerel auf die Frage. Dafür, dass dieser junge Mann vor ihr einmal den Rat führen würde, hatte seine Gefährtin ihn aber gut im Griff. Sie warf einen kurzen Blick auf die Babys und lächelte. „Ja. Ihr habt zwei wirklich süße Mädchen.“ Mimouns Mutter beobachtete Dhaôma dabei, wie er das Kind versuchte zu füttern. Und ihr fiel auf, was ihr vorher nur am Rande bewusst gewesen war. Dieses Kind besaß keine Flügel.

Die Erkenntnis stand ihr wohl ins Gesicht geschrieben, denn Mimoun begann zu lachen. „Das habe ich in dem Brief geschrieben. Du bist nun Großmutter… oder so ähnlich.“

„Was?“, platzte Silia dazwischen. Ihre Gesichtszüge waren komplett entgleist und sie bedachte das kleine Geschöpf mit einem abfälligen Blick. „Davon?“
 

„Hey, du!“, fauchte da Amar los, der bisher still die neuen Gäste betrachtet hatte. Sein Nackenhaar sah aus, als würde es sich sträuben, und er hatte sich halb erhoben. „Beleidige meine Cousine nicht!“

Leoni wollte ihn beruhigen, da mischte sich schon Asam ein. Nie zuvor hatte Dhaôma diesen Mann mit einem so wütenden Blick gesehen, aber jetzt schüchterte er ihn ein und das, obwohl es nicht ihm galt. „Dieses Kind…“, betonte er jede Silbe überdeutlich, während seine Augen Silias Blick wie kaltes Eis durchbohrten, „…ist meine Tochter. Sie wurde rechtmäßig von mir und meiner Frau adoptiert, da ihre wahren Eltern noch nicht dafür bereit waren, sie zu versorgen. Sie hat von Mimoun einen Namen erhalten und kein Geflügelter sollte es wagen, daran Anstoß zu nehmen!“
 

Silia presste die Lippen zusammen und saß stocksteif da. Dieser eben noch so freundliche Mann machte ihr nun Angst. Das würde sie natürlich nicht zeigen und so wurde ihr Gesichtsausdruck der eines bockigen Kindes. Mimoun hatte diesem Ding einen Namen gegeben. Das hieß, er war der Vater, nicht wahr?

Sie sah ihren Bruder an und auch dieser erwiderte ihren Blick kalt. „Wage es nie wieder, ein böses Wort über meinen Winzling fallen zu lassen.“ Auch aus seiner Stimme war alle Freundlichkeit ihr gegenüber verschwunden. „Ich lasse dir eine Menge durchgehen, viel zu viel, meiner Meinung nach, aber alles hat seine Grenzen.“

„Wer bist du?“, fragte sie verstört. Dieser Mann konnte unmöglich ihr Bruder sein. Das war er nicht. So etwas würde er nie zu ihr sagen!

„Solltest du nicht eher etwas anderes sagen?“, fragte Cerel sanft. Hier unter fremdem Dach einen Streit anzufangen, konnte nicht gut enden. Doch ihre Tochter wandte nur verstockt das Gesicht ab. „Verzeiht bitte das ungebührliche Verhalten meiner Tochter.“, bat sie deshalb selbst mit einem leisen, gequälten Seufzen. „Es wird nicht noch einmal vorkommen.“
 

Asams Augen wandten sich kaum von dem schwarzhaarigen Mädchen ab. „Das wäre definitiv besser.“, sagte er dunkel und wirkte so hochmütig, dass seine Frau ihn zu sich heranzog. Leoni lächelte ihn liebevoll an. Dass ihr Mann die Kleine so vehement verteidigte, gefiel ihr.

Das gleiche tat Dhaôma mit Amar, der sich nicht beruhigen wollte, bis der Braunhaarige ihn mit einem weichen Lächeln und einem sanften Kopfschütteln bedachte. Knurrig setzte der Junge sich wieder und stopfte Fleisch in seinen Mund, um weitere Verwünschungen zu unterbinden.

In der Luft blieb dennoch diese unschöne Atmosphäre von bevorstehendem Gewitter haften. Es war wie eine Wand, die zwischen Silia und allen anderen stand. Letztlich sah sich Addar gezwungen, etwas Schlichtendes einzuwenden. „Esst lieber. Reden können wir später noch genug.“, wiederholte er und schob sich einen weiteren Löffel Suppe zwischen die Lippen. „Mit vollem Bauch sind die Gemüter träger und nicht so aufbrausend.“

Aber zumindest Dhaôma war das Lachen vergangen. In seinem Magen lag ein Stein aus einem Gefühl, das er nicht wirklich zulassen wollte. In diesem Dorf war Fiamma akzeptiert worden, wenn auch unter Vorbehalt. Jeder hatte sie einmal angesehen und die meisten hatten sie sogar mit ein paar freundlichen oder beschreibenden Worten bedacht, zwei Hanebito hatten sie sogar trotz aller widrigen Umstände adoptiert, aber Mimouns Schwester hielt noch immer an ihrem Hass gegen Magier fest, obwohl ihr Bruder inzwischen zwei zu Freunden hatte und damit bewies, dass sie nicht so böse waren, wie alle dachten. Warum musste sie ihnen das Leben so schwer machen?

Um sich nichts anmerken zu lassen, beschäftigte er sich wieder mit der kleinen Magierin, die nicht mehr mit dem Löffel spielte, sondern aussah, als wolle sie gleich weinen. Wahrscheinlich spürte sie die dicke Luft. Und wahrscheinlich war das seine Schuld. Also konzentrierte er sich ganz auf sie, verbannte all seine negativen Gefühle in den Hintergrund, während er die Schüssel nun selbst leerte. Seine Finger streichelten ihren Bauch, was ihr deutlich gefiel. Als sie auf seinen Fingern zu kauen begann, ließ er sie, denn das machte sie immer glücklich.

Eine Frage von Cerel ließ ihn dann wieder aufhorchen: „Wie kann ich Großmutter von Asams Kind sein?“ Sie lächelte verschmitzt. Offenbar wollte auch sie die gedrückte Atmosphäre lockern.
 

Mimoun bedachte die Kleine in Dhaômas Armen mit einem zärtlichen Blick. „Oder so ähnlich, hab ich das eingeschränkt. Ich… wir haben sie gefunden, als sie völlig allein war. Leoni war die Einzige, die die Kleine retten konnte. Wir können sie weder mitnehmen, noch wüssten wir, wie sie zu versorgen und zu erziehen ist, aber dennoch ist sie irgendwie meine Kleine.“, versuchte der junge Geflügelte zu erklären.

„Darum bin ich Großmutter - oder so ähnlich.“, wiederholte sie verstehend. „Darf ich sie dann auch mal halten?“
 

Prompt wurde Dhaôma rot vor Freude. Er entzog der Kleinen die Finger, was sie zum Quengeln brachte. „Nicht doch.“, sagte er leise und stupste ihr gegen die Wange. „Cerel ist nett, also keine Sorge.“ Dann stand er auf und brachte sie zu ihr, Silia konsequent ignorierend.
 

„Es ist lange her, dass ich so etwas Kleines im Arm hatte.“, lächelte sie das Baby an. Sanft wiegte sie Fiamma auf dem Arm und bot ihre eigenen Finger zum Kauen an, die skeptisch gemustert wurden.

„Entschuldigt mich bitte.“ So fest, wie Silia ihre Lippen zusammenpresste, war es ein Wunder, dass überhaupt Worte darüber kamen. Sie erhob sich nach einigen Augenblicken schweigenden Abwartens und als keine Einwände kamen, verließ sie beinahe fluchtartig die Hütte.

Mimoun sah ihr schweigend nach und stieß ein trauriges Seufzen aus.

„Ich kann verstehen, warum sie gerade so aufgebracht ist.“, begann Cerel leise, die Augen noch immer fest auf das Kind gerichtet. „In letzter Zeit kommen immer häufiger Anträge. Sie glaubt, dass es deinetwegen ist, dass man dich zur Familie zählen will, und nicht um ihretwillen.“

„Das gibt ihr nicht das Recht auf ein wehrloses Kind…“

„Ich weiß.“, unterbrach Cerel ihren Sohn sanft. „Und ich denke, das weiß sie auch. Sie weiß nur nicht, wie mit der Situation umgehen.“

„Ich kann ihr nicht immer helfen. Sie muss endlich erwachsen werden.“

„Du bist ihr großer Bruder. Solltest du sie nicht dabei unterstützen, Ratschläge und Hinweise geben?“

„Wenn sie mal darauf hören würde“, murrte Mimoun und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Ihm war klar, was seine Mutter von ihm wollte. Und schließlich fügte er sich mit einem abgrundtiefen Seufzen. An Essen war nun sowieso nicht mehr zu denken.

Cerel wandte sich mit einem Lächeln an Amar. „Du wirst immer gut auf die Kleinen Acht geben, nicht wahr?“
 

Eigentlich war es nicht Mimouns Aufgabe, seiner Schwester Ratschläge zum Erwachsenwerden zu geben. Das sollte sie selbst schaffen, zumal sie einen anderen Lebensweg einschlagen würde als Frau. Doch keiner mischte sich in diese Erziehungsmaßnahme ein.

Und Amar war es auch eigentlich egal, was mit dieser doofen Frau passierte, also kümmerte er sich lieber um die nette. Stolz nickte er. „Ich lerne, wie man ein Baby versorgt! Weil, Mimoun und Dhaôma können das auch. Und sie ist schutzlos, wenn keiner ihr hilft. Und empfindlich.“ Und dann wurde er plötzlich rot und murmelte noch etwas in seinen Bart, was beim besten Willen keiner verstehen konnte.

Cerel lachte. Das war sehr überzeugend. Und an Mimoun gewandt, meinte sie hoch amüsiert, dass er wohl Magier sammeln würde.

„Ich glaube nicht, dass er das absichtlich macht.“, mischte sich Dhaôma spaßend ein. Jetzt, da Silia weg war, fühlte er sich schon nicht mehr so beklommen. „Das ist eher so, als zöge er sie an wie die Motten.“
 

„Ja.“, maulte Mimoun. Er war am Eingang stehen geblieben. Ihm war nicht nach lachen. Zu sehr belasteten ihn die Spannungen zwischen seinem Freund und seiner Schwester. „Genauso wie den dazu gehörigen Ärger.“ Nach einem tiefen Durchatmen trat der junge Geflügelte nach draußen.

Es dauerte lange, bis er seine Schwester fand. Sie hatte sich bis zum entferntesten Punkt der Insel zurückgezogen. Und das Mädchen reagierte nicht auf seine Anwesenheit. Die Offensichtlichkeit, mit der sie versuchte, ihn zu ignorieren, war fast schon wieder amüsant. Selbst als er sich neben Silia an den Rand setzte und die Landschaft unter ihnen betrachtete, schwieg sie.

„Wollen wir die Diskussion von vorne beginnen? Mal wieder?“, brach er schließlich das Schweigen, als es ihm zu dumm wurde.

„Ich hab mich nicht mal mit dem Ersten abgefunden, da schleppst du schon den Nächsten an.“, fuhr sie ihn an, nur um dann wieder mit bockigem Gesicht in die andere Richtung zu schauen.

„Und wahrscheinlich wirst du mir irgendwann an die Kehle gehen, weil ich dir jetzt schon sagen kann, dass es nicht bei den beiden bleiben wird.“, prophezeite er. „Schließlich planen wir, Frieden zu bringen.“ Mimoun griff nach dem Kinn seiner Schwester und zwang sie ihn anzusehen. „Findest du es falsch? Ich meine, dass ich mir Frieden wünsche?“

Sie schlug seine Hand beiseite und ließ sich vom Rand rutschen.

Mimoun rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Warum musste dieses Kind auch so verzogen sein? Er stieß sich ab und folgte ihr. Man spürte, dass sie sich alle Mühe gab, ihm zu entkommen, doch es fiel ihm leicht, sie einzuholen. Er besaß das bessere Training. Der junge Geflügelte ergriff sie am Bein und drängte das Mädchen auf die Ebenen hinab. Ohne ihr eine Chance zur Gegenwehr zu lassen, zwang er sie auf den Boden und verhinderte mit seinem ganzen Körpergewicht, dass sie ihm erneut entkommen konnte.

„So. Und nun rede.“, verlangte er ungehalten. Silia wand sich unter ihm und fing schließlich an zu weinen, als ihr die Sinnlosigkeiten ihrer Bemühungen bewusst wurden. Er ließ ihr erst einmal die Zeit, sich wieder zu fassen. „Also?“, forderte er erneut, als sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte. Doch sie schwieg eisern. Seufzend löste er sich von ihr und setzte sich neben sie. Das Mädchen drehte sich so, dass sie ihm nun den Rücken zuwandte. „Soll das ewig so weitergehen? Willst du jeden tyrannisieren, der mir wichtig ist?“ Er redete gegen eine Wand. Das konnte nicht wahr sein! Sie war doch sonst nicht so auf den Mund gefallen. Warum konnte sie also jetzt nicht einfach sagen, was sie quälte? „Mutter hat erwähnt, dass du momentan viele Verehrer hast.“, versuchte er das verstockte Mädchen aus der Reserve zu locken.

Wütend sprang sie auf und funkelte ihn an. „Als wenn diese Idioten meinetwegen kommen würden!“, fauchte Silia ungehalten.

„Hast du ihnen jemals die Chance gegeben, dich kennen zu lernen und ihre Motivation zu ändern?“, fragte ihr Bruder dreist nach. Ungerührt war er nach diesem Ausbruch sitzen geblieben. „Lass mich raten. Du hast einmal gefaucht und schon sind sie alle verschwunden. Kein Wunder, dass sich niemand für dich interessiert, wenn du so giftig zu allen bist.“

„Was würdest du denn tun?“, verlangte sie zu erfahren.

Kurz zuckte er mit den Schultern. „Kennen lernen, wäre keine schlechte Idee. Vielleicht ist ja jemand Vernünftiges dabei.“

Nach einigen Schritten, die sie schweigend vor ihm im Gras auf und ab gelaufen war, ließ sie sich neben ihn fallen. „Es ist nicht so einfach.“

„Es ist nie einfach, neue Leute kennen zu lernen. Aber es lohnt sich. Man lernt viel dabei.“

„Redest du schon wieder von diesem Magier?“ Silia warf ihre Hände in die Luft. „Hör auf, mir zu sagen, dass ich mich mit ihm anfreunden soll.“

„Das habe ich gar nicht.“ Sanft schüttelte der junge Geflügelte den Kopf. „Ich spreche von meiner Reise im Allgemeinen. Ich bin durch so viele Dörfer gekommen, hab so viele unterschiedliche Personen kennen gelernt. Mit manchen konnte ich gut umgehen, mit anderen weniger. Mit denen konnte ich mich meistens aber irgendwie einigen. Was es für mich schwierig macht, ist die Tatsache, dass ich mit Dhaôma unterwegs bin. Alle sind auf ihn neugierig und sind deshalb häufig überfreundlich. Aber auch das ist eine Eigenschaft, die sich nach einigen Tagen des Besuchs meist legt. Dann erst kann man sehen, ob sich Freundschaft daraus entwickeln kann. Niemand kann auf den ersten Blick sagen, Ja, mit dem komm ich gut zurecht. Und manchmal werden diejenigen, denen du zu Anfang die größten Abneigungen entgegen bringst, zu deinen besten und verlässlichsten Freunden.“ Ein scheeler Seitenblick seiner Schwester ließ ihn lachen. „Ja. Jetzt rede ich von Dhaôma.“ Er strich ihr über den Kopf, griff eine Haarsträhne und begann diese zu zwirbeln. „Vielleicht solltest du deinen Verehrern eine Chance lassen. Wer weiß. Vielleicht…“

Weiter kam er nicht. Mit erschrockenen Augen sah er auf den Pfeil, der mit zitterndem Ende knapp neben ihnen im Boden stecken blieb, während das Mädchen kurz aufschrie und zurückzuckte. Ruckartig erhob er sich in die Hocke und spähte in alle Himmelsrichtungen und auch nach oben, um den Schützen auszumachen. Neben ihm keuchte Silia erneut erschrocken auf.

„Achtung!“, rief sie und stieß ihn an der Schulter zur Seite. Erneut flog ein Pfeil, diesmal zwischen ihnen hindurch, und traf eine große, extrem ausgemergelte gelblichbraune Katze. Diese brüllte vor Schmerz, Wut und Hunger auf, doch den Schwung ihres Angriffs bremste das nicht. Silia, halb erhoben, um zu flüchten, wurde von ihr zu Boden gerissen.

Knurrend wirbelte Mimoun herum und bohrte seine Krallen tief in den Leib des Raubtieres. Kurz darauf wurde ein weiterer Pfeil in die Brust des Tieres gesetzt. Er drang aber nicht tief genug ein. Dennoch genügte es, um dem Angreifer, die Sinnlosigkeit seines Handels klar zu machen. Unter Fauchen wandte er sich zur Flucht.

Mimoun ließ das Raubtier flüchten. Er wandte sich seiner Schwester zu. Diese lag zitternd im Gras, die Arme blutig. „Silia.“ Sanft packte er sie an der Schulter und zog sie in eine sitzende Position. „Alles okay?“, wollte er wissen, während er begann, ihre Arme abzutasten. Der rechte war unversehrte. Silia musste ebenfalls zugekrallt haben und war mit dem Blut der Raubkatze besprenkelt. In den linken musste sich das Tier verbissen haben, denn er wies tiefe Löcher auf.

„Entschuldigt.“ Mimoun sah auf und dem Sprecher entgegen, der sich heruntergebeugt hatte und den fehl gesetzten Pfeil aus dem Boden zog. Er erkannte ihn als ein Mitglied von Addars Dorf. „Verzeiht bitte, dass ich Euch gefolgt bin. Ihr seid ohne Bewaffnung auf die Ebenen hinunter. Und Ihr saht nicht aus, als könne man Euch allein lassen. Wir können nicht zulassen, dass unseren Gästen etwas zustößt.“

„Danke.“, unterbrach Mimoun den aufkommenden Redefluss.

Sein Gegenüber schüttelte heftig den Kopf. „Ich hätte früher eingreifen, früher reagieren müssen.“ Der junge Mann mit den halblangen hellbraunen Haaren und den tiefen grünen Augen, ließ sich ebenfalls neben Silia ins Gras sinken, den Bogen neben sich gelegt. „Entschuldige.“, wandte er sich noch einmal direkt an sie. Vorsichtig ergriff er ihren verletzten Arm. „Zum Glück ist Dhaôma…“

Ruckartig wurde der Arm zurückgezogen. „Unsere Verletzungen sind früher auch verheilt, ohne das dieser Magier nachgeholfen hat.“, fauchte sie.

Mimoun wollte sie zurechtweisen, doch der andere kam ihm zuvor. Er lächelte einfach nur. „Du hast Recht. Das war dumm von mir. Dennoch muss die Wunde versorgt werden, also kommt. Kehren wir zurück.“ Er griff nach ihrer unverletzten Hand und zog das plötzlich sprachlose Mädchen mit sich. Mimoun war zu überrascht von der Reaktion seiner Schwester. Wie hatte dieser Kerl sie so schnell ruhig gekriegt? Als er schließlich folgte, holte er schnell wieder auf.

Jayan, wie sich der Mann zwischenzeitlich vorgestellt hatte, führte Silia zum See, damit sie die Kleider und sich von Blut befreien konnte, und ging selbst, um Eloyn zu verständigen. Diese versorgte die Wunde mit ruhigen, schnellen Fingern und gab Silia Anweisungen, wie damit weiter zu verfahren war. Da es sich nicht lohnte, sich heute auf den Heimweg zu machen, befahl sie dem Mädchen, am nächsten Morgen noch einmal bei ihr vorbei zu sehen.

Mimoun blieb die ganze Zeit an der Seite seiner Schwester und führte sie anschließend in die Hütte zurück. Die ganze Zeit über hatte sie kaum ein Wort gesagt und auch jetzt blieb sie still.
 

Als Mimoun gegangen war, herrschte Stille, die nicht lange hielt, denn Dhaômas Neugier und Freude über Cerels Auftauchen war allumfassend. „Woher wusstest du, dass wir hier sind? Und warum bist du überhaupt hier?“

„Die Kunde, dass du Addar Maral geheilt hast, hat sich schnell verbreitet.“, zuckte sie leichthin mit den Schultern. „Und da es nicht so aussah, als würdet ihr in absehbarer Zeit zu uns kommen, kamen wir eben euch besuchen.“

In dem Braunhaarigen stieg ein Gefühl auf, das reinem Glück am nächsten kam, von ihm aber weder in Worte gefasst werden konnte, noch verstanden wurde. Seine Wangen färbten sich rot und als Amar das sah, leuchteten seine Augen.

„Dhaôma ist ja verlegen.“, freute er sich und warf sich auf den Magier. Aber bevor er einen Kampf starten konnte, zog ihn seine Mutter wieder von Dhaôma herunter.

„Gib wenigstens heute Ruhe. Addar, Asam und Janna sind müde von der Reise und unser Gast ebenfalls.“

„Aber…“

„Er läuft dir nicht weg.“ Zumindest konnte sie sich das nicht vorstellen. Immerhin war jetzt Mimouns Mutter da, da hielt ihn sicher noch ein wenig mehr hier. „Wie wäre es, wenn du stattdessen ein wenig Wasser holen würdest?“

Begeistert sah er nicht aus, deswegen erhob sich Dhaôma. „Der Gedanke ist nicht schlecht, dann kann ich mir gleich die Haare waschen. Los, Amar.“

„Jawohl!“, rief dieser, plötzlich Feuer und Flamme parat bei Fuß stehend.

Cerel lachte. „Das ändert sich wohl nie. So wie Mimoun Magier anzieht, ziehst du Kinder an.“

„Wie das Feuer die Motten.“, bestätigte er. „Wir sind gleich zurück, Cerel.“

„Geht nur. Asam, zeigt mir doch bitte auch Euer zweites Kind.“ Sie war neugierig auf die Kleine, die mit Hilfe Dhaômas das Licht der Welt erblickt hatte. „Und mich würde auch interessieren, wie Ihr es geschafft habt, ein Magierbaby zu adoptieren. Es gab doch sicher genügend Stimmen dagegen.“

Das würde Dhaôma auch brennend interessieren, aber wenn er die Antwort hören wollte, musste er sich beeilen. „Los, Amar, Wettrennen!“ Und schon lief er los, der Kleine hinterher und hintendrein Yaji und Juri. Jeder hatte sich einen Wasserschlauch gegriffen.

„Er ist immer noch wie vor einem Jahr. Wenn es um ihn geht, spielt selbst das ungezogenste Kind mit.“, sinnierte Cerel, während sie ihnen hinterher sah. Als sie sich wieder den anderen zuwandte, erschrak sie beinahe, denn sie sah sich Asam entgegen, der ihr voller Stolz Seren hinhielt.

„Ist sie nicht zuckersüß?“, fragte er mit glänzenden Augen und roten Wangen. „Und wie gut die beiden zusammenpassen. Sie sind beide blond und haben wunderschöne Gesichtchen und winzige Fingerchen.“

Etwas überfahren musste Cerel ein Lachen unterdrücken. Oja, das hatte Dhaôma beschrieben. So ein überlobender Vater! Aber er war ja schon ganz süß mit diesem anhimmelnden Blick. Das letzte Mal hatte sie so einen Blick gesehen, als ihr Mann Silia im Arm gehalten hatte.

„Schaut Euch an, wie die Linie ihrer Nase in die Wangen übergeht! Sie wird einmal eine Schönheit!“ Und weil er schon einmal dabei war, fuhr er einfach gleich fort. „Seren wird einmal eine klassische Schönheit, so wie ihre Mutter. Ihre Augen machen jetzt schon den Sternen Konkurrenz und wenn sie erst einmal erwachsen ist, dann wird ihr die Männerwelt zu Füßen liegen. Und Fiammas Gesicht zeigt jetzt schon, dass sie einmal große Macht haben wird. Ihre Nase und die selten schmalen Wangenknochen verhelfen ihr mit Sicherheit zu einer ganz außergewöhnlichen, exotischen Schönheit. Und ich bin sicher, dass sie, wenn sie ihre Macht erst einmal beherrschen lernt, noch umso reizvoller werden wird!“

„Ihre Macht?“

„Sie wird einmal das Feuer bändigen, so wie es Dhaôma mit den Pflanzen macht.“ Er schwellte stolz die Brust. „Das bedeutet, sie kann Feuer machen und die Luft und das Wasser erwärmen, sie wird einmal ein charismatisches Kind, dem selbst Magier gerne zuhören werden!“

Wie kam es nur, dass er von vorhersehbaren Dingen immerzu zu solchen prophetischen Ideen sprang? Aber Feuer? „Ist das nicht gefährlich?“

„Nicht im geringsten!“, sprach Asam voller Überzeugung. „Sie wird von uns erzogen, also wird ihre Macht nicht zum Kämpfen oder Verletzen missbraucht!“ Fast klang er wütend, aber wieder war es nicht belegt.

Leoni lächelte und gab nun an seiner statt kund, was Dhaôma ihr diesbezüglich erzählt hatte, nämlich, dass es darauf ankam, in welche Situationen sie geriet und dass sie früh begriff, was ihre Magie bedeutete. Sie stellte es so hin, als wäre das alles nicht so schlimm, so lange man auf sie Acht gab, aber das war bei ihren eigenen Kindern auch nicht anders.

Beruhigt nickte Cerel, dann sah sie wieder auf die kleine Magierin in ihren Armen, die inzwischen schlief. Ihre Hand hielt ihren Finger, ihr Mund war leicht geöffnet. Und sie bot ein herziges Bild.

Fand Asam offenbar auch, denn der Blick, der die Kleine traf, war derartig verliebt, dass es einfach nur herzerwärmend war.

„Wie kam es denn nun zu der Adoption?“

Addar lächelte. „Es lag an ein paar Argumenten, die die beiden Jungen anbrachten. Da viele inzwischen darauf hoffen, dass es Dhaôma und Mimoun gelingt, Frieden zu schaffen, sollten wir unseren Teil leisten und unsere Kinder aus dem Krieg heraushalten. Und da sie noch ein Baby ist, werden wir es schon irgendwie schaffen, ihre Macht unter Kontrolle zu halten.“ Er kicherte, als Cerel ungläubig wirkte. „Tja, es hat sehr lange gedauert, ihnen diese Denkweise zu vermitteln, aber sie haben es schließlich alle eingesehen, so dass sie nun hier ist und auch bleibt.“

„Mir gefällt der Gedanke.“, sagte sie schließlich. „Es ist schön zu wissen, dass das Ende des Krieges absehbar wird.“

„Es wird trotzdem noch ein steiniger Weg.“, schränkte Asam diese Hoffnung ein. „Aber sehr viele sind inzwischen gewillt, auch ein wenig Anstrengung zu akzeptieren. Sie sehen Mimouns Vorbild und erkennen ihren Irrtum bezüglich ihrer Vorurteile gegen die Magier.“

„Das freut mich.“

„Ah, sie reden schon! Dhaôma!“ Yaji hüpfte im Eingang auf und ab und winkte wild nach draußen.

„Und schon ist die Ruhe wieder vorbei.“, murmelte Karo. „Wollt Ihr den Jungen nicht hier bei uns lassen?“

„Das ist seine Entscheidung.“, wies Cerel das entschieden ab. „Aber es würde ihn wohl auch hier nicht lange halten. Er hat den Wind in der Seele, der ihn immer vorwärts treibt.“ Die anderen nickten nur wissend. Das war ihnen auch schon aufgefallen. Auch wenn es nur selten vorkam, ab und zu gab es auch bei ihnen jemanden, der dem Wind ähnlicher war als normalerweise. Auch jene zog es hinaus. Und selten kamen sie wieder zurück.

Durch die Tür traten die Kinder, die Dhaôma zogen. Die braunen Haare waren nass und er wirkte, als würde er frieren. Aber das war auch kein Wunder, da seine Oberbekleidung noch immer zwischen ihnen lag. Jetzt hastete er zu seinem Hemd und zog es an, ließ den Poncho folgen. „Um nass herumzulaufen, ist es immer noch nicht warm genug.“, zitterte er. „Aber das versteht hier wohl keiner außer mir.“

„Ist eben so.“, stimmte Janna zu. „Hier.“ Und schon hielt sie ihm eine Decke hin. Dann bekam er von Asam noch Seren ihn den Arm gedrückt, so dass ihm bald wieder warm wurde. Währenddessen kreisten die Wasserschläuche.

„Habt ihr jetzt schon gesagt, warum sie erlaubt haben, dass Fiamma bleiben darf?“, wollte Dhaôma bittend wissen und bekam ein Nicken zur Antwort.

„Weil sie wollen, dass der Krieg beendet wird. So wie du hat sie die Aufgabe, unser Volk für eine neue Meinung über euch Magier zu sensibilisieren.“

„Ah.“ Der Braunhaarige schien sich zu freuen, sagte aber nichts weiter dazu.

Dann wurden plötzlich die Felle zurückgeschlagen und Cerels Kinder kehrten wieder. Es sah aus, als hätte sich der Sturm gelegt, aber dennoch wünschte sich Dhaôma, dass er sich jetzt einfach zurückziehen und der Konfrontation mit diesem Biest entgehen konnte. Trotzdem rührte er sich nicht von der Stelle.
 

Wie in ihrer eigenen Hütte über Wochen antrainiert, wich Silia dem Magier aus. Sie setzte sich neben ihre Mutter, ohne ihn eines Blickes zu würdigen oder sonst in irgendeiner Art Kenntnis von ihm zu nehmen. Mit gerunzelter Stirn sah sie auf das schlafende Kind hinab, enthielt sich klugerweise aber jeden Kommentars.

Mimoun warf noch einen letzten sichernden Blick auf seine Schwester und streunte dann zu Dhaôma. Er rollte sich um ihn herum und legte seinen Kopf auf dessen Beine. Mit einem langen Seufzer entwich alle Luft aus seinen Lungen.
 

Schweigend begann der Magier die schwarzen Haare zu streicheln, als wäre es das Natürlichste der Welt. Er wusste, was es in Mimouns Herzen ausgelöst haben musste, dass sie wieder einmal ihren Willen bekommen hatte, dass er wieder einmal nach ihrer Pfeife hatte tanzen müssen. Aber wie immer schwieg er dazu. Immerhin wurde es jetzt in seinem Rücken richtig warm. Und damit dieser Effekt noch ein wenig verstärkt wurde, lüftete er kurz seine Decke, so dass Mimouns Körperwärme jetzt direkt auf seinen Körper traf.

Janna und Leoni konnten sich eines Grinsens nicht erwehren. Sie taten es wieder. Flirteten, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Jedem fiel auf, dass Silia verletzt war. Und genauso fiel jedem auf, dass es Dhaôma nicht zu kümmern schien. Aber keiner fragte, warum. Die meisten konnten es sich denken.

Das Thema wandte sich wieder den Besprechungen im Rat zu. Es ging darum, dass man weitere Teiche bestücken wollte und Gärten geplant hatte, die man dieses Mal mit eigener Saat hegen wollte. Eine größere Herde Antilopen zog gen Norden durch die Steppe und es war festgelegt worden, welche Tiere gejagt werden durften und welche nicht. Und ein Riesenadler war wieder einmal aufgetaucht und bedrohte die jüngeren Hanebito, weswegen das Fliegen ohne Aufsicht nicht mehr erlaubt war. Töten konnten sie das Tier nicht, denn in ihren Augen war es die Reingeburt des Windes und damit heilig. Es war besprochen worden, ihm eine Opfergabe anzubieten, damit er ihnen in diesem Jahr weniger Wind und mehr Regen schickte. Und als letztes war als gute Neuigkeit zu verzeichnen, dass in diesem Winter mehr Kinder geboren worden waren als in den letzten zwanzig Jahren. Die Gesamtzahl belief sich auf einhundertdrei. Man mochte es kaum glauben, dieses Jahr waren sogar einmal Zwillinge dabei. Nach fast einem Jahrhundert das erste Mal.
 

Sie redeten lange. Mimoun rührte sich die ganze Zeit nicht von seinem Platz weg, döste immer wieder ein und verpasste so die Hälfte des Gesprächs. Cerel und Silia beteiligten sich an den Gesprächen, wobei das Mädchen stiller wurde, je weiter die Zeit voranschritt.

„Verzeiht bitte.“, begann Cerel schließlich. „Aber es ist schon spät. Wir würden uns gerne schlafen legen, damit wir morgen zeitig los können.“

Karo erhob sich sofort. „Hier wäre es zu eng.“, erklärte sie mit einem bezeichnenden Blick auf Mimoun und Dhaôma. „Aber in einer der anderen Hütten dürfte sich ein Plätzchen für euch finden lassen. Damit verschwand sie aus der Hütte. Wenig später folgten die beiden Frauen, nachdem sie den Bewohnern eine geruhsame Nacht gewünscht hatten. Nach kurzem Zögern schloss sich Mimoun an. Er würde sehen, wo sie unterkamen und ob es ihnen gut ging. Als er anschließend zu seinen Freunden zurückkehrte, zog er sich ebenfalls wenig später zum Schlafen zurück, natürlich dicht gefolgt von Dhaôma. Mit Fiamma in ihrer Mitte schliefen sie schnell ein.

Alte Fehde

Kapitel 38

Alte Fehde
 

Der nächste Morgen begann so unruhig, wie die Nacht für den jungen Geflügelten verlaufen war. Das Baby war früher wach als gewöhnlich. Ein kurzer Geruchstest bestätigte seine Vermutung. „Gehst du?“, fragte er träge und streichelte ihr Bäuchlein.
 

„Ja.“, antwortete Dhaôma und setzte sich auf. Es bedeutete Zeit, die er in Ruhe ohne Silias Anwesenheit und die damit verbundene Anspannung verbringen konnte.

Und während er ungeschickt wie immer die Windel wechselte, traf auch Leoni ein, die das Weinen gehört hatte. Mit einem kurzen Gruß setzte sie sich neben ihn und begann Seren zu füttern. Als die Kleine satt war, tauschten sie. Seren wurde gewickelt, Fiamma gefüttert.

Aber letztlich brach die blonde Frau das Schweigen. „Was ist zwischen dir und Silia?“

„Nichts. Sie mag mich nicht.“

„Du magst sie aber auch nicht, oder?“, fragte sie sanft. Aber sie kannte die Antwort schon, hatte sie gesehen. Nur der Grund wollte sich ihr nicht ganz erschließen. Sie kannte niemanden, den Dhaôma wirklich nicht mochte.

„Tja, ich weiß nicht so genau…“, murmelte der Braunhaarige und sah sinnierend ins Leere. „Sie gibt mir kaum die Gelegenheit, es herauszufinden, da sie nicht mit mir spricht.“ Einige Sekunden schwieg er, dann kehrte er abrupt zurück in die Realität und sah sie an. Als er diesmal sprach, war seine Stimme hart. „Aber du hast Recht. Ich mag ihre Art nicht. Diese unverfrorene Arroganz, mit der sie ihren Bruder emotional in Ketten legt. Ihre Argumente sind ihr Band von Bruder und Schwester und ihr ermordeter Vater. Als wäre das ein Grund, dass er nur Augen für sie haben dürfte. Und sie erwartet, dass ihre Mutter sie unterstützt und hinter ihr steht, und kann sich darauf verlassen. Es bedarf nur einige dieser erbärmlichen Aktionen und Cerel weist Mimoun sanft zurecht, wodurch er der Erpressung nicht entkommen kann und ihr hinterher rennt.“

„Was meinst du?“

„Hm?“

„Was meinst du mit emotionaler… Erpressung?“

„Ah, sie stellt ihn vor die Wahl: Sie oder ich. Dadurch zerreißt sie ihn, denn er könnte sich nie entscheiden. Sie schreit: ‚Liebe mich, wie ich bin!’, aber sie kann ihn nicht lieben, wie er ist, denn sie verleugnet einen ganz essentiellen Teil von ihm, weil er ihr nicht gefällt. Mit dieser kindischen Art legt sie ihn an die Kette und nimmt ihm seine Freiheit und seine Gelassenheit. Und seine Mutter unterstützt das, anstatt, dass sie ihn mal machen lässt, damit sich endlich etwas ändert. Es ist mir egal, ob sie mich mag, aber ich werde mich von ihr nicht binden lassen, weder durch Zwang noch durch Emotionen oder Erwartungen. Und ich wünschte, Mimoun würde es auch so halten. Aber im Endeffekt ist es seine Sache, deshalb halte ich mich da raus.“

Milde strich sie ihm über den Kopf, da er ihn deprimiert senkte. „Das ist aber ein schwieriges Gefühl.“

Dhaôma sah auf. „Findest du?“, fragte er leidenschaftslos. Überzeugt schien er nicht. „Eigentlich ist es ein hässliches Gefühl.“

Konnte sie nicht finden. Für sie war es verständlich. „Warum lässt Mimoun sich denn binden?“

„Ich denke, weil er Angst hat, sie zu verlieren. Er hat seinen Vater verloren und das war sehr schmerzlich für ihn. Noch jemanden zu verlieren, an den er gewöhnt ist und den er mag, würde ihm das Herz brechen, deswegen tut er alles, damit das nicht passiert.“

„Verstehe. Und sie hat diese Angst erkannt und nutzt das aus.“, stellte die junge Mutter fest. Wenn das so war, dann würde sie alles dafür tun, dass ihre Kinder nicht so wurden. Das war absolut keine schöne Beziehung.

„Uh? Nein!“

Erstaunt sah Leoni Dhaôma wieder an. Hatte sie etwas falsch verstanden?

„Sie hat dieselbe Angst und sieht deshalb die seine nicht. Oder vielleicht will sie es auch nicht sehen. Sie denkt: Er verlässt mich. Aber bevor ich ihn verliere, distanziere ich mich lieber, dann tut es nicht so weh, wenn er nicht wiederkommt. Damit schneidet sie sich ins eigene Fleisch und leidet. Und weil er das nicht ertragen kann, kümmert er sich um sie, was sie inzwischen ausnutzt, weil es funktioniert. Egal wann sie wegläuft, er fliegt ihr immer nach, ganz egal, wie weit oder schwer der Weg ist. Er lässt sich für sie sogar von ihrer Freundin schlagen, damit er mit ihr reden kann. Ich glaube, ihr gefällt es, dass er alles für sie tut. Das mit mir… sie hat Angst, dass ich ihn ihr wegnehme. Und deshalb mag sie mich nicht. Vielleicht ist es aber auch nur eine Chance für sie, Aufmerksamkeit zu erlangen. Ich weiß es nicht.“

Leoni betrachtete sich den Jungen, der nun wieder lächelnd mit Seren spielte. Sie versuchte seine Haare zu fangen, während er sie immer wieder wegzog. Es war eines ihrer liebsten Spiele. Sie verstand nicht ganz, wie er es meinte, wenn er sagte, sie nutze Mimouns Angst nicht aus, sondern nur seine Hilfsbereitschaft, aber so war dieser junge Mann. Er hatte seine eigene Denkweise und sie verstand sie bei weitem noch nicht immer.
 

„Denkst du ignoranter Bastard eigentlich wirklich, dass es so einfach ist?“ Die Lederplane in Silias Hand war verdächtig straff gespannt, stand kurz davor, heruntergerissen zu werden, so fest hielt sie sie umklammert. Sie zitterte heftig. „Ich hatte nur noch ihn und von einem Moment auf den anderen war er nicht mehr da.“
 

Erschrocken zuckten sowohl Dhaôma als auch Leoni zusammen und sahen zu ihr und im ersten Moment flackerte in Dhaôma der Wunsch auf, Hals über Kopf zu fliehen, aber dann straffte er sich plötzlich. Es hätte nie soweit kommen dürfen, dass sie von diesen Gedanken in ihm wusste, aber jetzt war es zu spät. Jetzt konnte er sich nicht mehr verstecken. Wie viel hatte sie wohl gehört?

„Du hättest einfach dableiben können.“, sagte er ruhig, sein Herz aber schlug ihm bis zum Hals. „Stattdessen bist du weggelaufen. Wie eine beleidigte Wurst. Weil jemand gekommen ist, den er auch mag. Weil du nicht mehr die einzige bist. Du denkst, ich hätte ihn dir gestohlen, aber ohne mich hättest du ihn ganz verloren. Das übersiehst du die ganze Zeit.“
 

„Ich habe ihn verloren!“, fuhr sie ihn an. „Du bist es, der nichts sieht! Dieser Winter, den er mit zerfetztem Flügel von dir getrennt verbrachte, war er dennoch in Gedanken ständig bei dir. Er war zu Untätigkeit verdammt und es war eine Anstrengung ihn abzulenken und bei Laune zu halten. Und wie dankt er es mir? Nun, wo er fliegen kann, ist er auch nur in deiner Nähe. Was bleibt mir denn von ihm, wenn er nur bei dir ist?“
 

Vorwurfsvoll sah er sie an, als Seren und Fiamma zu quengeln begannen. Sie war zu laut. Außerdem konnte er nicht begreifen, wovon sie redete. Klar, er war auch traurig, wenn Mimoun nicht da war, aber wenn es sein Wunsch war, dann musste man das akzeptieren. Man durfte ihm daraus doch keinen Strick drehen.

„Wie dankst du es ihm, dass er deine Launen erträgt? Wie hast du es ihm gedankt, dass er dir stetig hinterher fliegt, um dir zu zeigen, dass er dich gern hat? Wie hast du es ihm gedankt, dass er seinen ganzen Tagesablauf darauf ausgerichtet hat, dich nicht zu verstimmen? Du verlangst immer mehr, kriegst nie genug. Anstatt dankbar anzunehmen, was er dir von sich aus gibt, erzwingst du dir mehr und mehr und mehr. Macht dich das wirklich glücklich?“

Leoni sah mulmig von einem zum anderen. Offenbar hatte sich hier eine ganze Menge aufgestaut. Und von den Geräuschen her wurden die anderen langsam wach. Unschöne Situation.
 

Verächtlich stieß sie die Luft aus, ließ endlich den Vorhang los und verschränkte herausfordernd die Arme. „Denkst du wirklich, du wärst noch am Leben oder auch nur ansatzweise hier oben, wenn ich keine Rücksicht auf Mimoun nehmen würde? Denkst du allen Ernstes, ich sehe nicht, wie sehr er dich liebt? Wie es ihn kaputt macht, wenn du nicht da bist?“ Sie verwarf ihre Arme. „Ist es wirklich maßlos, dass ich ihn ab und zu für mich haben will? Ich weiß nicht, welche Probleme du mit deiner Familie hast, warum du sie nicht sehen willst. Es interessiert mich auch nicht und es wird mich auch in Zukunft nicht interessieren, aber im Gegensatz zu dir will ich meine Familie um mich haben. Aber stattdessen muss ich zusehen, wie er mit einem Magier auf Drachenjagd geht.“ Sie trat einen Schritt näher. „Ist dir was aufgefallen? Magier, also ein Feind. Auf Drachenjagd. Die gefährlichsten Geschöpfe überhaupt. Du schimpfst dich seinen Freund und doch hast du ihn zu einem Selbstmord überredet!“
 

Sie wollte nicht sehen. Das war ihm gerade klar geworden. Sie wollte nicht sehen, dass er nicht zwischen ihr und Mimoun stand, sondern dass sie sich selbst im Weg stand. Egal, was er sagte, sie würde den Fehler nicht bei sich suchen, sondern immer bei ihm. Er war ihr Sündenbock, ob er nun schuldig war oder nicht. Und das machte ihn ruhig. Es war fast, als wüsste er, dass sie ihm nichts tun könnte.

„Ich weiß.“, sagte er schlicht. „Ich habe ihm oft genug gesagt, er soll mich alleine suchen lassen, aber er weigert sich. Und dafür bin ich ihm dankbar. Aber es geht hier nicht wirklich um mich, sondern um dich.“ Seine braunen Augen blickten sie direkt an. In seinen Armen begann Seren zu weinen und hinter einem der Vorhänge lugte ein verunsicherter Amar hervor, doch das bekam er nicht mit. „Es geht mir nicht darum, dich von Mimoun zu vertreiben, was du vielleicht denken magst, es geht mir darum, dass du aufhörst, ihm sein Leben so schwer zu machen. Viele hätten an seiner Stelle dein Gezicke längst als Zeichen der Ablehnung verstanden und dich als unerträglich abgehakt. Wenn du ihm seinen eigenen Rhythmus lassen würdest, würdest du auch erkennen, dass er von alleine zu dir kommt und dass die Zeit, die ihr miteinander verbringt, nicht von schweren Gedanken oder Streit sondern von Spaß geprägt ist.“
 

Wütend fauchend trat sie einen Schritt vor. Ihre Klauen bewegten sich unruhig. Wie konnte dieser Kerl es wagen, ihr vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten hatte?! Nur mühsam konnte sie sich davon abhalten, ihm an die Kehle zu springen. Dieser Kerl brachte sie mit jedem Wort, das er von sich gab, mehr auf die Palme. Doch hier in der Hütte des Ältesten ein Blutbad anzurichten, würde nicht nur für sie schwerwiegende Folgen haben. Und obwohl ihr dieses Wissen im Kopf herumspukte, trat sie einen weiteren Schritt näher und duckte sich wie zum Angriff. Dieser Magier sollte sie endlich ernst nehmen!

„Silia.“ Leise war die Stimme, die sie erstarren ließ. Fast unhörbar, sanft und trotzdem eine Spur traurig. Mimoun schlug die Lederplane beiseite. Er hatte fast alles mit anhören müssen. Und es machte ihn traurig. Fast war es so, als wollten die beiden die Gefühle des jeweils anderen nicht verstehen. Ihm lag ein Satz auf der Zunge und er scheute sich, ihn auszusprechen. Er trat auf Dhaôma zu und hockte sich neben ihn. Seine Hand suchte den Kopf des schreienden Babys und mit beruhigenden Worten streichelte er darüber. „Warum kannst du es nicht ertragen, dass ich glücklich bin? Ich habe mir dieses Leben erwählt.“

„Weil…“, sie biss sich auf die Zunge und schwieg verstockt.
 

Dhaôma sah seinen Freund an. Er fühlte sich nicht gut, denn es war klar, dass Mimoun es gehört hatte. Dabei hatte er sich vorgenommen, dass er ihm eben nicht sagen würde, wie er zu diesem Thema dachte.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass Seren weinte. Erst jetzt sah er Amar, der langsam herauskam, hinter sich seine Mutter. Asam stand vor einer der Planen und runzelte die Stirn.

Oh weh, sie hatten wirklich den falschen Ort für ihren Streit gewählt. So würden sie ihnen allen den Tag verderben. Hilfe suchend blickte er zu Leoni, doch diese beruhigte Fiamma und bemerkte ihn nicht. Also stellte er sich dem Problem und sah wieder zu Mimoun. Er traute sich nicht, ihn zu begrüßen, denn er hatte Angst, dass diese Traurigkeit auch durch ihn ausgelöst worden war, dass er ihm böse war. Er traute sich nicht mal, ihn zu berühren, aus Angst, weggestoßen zu werden. Zwar wusste er, dass er Mimoun nicht mit seiner Mutter vergleichen konnte, aber er hatte keinen anderen Anhaltspunkt, wie der Hanebito sich verhalten würde. Er konnte nicht einschätzen, was passieren würde, denn Mimoun war niemals so gewesen wie jetzt.
 

Dieser bemerkte Dhaômas Not nicht. Der junge Geflügelte sah wieder zu seiner Schwester, nachdem Serens Weinen zu einem Wimmern herabgesunken war.

„Sag mir warum.“, bat er leise. Mimoun hoffte, dass auch Silia dadurch nicht mehr so laut werden würde.

Bockig wandte die Angesprochene den Kopf ab und versteifte sich. Derweil traf auch Cerel ein und betrachtete verwundert die Szene, traute sich aber nicht, die Stille zu durchbrechen.

Es vergingen einige Augenblicke in Stille, bevor Silias Schultern sichtbar nach unten sackten. „Du Narr hast wirklich keine Ahnung.“, murmelte sie und wandte sich direkt Asam zu. „Ich danke Euch für die Einladung, aber für mich wird es Zeit zu gehen. Richtet Addar bitte meine Grüße aus.“ Die Bewegungen des Mädchens wirkten abgehakt und steif, als sie sich ihrer Mutter zuwandte. „Bleib ruhig noch ein Weilchen.“ Dann schloss sich die Lederplane hinter ihr.

Cerel sah mit undeutbarem Gesichtsausdruck ihrer Tochter hinterher und wandte sich dann Mimoun zu. Dieser senkte nur den Blick, wirkte völlig auf das Kind in Dhaômas Armen konzentriert. Also trat sie näher und zog ihn an sich, ohne Gegenwehr überhaupt zuzulassen. Sie streckte eine Hand auch nach dem Magier aus und streichelte ihm über den Kopf. „Sieht so aus, als würden wir nun wieder Abschied nehmen müssen. Kommt uns schnell wieder besuchen, hört ihr?“ Sie beugte sich zu Dhaôma hinüber und drückte einen Kuss auf seine Stirn.
 

Der Braunhaarige nickte nur, aber er wusste, dass er sie wohl kaum ‚schnell’ wieder besuchen kommen würde. Hätte er das Versprechen nicht an Haru und Elin gegeben, würde er sich überlegen, ob er überhaupt wiederkommen würde. Noch eine solche Konfrontation mit diesem Biest würde unter Garantie schlecht für alle ausgehen, denn er hatte gesehen, dass sie ihn hatte angreifen wollen. Und er wusste, dass er reagieren würde.

Leoni und Asam verabschiedeten Cerel dem Standart entsprechend, während Amar zu Dhaôma und Mimoun kam. Der Junge sah sie lange an, wartete auf irgendeine Reaktion, die nicht kam. Für Mimoun schien es nur noch Seren zu geben und Dhaôma sah aus, als würde er gleich weinen. Amar schnürte das die Kehle zu, hatte er so etwas doch auch schon erlebt und wollte nicht, dass es seinem Freund so ging. Also ließ er sich neben ihm auf die Knie sinken und umarmte ihn fest. Er wollte ihm zeigen, dass ihn noch jemand gern hatte, auch wenn die dumme Sumpfkuh da anderer Meinung war. Belohnt wurde er damit, dass eine Hand sich in seinen Nacken legte und ihn sanft drückte.
 

Erst als Bewegung in die kleine Gruppe kam, sah Mimoun auf, um den Grund dafür zu erfahren. Und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie es um Dhaôma stand - auch wenn er den Gesichtsausdruck seines Freundes falsch deutete.

Schlagartig ließ er von Seren ab und umfing das Gesicht des Magiers mit beiden Händen. „Sie wird dir niemals wehtun, hörst du. Ich dulde es nicht. Niemals.“ Sanft lehnte er seine Stirn an Dhaômas.
 

„Was?“ Verschnupft und leicht erschrocken sah Dhaôma ihn an. Seine Augen waren noch trocken. Er hatte nicht geweint, hatte es zurückgehalten, so gut er konnte. „Nein.“ Mit einer Hand versuchte er die Hände von seinem Gesicht zu ziehen und nun bahnte sich doch noch eine Träne ihren Weg in die Freiheit. „Nein, nein. Es ist nur… Ich hab alles zerstört! Sie kann mir nicht wehtun, aber jetzt… jetzt… Mimoun, warum muss sie so… so…“

„Blöd sein?“, half Amar aus, aber Dhaôma schüttelte nur den Kopf.

„Warum kann sie nicht verstehen?“ Tief sog er Luft ein, bevor er einfach weiterredete. „Ich will nicht, dass du ihr folgst, aber das kann so nicht stehen bleiben! Irgendwie ist das falsch! Ich muss… muss…“ Sein Kopf fiel schwer gegen Mimouns Hände, als er erkannte, dass er gar nichts machen konnte. „Ich bin ein unfähiger Friedensbote.“, stellte er dumpf fest.

„Aber du hattest zweifelsohne Recht.“, ließ sich Leoni tröstend vernehmen, während sie die Hand Asams ergriff, der zu ihr trat. „Zwar kann ich ihren Standpunkt durchaus auch nachvollziehen, aber er ist kein guter Grund.“

Dhaôma schwieg. Er sah es genauso, aber gerade jetzt wünschte er, er wäre im Unrecht, dann könnte er sich entschuldigen und es besser machen.

„Worum ging es überhaupt?“ Verwirrt ließ sich Asam neben seine Holde sinken. Gerade eben sah es noch aus, als müsste er seinen Gast verteidigen, dann waren zwei seiner Gäste Hals über Kopf verschwunden und es herrschte eine Stimmung, die einen Toten zur letzten Ruhe geleiten könnte.

Leise setzte die junge, blonde Mutter ihn in Kenntnis der Ereignisse. Auch Karo hörte schweigend zu. Das klang nach ernsthaften Schwierigkeiten. Das hatte hier keiner erwartet.
 

„Bist du das wirklich?“, erwiderte Mimoun auf die letzte Aussage seines Freundes. Er ließ seine Finger an Dhaômas Körper herab gleiten und ergriff eine seiner Hände. Diese führte er, bis sie gegen Seren stieß. „Sieh dich doch um.“ Kurz wuschelte er mit seiner eigenen freien Hand durch Amars Haare. „Sieht es für dich so aus, als wärst du hier unter Feinden? Sollte es schließlich, wenn du wirklich der Meinung bist, du wärst unfähig.“ Kurz glitt sein Blick zu den Gastgebern. „Und Leoni hat schon festgestellt, dass du Recht hast. Ich bin ihr lange genug nachgerannt. Damit ist jetzt Schluss. Und sollte sie noch einmal verlangen, dass ich mich zwischen euch entscheiden soll, werde ich es tun.“ So selbstsicher, wie er sich geben wollte, kam er nicht herüber. Seine Stimme war zittrig und es schwang noch immer Traurigkeit in ihr mit. Mimoun rang sich zu einem Lächeln durch, um es zu überspielen.
 

„Nein!“, hatte Dhaôma dazwischen gerufen, als er von Feinden gesprochen hatte, aber Mimoun hatte einfach weiter geredet. Und seine Worte machten ihn unglücklich und glücklich zugleich.

Dann lachte Seren plötzlich quäkend, denn sie hatte etwas gefunden, an dem sie nuckeln konnte. Es war ihr Fuß. Und das kitzlige Gefühl, das ihre Lippen daran machten, begeisterte sie noch ein bisschen mehr.

„Alles wieder gut.“, kicherte Amar und Dhaôma nickte.

Weich zog er die beiden Hanebito in seine Arme und drückte sie fest. „Ich hab euch lieb.“, flüsterte er ergriffen.
 

Nichts war gut. Das befand jedenfalls Mimoun für sich. Zwar waren die Babys wieder ruhig und auch Amar zeigte nun keine Anzeichen von gedrückter Stimmung. Selbst Dhaôma schien es besser als noch vor wenigen Minuten zu gehen, doch er selbst fühlte sich absolut elend. Dabei dürfte sich der junge Geflügelte doch nicht mehr so zerrissen fühlen, nun da er eine Entscheidung getroffen hatte.

Um Dhaôma sein Leid nicht spüren, beziehungsweise sehen zu lassen, drückte er seine Nase gegen den Hals des Freundes.
 

Asam kam zu ihnen und legte den beiden Jungen je eine Hand auf den Rücken, bevor er sie alle einfach umarmte. Ihm gefiel diese Geschichte nicht. Das hier war seine Familie und die durfte man nicht einfach so in Bedrängnis bringen, egal welcher Art. Schließlich wollte er sie beschützen!

Nach ein paar Momenten, in denen keiner irgendwas sagte, begannen die Frauen den Tisch zu decken. Sie mussten heute früh eine Versammlung des Dorfes abhalten, damit alle erfuhren, was der Rat beschlossen hatte, und um Fiamma offiziell in der Familie willkommen zu heißen. Und dann mussten sie noch auf Jagd gehen, bevor die Antilopen weiter gezogen waren.

„Mimoun. Möchtest du vielleicht…“ Der Magier verstummte schnell wieder. Er wusste, dass Mimoun nicht der Typ war, Frust in sich hineinzufressen. Eher rannte er herum und löste ihn auf kopflose Weise mit einer Menge Bewegung. „Wie wäre es, wenn du fliegen gingest? Dann können sich Gedanken beruhigen und vielleicht tut es deinem Herzen gut.“ Seine Stimme zitterte leicht, denn Verzweiflung war nichts, dass er mit seiner Magie heilen konnte. Seine Arme, die inzwischen beide um den Hanebito lagen, strichen ihm sanft über den Rücken und durch das Haar.
 

Einfach nur fliegen würde ihm nicht helfen, das wusste Mimoun. Er musste sich bis zur Erschöpfung auspowern. Und dann ein paar Stunden in halber Besinnungslosigkeit verbringen. Da würde dann sicher der Magier wieder dazwischenfunken. Und wenn er jetzt die Hütte verließ, würde er sicher noch seine Familie in der Ferne erkennen können. Das würde nicht zur Besserung seiner Laune beitragen.

„Ich glaub nicht, dass die Damen begeistert wären, wenn ich jetzt für mehrere Stunden verschwinde und nicht einmal mehr was frühstücke.“ Der junge Geflügelte entzog sich der Umarmung. „Ich werde nachher einfach Asam verprügeln. Das dürfte reichen. So dramatisch ist das Ganze nicht.“, versuchte er das Geschehene herunterzuspielen.
 

Der junge Mann lachte herzlich. „Allzeit bereit.“, lockte er und strubbelte dem Schwarzhaarigen durch die Haare.

Unterdessen war Dhaôma nicht wirklich beruhigt, ließ ihn aber gehen. Manche Dinge brauchten einfach Zeit. Und das Frühstück wartete.

Amar begann irgendwann mit seinen beiden Cousinen über den Vorfall am Morgen zu reden und Dhaôma unterbrach ihn, indem er ihm einen vernichtenden Blick schickte. Mit Sicherheit würde er später trotzdem darüber reden, aber dann wenigstens nicht vor ihm.

Nach dem Frühstück wurde die Versammlung abgehalten, der alle beiwohnen sollten. Mimoun und Dhaôma wurde es freigestellt, etwas anderes zu tun.
 

Mimoun stand nicht der Sinn nach Gesellschaft. Am Liebsten wäre er momentan ganz weit weg. Mit einem entschuldigenden Lächeln verabschiedete er sich, auch von Dhaôma, und streunte allein über die Insel.

Es gab hier oben nichts, was er tun konnte. Die Jagd würde erst später am Tage stattfinden und so bot auch das keine Ablenkung. Ohne es zu merken, kam er an den Rand der Insel und starrte hinab und ins Nichts. Der Geflügelte konnte nicht sagen, worum seine Gedanken sich drehten, was er dachte oder ob er überhaupt dachte. Die Arme um den Körper geschlungen sah er einfach nur auf die Ebenen hinab. Seine Umwelt nicht registrierend, bemerkte er auch Asam nicht, der sich ihm näherte.

Dieser blieb abwartend wenige Schritte neben ihm stehen und beobachtete den jungen Mann vor sich. In solch einem Zustand hatte er ihn noch nicht erlebt. Seufzend strubbelte er sich über den Kopf, bevor er die Faust spielerisch gegen Mimouns Schulter sausen ließ. Aus seiner Starre gerissen, wirbelte dieser erschrocken herum, und vergessend, wo er sich befand, machte er einen Schritt nach hinten. Lachend kommentierte Asam den Abgang seines Freundes. Gut amüsiert ließ er sich auf die Knie sinken und lugte über den Rand der Insel. Mimoun hatte nur wenig unterhalb seine Krallen ins Erdreich gegraben und sah leicht angesäuert zu dem Ratsmitglied empor.

„Ich wollte dir Bescheid sagen, dass wir zur Jagd aufbrechen. Vielleicht lenkt dich das etwas ab.“ Er legte sich nun völlig ausgestreckt auf die Erde und stützte sein Kinn auf seine Hände, grinste frech. „Außerdem, wolltest du mich nicht eigentlich verprügeln?“

Das Knurren unter ihm verstummte, als Mimoun sich abstieß. Ohne eine Erwiderung steuerte er der Hütte des Ältesten zu, dicht gefolgt von Asam, der sich nach einem frustrierten Seufzen hochgestemmt hatte. Mit dem Kerl war wohl momentan wirklich nicht zu spaßen. Hoffentlich gab sich das bald.

Mimoun landete dicht vor der Hütte. Für die Jagd brauchte er seinen Bogen und der befand sich noch im Inneren des Gebäudes, doch etwas vor der Hütte ließ ihn zögern. Kleine grüne Pflänzchen sprossen davor, zahlreich und kräftig.

„Oh. Hat Dhaôma sich etwa ausgetobt? Dabei wird das jetzt noch nicht so lange halten.“, merkte Asam an, als dieser an dem anderen vorbeischielte. Mimoun hockte sich hin und berührte eines der Blätter. Ein leises Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Es war auch nicht verschwunden, als er sich wieder erhob. Asam quittierte es mit einem fragenden Stirnrunzeln. Auch er sah auf das Grünzeug; ihm war es nicht bekannt. Seinem Freund anscheinend schon, denn dieser betrat die Hütte schwungvoller als erwartet.
 

„Ah, Mimoun!“ Kaum waren die Lederplanen zur Seite geschlagen worden, hatte Dhaôma aufgesehen, hatte nur auf seinen Freund gewartet. Zwar hatte er ihn gesucht, aber sich dann dagegen entschieden, ihn auch anzusprechen. Stattdessen hatte er Erdbeeren wachsen lassen, die jetzt auf dem niedrigen Tisch lagen. Es waren viele, denn er hatte viel Zeit gehabt. Außerdem sollte es Mimoun ja aufmuntern und deshalb waren es seiner Traurigkeit entsprechend viele.

Jetzt betrachtete er das gebräunte Gesicht, um herauszufinden, wie es um seine Laune bestellt war. Sie schien sich gebessert zu haben. „Mimoun. Geht es dir besser?“
 

Hatte er seinem Freund etwa schon wieder Sorgen bereitet? Das wollte er doch nicht. Mimoun ließ die leckeren Früchte links liegen und hockte sich neben den Magier. „Ich hab dir doch gesagt, dass alles in Ordnung ist.“, sagte er. Aber das Lächeln, das noch immer auf seinen Zügen lag, erreichte nun seine Augen nicht mehr.
 

„Das hast du gesagt.“, bestätigte der Braunhaarige und spiegelte das leicht traurige Lächeln. Außer ihm und den beiden Babys war keiner in der Hütte. Jetzt stand nur Asam noch in der Tür und betrachtete die Szene. „Geht die Jagd los?“
 

Der Angesprochene nickte leicht, während Mimoun sich erhob. Er erinnerte sich daran, warum er eigentlich zur Hütte gekommen war. Schnell verschwand er in ihrem Raum und kehrte mit seiner Jagdausrüstung zurück. Fast war er schon durch die Plane, die Asam ihm aufhielt, da ging er noch einmal zurück, griff sich eine der Erdbeeren und schob sie sich diesmal mit einem ehrlichen Lächeln in den Mund. Kurz beugte sich der Geflügelte zu Dhaôma hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Haare.

„Wehe, du isst mir was weg. Wenn ich dich erwische, hol ich sie mir zurück.“, grinste er und verabschiedete sich mit einem frechen Blick über die Schulter, als er schlussendlich Asam folgte.
 

Etwa so wie das letzte Mal? Dhaôma wurde augenblicklich rot und kicherte. Ja, es ging seinem Freund besser und das machte ihn froh.

Leichtfüßig sprang er auf und lief hinter ihnen her. „Viel Glück!“, rief er und winkte. Asam erwiderte das Winken.
 

Auch Mimoun winkte gut gelaunt zurück, doch kaum wandte er sich um und schloss sich den schon in der Luft wartenden Jägern an, fiel seine Maskerade zusammen.

„Solltest du Dhaôma nicht zeigen, wie es dir wirklich geht?“, begann Asam, der das mit Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm. „Er macht sich sicher Sorgen um dich.“

„Das soll er nicht.“, erwiderte Mimoun leise. „Nicht deswegen.“ Dann legte er an Tempo zu und ließ seinen Gesprächspartner zurück. Mit Unverständnis schüttelte Asam den Kopf und folgte.

Die kleine Jagdgesellschaft musste eine gewisse Strecke zurücklegen, bis ihre Beute in Sicht kam. Auf dem Weg dorthin schlossen sich Jäger aus einem anderen Dorf an. Dann begann die Jagd. Offensichtlich tragende Tiere wurden verschont, der Rest dezimiert. Gewissenhaft wie immer ging Mimoun dabei zu Werke, auch bei der Zerlegung der Beute nach Ende der Jagd. Er war nicht bewusst bei der Sache. Seine Gedanken, die bei einer anderen Angelegenheit verweilten, begannen nun klarere Bahnen zu laufen. Es ging um seine Schwester und das damit verbundene Problem. Irgendwie musste es doch möglich sein, diese Verbohrtheit und Sturheit aus ihr rauszukriegen.

Als die Jagdgesellschaft den Rückflug antrat, war er noch immer nicht zu einem zufrieden stellenden Ergebnis gekommen. Aber vielleicht würde die Zeit alles regeln.

Als er seine Beute an die im Dorf Zurückgebliebenen aushändigte, fühlte er sich nicht beansprucht genug und so forderte er Asam zu dem angekündigten Kämpfchen. Dieser ahnte den Grund und schonte seinen Gegner nicht. Und auch wenn der Kampf ein wenig außerhalb in der Luft begann, so fanden sich die beiden Kontrahenten bald ineinander verkeilt auf der Insel wieder. Ebenso schnell kamen Schaulustige, die Partei für einen von den beiden ergriffen und ihren Favoriten lauthals anfeuerten. Dazwischen waren auch vereinzelte Protestrufe, da sie auch denen in den Weg kamen, die noch dabei waren, die Beute zu verarbeiten.
 

Dhaôma kam bei dem Lärm ebenfalls herausgelaufen. Fast hätte er gelacht ob der Schau, die sich das zukünftige Oberhaupt mit Mimoun dort lieferte, aber das Lachen blieb ihm im Halse stecken. Es war zu ernst, um als eine ihrer üblichen Kabbeleien durchzugehen. Zwar war es auch nicht so ernst, dass man annehmen könnte, dass sie sich gestritten hätten, aber dennoch...

Addar stellte sich amüsiert vor sich hinlächelnd neben ihn. „Wenn er sich weiter so gut schlägt, wird Kaley sicher nicht mehr so abfällig von ihm zu reden wagen.“

„Kaley?“

„Hat dir Mimoun etwa nichts davon erzählt?“

„Dass er Kämpfen professionell lernen wird? Doch. Hat er. Ich habe es ihm ja vorgeschlagen.“

„Du hast...?“ Höchst erstaunt blickte der Älteste den braunhaarigen Magier an. „Warum?“, wollte er schließlich wissen. Gerade bei Dhaôma verstand er es nicht.

Der junge Mann seufzte. „Weil er mich begleiten wird, ob ich das will oder nicht. Er muss in der Lage sein, sich selbst zu beschützen.“ Und nach einer kurzen Pause fügte er an: „Sogar vor Leuten wie mir.“

„Du meinst, vor Magiern?“

Nicken. Noch immer starrte Dhaôma mit brennenden Augen auf das Knäuel aus Armen und Beinen. Die beiden waren ein ausgeglichenes Paar, denn was Mimoun an Kraft an den Tag legte, machte Asam mit Geschick wett.

„Dhaôma, was ist wirklich passiert heute Morgen?“

„Ich habe das falsche zum falschen Zeitpunkt gesagt.“, gab der junge Mann gepresst von sich. Er wollte über dieses Thema nicht mehr reden.

„Gib nicht einfach dir die Schuld, sondern sage mir, was aus deiner Sicht passiert ist.“, forderte Addar milde.

Seufzend fuhr sich Dhaôma durch das lange Haar, bevor er kurz umriss, was zu dem Streit geführt hatte. Letztlich schüttelte er den Kopf. „Wir waren nur unterschiedlicher Ansicht und konnten es beide nicht sehen.“

So klang es für ihn auch, aber das war nicht der Punkt. „Mich würde interessieren, warum es dich so sehr kümmert, wie Silia sich ihm gegenüber verhält.“

„Weil Mimoun leidet, wie es ist.“

„Tut er das? Hat er das gesagt oder gezeigt?“

Dhaôma schüttelte den Kopf, nickte dann aber. „Er sieht immer gequält aus, wenn sie wieder da ist. Auch wenn er sich freut sie zu sehen, sie macht es ihm unmöglich, das zu genießen.“ Dann sah er den Alten das erste Mal an. „Sie ist wie meine Mutter. Sie hält an der Vergangenheit fest, wagt sich nicht in die Gegenwart und leidet darunter, dass außer ihr niemand stillsteht. Sie kapselt sich ab und schreit nach Aufmerksamkeit in einer selbst auferlegten Einsamkeit, mit der sie alle ihr nahe stehenden Menschen tyrannisiert.“

Nie hatte Addar ihn so hasserfüllt gucken sehen und auch wenn es nur ein Moment war und gleich wieder der mitleidig-besorgten Melancholie wich, verstand er nun, warum er sich mit Silia einfach streiten musste: Wenn man sah, wie ein Freund in den gleichen Käfig gezwängt wurde, aus dem man selbst gerade entkommen war, dann musste man einfach etwas dagegen tun.

Der Kampf auf dem Platz ging in die nächste Runde, denn sie hatten den See erreicht. Mit einem lauten Platschen rollten sie beide ins eiskalte Wasser.
 

Überrascht von dem nassen Element trennten sich die beiden Kontrahenten voneinander und schüttelten sich das Wasser aus Gesicht und Haaren. Noch immer dachte keiner von ihnen daran, nachzugeben. Tief geduckt und knurrend belauerte Mimoun seinen Gegner.

„Gibst du auf?“, wollte Asam wissen. Sein Atem ging genauso stoßweise wie Mimouns.

Dessen „Auf keinen Fall!“ ging in einem allgemeinen Protestgejaule des Publikums unter.

„Unentschieden?“, fragte Asam weiter.

Erneute Proteste wurden laut. Ihre Zuschauer wollten den Kampf bis zum Ende ausgetragen sehen.

„Niemals.“, grinste Mimoun und duckte sich noch weiter. Wie ein Raubtier zum Sprung bereit, ließ er sich auf alle vier Gliedmaßen hinab, die Flügel weit aufgespannt, um sich optisch größer zu machen. Dass das kalte Wasser somit nicht nur seine Beine umspülte, störte ihn dabei nicht.
 

Diese Pose erinnerte Dhaôma an ihre Schlacht im Schnee. Es zeigte, dass Mimoun sich absolut sicher war - glaubte er.

„Mimoun, beende es! Sonst brauchst du nie so lange!“, rief vor ihm Amar und hüpfte auf und ab. Einige der anderen Kinder verteilten sich um den See und spritzten mit Wasser nach den Kontrahenten.

Dhaôma wandte sich ab, ließ Addar stehen und ging zurück in die Hütte, um Mimouns Preis zu holen. Er war sich einfach sicher, dass Mimoun gewinnen würde. Als er zurückkam, sah er gerade noch, wie der Schwarzhaarige Asam rücklings unter Wasser drückte. Im nächsten Moment flog er über den Kopf des im Wasser Liegenden, weil dieser ihn mit den Füßen wegdrückte, doch Mimoun ließ nicht los, obwohl auch er inzwischen halbwegs am Ertrinken war. Letztlich gab Asam die Gegenwehr auf, weil er es nicht schaffte, sich wieder auf den Bauch zu drehen. Mit den Flügeln war man einfach nicht wendig im Wasser. Der Widerstand war zu hoch.

Mimoun ließ los und zappelte ein wenig, bis ihm eine Frau die Hand reichte und ihn in die Senkrechte zog. Asam wurde von Karo gerettet. Triefend von Wasser standen sie einander gegenüber, sichtlich überlegend, ob sie einfach von vorne anfangen sollten.
 

Kurz ließ Mimoun seinen Blick über die Versammelten gleiten. Diese harrten gespannt und stumm der Entscheidung der Kämpfenden. Als ihm aber eine gewisse Person ins Blickfeld geriet, dachte er nicht mehr an Kämpfen. Sein Gesicht hellte sich auf und seine lauernde Anspannung verschwand. Er wandte sich ab und wollte auf Dhaôma zugehen, doch schon im nächsten Moment fand er sich auf der Erde wieder. Asam hatte ihn einfach über den Haufen gerannt und versuchte nun, ihn mit seinem Gewicht unten zu halten. Fauchend wand sich der junge Mann unter dem Griff des Ratsmitglieds und stemmte sich mit purer Kraft hoch.

Asam ließ von ihm ab. Dass Mimoun nach dem Kampf nun doch noch so viele Reserven aufbrachte, beeindruckte ihn. Schon im nächsten Moment fand er sich wieder in enger Umarmung zu seinem Kontrahenten im Wasser wieder. Gejohle der Umstehenden begleitete die Aktion. Zu ihrer Enttäuschung hielt die jedoch nicht lange. Mimoun löste sich von Asam und ging ein wenig auf Abstand.

„Wollt Ihr Eure Niederlage so offensichtlich machen?“, lachte Mimoun ihn an. Herausfordernd winkte er mit einer Hand und ging in Abwehrhaltung.

Doch Asam schüttelte ebenfalls lachend den Kopf. „Das war ein Unentschieden und keine Widerworte. Hier hab schließlich ich das Sagen.“

Mit den Zähnen knirschend stimmte Mimoun zu. Der Blick zu Dhaôma hatte ihm wieder seine Erdbeeren ins Gedächtnis gerufen. Zu lange hatte er nun schon darauf verzichtet. Ohne sich länger um seinen geflügelten Freund zu kümmern, schleppte er sich ans Ufer und streunte unter Beifall zu dem Magier hinüber.
 

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Er streitet sich. *drop* Was für ein lächerlicher Versuch eines Streits. Dummerweise sind die Auswirkungen trotzdem verheerend.

Ist es Liebe?

Kapitel 39

Ist es Liebe?
 

Viele klopften Mimoun auf die Schultern, als er an ihnen vorüber kam, bis Dhaôma endlich vor ihm stand. Der Braunhaarige lächelte breit und hielt eine Erdbeere auf Mundhöhe hoch. „Unglaublich, dass sie dich sogar aus deinem Spiel holen können. Dabei hätten sie noch länger auf dich gewartet.“
 

Sanft, aber unnachgiebig schlossen sich starke Finger um das Handgelenk des Magiers, um dieses daran zu hindern, mit der Frucht zwischen den Fingern wieder zu verschwinden. Ebenso vorsichtig packte der Geflügelte mit den Zähnen die Erdbeere und ließ sie mit einem kurzen Zurücklegen des Kopfes in seinem Mund verschwinden, bevor er sich daran machte, mit vorwitziger Zunge die Finger des Magiers von den Spuren des Geschmacks der kleinen roten Früchte zu befreien. Mit forderndem Blick leckte er sich zum Abschluss selbst noch einmal die Lippen.
 

Es war, als kehre in Dhaôma endlich wieder Frieden ein. Die sanften Lippen kribbelten leicht an seinen Fingern und Mimouns Gesicht machte ihn froh. Glücklich hob er die zweite Hand, um zu zeigen, dass er noch mehr hatte.

Einen Meter weiter stöhnte Amar bei dem Anblick auf. Ja, er hatte sich daran gewöhnt, wie die beiden miteinander flirteten, aber es nervte ihn. Weil er da nicht dazwischenfunken konnte. Nämlich weil er sich nicht traute. Da war etwas, dass es ihm unmöglich machte.

Auch andere begannen zu tuscheln und zu kichern. Längst war es kein Geheimnis mehr, wie die zwei seltsamen Jungen einander zugetan waren, und wie naiv sie waren, weil es ihnen nicht auffiel.
 

Misstrauisch beäugte Mimoun die wenigen Früchte, die ihm dargeboten wurden. „Waren das nicht bedeutend mehr, bevor wir zur Jagd aufgebrochen sind?“ Er näherte sein Gesicht bis auf wenige Zentimeter dem des Magiers. „Hast du etwa schon wieder genascht?“
 

„Nein, würde ich nie wagen.“, lachte Dhaôma. „Die anderen sind noch im Haus, wenn sie dort keiner gegessen hat.“
 

„Nah.“ Der junge Geflügelte lehnte sich abschätzig und mit verschränkten Armen zurück. „Ob ich dir das glauben kann?“ Nach einigen Momenten schnellte seine Hand vor, griff sich eine weitere Erdbeere und ließ sie verschwinden. Sein Gesicht zeigte dabei noch immer diesen abschätzig-misstrauischen Ausdruck.
 

„Du kannst nicht mehr kosten, oder? Du schmeckst schon nach Erdbeere, da wirst du das kaum differenzieren können.“, gab der Braunhaarige zu bedenken. „Also wirst du meinem Wort Glauben schenken müssen.“
 

„Würdest du es wirklich allen Ernstes wagen, mich anzulügen?“ Erneut löste sich eine Hand von dem Armknäuel auf seiner Brust. Aber nicht die Erdbeeren waren ihr Ziel. Der Zeigefinger, eher nur die Spitze seines Fingernagels, fuhr hauchzart über den Hals seines Freundes, wanderte höher und verharrte schließlich am Kinn, drückte leicht nach oben.
 

Jetzt war Dhaôma verunsichert. Er verstand nicht, was Mimoun ihm zu sagen versuchte. „Ich hätte keinen Grund dafür.“, zuckte er arglos mit den Schultern.

Um sie herum war Stille eingekehrt. Das, was man dort jetzt sah, passte nicht zu dem sonstigen Geplänkel, das die beiden an den Tag legten. Mimouns Haltung war beinahe bedrohlich. Warum konnte Dhaôma das nicht sehen? Oder vertraute er ihm soweit, dass er keine Angst zu haben brauchte? Fühlte er etwa nicht die erotische Spannung?
 

Kurz wartete Mimoun ab, dann wandte er sich ab. „Bah. Mit dir kann man wirklich keine Späße treiben.“ Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf, löste sie jedoch schnell wieder. Eine der Früchte schob er sich selbst in den Mund. Eine weitere hielt er an Dhaômas Lippen.
 

Dieser nahm sie ohne zu zögern. „Wenn du wirklich dieser Meinung wärst, würdest du es nicht immer wieder versuchen, oder?“, gab er zurück, als er geschluckt hatte.
 

„Du gehst aber nicht entsprechend darauf ein.“, maulte er gespielt beleidigt. „Oder hast du etwa Angst zu verlieren?“ Erneut lehnte er sich vor, diesmal ein spitzbübisches Grinsen auf den Lippen.
 

Nachdenklich betrachtete der Braunhaarige seinen Freund. Er sollte darauf eingehen. Würde er machen. „Was willst du, das ich tue? Möchtest du, dass ich dich belüge?“
 

„Tse. Was hätte ich denn davon? Ein wenig flunkern, ein wenig reizen reicht doch schon. Außerdem kommt der Spaß abhanden, wenn ich dir vorher sagen muss, wie du reagieren sollst.“ Ausgelassen hüpfte er ein wenig herum. „Einfach mal schauen, wohin es sich entwickelt, Grenzen austesten.“
 

Dhaôma betrachtete ihn lächelnd, aber innerlich wusste er, dass er das nicht erfüllen konnte. Er wusste einfach nicht, wie man mit anderen Grenzen austestete, ohne dabei in die Vollen zu gehen. Das hatten ihm auch die Kinder schon vorgeworfen, dass er zu ernst wäre.

Seufzend schüttelte er den Kopf. „Ich will mich nicht mit dir streiten. Auch nicht aus Spaß.“
 

Ohne Vorwarnung, ohne ihm eine Chance zur Reaktion zu lassen, schlang Mimoun seine Arme um Dhaôma und drückte ihn fest an sich. „Du bist viel zu lieb für diese Welt.“, flüsterte er ihm ins Ohr. Der Geflügelte lockerte seinen Griff ein wenig, um dem Magier keine Schmerzen zuzufügen, doch er schien nicht gewillt zu sein, ihn loszulassen.
 

Gerade noch erschrocken, begann Dhaôma nun zu kichern. „Du musst grad reden.“, gab er zurück und wuschelte durch die schwarzen Strubbeln. „Du…“

„Jetzt reicht’s mir aber!“, fauchte da Amar. „Ihr seid so irritierend! Wie kann man nur so vernarrt ineinander sein, ohne je zu begreifen, dass man einander liebt?!“

Das brachte Dhaôma erst recht zum Lachen. „Aber ich liebe ihn doch.“

Amar starrte ihn an. Sein Mund öffnete sich. Schloss sich. „Du…“ Und wieder hatte er den Faden verloren.
 

„Haben wir je behauptet, dass es anders wäre?“, mischte sich Mimoun verdutzt ein, der sich halb von seinem Freund gelöst hatte.

Er sah nicht, wie Asam sich verzweifelt-amüsiert grinsend den Nacken rieb und Leoni sich kichernd abwandte. Auch entging ihm, dass einige in der Menge sich auf den Finger bissen, um nicht loszuprusten. Dieses Kind hatte mehr verstanden als die beiden jungen Erwachsenen, die es nicht einmal jetzt richtig zu begreifen schienen, obwohl man es ihnen ins Gesicht sagte.
 

Der Kleine starrte Mimoun an, dann wechselte sein Blick zu Dhaôma. „Ihr…“ Er holte tief Luft. „Ihr verhaltet euch genauso peinlich wie Asam und Leoni!“, rief er laut. Seine Wangen brannten, ob vor Wut oder Scham konnte er selbst nicht sagen. Hinter ihm entgleisten Asams Gesichtszüge und während er sich bei seiner Frau davon überzeugte, dass er sich eben nicht peinlich verhielt, setzte Amar noch einen drauf: „Als hättet ihr den Lebensbund eingegangen!“ Die zu Fäusten geballten Hände zitterten.

Das wischte Dhaômas Lächeln beiseite. Vorsichtig machte er sich los. „Was ist so schlimm daran? Ich zeige den Menschen, die ich gern habe, gerne, wie ich für sie empfinde. Und wenn er es wäre, hätte ich auch keine Probleme, einen solchen Bund einzugehen.“
 

Völlig überfordert mit der Situation ließ Mimoun seinen Freund gewähren. Kamen sie wirklich so herüber, wirkten sie so auf andere? Der Gedanke war ihm peinlich und er konnte nicht verhindern, dass sein Gesicht anfing zu glühen.

Sein Blick glitt nun bewusst durch die Menge. An den aufmerksamen Blicken und gespannten Gesichtern war deutlich abzulesen, dass auch ihnen diese Beziehung nicht entgangen war. Nur war dieses Kind der einzige gewesen, der sich getraut hatte, die zwei Freunde darauf hinzuweisen.

Mimoun wandte seine Aufmerksamkeit wieder Dhaôma und Amar zu. Ihm entging der letzte Satz seines Freundes nicht. Diesem schien dieser Gedanke nichts auszumachen. Doch was war mit dem Geflügelten selbst? Was war der Magier für ihn? Er war ihm sehr wichtig, das stand schon lange fest. Aber wie weit reichte dieses Gefühl?
 

Amar starrte Dhaôma noch einige Zeit an, dann seufzte er tief, schlang seine Arme um den Hals seines Freundes und murmelte eine Entschuldigung. Es tat ihm Leid, aus der Haut gefahren zu sein.

„Macht nichts.“ Vergebend wuschelte Dhaôma durch das helle Haar. Und dann flüsterte er ihm ins Ohr: „Denkst du nicht, es ist eine Begabung, dass man sein kann, wie man will, ohne davon beeinflusst zu werden, was andere über dich denken mögen? Du solltest stolz auf Asam sein.“ Leicht klopfte er ihm auf die Schulter, während er sich erhob. „Also dann. Was nun?“
 

Ratlos zuckte Mimoun mit den Schultern. Er versuchte sich sein Gedankenchaos nicht anmerken zu lassen. Eine Bewegung an seiner Seite sorgte dafür, dass sein Blick nicht mehr auf den Magier fixiert war.

„Hier.“, meinte Addar. Er hielt dem jungen Mann einen kleinen Zettel hin. „Das hat mir Kaley für dich mitgegeben. Ich hab es in der ganzen Aufregung verpasst.“

Zögerlich nahm Mimoun den Zettel entgegen und faltete ihn auseinander. Was er las, ließ ihn kurz auflachen. „Es kommt immer alles auf einen Schlag.“, stellte er fest und knüllte den Zettel energisch zusammen.
 

Dhaôma ließ sich breitschlagen, mit den Kindern spielen zu gehen. Sie waren einfach sehr überzeugend, denn der Kampf zwischen Mimoun und Asam hatte ihre Fantasie beflügelt. Der Magier war da eine willkommene Beute.

Auch sonst zerstreute sich die Menge, um die Arbeiten des Tages zu beenden, damit der nächste Tag ohne Rückschuld beginnen konnte.
 

Mimouns Blick schweifte über die Insel, aber nichts von dem, was es zu tun gab, reizte ihn dazu, sich zu beteiligen. Und so zog sich Mimoun auf eine Häuserecke zurück, von der aus er Dhaôma und die Kinder gut im Blick hatte. Es war einfach herzerwärmend zu sehen, wie der Magier aufblühte in Gegenwart der kleinen Blagen.

„Herrje. Das war heute aber ein chaotischer Tag.“ Aus seinen Betrachtungen gerissen, sah Mimoun sich um. Leoni stand zu seinen Füßen und hielt zwei Bündel in der Hand. Bevor er zu ihr hinab konnte, flatterte sie ihm schon entgegen. Hilfsbereit streckte der junge Geflügelte die Arme aus und nahm ihr den dickeren Deckenstapel ab. Besorgt sah er auf das helle Gesichtchen, das ihm daraus aufmerksam entgegenlugte, bevor es versuchte, etwas von der Umgebung zu sehen.

„Ist es nicht riskant, sie nach draußen in die Kälte zu bringen?“

Vorsichtig ließ sich Leoni neben ihm nieder und balancierte sich seitlich aus. „Deswegen ist die Kleine ja dick eingepackt. Es ist ja nicht für lange. Und schließlich brauchen die zwei Süßen auch ab und zu frische Luft.“

Mit einem Nicken, das anzeigen sollte, dass er verstanden hatte, wandte sich Mimoun wieder Fiamma zu. Da sie deutlich anzeigte, dass sie mit ihrer momentanen Position nicht einverstanden war, setzte er sie sich auf den Schoß, so dass auch sie das Dorf überblicken konnte. Das schien ihr schon eher zuzusagen.

Obwohl er den Winzling zur Aufsicht hatte, dauerte es nicht lange und seine Aufmerksamkeit war wieder woanders. Dennoch streichelte er geistesabwesend über die Decken, die die Kleine warm halten sollten.

Leonis Kichern holte ihn wieder ins Hier und Jetzt zurück. „Denkst du über das nach, was Amar vorhin gesagt hat?“ Sie brauchte keine Bestätigung. Seine Gesichtsfärbung war ihr Antwort genug. „Ist dir vorher wirklich noch nie bewusst geworden, dass du ihn liebst?“

Mimoun sah nachdenklich zu dem Magier hinüber. „Ich weiß nicht, was Liebe ist.“, entgegnete er leise. Kurz vergrub er seine Nase in den Decken, bevor er sich aufmerksam seiner Gesprächspartnerin zuwandte. „Wie erkennt man, dass man verliebt ist?“

Ein wenig verdutzt, schwieg die junge Mutter einige Momente. Dass der Junge vor ihr solch eine Frage stellen würde, kam ein wenig überraschend für sie. „Was denkst du denn? Was empfindest du, wenn du ihn siehst?“, wich sie einer direkten Antwort aus.

Wieder vergingen einige Minuten in Stille, bis schließlich eine zögerliche Antwort kam. „Ich bin glücklich, wenn er in meiner Nähe ist. Ist er nicht da, beherrscht er fast immer meine Gedanken. Meistens frag ich mich, was er gerade tut oder wie es ihm geht. Und ich will ihn beschützen. Mit allem was ich habe.“

„Ist das nicht die Antwort, die du gesucht hast?“

„Möglich.“

Kichernd lehnte sie sich vor und strich ihm einige Fransen hinter das Ohr, was er still über sich ergehen ließ. „Aber es scheint dich nicht zufrieden zu stellen.“, stellte sie fest.

Sein Blick war wieder stumm auf den Magier gerichtet.

„Du solltest mit ihm darüber reden, sonst machst du dich auf Dauer selbst kaputt.“

Hektisch schüttelte der junge Geflügelte den Kopf. „Niemals!“ Verwundert runzelte sie die Stirn und setzte bereits zu einer Erwiderung an, als Mimoun weiter sprach. „Wenn er es wäre…“, zitierte er Dhaômas Antwort für Amar, das letzte Wort deutlich betonend. Erneut ein Kopfschütteln. „Ich bin es nicht. Und würde ich ihm etwas in der Richtung sagen, würde er sich darauf einlassen, nur damit ich nicht verletzt werde. Er nimmt doch nie Rücksicht auf sich. Das will ich nicht.“

Leoni lächelte verständnisvoll. Was Mimoun sagte, klang nachvollziehbar, auch wenn sie die Betonung ein wenig anders verstanden hatte. „Aber du solltest dennoch mit ihm darüber reden. Er würde es wissen wollen.“

„Ich bin zufrieden.“, erwiderte der Schwarzhaarige ebenfalls lächelnd. „Es genügt mir, wenn ich weiterhin an seiner Seite sein kann.“

„Auch auf Dauer?“, fragte sie skeptisch nach.

„Das wird die Zeit zeigen.“, wich er auch dieses Mal einer direkten Antwort aus.

Fiamma begann sich zu regen. Sie hatte eines ihrer Ärmchen aus dem Wust befreit und fuchtelte damit in Dhaômas Richtung. Mimoun lachte. „Entschuldige. Aber es scheint so, als wollte sie woanders hin.“

Leoni schenkte ihm einen nachdenklichen Blick, der zeigte, dass für sie dieses Thema nicht beendet wäre, dennoch entließ sie ihn schließlich mit einem Nicken. „Lasst sie wirklich nicht lange draußen.“, kam sie auf ihr Anfangsthema zurück.

Mimoun ließ sich auf den Boden schweben und streunte auf Dhaôma zu. „Mama wird gebraucht.“, rief er laut, um den Lärm der Kinder zu übertönen. Er spielte auf Amars Bemerkung an, als die Kleine auf der Insel ankam.
 

Die Kinder übernahmen diese Bezeichnung sofort. „Mama! Mama!“ rufend kamen sie alle zusammen zu einem aus diesem Grunde hochroten Dhaôma, der Mimoun verzweifelt-vorwurfsvoll ansah. Das Gelächter der Kinder hallte über die ganze Insel.

„Mimoun. Warum?“, jammerte er. Und dennoch war alle Scham vergessen, als Fiamma quietschte und ihre Ärmchen nach ihm ausstreckte. „Winzling!“, lächelte er und kam zu seinem Freund, der sie hielt. Liebevoll beugte er sich über sie und sie griff augenblicklich nach seinen Haaren. „Na, gehst du mit Mimoun spazieren?“
 

„Warum?“, hakte Mimoun der Frage noch mal nach, hatte aber auch gleich eine Antwort parat. „Na, weil’s Spaß macht.“
 

„Dir vielleicht. Und ihnen. Und ich werde als Mädchen bezeichnet. Schlimmer noch, als Mutter!“

„Ja.“ Amar stand neben ihnen und blickte scheel zu ihm hinauf. „Du benimmst dich aber auch genauso.“, antwortete er trocken. „Als wärst du wirklich ihre Mutter.“

Sprachlos starrte Dhaôma ihn an. Was war das gewesen? War er wirklich wie eine Mutter? Etwa wie Leoni? Oder wie seine eigene?

Mit einem Ruck holte Fiamma ihn zurück in die Wirklichkeit, als sie versuchte, seine Haare in ihren Mund zu befördern.
 

„Na.“ Mimoun zog an dem Objekt ihrer Begierde. „Er wird nicht angesabbert. Nachher kommt er wieder auf die dumme Idee, bei den Temperaturen schwimmen zu gehen.“ Ihm war der Blick Dhaômas nicht entgangen, er wusste ihn nur nicht recht zu deuten.
 

„Das muss ich sowieso langsam mal wieder tun.“ Der Braunhaarige seufzte tief. Er hatte es so lange hinausgezögert wie er konnte, aber irgendwann musste er es wieder tun. Aber eigentlich hatte er gehofft, er könnte das später machen, wenn sie wieder unten waren, wenn die Sonne genug Kraft hatte, den von der Erde erwärmten Wind dabei zu unterstützen, ihn zu trocknen. Wieder seufzte er.

„Wenn du nur schon deine Kräfte nutzen könntest.“, murmelte er und griff ihr gerecktes Händchen. Offenbar war sie auch damit zufrieden, denn ihr jammervolles Gesicht begann wieder zu strahlen. „Dann müsstest du auch nicht ständig so dick eingepackt sein und könntest einfach so hier draußen sein.“
 

„Geduld.“, mahnte Mimoun. Er griff um, weil sie mit den ganzen Decken unhandlich war. „Sie wird es schon noch früh genug lernen. Ach herrje.“ Dhaômas Anziehungskraft wirkte wohl auch schon bei so kleinen Winzlingen, wenn allein seine bloße Berührung dafür sorgte, dass sie wieder glücklich war. „Wir werden nie weg kommen, wenn Winzling weint, sobald du weg bist.“
 

Entsetzt zuckte Dhaômas Kopf hoch. „Was sagst du da? Sie weint, wenn ich weg bin?“
 

Mimoun konnte nicht anders. Er lachte lauthals los. Sein Magier war aber auch zu niedlich manchmal. „Komm schon. Wenn es so wäre, könntest du dich doch keine zwei Meter von ihr entfernen, ohne dass sie anfängt mit plärren. Aber ihr wird wahrscheinlich ihr Lieblingsspielzeug fehlen.“ Nun griff er nach den Haaren des Magiers und ließ sie zwischen seinen Fingern hindurch gleiten.
 

„Ai.“ Verstehend nickte der junge Mann und schüttelte dann lächelnd den Kopf. „Ich habe mit Amar und Mimoun ausgemacht, dass ich sie behalte, also wirst du darauf verzichten müssen. Außerdem ist es nicht gesund, das zu essen.“

Ein scharfer Wind kam auf und lüftete Kleider und Haare und zerrte an den Flügeln der Hanebito. Die Kinder fanden das lustig und ließen sich vom Wind in die Luft tragen, indem sie den Winkel ihrer Flügel änderten. Gerade die ungeübten Kinder hüpften immer wieder ein wenig hoch, um einige Schritte weit getragen zu werden. Mimoun, Dhaôma und die kleine Magierin waren augenblicklich uninteressant.

Kichernd suchte jener Schutz bei seinem Hanebito und kuschelte sich an die beiden. „Was meinst du, vielleicht sollte ich das ausbauen, was mir die Wettermagie mitgegeben hat. Lernen, den Wind zu beherrschen. Das wäre sicherlich praktisch, wenn du mich immer schleppen musst.“
 

„Das wäre nicht nur praktisch, sondern ausgesprochen fantastisch. Dann brauch ich nicht unser Gepäck zusätzlich schleppen.“ Sein Blick war den spielenden und jauchzenden Kindern gefolgt. Zu gerne hätte auch er diesen Wind genutzt. Leider konnte er seine beiden Magier nicht einfach den Naturgewalten überlassen. Kaum hatte sich Dhaôma an ihn gekuschelt, spannte er seine Flügel, um ihn vor dem Wind zu schützen, versperrte ihm so zumindest die Sicht auf die tobende Brut. Auch schlang der junge Geflügelte einen Arm um seinen Freund, stemmte ihn für einige Augenblicke und nur wenige Zentimeter in die Höhe. „Du hast nämlich nicht gerade wenig auf den Rippen.“ Wie zur Bestätigung bohrte er seinen Finger auf Höhe der untersten Rippe in den Poncho.
 

„Ich werde trotzdem nicht alleine fliegen können. Genauso wenig wie das Gepäck.“, schmunzelte Dhaôma und versuchte den bohrenden Fingern auszuweichen. Letztendlich entschloss er sich, die Hände einzufangen. „Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich auch nicht, wie ich das machen sollte. Du könntest mich mal hinauftragen und fallen lassen oder so.“
 

Blankes Entsetzen ergriff den jungen Geflügelten allein bei dem Gedanken an diese Tat.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst?“, hakte er schärfer als nötig nach. „Das ist nicht wirklich das, worum du mich bitten würdest?“
 

„Nein, nein.“, beruhigte Dhaôma seinen Freund und streichelte sanft seinen Nacken. „Ich weiß ja nicht, ob es was bringt oder ob ich es überhaupt schaffen könnte, mich selbst mit Wind abzufangen. Außerdem müssten wir doch damit rechnen, dass die Magie wild wird und das wäre nun gar nicht im Sinne der Übung, wenn die Magie dich davon abhält, mich wieder aufzufangen.“ Plötzlich schmusig schlang er beide Arme um seinen Freund und kuschelte sich an ihn. „Nein, das muss ich irgendwie anders schaffen. Ich überleg mir was.“
 

„Das hoffe ich für dich.“, murrte Mimoun, noch immer nicht wieder ganz beruhigt. Nur wenig später war er wieder dabei, Dhaômas Haare zu retten. „Gefährliches kleines Ding.“, lächelte er liebevoll. „Dich kann man echt keine Sekunde aus den Augen lassen.“ Es vergingen einige Augenblicke in Stille, als er schließlich fragte: „Kannst du nicht irgendwas Unwichtiges und Leichtes runterschmeißen und versuchen es wieder hoch zu holen?“
 

Was Unwichtiges und Leichtes hinunterwerfen… „Natürlich kann ich das versuchen.“, lächelte der Braunhaarige verschmitzt. „Und wenn ich nicht aufpasse, holen es die Kleinen wieder zurück.“ Dann seufzte er traurig. „Mir wäre es lieber, wir könnten wieder auf Reisen gehen, aber ich habe das Gefühl, als würden sie erwarten, dass wir wegen Fiamma bleiben. Und ich will sie auch nicht alleine lassen, will doch sehen, wie sie groß wird…“ Wieder fegte eine Windböe über sie hinweg und brachte den Geschmack von feuchter Luft mit sich. Bald würde es regnen. „Den Wind zu beherrschen kann ich doch auch während unserer Wanderung lernen, oder?“ Auch wenn kein Platz am Boden so nahe am Wind war wie die Inseln.
 

„Ich würde sie auch gern aufwachsen sehen. Sie ist doch mein Winzling.“, erwiderte der junge Geflügelte und seufzte schwer. Er zog den zerknüllten Zettel hervor. „Von Kaley.“, erklärte er und zeigte ihn seinem Freund. ‚Beweg deinen Arsch’, stand dort mit großen Buchstaben. Mimouns Lächeln missglückte völlig. „Ich würde sagen, er will nicht, dass wir länger hier bleiben. Er sagte ja, er würde nicht ewig warten.“
 

„Das kommt uns fast zu gute.“, kicherte Dhaôma. „Wirklich Mimoun, wenn er so ist, wäre ein anderer Lehrmeister vielleicht gar nicht so schlecht. Aber er hat Recht. Wir verschwenden hier Zeit. Addar hat auch schon mal gesagt, dass ich mein Ziel zu schnell aus den Augen verliere und meine Prioritäten falsch verteile.“ Er blickte zu den spielenden Kindern und dem See. „Vielleicht sollten wir morgen weiterziehen, damit wir möglichst bald wieder zurück sein können.“
 

„Zumindest scheint es ihm wichtig zu sein. Sonst würde er nicht so darauf drängen.“, gab Mimoun zurück. „Und andere haben nicht das Recht uns vorzuschreiben, wo unsere Prioritäten zu liegen haben.“ Erneut entschlüpfte ihm ein tiefer Seufzer und er hob Fiamma höher, um sein Gesicht in ihren Decken zu vergraben. „Aber sie haben Recht. Es geht nicht mehr nur um uns und die Suche nach Drachen. Das, was wir geplant haben, betrifft nun alle.“ Der junge Geflügelte wandte sich um und strebte der Hütte zu. Er befand, dass sein Winzling genug frische Luft gehabt hatte. „Wir gehen morgen.“, bestimmte er. „Je länger wir warten würden, desto schwerer würden wir uns von ihr trennen können. Und sie ist ja nun in Sicherheit in einer liebevollen Familie.“
 

Dhaôma nickte und folgte ihm schnell, so dass sie nebeneinander laufen konnten.

Asam, Addar und Leoni reagierten auf die Nachricht gelassen. Und als Janna später kam, lächelte sie und packte den beiden einen Proviantbeutel, da ihre Sachen ja schon länger nicht mehr bei ihnen waren. „Es ist schade, dass ihr gehen wollt, aber andererseits auch gut zu wissen, dass ihr eurem Ziel ein wenig näher kommt.“

Amar und seine beiden Cousinen waren da nicht ganz so glücklich und leicht zu beruhigen. Sie jammerten und flehten, sie sollen noch einen Tag länger bleiben, aber keiner der beiden ließ sich erweichen.

Mitten in der Nacht stahl sich Dhaôma dann hinaus, nachdem er Fiamma in die Arme seines Freundes verfrachtet hatte. Es war seine letzte Chance, den Wind hier oben zu spüren und er wollte doch Mimoun helfen, wenn sie irgendwann fliegen mussten. Und nachts waren da weniger Störfaktoren. Mit geschlossenen Augen stellte er sich ganz an den Rand der Insel und stellte sich auf den Wind ein, spürte dem Gefühl nach, wie der böige Wind an seinen Kleidern zerrte und wie er seine Haare zauste. Jeder Veränderung versuchte er nachzuempfinden, was ihm zu Anfang überhaupt nicht gelingen wollte. Nach ein paar Stunden jedoch konnte er langsam aber sicher verstehen, warum die Hanebito den Wind so gerne mochten. Im Gegensatz zu seinen Vermutungen war Wind nicht unvorhersehbar. Er kam immer in den gleichen Bahnen und je nach Geschwindigkeit und Winkel verhielt er sich ein bisschen anders, so dass man ihn sogar bis zu einem gewissen Grade voraussehen konnte – vorausgesetzt, man hatte mehr Übung.

Aber trotz dieser Erkenntnis konnte er keine Magie initiieren. Frustriert begab er sich schließlich wieder ins Bett, kuschelte sich an Mimoun, um sich aufzuwärmen, und hoffte, dass er ihn damit nicht weckte.
 

Nur am Rande seines Bewusstseins bekam der junge Geflügelte mit, dass Dhaôma hinausging. Er schrieb dem keine große Bedeutung zu und dämmerte schnell wieder ein, Fiamma dicht an sich gezogen. Ein winziger Teil von ihm blieb jedoch wach und wartete auf die Rückkehr des Magiers, die ausblieb. Zwar protestierte das kleine Stimmchen, aber es war zu schwach, um Mimoun aus seinem wohligen Dämmerzustand zu reißen.

Erst als sein Freund wieder zu ihm unter die Decken schlüpfte, beruhigte sich auch dieser Teil wieder. Nur wurde der Rest von ihm schlagartig wach, als er die Kälte spürte, die Dhaôma mit herein brachte.

„Alles okay?“, hakte er leise nach und schob das friedlich schlummernde Baby ein wenig zur Seite, um seinem Freund vollen Körperkontakt und damit maximale Wärmezufuhr zu ermöglichen.
 

„Ja, alles okay.“ Schmusig kuschelte er sich an die Wärmequelle, mit der auch gleich noch die Müdigkeit zunahm. „Ich hatte vergessen, dass ich die Drachen eigentlich gesucht habe, um frei fliegen zu können, aber ich denke, das wird wieder mein vorrangiges Ziel. Es muss einfach ein wundervolles Gefühl sein, auf dem Wind zu reiten, frei von jeglicher Einengung.“, murmelte er. Beinahe befand er sich schon im Traumland.
 

Sofort saß Mimoun senkrecht in den Fellen und sah misstrauisch auf seinen Freund hinab. „Sag mir jetzt nicht, du bist gerade dort draußen von der Insel gesprungen. Du sollst solchen Blödsinn doch nicht machen, wenn ich nicht da bin, um dich zu beschützen. Eigentlich sollst du solchen Blödsinn gar nicht machen.“
 

„Ich bin nirgendwo herunter gesprungen.“ Der Ruck des Aufsetzens hatte Dhaôma wieder ein wenig aufgeweckt. „Ich wollte nur wissen, wie der Wind sich anfühlt, wenn man nichts sehen kann.“ Sanft zog er an Mimouns Schulter, um ihn wieder zum Liegen zu bewegen.
 

„Dummkopf.“, murmelte MImoun, als er dem Zug widerstrebend folgte. „Und dafür musst du mitten in der Nacht nach draußen? Konntest du dir keine bessere Zeit dafür suchen?“ Sanft schlang er seinen Arm um Dhaôma und deckte ihn zusätzlich mit einem Flügel zu.
 

„Nein.“, gähnte der Braunhaarige. „Denn dann sind Kinder da, die spielen wollen und die Konzentration beeinträchtigen.“ Mit einem weichen Seufzen entspannte er sich endgültig und schlief ein.
 

Ein leises Kichern entfuhr ihm. Wenn er die halbe Nacht wach war und draußen rumstromerte, war es kein Wunder, dass der Magier so schnell wieder eingeschlafen war. Leise zog er Fiamma wieder in ihre Mitte, überzeugte sich noch einmal davon, dass seine Magier schliefen und gut zugedeckt waren, und dämmerte schlussendlich ebenfalls weg.
 

An diesem Morgen war er noch zeitiger wach als sein Winzling. Er wusste, dass Dhaôma zu wenig geschlafen hatte und wollte ihm noch so viel Ruhe wie möglich geben. Vorsichtig befreite er sie aus Dhaômas Umarmung, legte noch einige Felle über ihn, um den Wärmequellenverlust auszugleichen und schlich sich nach draußen. Im Vorraum beobachtete er das Baby beim Schlafen, später beim Aufwachen. Es war richtig niedlich, wie sie in die Welt blinzelte, noch nicht richtig wach, und noch zu überlegen schien, ob Weinen nun angebracht wäre.

Als hätte sie ein Gespür für so etwas entwickelt, erschien Leoni nur wenige Augenblicke später mit Seren im Vorraum. Verwundert schaute sie zu ihm hinüber. „Schon wach?“ Sie sah auf das Baby. „So früh schon quengelig?“

Lächelnd schüttelte Mimoun den Kopf. „Ich wollte nur verhindern, dass Dhaôma erwacht, wenn sie richtig loslegt. Er hat kaum geschlafen.“

Leonis Blick zeigte, dass sie gewillt war, das Gespräch vom Nachmittag fortzusetzen. Hierzu bestand aber bei Mimoun kein Bedarf. Schnell drückte er ihr auch noch Fiamma mit in den Arm und machte sich daran, das Frühstück vorzubereiten. Obwohl er damit noch immer im selben Raum war, hatte er wenigstens nicht mehr direktem Kontakt zu ihr.

„Denkst du wirklich, es ist okay, die Situation so zu belassen, wie sie gerade ist?“

Abrupt wandte er sich der jungen Mutter zu. „Bitte, Leoni. Ich sagte doch schon, es ist okay so. Es macht es nicht besser, wenn du darin herumwühlst. Ehrlich gesagt, wünsche ich mir, Amar hätte den Mund gehalten und ich müsste nun nicht versuchen, mir über meine Gefühle klar zu werden.“ Wieder wandte er sich seiner momentanen Aufgabe zu. „Und ich möchte nicht darüber reden. Akzeptiere das bitte.“

Ihr mildes Lächeln entging ihm dabei völlig. „Na gut. Dann reden wir eben darüber, wenn ihr das nächste Mal hier her kommt.“

Erneut sah MImoun zu ihr hinüber, doch nun hatte sie sich abgewandt und versorgte die Babys. Der Junge seufzte schwer. Besser, er schwieg dazu.

Mit der Zeit trudelte die komplette Familie ein. Amar wollte zu Dhaôma in den Raum hineinschießen, ihn wecken, wurde aber von einem warnenden Knurren Mimouns zurückgehalten. Sobald es auch nur ansatzweise lauter wurde, bat er um ein wenig mehr Ruhe. Erst als alle anderen anwesend waren, erhob er sich und schlich in den kleinen Raum, Amar dicht hinter sich.

„Hey. Wach auf. Alle warten.“, flüsterte Mimoun leise und strich seinem Freund vorsichtig einige Haare aus dem Gesicht.
 

„Worauf denn?“, murrte Dhaôma und drehte sich zu seinem Freund um. Seine Augen waren so schwer, dass er sie kaum aufbekam. „Und warum so früh?“
 

„Weil es Frühstück gibt und alle nur noch auf dich warten.“, kicherte der junge Geflügelte. „Und wenn du nicht sofort aufstehst, erteile ich Amar die Freigabe zum Wecken.“
 

„Ich bin schon wach.“, kam es kaum lauter von dem Braunhaarigen, als er sich aufsetzte. Die Decken rutschten von seinen Schultern und entblößten Arme und Schultern, während er sich die Augen rieb. Amar betrachtete neugierig die Zeichen auf seinem Rücken, war noch immer ruhig und wartete auf Mimouns Zeichen.

Schließlich erhob sich der Braunhaarige und streckte sich. Danach war er wach. „Ich erinnere mich. Wir wollten heute ja vorwärts und gerade an so einem wichtigen Tag verschlafe ich!“ Lachend schüttelte er den Kopf und warf sich sein Oberteil über. „Wie konnte so was nur passieren!“
 

„Tja, wie wohl?“, fragte auch Mimoun, aber man hörte an dem Tonfall, dass er sehr genau die Ursache kannte. Er ließ seine Finger durch Amars Haare strubbeln. „Tut mir Leid. Jetzt ist er doch von alleine wach geworden.“ Er hielt für das Kind und seinen Freund die Lederplane auf und als Dhaôma an ihm vorbei ging, beugte er sich zu seinem Ohr. „Du kannst ja weiterschlafen, wenn ich dich trage.“, zwinkerte er.
 

Lachend nickte Dhaôma, bevor er seine Gastfamilie begrüßte und sich entschuldigte, dass er verschlafen hatte. Sie zogen ihn damit auf, weil das vorher noch nie passiert war, aber als es dann hieß, Abschied zu nehmen, drückten sie ihn dann doch allesamt herzlich. Vor allem Leoni schien es schwer zu fallen, die beiden Jungen gehen zu lassen, und sie gab Mimoun noch den Rat mit auf den Weg, nicht alles alleine zu bewältigen.

Danach musste auch das Dorf verabschiedet werden und es dauerte noch einmal eine Stunde, bevor sie endlich in der Luft waren, auf Kurs zu der Insel, auf der ihre Sachen lagen. Von den anderen Geflügelten hatten sie Kunde erhalten, dass der Rückweg länger dauern würde, da sich die Inseln in der Zeit ein wenig voneinander entfernt hatten.

Dieses ‚ein wenig’ wurde zu vier Tagen, die Mimoun teilweise mit Hilfe von anderen Geflügelten länger fliegen und Dhaôma tragen musste. Und als sie nach knapp dreizehn Tagen endlich landeten, war es schon dunkel.

Was waren sie am nächsten Morgen erstaunt, als sie das Große Wasser in der Ferne glitzern sehen konnten. Es war noch immer etliche Tage entfernt, aber von der Insel aus war es schon zu sehen. Allerdings musste Mimoun noch einen halben Tag weiterfliegen, da sie von der Route des Flusses abgekommen waren. Als Dank für die Geschichten, die sie am Vortag erzählt hatten, halfen ihre Gastgeber Mimoun, Dhaôma zu tragen.

Inzwischen war der Frühling nicht mehr aufzuhalten. Alles blühte und duftete nach Honig und Pollen und frischem, jungem Grün. Nach all der bewegungslosen Zeit war es für Dhaôma unmöglich auch nur eine Sekunde still zu stehen, sobald er den Boden mit seinen Füßen berührte. Wie ein Derrwisch rannte er von Blümchen zu Baum, um die Farben und das Leben in sich aufzusaugen. Die Wärme, die unten in den Ebenen bereits herrschte, tat ihm doppelt gut.
 

In der Zeit, die Dhaôma durch die Gegend tobte, ließ sich Mimoun auf den Bauch nieder, stützte seinen Kopf auf seine Hände und beobachtete lachend seinen Freund. Allein für diesen Anblick lohnte es sich, das ganze Jahr wieder auf den Frühling zu warten.

Als er sich genug ausgeruht hatte, was nicht so lange dauerte wie angenommen, schulterte er ihr Gepäck und streunte bereits den Fluss weiter entlang. Immer hielt er ein Auge auf Dhaôma und eines auf die Umgebung. Die Gegend hier kannte er nicht. Er wusste nicht, welche Gefahren hier lauerten und so war er doppelt vorsichtig.

Sehr weit kamen sie durch Dhaômas Laufstil an diesem Tage nicht, so suchte der junge Geflügelte schon früh am Abend ein geeignetes Nachtlager. Sie konnten von dem wenigen Proviant zehren, der ihnen noch geblieben war. Zur Abwechslung zum Trockenfleisch holte Mimoun zwei große Fische aus dem Fluss und Dhaôma sorgte für die pflanzliche Kost.

Nach dem Essen streckte sich Mimoun im jungen Gras aus und betrachtete die vorbeiziehenden Wolken, lauschte auf das Rauschen des Flusses. Ihm war noch nicht nach schlafen.
 

Langsam brannte das Feuer herunter, die Sonne versank farbenfroh, bis die Dunkelheit nur noch von der Glut des Feuers schwach erhellt wurde. Dhaôma sah sich ein wenig verloren um. Es war ruhig. Unglaublich ruhig. Kein jammerndes Baby, kein aufgedrehter Amar, keine streitende Yaji oder Juri, nicht einmal das leise Lied von Leoni war zu hören. Kein Gelächter von Gastfamilien, keine endlose Fragenflut. Stattdessen die Geräusche von fließendem Wasser, leisem Blätterrascheln und knackendem Geäst unter winzigen Pfoten.

Der Braunhaarige schloss die Augen, lauschte auf die Geräusche der Nacht, sog die feuchte Luft ein. Es gefiel ihm. Und trotzdem war er unruhig, fühlte sich seltsam. Irgendwann stand er auf und kuschelte sich an seinen geflügelten Beschützer, drückte seine Nase gegen dessen Brust.

„Ich hab dich lieb.“, murmelte er, seine Hand strich weich über Mimouns trainierten Bauch.
 

Eine Hand schob sich zwischen die braunen Haare und begann mit ihnen zu spielen, während die andere Hand die unruhige auf seinem Bauch einfing. Sanft zwang er sie, dort zu verharren, wo sie sich befand.

Mimoun beugte sich ein wenig vor, um dem auf seiner Brust ruhenden Kopf einen Kuss auf den Haarschopf zu drücken. Anders war er gerade nicht fähig auszudrücken, was er fühlte.

Sturm

Kapitel 40

Sturm
 

Die Wanderung wurde danach ohne größere Aufenthalte fortgesetzt. Nur ein einziges Mal flogen sie zu einer vorbeiziehenden Insel hinauf, um Post abzugeben und ein wenig Begrünung durchzuführen, und ein paar Mal bekamen sie Besuch von Hanebito, die mit ihnen dann aßen, jagten oder einfach Geschichten austauschten. Die im letzten Jahr noch vorhandene misstrauische Scheu hatte sich offenbar verflüchtigt.

Der große Fluss wurde immer breiter, die Strömung oft zu stark, um wirklich noch darin zu schwimmen. Dafür war es Dank der Baumformereigenschaft möglich, ein Boot zu gestalten, das sie schnell voran brachte. Selbst Mimoun konnte problemlos darauf liegen, da es mehr ein Floß war. Allerdings sorgte die zunehmende Sommerhitze dafür, dass er das selten wahrnahm. Er war es auch, der in kritischen Fällen dafür sorgte, dass sie nirgendwo dagegen fuhren oder nachts an Land kamen, denn Dhaômas Fähigkeiten das Wasser zu beeinflussen, waren lächerlich gering.

Die meiste Zeit, die sie nicht beschäftigt waren oder nur auf dem Boot saßen, bemühte der Magier sich, den Wind zu finden und zu rufen, aber er schien nicht die richtige Technik zu haben, denn es funktionierte nicht. Meistens gab er irgendwann frustriert auf, nur um am nächsten Morgen wieder damit anzufangen.

Und dann wurde der Fluss richtiggehend unübersichtlich. Das große Delta teilte die Wasser in mehrere große Arme auf, die dazwischen gigantische Sümpfe entwickelt hatten, die es Dhaôma die meiste Zeit unmöglich machten, am Ufer zu landen und ein Nachtlager aufzuschlagen. Daran waren nicht zuletzt die Mücken schuld, die selbst Mimoun mit seiner wettergegerbten Haut Probleme bereiteten.

Tagelang trieben sie dahin, nur manchmal suchte Mimoun Frischfleisch, damit er nicht nur von Gemüse leben musste.

Und dann tauchte es vor ihnen auf. Aus dem mit Bäumen bewachsenen Sumpf wurde sandiges Flachland, angefüllt mit Gräsern und Schilf und Wildrosenbüschen und dahinter, groß, unendlich und einschüchternd glitzerte es im Sonnenlicht. Das Große Wasser.
 

Sie zogen das Boot auf den sandigen Uferstreifen und starrten auf die ehrfurchtgebietende Menge Wasser, die sich vor ihnen ausbreitete. Der lockere Sand quoll zwischen den nackten Zehen hervor, als Mimoun bis zur Wassergrenze ging und die Wellen seine Füße umspielen ließ. Trotz der Temperaturen um ihn herum war das Wasser kühler als erwartet. Auch herrschte hier ein steter Wind, der viel von der Wärme nahm.

Neugierig bückte er sich nach einem vorbei treibenden, weißlich-durchsichtigem Gebilde, an dem Fäden hingen. „Irks.“, gab er von sich, als seine Finger auf glibberige Masse stießen. Als nächstes folgte ein stechender Schmerz im Finger. Hastig ließ er das Teil wieder los und steckte sich den Finger in den Mund. Nur um ihn wenig später hastig wieder heraus zu ziehen. „Bäh.“
 

Mit großen Augen beobachtete Dhaôma dieses Verhalten, dann begann er zu lachen. „Finger her.“, befahl er und linderte das stetig zunehmende Brennen, bis es verschwand. Danach betrachtete er das weiße Teil. „Ist das eine Pflanze oder ein Tier?“, wollte er wissen. Und um das zu überprüfen, ließ er seine Arme erglühen. „Keine Pflanze. Die Tierwelt ist schon seltsam, dass sie etwas hervorbringt, was nicht einmal genug Konsistenz hat, um Farbe zu bilden.“
 

„Das ist ein Tier?“ Zweifelnd sah der junge Geflügelte auf die glibberige Masse herab. Durch die Wellen wurde es nun erneut in seine Richtung getrieben und so wich er lieber hastig aus. Nachdem er sich sicher sein konnte, dass es ihn in nächster Zeit nicht erreichen konnte, stemmte er die Hände in die Hüften und sah auf die ewige blaue Fläche.

„Dort hinaus müssen wir also.“, stellte er sachlich fest. Dennoch wühlte Unbehagen in ihm. So weit sein Blick auch reichte, dort schien nicht zu sein, wo er eine Rast einlegen könnte, sollte er versuchen, es zu überfliegen.
 

„Dort hinaus.“, bestätigte Dhaôma. „Aber wir wissen nicht, wohin genau. Es ist viel zu gefährlich, einfach hinauf zu fliegen, ohne wenigstens die Richtung zu kennen.“
 

Wenig motiviert ruckten die Schultern des Geflügelten kurz nach oben. „Allein und ohne Gewicht könnt ich ein bisschen raus fliegen. Gewitterwolken sind eigentlich auch aus geringerer Höhe noch gut zu erkennen.“
 

„Dann mach das.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Ich werde Essen vorbereiten und vielleicht noch ein bisschen mit dem Wind reden.“ Er nannte es reden, weil er hoffte, dass der Wind ihm noch einmal etwas erzählen würde wie damals nachts oben auf der Insel.
 

Seufzend ergab er sich in sein Schicksal. Er wollte nicht allein irgendwo ins nirgendwo fliegen, doch so war es wirklich sicherer. So hatte er mehr Ausdauer zur Verfügung. Anfangs flog er auf seiner Suche stur geradeaus, immer dem Horizont entgegen. Das immer einheitliche Blau unter ihm, das einheitliche Blau über ihm, nur durchzogen von einigen wenigen schnell vorbeiziehenden weißen Streifen machten ihn kirre. Ein Blick zurück verriet ihm, dass er das Land bald nur noch als schmalen Streifen sehen würde. Er sollte es nicht ganz aus den Augen verlieren, wollte er den Rückweg finden. Zwar half ihm auch der Stand der Sonne, aber es gab ihm eine zusätzliche Sicherheit. Er schwenkte zur Seite, flog nun mehr oder weniger parallel zum Strand und als er nach wenigen Stunden erschöpft zu seinem Freund zurückkehrte, konnte er ihm keine positiven Nachrichten übermitteln.
 

Dhaôma hatte den Strand abgesucht, aber auch nichts Hilfreiches gefunden. Weder am Boden noch in der Luft. Aber er hatte das Gefühl, dass der Wind hier anders war, auf eine schwer zu beschreibende Art schwerer. Er schob es auf den Salzgehalt.

Also machte er Feuer und verbrannte Treibholz, das wunderbar brannte, wenn auch nicht lange, während er ein paar Kartoffeln und Gelbe Rüben in der Glut röstete.

Insgesamt waren sie also an einem toten Punkt angekommen. Die Freude darüber, aus eigener Kraft das Große Wasser erreicht zu haben, wurde dadurch ziemlich geschmälert. Aber wie sie schon gelernt hatten; die Dracheninsel flog wie alle anderen, blieb nie still auf einem Platz. Woher sollten sie wissen, wo sie jetzt war? Konnten sie sie rechts oder links finden? War es überhaupt sinnvoll, sich für rechts oder links zu entscheiden und den Strand entlangzulaufen? Oder kam die Insel aus Richtung des Wassers? Konnte man die Flugrichtung überhaupt anhand der anderen Inseln ablesen?

Am nächsten Tag suchte Dhaôma in seinen Büchern nach einem Hinweis, aber er fand keinen. Nichts, das sich übertragen lassen würde. Da stand nur, dass die Drachen immer wüssten, wo ihre Heimat war – ganz klasse, wenn man keinen Drachen zur Hand hatte, der es einem sagen konnte.
 

Während Dhaôma in seinen Büchern recherchierte, entschloss sich der Geflügelte, dieses Mal seine Suche in die andere Richtung auszuweiten. Wieder flog er so weit aufs Meer hinaus, dass er das Land nur noch wage erkennen konnte, und nahm dann die entgegen gesetzte Richtung zum vorherigen Tag. Fast hatte er sich schon dazu entschlossen zum Festland zurückzufliegen, als er fand, was er suchte. Und doch wirkte es nicht wie das, was er suchte. Weit in der Ferne, kaum zu erkennen, schienen sich dunkle Wolken zusammenzubrauen. Vielleicht mochte das nicht ihr Ziel sein, aber wenn hier draußen ein Sturm losbrach, während er ungeschützt über dem Meer schwebte…

Hastig trat er den Rückflug an. Zu Dhaôma würde er es möglicherweise nicht mehr schaffen, konnte ihn also nicht warnen, aber zumindest das Land musste er erreichen.

Die Zeit schien sich in die Länge zu ziehen, der Wind frischte zunehmend auf, trieb ihn dadurch wenigstens schneller in Richtung Festland. Als er es endlich erreichte, türmten sich vor ihm zerklüftete Klippen auf. In denen konnte er einfach Schutz vor dem nahenden Unwetter finden. Möglichst weit oben suchte er sich eine enge Spalte. Er hatte die langsam höher werdenden Wellen bemerkt. Mimoun kannte nur Stürme im Landesinneren, wusste nicht, wie es sich hier draußen verhielt, doch das wilde Wasser beunruhigte ihn. Mehr als Warten blieb ihm trotzdem nicht übrig. Und hoffen, dass das Unwetter an seinem Magier spurlos vorbeizog.
 

Auch bei Dhaôma zeigten sich die ersten Anzeichen des Sturmes durch schnell treibende Wolken. Besorgt sah er auf das Meer hinaus, über dem Mimoun verschwunden war. Regen war das nächste, das kam. Heftiger Regen, der das Feuer innerhalb von Sekunden löschte. Auch sein Pelz war innerhalb von ein paar Augenblicken völlig durchnässt, seine Haare klebten an ihm, aber er suchte keinen Schutz. Er stand am Strand, an den die Wellen inzwischen viel höher schlugen als noch vor einigen Stunden. Und von Mimoun war nichts zu sehen. Zwischen den Regenschleiern erwartete er das auch gar nicht.

„Mimoun!“, brüllte er. „Mimoun!“ Immer wieder und wieder. Er rannte am Strand entlang in die Richtung, in die Mimoun hatte fliegen wollen. „Mimoun!“ Angst beherrschte sein Herz, als das Gewitter losbrach und noch immer nichts von ihm zu sehen war. „Mimoun!“

Inzwischen tobte das Meer. Von dem hübschen Funkeln war nichts mehr zu erahnen. Gewaltig und brutal stürzten hohe Wellenberge übereinander. Und obwohl es erst Nachmittag war, war es fast stockdunkel. Wenn Mimoun da hineinfiel, war er tot!

Das blasse Licht fiel ihm kaum auf, als er regenblind ins Wasser stolperte. Die Wellen erreichten schnell seine Brust und schwemmten ihn hin und her. „Mimoun!“
 

Selbst hinter der Felsnadel war er bald bis auf die Knochen durchnässt. Der Wind pfiff durch die Ritzen, ohne die Kraft zu haben, dem jungen Geflügelten zu schaden. Dennoch krallte sich dieser in die Felsen. Lange Zeit, schier endlos schien der Sturm zu toben. Mimoun verlor jegliches Zeitgefühl. Wichtig war für ihn nur noch, dass er schließlich hörte wie das Pfeifen leiser wurde, spürte wie der Zug an Kleidern und Flügeln abschwächte und schließlich verschwand. Nur der Regen schien zu einem ständigen Begleiter werden zu wollen. Es störte ihn nicht. Er kletterte höher, konnte in diesem Regen schlecht fliegen und suchte an Land eine Möglichkeit zu seinem Magier zu gelangen.

Schnell flachten die Klippen zu einem Plateau ab. In gebührendem Abstand zum Rand rannte er los. Zwar war er geübter nun als noch vor Jahren, trotzdem erreichte er bald das Limit seiner Kräfte. Seine Lungen brannten, seine Muskeln schmerzten, als er sich weiter vorwärts trieb. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: Dhaôma. Er hatte ihn nicht warnen können. Hatte der Magier einen sicheren Unterschlupf gefunden? Ging es ihm gut?

Das Plateau flachte bereits langsam zum Strand hin ab, als ihn seine Kräfte verließen und er ein Stück des Abhangs hinunterkugelte. Erschöpft versuchte er sich hochzustemmen, doch seine Arme verweigerten ihren Dienst. Heftig atmend blieb er notgedrungen dort, wo er war, einfach liegen. Als er sich nach Ewigkeiten wie es schien, endlich wieder hochstemmen konnte, rannte er nicht mehr. Dafür fehlte ihm die Kraft. Er kämpfte sich Schritt für Schritt vorwärts.

Es war nur noch sein von Dhaôma am Anfang ihrer Beziehung attestierter Sturkopf, der ihn nach Stunden auf den nun völlig durchweichten Sandstrand führte. Selbst der Regen hatte mittlerweile an Stärke eingebüßt, war nun kaum mehr als ein Nieseln. Dafür hatten sowohl Muskeln als auch Lunge ein wenig an Kraft zurückerlangt, so dass der junge Geflügelte in einen lockeren, Kräfte sparenden Trab verfiel.

Der Sturm hatte große Verwüstung angerichtet. Die Gräser waren nahezu unbeschadet davon gekommen, boten sie dem Wind keinen Widerstand, stattdessen waren immer wieder entwurzelte Bäume zu finden, niedergedrückte Büsche. Vermehrt fand sich solches Holz nun auch direkt an der Wassergrenze, vom Sturm ins Meer gerissen und von diesem zurück an den Strand geschleudert. Vereinzelt fanden sich auch tote Fische an Land, nur waren sie im Moment so völlig ohne Interesse für Mimoun. Erst der größere Körper, den er am Strand fand, ließ sein Blut in den Adern gefrieren. Sein Schritt stockte und er sank zittrig in die Knie.

„Nein.“, hauchte Mimoun. Der Leib lag noch halb im Wasser. Die Beine wurden noch immer von nun ruhigen Wellen umspült, die die wirr im Sand verteilten Haare und das abgewandte Gesicht aber nicht mehr erreichen konnten. Die Sicht des Geflügelten trübte sich. Er spürte nicht, wie sich Tränen zu dem Nieselregen auf seiner Haut hinzugesellte. Es war seine Schuld. Er hätte nicht so weit weg fliegen sollen. Er hätte schneller wieder da sein müssen. Er hätte seinen Magier warnen und beschützen müssen, so wie er es versprochen hatte.

Wie mechanisch kroch er zu dem leblosen Körper hinüber und zog ihn sanft in seine Arme, wiegte ihn wie ein kleines Kind hin und her. „Es tut mir Leid.“, hauchte er, während er die verklebten Strähnen aus der Stirn strich.
 

Die warme Berührung und dass sein Körper bewegt wurde, weckte Dhaôma. Kraft hatte er immer noch nicht, nicht einmal genug, um seine Hand selbst zu heben, aber die Augen konnte er öffnen, auch wenn es Mühe kostete. Sie brannten ein wenig, waren verklebt, aber verschwommen konnte er Mimoun erkennen. ‚Du lebst!’, wollte er sagen, aber es kam nichts aus seinen Lungen, außer einem kratzigen Husten.
 

Erst das Husten machte ihn darauf aufmerksam, dass Dhaôma am Leben und wieder wach war. Wie erstarrt sah er auf ihn herunter, bevor die Tränen nun ohne Hemmungen flossen.

„Scht. Ganz ruhig.“, flüsterte er, nachdem er seine Starre überwunden hatte. Dhaôma lebte, er war am Leben! Immer wieder strichen seine Finger die bereits nicht mehr im Gesicht klebenden Haare beiseite. Dann erst wurde ihm bewusst, dass sein Magier noch immer halb im Wasser lag und auszukühlen drohte.

Mimoun hatte keine Ahnung, wie weit es zu ihrem Lager war. Dies schien nicht der Ort zu sein, soweit er sich erinnern konnte. Sanft hob er seinen Freund hoch, strauchelte kurz und brachte ihn die Böschung hoch. Zwischen den Gräsern befreite er Dhaôma und sich selbst von den nassen Kleidern. Anschließend verhinderte er mit seinem eigenen Körper, dass sein Freund auf der nassen Erde lag und schlang Arme und Flügel um sie.

„Ganz ruhig.“, wiederholte er leise. „Es wird alles wieder gut. Ruh dich aus.“ Unablässig fuhren seine Finger durch die wirren Haare. Sein eigener Körper schrie nach Ruhe, doch er konnte nicht. Er wollte sich keine Ruhe gönnen, aus Angst Dhaôma könnte seinetwegen doch noch etwas geschehen.
 

Der Regen ging und irgendwann auch die Nacht. Als Dhaôma erwachte, schlief Mimoun unter ihm. Noch immer fühlte er sich schwach und ausgelaugt, aber immerhin ging es ihm körperlich gut. Als er mitbekommen hatte, dass Magie floss, ohne dass er sie kontrollieren konnte, war es schon zu spät gewesen. Fast wäre er ertrunken, wenn diese eine Welle ihn nicht noch an den Strand geworfen hätte. Aber es hatte funktioniert. Was auch immer der Wind mit seiner Magie gemacht hatte, es hatte ihm Mimoun zurückgebracht.

Selbstvergessen streichelte er das schlafende Gesicht, während es immer wärmer wurde. Dank der Sommersonne verdampfte das Wasser schnell zu feuchtem Nebel, der nach und nach lichter wurde und dann verschwand. Das war der Zeitpunkt, an dem Dhaôma befand, dass Mimoun lang genug geschlafen hatte.

„Willst du nicht aufwachen?“, fragte er kichernd. „Damit wir was essen können und du eine etwas bequemere Position einnehmen kannst?“ Egal, was er versucht hatte, der Hanebito hatte ihn nicht losgelassen, sich weiterhin an ihn geklammert.
 

„Nein.“, murmelte der junge Geflügelte in unruhigem Halbschlaf und zog den Griff um dem Magier fester. „Es tut mir Leid. Bitte nicht.“
 

Wieder kicherte Dhaôma und ließ sich widerstandslos an die starke Brust ziehen. Manchmal war Mimoun wie ein Kleinkind so niedlich. „Was tut dir Leid? Dass du weiterschlafen willst?“
 

Die Worte holten ihn endlich völlig aus seinem Schlaf. Die grünen Augen färbten sich in stiller Pein noch dunkler und das Gesicht verzog sich vor Qual, als er seinen Magier erblickte.

„Ich hätte hier sein müssen. Ich hätte dich beschützen müssen, wie ich es dir immer wieder versprochen habe.“ Den Griff nur leicht lockernd, setzte er sich auf. „Ich dachte, du wärst tot.“ Jedes Wort war leiser, als das davor, so dass das letzte kaum mehr als ein Formen der Lippen war.
 

„Ja, die Entschuldigung gebe ich gerne zurück.“ Zerknirscht strich er ihm über die Wange. „Fast hätte ich dich verloren. Ich hatte solche Angst.“
 

Eine Hand löste sich aus der Umklammerung. Mit dieser fuhr sich der junge Geflügelte fahrig über Stirn und Augen. Sein Blick irrte überall hin, nur nicht zu Dhaôma. „Du kannst nichts dafür. Dich trifft keine Schuld.“ Ein Kopfschütteln begleitete seine Worte. „Kaley hat mich bereits auf meine Unzulänglichkeit hingewiesen. Ich kann nicht vorausahnen, wann und in welcher Stärke ein Unwetter losbricht. Ich war zu weit draußen, als ich gesehen habe, wie er sich bildete. Ich hatte mich zu weit entfernt. Ich hab es nur mit Müh und Not an Land geschafft und dich völlig ohne Warnung und Schutz zurückgelassen. Ich habe dich im Stich gelassen. Ich habe nur mich gerettet, statt alles dafür zu tun, dich zu retten. Ich hab das Resultat ja gesehen.“ Sein Blick glitt nun an den Strand, suchte die Stelle zwischen dem Treibholz, an der er seinen Freund entdeckt hatte. „Leblos. Halb im Wasser. Wie tot.“
 

Schweigend lauschte Dhaôma seinem Freund und während er am Anfang noch mitleidig war, verengten sich seine Augen mit der Zeit immer mehr. Am Ende boxte er Mimoun gegen die Brust. „Ja, aber nicht wirklich tot!“ Er holte tief Luft. „Was erzählst du da, du willst dein Leben riskieren, um mich zu retten. Blödsinn! Hirnverbrannter Blödsinn! Du sollst dich selbst retten! Genau deswegen wollte ich dir helfen, weil ich wusste, dass du auf dich keine Rücksicht nehmen würdest! Natürlich sollst du dich selbst retten, damit ich mir keine Sorgen machen muss.“ Wieder holte er Luft und fuhr sanfter fort. „Ich will nicht, dass du stirbst. Ohne dich wäre ich niemand, nichts, hilflos und einsam. Ich würde vor Kummer umkommen, wenn du sterben würdest, also pass auf dich auf und erzähl keinen Unsinn, dass du mich retten kommen willst, obwohl du selbst es nur mit Müh und Not schaffst. Ja?“ Flehentlich sah er ihm in die Augen, drehte extra den schwarzen Wuschelkopf in die richtige Richtung.
 

Er konnte ihm nicht zustimmen. Für ihn würde Dhaômas Leben wohl immer an erster Stelle stehen, wie er gerade selbst herausgefunden hatte. Um nicht antworten zu müssen und auch, um nicht mehr diese flehenden Augen zu sehen, zog er den Kopf seines Freundes zu sich heran und drückte seine Lippen gegen dessen Stirn.

„Also setzt du dein Leben aufs Spiel, um meines zu retten und ich soll meines nicht riskieren, um deines zu schützen.“, fasste er noch einmal zusammen, als er sich die Worte des Magiers erneut durch den Kopf gehen ließ.
 

„Nein.“, schüttelte dieser den Kopf. „Du verstehst nicht. Wenn du nicht in Gefahr schwebst, muss ich mich nicht in selbige begeben. Und andersherum. Oder?“
 

„Hätten wir also darauf vertraut, dass sich der andere selbständig in Sicherheit gebracht hat, wäre niemandem etwas passiert.“, brachte Mimoun es auf den Punkt. Nach einigen Überlegungen fing er an zu kichern. „Das heißt also, wir sollten aufhören, uns gern zu haben, weil Herz und Körper immer schneller reagieren als unser Verstand.“
 

Dhaôma lachte nicht mit. Stattdessen schüttelte er den Kopf und umarmte Mimoun. „Nein.“ Und nach einer kurzen Pause, seufzte er tief. „Aber ich weiß, was du meinst. Ich habe nicht nachgedacht, als ich dachte, du wärst in dem Sturm. Ich kann mich auch nicht erinnern, was ich getan habe. Ich habe es einfach getan.“
 

Kaum konnte Dhaôma das Gesicht seines Freundes nicht mehr sehen, verblasste das Lächeln darauf. Zu tief saß noch die Angst, die Furcht vor dem Verlust in ihm. Nur die feste Umarmung war Zeuge der starken Gefühle, die in Mimoun tobten.

„Es ist nicht wichtig. Es zählt nur, dass du noch lebst.“, flüsterte er ihm ins Ohr.
 

Nickend gab der Braunhaarige Mimoun Recht. Es zählte nur, dass sie noch am Leben waren. Alles andere war nebensächlich.

Nach einiger Zeit Schweigen schüttelte sich Dhaôma ein wenig und richtete sich auf. „Wir sollten wirklich etwas essen, um den Schrecken zu verdauen und zu überlegen, was wir jetzt machen können. Aufs Meer hinauszufliegen, ohne Sicherheit, ist keine gute Idee. Auch glaube ich nicht, dass in den Wellen von gestern Abend unser kleines Boot lange überleben würde. Also brauchen wir eine andere Möglichkeit.“
 

Länger als nötig lagen nach dem Vorschlag seine Hände um Dhaômas Hüften. Nur widerwillig gab Mimoun den Magier schließlich frei und erhob sich seufzend. Durch die Bewegungen spürte er die Nachwirkungen der gestrigen Ereignisse. Das viele Rennen, das exzessive Gehen und der anschließende Trab hatten für ordentlichen Muskelkater gesorgt. Seine Funktion als Bett dagegen sorgte für ordentliche Verspannungen.

Suchend ließ er seinen Blick über die Umgebung schweißen. Dunkel erinnerte er sich, dass er ihre Kleider achtlos hatte fallen lassen. Nicht weit von sich konnte er die wahllos herumliegenden Sachen ausmachen. Mit einem kräftigen Ruck schüttelte er den Sand ab und verzog das Gesicht. Die der Sonne zugewandte Seite war fast schon wieder trocken, während die von nassem Sand bedeckte noch immer klamm war. Mit einem erneuten Seufzen schwang er sich seine Kleider über die Schulter. Da würde er nicht reinschlüpfen.

Da Dhaôma dem Geflügelten entgegen gekommen war, machten sich die beiden Freunde nun in die entsprechende Richtung auf, immer den Strand entlang. Je weiter sie liefen, desto weniger wurden Spuren des Sturmes sichtbar, doch auch ihr Lager war nicht verschont geblieben. Es war jedoch nicht schwer, die Sachen wieder zu finden. Hier hatte der Sturm nicht mehr solche Kraft gehabt und ihre Habseligkeiten waren in den Büschen oberhalb der Böschung hängen geblieben. Dennoch dauerte es eine Weile, bis alles wieder beisammen war und in der Sonne zum Trocknen lag. Akribisch untersuchten sie alles auf Schäden und besserten es notdürftig aus. Zwar konnten sie auch das Boot wieder trocken legen, die Frage war, was es ihnen brachte? Sollten sie in dieser Nussschale auf dem Wasser erneut von solch einem Sturm überrascht werden, würde sich keiner von ihnen noch retten können.

Nachdem die beiden Freunde gegessen und alles erledigt hatten, was es zu tun gab, saßen sie nebeneinander am Strand und sahen auf die träge dahinrollenden Wellen. Nichts vom Wasser her gab noch einen Hinweis auf die Katastrophe des gestrigen Tages. Das Problem lag aber ganz woanders. Wo sollten sie nun nach der Insel suchen, wenn die Bücher nichts über ihre Flugroute preisgaben? Wie sollten sie über das große Wasser kommen, wenn alles innerhalb von Sekundenbruchteilen in einem Sturm zerschmettert wurde.

Mimoun angelte nach einem dünnen Stöckchen und stocherte unmotiviert in einem angeschwemmten Glibbertierchen herum. Ihm waren mittlerweile die Ideen ausgegangen. Leider hob auch das Malträtieren des Schleimchens seine Laune nicht und mit einem abgrundtiefen Seufzen ließ er sich zurückfallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er sah zu Dhaôma hinüber. Bevor er aber etwas sagen konnte, schweifte sein Blick an diesem vorbei. Misstrauisch verengten sich seine Augen. Dort hinten, noch weit entfernt, schwebte schon wieder so eine dunkle Wolke. Größe und Entfernung ließen sich nicht wirklich ausmachen. Dann fiel ihm etwas auf, das ihn stutzig werden ließ. Mit einem Ruck setzte er sich auf.

„Du bist doch das Unwettergenie.“, begann er. „Was ist der geringste, außer von Magie erzeugte, zeitliche Abstand zwischen zwei Stürmen?“
 

„Ai?“ Überfordert, weil aus seiner dämmrigen Stimmung gerissen, sah er zu Mimoun. „Du wohnst oben auf den Inseln. Drei Stunden? Zwei? In den Steppen kann es auch mal relativ kurz hintereinander schrecklich stürmen. Dagegen gab es im Wald selten mal einen Sturm.“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. „Egal, was du denkst, es ist zu gefährlich, hinauszufahren und sich lediglich auf eine Vermutung zu verlassen, um rechtzeitig wieder an Land zu kommen.“
 

„Dann sollten wir unsere Sachen packen und einen Unterschlupf suchen.“, wies der junge Geflügelte seinen Freund mit einem hinweisenden Fingerzeig auf die näher kommende Gewitterwand hin.
 

Dhaôma nickte wenig begeistert und sah in die bezeichnete Richtung. Aber irgendetwas war komisch an der Wolke. Sie reichte nicht bis hinunter aufs Wasser. Es gab keinen Wellengang. Und man konnte ganz weit hinten, noch hinter der Wolke einen schmalen Streifen Himmel sehen. Oder war das eine Spiegelung des Wassers?

„Das sieht komisch aus.“, meinte er Stirn runzelnd. „Als ob es nur eine Spiegelung wäre. Es gibt gar keine Anzeichen in der Umgebung. Und es ist auch noch kein ungewöhnlicher Wind zu spüren.“
 

„Kein Wind, kein Wellengang.“, wiederholte Mimoun. „Dann droht mir ja keine Gefahr.“ Fließend erhob er sich und klopfte sich den Sand von den Kleidern. Dennoch flog er nicht los. Abwartend sah er zu dem Magier. Wie dieser bereits gezeigt hatte, würde er sich in Gefahr begeben, wenn auch nur die Ahnung einer Gefahr für den Geflügelten bestand.
 

„Bleib hier.“ Der Braunhaarige war aufgesprungen und hielt seinen Freund jetzt am Arm fest. „Ich kann dir nicht helfen, wenn das Gewitter später weiter herunterkommt. Das ist viel zu gefährlich.“ Und weil es auch für ihn sehr unbefriedigend war, fügte er noch an: „Lass es uns noch ein wenig beobachten, ja?“
 

Ein kurzes Kichern drang über die Lippen, bevor sie sich sanft auf die Schläfe des Magiers legten. „Du bist so süß.“, flüsterte Mimoun ihm ins Ohr, bevor er sich vorsichtig losmachte und umwandte. Wie auch immer sich diese Situation entwickeln würde, es wäre angebracht, ihre Habseligkeiten bereits gebündelt zu haben.
 

Überrascht sah Dhaôma ihm nach. Süß? Er? Warum?

Nachdenklich sah er zurück zu dem herannahenden Sturm. Es sah nicht so aus, als würde es darunter regnen. Und bildete er sich das ein, oder kam der Sturm tatsächlich näher? Warum war dann so gar kein Wind zu spüren?

„Wir könnten das Boot umdrehen und es als Dach benutzen.“, suggerierte er nachdenklich, ohne das Wetter aus den Augen zu lassen. „Wäre nur nicht so günstig, wenn viel Regen fällt, dann wird es darunter vermutlich richtig nass. Andererseits könnte man vielleicht ein wenig Treibholz als Boden benutzen, damit das Wasser uns nicht erreichen kann.“
 

Kurz glitt der Blick grüner Augen über das bezeichnete Objekt, dann über die Landschaft. Sie brauchten eine Stelle, die abschüssig war, wo das Wasser nur in eine Richtung fließen würde, und dennoch weit genug vom Strand entfernt, um von den Wellen nicht zu stark bedrängt zu werden.

Zwar fand Mimoun keine ideale Stelle, aber etwas, was dem nahe kam. Tief krallten sich seine Nägel in das harte Holz des Bootes und man sah die Anspannung der Muskeln, als er es Stück für Stück die Düne hinaufzog. Bereits auf halber Höhe blieb er stehen und stemmte es zur Seite, bis es kippte und schließlich kieloben vor ihm lag. Zufrieden rieb er seine Hände aneinander. Der Blick des Geflügelten glitt über den Strand.

„Wir brauchen stabiles Holz, um die untere Seite ein wenig hochzuhalten und vernünftig abzustützen. Und flaches, um einen guten Boden abzugeben.“, kommandierte er und lief bereits los. Die dunklen Wolken kamen unaufhaltsam näher und noch immer war von Regen und Wind keine Spur. Nur ein vereinzelter Blitz sprang darin herum.
 

Auch Dhaôma machte sich sofort an die Arbeit. Für ein wenig Magie hatte er gewiss genug Kraft, aber die würde er dafür verwenden, die Planken mit dem Holz zu verbinden. Wenig später schleppte er Äste an, die möglichst gerade waren und legte den Boden damit aus. Es würde gerade genug Platz in dem Raum sein, um Mimouns Flügel angeklappter Weise unterzubringen. Sehr bequem würde es wohl nicht werden, aber es war auch nur eine Notlösung für ein paar Stunden. Wieder hielt er inne, um zu dem Sturm zu sehen, der die Richtung wohl geändert hatte, denn er veränderte seine Position nun entlang des Strandes. Jetzt sah man auch, dass er sich hervorragend abgrenzte. Wie eine Windhose in der Wüste.

„Mimoun!“, rief er aufgeregt. „Das ist wie das Bild! Das Bild in der Höhle!“
 

Dieser hörte den Ruf und wandte nun seine volle Aufmerksamkeit auf die Wolken. Wirklich gut konnte er sich nicht mehr an die Zeichnung erinnern. Eine Insel, über der Drachen schwebten, mit Gewitterwolken drum herum. Glaubte er zumindest.

„Nicht wirklich.“, gab er zurück. „Das hier sieht echter aus.“ Schnellen Schrittes brachte er sein Holzbündel zu ihrem provisorischen Unterschlupf, ließ es achtlos davor fallen und rieb seine Hände über die Hose. „Lassen wir unseren Kram hier und probieren es erst einmal so? Nehmen wir das Zeug vorsichtshalber mit, da das Gebilde ja augenscheinlich nicht gewillt ist, an einem Fleck zu bleiben?“
 

„Du kannst niemals alles da hoch tragen, oder? Und viel Gewicht macht dich auch unflexibel, also lassen wir hier, was nicht gebraucht wird. Notfalls können wir das nachholen.“ Wobei das eher unwahrscheinlich war. Selbst wenn die Insel innerhalb dieses Sturms war und nicht darüber, wirkte sie doch viel höher als alle bisherigen Inseln. Es würde für Mimoun nicht sehr angenehm werden, diese Strecke zu bewältigen. Dazu kam die seltsam hohe Geschwindigkeit. Vielleicht würde er durch einen solchen Umweg die Insel völlig aus den Augen verlieren. Falls dort oben wirklich die gesuchte Insel lag.

„Was sollen wir machen, Mimoun? Es ist fast Abend. Wenn wir jetzt schlafen gehen, dann ist die Insel weg bis morgen früh. Aber fühlst du dich stark genug, um dort hochzufliegen?“
 

Misstrauisch betrachtete sich Mimoun die Strecke. Ob er stark genug war dafür? Ehrliche Antwort?

„Nein. Aber es ist die einzige Chance, die wir haben. Wenn sie genau wie die anderen Inseln einer bestimmten Route folgt, wird sie erst in einem Jahr wieder hier vorbeikommen, wenn überhaupt. Wir kennen diese Insel nicht. Wir kennen ihren Rhythmus nicht.“ Noch während er redete, durchforstete er ihre Sachen. Seine Rüstung blieb hier. Pfeil und Bogen ebenfalls. Proviant und Wasserbeutel? Nur leichte Notreserven, man wusste nicht, was sie erwartete. Dhaômas Samen mussten mit. Sie waren trotz seiner Weiterentwicklung noch immer seine größte Stärke. Fehlte noch etwas? Suchend glitt sein Blick über ihre Habseligkeiten. Dort oben würde es kalt werden, aber eine Decke würde nur zusätzliches Gewicht bedeuten. Aber runtersegeln war nicht ganz so anstrengend wie hinaufflattern. Im Notfall konnte er immer noch abbrechen.
 

Auch Dhaôma sortierte aus, was er konnte. Schalen für das Essen, einer der Wasserschläuche, die Bücher, im Grunde alles bis auf die Samen und seinen wertvollen Poncho ließ er da. Er verbuddelte es im Sand, nachdem er es in eine Lederhaut eingeschlagen hatte, dann legte er alles Holz darüber, das sie zusammengetragen hatten. Das musste als Schutz reichen. Mimouns Rüstung wurde in die kleine Höhlung des Bootes gelegt, die ihm vorher Schutz vor Wind geboten hatte. Die Rüstung lief nicht Gefahr, von Tieren verschleppt oder zerstört zu werden.

Als er fertig war, war die Insel ein gutes Stück weiter gezogen, genauso wie die Sonne schon relativ tief stand.

„Du sagst sofort Bescheid, wenn du müde wirst, dann gebe ich dir alles, was ich noch habe.“, sagte er ernst. „Es ist egal, ob ich schlafe, wenn wir oben ankommen, Hauptsache, wir kommen oben an, ja?“
 

Eigentlich hatte er mit Widerspruch gerechnet, doch dass sein Freund von dem selben Ehrgeiz besessen war, freute ihn. Mit Wucht zerbrach er die Stützen, die das Boot oben hielten und drückte es mit seinem Gewicht möglichst tief in den Sand, bevor er Seine Arme um Dhaôma schlang.

„Ich werde dich dort hoch bringen.“, versprach er beinahe feierlich, bevor er seinen Atem darauf verwendete dieses Versprechen auch zu halten. Es fiel ihm nicht schwer, mit der Geschwindigkeit der Insel mitzuhalten. Auch auf Höhe der ihm bekannten Inseln schaffte er es. Nur schien noch immer kein Ende in Sicht. Vor ihnen türmten sich noch immer die Wolkenberge, zwischen denen Blitze ohne Nachhall zuckten. Mit keiner noch so winzigen Lücke gaben sie Preis, ob sich das Gesuchte auch wirklich dort befand.

Immer höher stieg der Geflügelte mit seiner Last. Fest drückte er seinen Freund dabei an sich, bot ihm so Wärme und Schutz. Seine Flügel begannen mit jedem Schlag mehr zu schmerzen, je höher er stieg. Und noch immer schien er nicht hoch genug zu sein. Um seinen schmerzenden Gliedern Ruhe zu gönnen, ging er in einen Gleitflug über, der ihn dabei einiges an Höhe kostete. Er nutzte das, um die Wolke zu umkreisen, eine geeignete Stelle zu entdecken, doch nichts. Überall dasselbe Bild.

„Ich werde dich dorthin bringen.“, bekräftigte Mimoun, als ihm die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen klar wurde. Er würde nie die Kraft haben, in den dünnen Luftschichten weiter oben zu fliegen. Auf diesem Wege würde es ihm nie gelingen, sein Versprechen zu halten.

Bevor Dhaôma etwas dagegen einwenden konnte, stürzte sich Mimoun mitten in die Wolken hinein. Kurz bevor er die Grenze durchbrach, gewahrte er die wirbelnden Massen tiefer im Inneren. So wurde er zumindest nicht von den heftigen Winden überrascht, auf die er beinahe sofort stieß. Jedoch war er nicht auf die vielen unterschiedlichen Luftströme gefasst. Schnell wurde er von seinem direkten Kurs abgedrängt. Zwar waren die Winde hier heftiger, als bei dem Sturm, der sie zu dem Magierdorf geführt hatte, aber dieses Mal gelang es dem jungen Geflügelten zumindest, nicht die Orientierung zu verlieren.

Ein Blitz zuckte nur knapp an ihm vorbei. Ein zweiter streifte seine Schulter und lähmte sie beinahe völlig. Nicht nur der Griff um Dhaôma lockerte sich dadurch, auch die ohnehin schwindende Kraft seines Flügels wurde beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen, so dass der Magier sich gezwungen sah, alles an Magie einzusetzen. Viel war es nicht und er fiel sofort wieder in tiefe Bewusstlosigkeit. Mimoun war es dadurch aber möglich, sich aus dieser Luftströmung zu befreien. Er landete in einer schmalen windstillen Zone. Auch hier zuckten Blitze entlang und es fiel ihm schwer auszuweichen. Er folgte der ruhigen Spur soweit es ihm möglich war, bis er keine weitere Möglichkeit sah und in die nächste Luftströmung eintauchte. Trotz Dhaômas Hilfe schwanden seine Kräfte immer schneller und er musste unbedingt das Zentrum erreichen, bevor es soweit war. Das Zentrum eines Sturms war immer ruhig. Dort würde er sich erholen können, auch wenn es dort keine Dracheninsel gab. Und er hatte es ihm versprochen. Er hatte es seinem Magier versprochen.

Erneut zuckten Blitze nur knapp an ihm vorbei, so dass er sich gezwungen sah, auszuweichen. Seine Sinne begannen ihm vor Erschöpfung und Müdigkeit Streiche zu spielen. Die Formation den Wolkenfetzen hinterließen bei dem ganzen grellen Aufleuchten immer wieder Schatten riesiger schlanker Kreaturen, teilweise grotesk verzerrt.

Mit einem Kopfschütteln brachte Mimoun seine Konzentration wieder auf den momentan wichtigsten Punkt: das Zentrum des Sturms. Die Luftströmung, die ihn mit sich riss, vereinigte sich mit einer zweiten und der scharfe Knick kam für den Geflügelten unerwartet und wirbelte ihn herum. Fluchend kämpfte er sich wieder daraus hervor. Doch er wurde mit einem unerwarteten Anblick belohnt. Vor sich befand sich eine Art zweite Wolkenwand, die in die entgegen gesetzte Richtung wirbelte. Bei einem seitlich davon zuckenden Blitz glaubte er, das Abbild einer Insel ausmachen zu können? Oder war auch das wieder nur eine Halluzination?

Dennoch strebte er darauf zu.

Weit kam er nicht. Das Ende kam schneller, als er befürchtet hatte. Mit einem Mal streikten seine Muskeln und er wurde wie ein Spielball der Naturgewalten einfach nur noch in den Wirbeln hin und her geworfen, ohne den Hauch einer Chance auch nur ansatzweise die Richtung zu bestimmen. Müdigkeit und grenzenlose Erschöpfung brachen mit einem Mal über ihm zusammen. Alles, wozu er noch fähig war, war seine Krallen in den Poncho seines Magiers zu versenken, um diesen auf keinen Fall zu verlieren.

Schwarze Schlieren tanzten vor seinen Augen, als er mit aller Macht versuchte, bei Bewusstsein zu bleiben. Deshalb kam der harte Ruck für ihn unerwartet. Er war gegen irgendetwas Hartes geprallt, konnte jedoch nicht erkennen, was es war. Der junge Geflügelte fand nicht einmal mehr die Kraft, den Kopf zu drehen. Erst spät vermittelte ihm sein Tastsinn die seltsame Beschaffenheit des Widerstandes. Schuppen?

Kaum hatte er das wahrgenommen, behaupteten seine Sinne, es wäre kalter Stein. Ah. Er hatte sich also schon wieder getäuscht, dachte er mit einem kurzen amüsierten Verziehen seiner Lippen. Da hatte er aber Glück gehabt, dass ihn die heftigen Winde nicht daran zerschmettert hatten. Ohne, dass er bemerkte, dass um ihn herum bereits kein Wind mehr wehte, überschritt er endgültig die Grenze zur Bewusstlosigkeit.

Die Mutter

Kapitel 41

Die Mutter
 

She seems to come from everywhere

Welcome to the dragons lair

Fingers running through your hair

She asks you out to play…

Follow the storm I've got to get out of here…

Follow the storm as you take to the sky…

Follow the storm now it's all so crystal clear,

Follow the storm as the storm begins to rise…
 

[Blackmore’s Night – Follow the storm]
 

Irgendetwas war kalt. Kalt und nass und am Rande der Erträglichkeit. Schlaftrunken blinzelte Dhaôma und sah vor sich Grün. Tiefes Grün, das sich immer wieder bewegte und schillerte. Es beruhigte ihn auf seltsame Weise.

Seufzend schloss er die Augen wieder. Und wurde prompt wieder abgeschleckt. Dass es das war, das ihn störte, wurde ihm in Sekunden klar. In der gleichen Zeitspanne wurde er endgültig wach, fuhr mit einem erschrockenen Schrei hoch und setzte sich auf. Vor ihm saß ein Drache. Groß wie Mimouns Haus, das Gesicht seltsam glatt und von grünlichen Schuppen bedeckt, die ein wahnsinnig kompliziertes Muster ergaben, das sich beinahe in den Augen wieder fand. Und überall waren gruselige Stacheln, die aus der Haut ragten. Und monströse Krallen an Pranken, die fast so groß waren wie er. Wie unförmig war das Biest?
 

Ein Schrei drang in Mimouns traumlosen Schlaf. Der Schrei einer Stimme, die er kannte. Als ihm dämmerte, dass es Dhaôma gewesen war, kämpfte er sich mühsam aus der Dunkelheit zurück. Es fiel dem jungen Geflügelten schwer. Wie zerschlagen fühlte sich sein Körper an. Dennoch stemmte er sich auf zittrigen Arme hoch und sah sich nach dem Grund für den Schrei um.

Da war sein Magier, kreidebleich, und starrte auf etwas hinter ihm. Bevor er sich jedoch nach der Quelle des Schreckens umblicken konnte, fanden seine Augen ein Ziel, das ihn schlagartig wach werden ließ. Scharlachrot, stacheliger Rückenkamm, angeklappte Flügel und ein scharfer Blick aus schmalen Augen.

Ruckartig wandte er sich um, verlor das Gleichgewicht und lag wieder platt am Boden, fand jedoch die Kraft, den Kopf zu heben und das Ungetüm zu betrachten, das Dhaôma erblickt hatte.

„Und nun?“, flüsterte er fast unhörbar.
 

„Ich habe keine Ahnung.“ Dhaômas Stimme zitterte. Mimouns Bewegungen hatten die Drachen aufmerksam beobachtet. Die Pupillen hatten sich zu schmalen vertikalen Schlitzen zusammengezogen, die Zungen, gespalten wie die von Schlangen, hatten sich vibrierend bewegt, die großen Köpfe hatten sich nach ihnen ausgerichtet. „Ruhig bleiben?“, schlug er vor, aber es war bei weitem nicht so einfach. Das Zittern seines Körpers ließ sich nicht so einfach vertreiben.

„Sie lieben den Frieden.“, sagte er, um sich selbst ins Gedächtnis zu rufen, weswegen er hier war, und um sich zu überzeugen. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Er würde nicht ängstlich sein!

Irgendwo am Rande spürte er, wie sich seine Magie verselbstständigen wollte, aber er konnte sie zurückdrängen. Es war eh viel zu wenig übrig, um irgendetwas zu erreichen.

Zaghaft und neugierig stupste der Drache ihn wieder mit seiner Zunge an. Sie kräuselte sich ein wenig und, als würde er sich freuen, bebte sein Körper, während Dhaôma ein Schauer aus Angst und Aufregung überlief. Aber er war noch nicht gefressen worden. Er beschloss das als gutes Zeichen zu nehmen.
 

„Warum hat jeder das Bedürfnis meinen Magier anzusabbern?“, murrte Mimoun mehr zu sich selbst. Vorsichtig darauf bedacht, keine hektischen Bewegungen zu machen, drehte er sich halb auf den Rücken und hob eine Hand. Kurz zögerte er noch, legte schließlich jedoch vorsichtig den Handrücken gegen den Unterkiefer des Geschöpfes und versuchte es mit seiner derzeit nicht vorhandenen Kraft wegzudrücken.
 

Beinahe hätte Dhaôma gelacht. Wie wahr. Zum Glück wollte nicht wirklich jeder ihn ansabbern.

Die Berührung des Geflügelten sorgte dafür, dass die Aufmerksamkeit des Drachens auf dessen Hand gerichtet wurde. Die Wärme zog ihn an, der Geruch schien ihm Spaß zu machen. Kurzerhand öffnete sich das große Maul weit, packte den Arm und die Brust darunter und hob Mimoun hoch. Dhaôma stieß einen erschrockenen Schrei aus, aber es sah gar nicht danach aus, als wolle er ihn essen. Er hob ihn bloß hoch, was sicherlich nicht sehr bequem war. Die Zähne trafen kein Fleisch. Der Drache war erstaunlich vorsichtig! Dann drehte er sich gemächlich um und setzte sich in Bewegung.

Hastig beeilte sich der Magier hinterher zu kommen.
 

Er hatte noch versucht sich weg zu winden, als das riesige Maul sich direkt über ihm geöffnet hatte, doch in seiner momentanen Verfassung hatte er absolut keine Chance. Mimoun drückte mit der freien Hand an der Nase des Drachen herum, um diesen dazu zu bewegen, ihn wieder loszulassen.

„Dhaôma? Sag ihm, dass er mich runter lassen soll.“ Obwohl es seine Emotionen aus seiner Stimme verbannen wollte, hörte man leichte Panik heraus. Das Tier verletzte ihn nicht. Dennoch verspürte der junge Geflügelte starkes Unwohlsein in dieser Position.
 

Der Drache hielt bei der Bewegung an der Nase kurz inne und gab ein seltsames Geräusch von sich, das Dhaôma nicht zuordnen konnte, aber abgeneigt schien er nicht, sonst hätte er doch zugebissen, oder?

„Bitte!“, versuchte es der Magier dennoch auf Mimouns Bitte hin. „Lass ihn los! Er ist doch müde und…“ Er wurde ignoriert. Das wurde in dem Moment deutlich, als der Drache ihm die kalte Schulter zuwandte und sich erneut von ihm wegbewegte.

Von seitlich vorne kam ein weiterer grünlicher Drache, der sich nur auf zwei Beinen bewegte und statt Armen Flügel hatte. Er kam näher und schnupperte an Mimoun, der Große gab ein lautes, heulend-knurrendes Geräusch von sich, das so tief aus seinem Körper zu dringen schien, dass Dhaôma eine Gänsehaut bekam. Der Neuankömmling war beeindruckt und hielt Abstand. Und der Große setzte seinen Weg fort, immerzu mit Dhaôma auf den Fersen.

„Lass ihn los!“, rief der junge Mann. „Du darfst ihm nicht wehtun, hörst du, Drache?“

„Jhahirajira.“, erklang es in seinem Kopf, so dröhnend und dunkel, dass er sich die Hände auf die Ohren presste.
 

„Argh“, gab Mimoun von sich. Schon bei dem ersten Knurren war er zusammengezuckt, schließlich war er diesem Geräusch hier am nächsten. Und das Dröhnen im Kopf war unangenehm. Er rieb sich mit der freien Hand über das Ohr, ein Auge zugekniffen.

„Ist ja nett, dass du mich trägst, Drache. Aber das ist unbequem. Das tut weh.“
 

„Jhahirajira.“, dröhnte es wieder in ihren Köpfen.

„Ja…“ Nein, das war falsch. „Jhaji…“ Auch falsch. „Verflucht!“, schimpfte Dhaôma. „Jhahijira! Bitte, lass ihn endlich runter!“ Obwohl der Drache gemächlich vorwärts schritt, hatte sich Dhaôma beeilen müssen, um vor ihn zu kommen. Jetzt stand er mit ausgebreiteten Armen da und starrte den Drachen an. „Das ist doch dein Name, oder?“

„Jhahirajira.“, wiederholte er.

Und Dhaôma holte tief Luft, bevor er den Namen wiederholte. Seine Zunge verknotete sich fast, aber es gelang. „Jhahirajira.“ Bittend lächelte er. „Lass ihn bitte runter. Wir kommen auch so mit, wenn du es wünscht.“

Im nächsten Moment spuckte der Drache Mimoun aus. Er war dabei immerhin so sanft, dass der Schwarzhaarige sich nicht verletzte. Sofort war Dhaôma an seiner Seite. „Geht es dir gut, Mimoun?“

„Wer seid ihr?“, erklang es in ihren Köpfen.
 

„Bäh. Drachensabber.“, maulte Mimoun als Antwort auf Dhaômas Frage und schüttelte die nun nicht mehr verschluckte Hand, nachdem er sich aufgesetzt hatte. Schnell wandte er sich wieder ihrem Gegenüber zu. Wie beantwortete man nun am Besten die Frage von dem Viech, ohne es wütend zu machen.

„Mein Name ist Mimoun.“, stellte sich der junge Geflügelte deshalb vor. Er versuchte sich zu erheben, schwankte aber und fiel wieder auf die Knie. „Und das ist Dhaôma.“, sprach er vom Boden aus weiter. „Wir hatten nicht vor, euch irgendwelchen Schaden zuzufügen.“
 

„Wer seid ihr?“, wiederholte eine andere Stimme. Das war der rote Drache von vorhin, der ihnen gefolgt war.

„Ich glaube, er will nicht unsere Namen, sondern etwas anderes…“, murmelte Dhaôma leise. An den Drachen gewandt, erklärte er: „Ich bin Dhaôma, Magier aus Helgen. Ich suche Unterstützung, um Frieden zu schaffen.“

„Wer bist du?“, erklang es nun nur in Mimouns Geist.
 

Ergeben seufzte Mimoun auf. „Mimoun, Geflügelter.“, bezeichnend ließ er seine Schwingen leicht aufklappen. „Und ich sorge dafür, dass ihr meinem Freund kein Leid zufügen werdet.“
 

Es herrschte daraufhin Schweigen. Große Augen musterten ihn, die Pupillen weiteten sich und verengten sich wieder. Hinter ihnen waren weitere Drachen angekommen, die sie ebenfalls betrachteten. Der Augenblick zog sich in die Länge. Letztlich kam der große Grüne wieder mit seiner Nase ganz nah an Mimoun heran, öffnete sein Maul und machte Anstalten ihn wieder hochzuheben, aber Dhaôma ging dazwischen.

„Bitte, gibt es keine andere Möglichkeit, ihn zu tragen?“

Nun wurde er gemustert und es schien ihm, dass ein amüsiertes Funkeln durch die echsenhaften Züge glitt. „Ich mag seine Hände. Sie sind warm.“
 

„Bitte?“, gab Mimoun verdutzt von sich. Deshalb also diese Prozedur? „Das können wir aber auch einfacher haben.“ Er zog sich an dem Magier hoch und ging an ihm vorbei. Zögerlich legte er seine Hände auf die Nase des Drachen. „Und dafür musst du mich nicht einmal ansabbern.“
 

Kichernd stellte sich Dhaôma neben Mimoun. „Da, das ist eine Eigenheit der Menschen auf den unteren Ebenen.“ Auch seine Hände berührten die Schnauze mit den glatten Schuppen. Sie waren kühl und glatt.

Der Drache schien begeistert und drückte sachte gegen die Hände, drückte stärker und stärker, bis sie beide einen Schritt zurück machen mussten, was Mimoun zum Straucheln brachte. „Ihr seid warm. Und schwach.“ Der Druck verschwand. „Hanebito. Jagmarr. Hinauf.“ Und damit wandte er sich zur Seite und nahm seinen Weg wieder auf.

Unsicher sah Dhaôma Mimoun an. „Sollen wir ihm nach?“
 

„Schwach.“, murmelte Mimoun angefressen. Natürlich war er schwach nach den Strapazen im Sturm. Und im Vergleich zu diesem riesigen Geschöpf konnte er natürlich nicht die nötigen Kräfte aufbringen.

Dann wandte er seine Aufmerksamkeit Dhaôma und seiner Frage zu. „Ich weiß nicht, was das zweite Wort bedeutet, aber zumindest das erste ist mir mittlerweile mehr als geläufig.“ Der junge Geflügelte sah dem Drachen nach. „Ja. Ich glaube wir sollen ihm folgen. Ich kann mir schon denken, wie das abläuft, wenn wir es nicht tun: Zumindest einer von uns landet zwischen seinen Zähnen.“
 

„Jagmarr ist das alte Wort für die Magier.“, erklärte Dhaôma Stirn runzelnd. „Die Magier nutzen es nicht gerne, weil es auch für vergängliche Macht steht.“ Langsam setzte er sich in Bewegung, dem Drachen hinterher. „Bei uns ist es ein Schimpfwort für einen Magier, der seine Magie verloren hat.“
 

„Muss ich mir merken. Damit kann man sie sicher nett ärgern, wenn sie mir dumm kommen.“ Schlurfend folgte auch der Geflügelte ihrem schuppigen Führer. Nun da der erste Schreck und die Anspannung verflogen waren, schlug die Müdigkeit wieder voll zu. „Was mich aber auch zu der Frage bringt… ist denn so was möglich? Dass ihr eure Magie verliert?“, versuchte er sich mit einem Gespräch wach zu halten.
 

„Manchmal passiert das.“, nickte der Braunhaarige kaum merklich. „Aber es wäre ratsam für dich, dieses Wort niemals in der Nähe eines Magiers auszusprechen, der die wahre Bedeutung nicht kennt. Ich denke, wenn er seine Kräfte noch hat, dann wird er sie mit Freuden demonstrieren.“

Aufmerksam sah er sich um. Es waren inzwischen so viele Drachen, dass er sie kaum zählen konnte. Alle Farben oder Arten waren vertreten, selbst kleinste Drachen flatterten hinter ihnen her oder wuselten über die Erde und zwischen den Füßen der Riesen umher. Es gab solche mit und solche ohne Flügel. Es zeigten sich sogar einige, die nur Flügel aber keine Beine hatten. Es war eine richtige Prozession.

„Ich frage mich, wohin sie uns bringen.“, murmelte er und hörte prompt die Antwort.

„Zur Mutter.“
 

Sofort verharrte der Geflügelte in seinem Lauf und seine Gesichtszüge entgleisten. Warum auch immer, ihm drängte sich das Bild eines noch gewaltigeren Ungetüms auf als Ji…nein… Jahid…ach egal… Jira es war.

„Mutter?“, hakte er zögerlich nach. Er fühlte einen leichten Stoß im Rücken, als der Scharlachrote ihn dazu anhielt, weiter zu gehen. Doch bei dem Gedanken an das Kommende wurden seine Knie weich und er strauchelte. Ohne viel Federlesen packte der Drache hinter ihm seinen Hosenbund und hob ihn hoch.

„Das ist jetzt nicht wahr.“, flehte Mimoun und betete, dass das Leder nicht riss.
 

„Ai.“ Dhaôma konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Wie Mimoun da hing, sah einfach zu süß aus. Und eigentlich war es zur Abwechslung mal schön, dass nicht er es war, der getragen werden musste. „Mach dir keine Sorgen, Mimoun.“, lächelte er und griff nach seiner Hand. „Du weißt doch, dass Mütter im Allgemeinen nett sind, nicht wahr?“
 

„Ja.“, maulte er lang gezogen und fügte mit einem Fingerzeig nach hinten an: „Aber das macht das da nicht unbedingt besser.“ Seufzend ergab er sich in sein Schicksal, drückte Dhaômas Hand fester. Es war irgendwie nicht schlecht, einmal nicht laufen zu müssen - würde ihm nicht etwas Wichtiges langsam aber sicher abgeklemmt werden.
 

Der Weg war anstrengend. Seltsamerweise kam Dhaôma ziemlich schnell außer Atem, aber er erklärte es sich damit, dass er sich jetzt in zwei Tagen aufeinander ausgepowert hatte. Sie gingen in leichtem Schlängeln einen Berg hinauf und schon von weitem konnte man eine Art Gebäude erkennen. Es war aus weißem Stein gefertigt und beim Näherkommen konnte man eine komplizierte Architektur ausmachen.

Die Drachen blieben nach und nach zurück. Und dann standen sie vor dem Eingang, der gewaltiger war als alles, was selbst Dhaôma je an Häusern gesehen hatte. Es gab keine Tür, aber es wirkte wärmer innen. Und es war nicht dunkel. Dhaôma konnte Leuchtmoos wachsen sehen.

Der Drache setzte Mimoun sanft ab. „Geht.“
 

Der Geflügelte ließ sich entgegen der Anweisung erst einmal zu Boden sinken. Es kribbelte unangenehm im Unterkörper. Es wurde von einem mulmigen Gefühl begleitet. Er fühlte sich so schwach im Angesicht dieser Geschöpfe. Und er fühlte sich noch immer so unglaublich müde. Darüber hinaus sollten sie nun auch noch der Mutter dieser Wesen gegenüber treten?

Ein vorsichtiger Stups schob seinen Oberkörper in Richtung des Eingangs, doch sein Unterkörper wollte sich nicht von der Stelle bewegen.

Hoffnungsvoll sah er erst Dhaôma und anschließend die Drachen an. „Müssen wir sofort zu ihr? Können wir uns nicht erst ein wenig erholen?“
 

„Geht.“, war die unbarmherzige Antwort des Drachens.

Dhaôma war nicht ganz so unbarmherzig. „Viel ist es wahrscheinlich nicht, aber…“ Seine Hand legte sich auf Mimouns Rücken und Magie floss in diesen. Nur so viel, dass er selbst nicht in Schlaf fiel. „Geht es jetzt besser? Lass uns jetzt dorthin gehen. Ich bin neugierig auf die Mutter der Drachen, die ich schon so lange suche. Vielleicht kann sie uns helfen.“
 

„Dummkopf.“, murrte er ungehalten. „WIR sollten uns ausruhen, hab ich gesagt. Nicht nur ich. Verschwende doch nicht immer deine wenigen Kräfte.“ Trotz seines Gemeckers erhob sich der Geflügelte. Es ging besser, ja. Aber er fühlte sich noch immer nicht gut. Aber das würde er nun nicht mehr zeigen. Nicht, dass Dhaôma noch mehr von etwas gab, was er nicht aufbringen konnte.

Mit einem gezwungen tiefem Durchatmen trat er an den Eingang. Seine Hand glitt flüchtig über den weißen Stein, während sein Blick in das Innere glitt. Sein ganzer Körper spannte sich an. Drachen lieben Frieden, rief er sich ins Gedächtnis. Ihnen drohte kein Unheil. Dennoch zwang er Dhaôma mit einer Handbewegung hinter ihm zu gehen, als er den Raum dahinter betrat.
 

Das passte diesem gar nicht so recht. Durch die Flügel wurde sein Gesichtsfeld erheblich eingeschränkt und das störte ihn, also ging er seitlich.

Staunend durchschritten sie einen hohen Gang, der beinahe die Ausmaße einer Halle aufwies und einen Halbkreis zu beschreiben schien. Alle fünfzig Schritt hielten kolossal dicke, verzierte Säulen die Decke, die kaum beleuchtet war, bis der Bogen die Sicht auf die Fortsetzung verwehrte.

Auf der anderen Seite des Gangs war ein Durchbruch in der Wand, der nicht wirklich gebaut aussah, weil er so unregelmäßig war, aber fein poliert und ohne Kanten bot er einen wundervollen Anblick. Dahinter konnte man einen Schimmer von Gold und Rot erkennen.

Jeder Schritt, den sie machten, hallte furchtbar laut in der Stille wider, bis ihnen ein langsames, unterschwelliges Dröhnen auffiel. Keiner der beiden konnte sagen, wo dieses tiefe Vibrieren herkam, aber nachdem sie es einmal im Ohr hatten, kehrte es immer wieder zurück, regelmäßig, mit relativ langen Pausen dazwischen. Und dann erreichten sie den Durchgang und konnten in das Innere dahinter sehen.

Die Halle war gigantisch. Wie ein Kolosseum erhoben sich stufenartig die Wände, in denen halb eingelassen unterschiedlich große mit Ästen oder auch Bäumen und Laub ausgepolsterte Nester thronten. In manchen fanden sich kleine Eier, in anderen steinähnliche Gebilde, die sie ebenfalls für Eier hielten, was man aber anhand der Farbe oder Form nicht ohne weiteres erkennen konnte. Unterhalb der Wand befand sich eine Art Fluss, der beinahe einmal im Rund herum ging, bevor er in einem See unterhalb des in der Mitte sich erhebenden Hügels mündete. Die Drachen, die in den Nestern saßen oder daneben, starrten sie alle an. Genauso wie die riesige goldene Drachin in der Mitte auf dem Hügel. Sie war so groß wie Mimouns Insel und ihre roten Augen schienen sie zu durchleuchten.

Dhaôma hatte das schreckliche Gefühl, alles, was er je getan hatte, würde vor ihr offen liegen, als könne sie in seinem Kopf lesen. Er fühlte sich nackt und unbeholfen, wie ein Wurm vor einem Vogel, der wusste, dass er ausgeliefert war. Eigentlich wäre er zu gerne stehen geblieben, aber das war ihm genauso wenig möglich, wie dem Blick zu entgehen. Bis sie in unmittelbarer Reichweite der Matronin standen. Erst dann konnten sie stehen bleiben. Heißer Atem traf sie und ließ Kleider und Haare wehen. Sie blinzelte.

„Ihr habt einen angenehmen Geruch.“, sprach sie in ihren Köpfen. „Ich fühle, dass es kein Fehler war, euch herzubringen. Aber bevor ihr Jashar wieder verlassen könnt, werdet ihr reifen müssen. In vielen Aspekten.“

Sprachlos nickte Dhaôma, schüttelte dann den Kopf. „Aber…Was ist mit dem Krieg?“

„Es kommt allein auf euch an.“
 

Bei ihren Worten dämmerte eine Erinnerung in Mimoun herauf. Herzubringen, sagte sie. Genau. Sie hätten gar nicht hier sein dürfen. Seine Kräfte hatten versagt. Er hatte versagt. Nicht er hatte Dhaôma hierher gebracht.

Widerstrebende Gefühle spiegelten sich auf Mimouns Gesicht wider. Entsetzen, wenn er daran dachte, dass sie bei negativem Entschluss der Mutter noch immer dort draußen im Sturm herumwirbeln würden. Begreifen, dass die dunkle Ahnung, von Schuppen berührt worden zu sein, echt gewesen war. Dankbarkeit, dass die Matriarchin sie hatte retten lassen. Dieses letzte Gefühl ließ sämtliche Anspannung und Vorsicht verschwinden.

„Danke.“ Dieses Wort kam aus der Tiefe seines Herzens und mit einem offenen Lächeln. Auch wenn er sich sicher war, dass sie das bereits in ihm gelesen hatte. Denn auch an ihm war diese alles offen legende Empfindung nicht vorbeigegangen. Dann wandte Mimoun seine gedankliche Aufmerksamkeit wieder ihrer Forderung zu. „Worin müssen wir… reifen?“, wollte er wissen. „Was müssen wir noch lernen?“
 

„Das liegt bei euch.“, war die wenig hilfreiche Antwort.

Seufzend strich sich Dhaôma durch das Haar. Ihm wollte es gar nicht gefallen, dass sie hier bleiben sollten, bis in ihnen etwas gereift war, wovon er keine Ahnung hatte, was es war. Wie sollte er das denn beeinflussen, wenn er es nicht wusste? „Und was ist unsere Aufgabe hier?“, wollte er wissen. „Ich meine, es gab doch schon vor uns Menschen, die hier oben waren. Was haben die gemacht? Und wie kann man die Verbindung eingehen, die einen zum Drachenreiter macht?“

„Das liegt bei euch.“, wiederholte sie sanft.

Und der Magier verstand. Es war ein Test. Egal, was sie testete, es würde darüber entscheiden, ob sie gehen konnten, ob sie bleiben konnten, ob ihr Traum in Erfüllung gehen konnte. In seinem Buch stand nichts in diese Richtung, aber wahrscheinlich war das gewollt. Warum sollten die früheren Drachenreiter auch das Geheimnis der Drachen über ihre Prüfung ausplaudern, wenn die Drachen so viel Wert darauf legten, sie zu prüfen. Falls sie den Inhalt der Prüfung überhaupt verstanden oder erfahren hatten.

„Also gut.“, stimmte er zu. „Wir geben unser Bestes.“ Das war eh beschlossene Sache. „Falls wir irgendwie helfen können, kannst du es uns ja sagen.“

Sie schwieg und schien auf irgendetwas zu warten.
 

„Dann sollten wir uns erst einmal ein Gesamtbild von unserem neuen Zuhause machen.“, schlug Mimoun seinem Freund vor und wandte sich nach einer angedeuteten Verbeugung zu der Drachin bereits halb zum Gehen. Er ließ seinen Blick über die Drachen und ihre Gelege schweifen. Es würde so viel zu entdecken geben. Es würde so viel Zeit in Anspruch nehmen, die sie eigentlich nicht hatten, und doch reizte es ihn mit jedem Augenblick mehr. Dennoch…

„Oder am besten eine Unterkunft für die nächste Zeit suchen, denn ich würde nun wirklich ausgesprochen gerne schlafen wollen. Die Insel kann uns nun ja nicht mehr wegfliegen.“
 

Es brachte Dhaôma zum Kichern. „Gibt es einen Ort, an dem wir schlafen können?“, fragte er freundlich und bekam doch nur wieder die kryptische Antwort, dass es bei ihnen läge. Sie konnten also wirklich machen, was sie wollten. Wahrscheinlich war es gar nicht so einfach, eine Höhle zu finden oder einen Ort, an dem sie ungestört waren. Immerhin waren die Drachen extrem Neugierig, wie sie bereits bewiesen hatten. Es würde noch eine sehr anstrengende Suche werden. Notfalls würde er auf Mimoun aufpassen, wenn er schlief, selbst wenn er selbst sehr müde war.

„Dann wünsche ich dir noch einen angenehmen Tag.“

Der Weg hinaus war genauso lang wie der hinein. Und es waren genauso viele Augenpaare auf sie gerichtet. Und dann gab es einen großen Schreck, als sie beinahe hinaus waren. Es war ein Nest, das im Vergleich zu allen anderen recht klein war und rechts über dem Eingang lag. Es war kein Drache darin, aber oben bewegte sich eines der Eier. Es kullerte herum und erregte Dhaômas Aufmerksamkeit. Der Schlupf eines Drachen! Spannend!

„Da, schau!“, erregte er flüsternd Mimouns Aufmerksamkeit.
 

Sein Blick folgte Dhaômas. Es war ziemlich weit oben und nur schwer einsehbar. „Gehen wir näher ran.“, flüsterte Mimoun zurück. „Die Drachen werden ja rechtzeitig Bescheid geben, wenn wir etwas Dummes tun.“

Noch während er das sprach, begann er bereits die große Stufe empor zu klettern. Die Flügel eng an seinen Körper gelegt, achtete er darauf, weder dem Nest noch beinhaltendem Drachen störend nahe zu kommen. Dennoch reckte sie den Kopf, um an ihm zu schnuppern.

Der Geflügelte fand eine freie Stelle etwas oberhalb des Geleges und klopfte neben sich, damit sein Freund sich dorthin begab. Schweigend und mit einem erwartungsvollen Lächeln betrachtete er die Szene nun von oben, von einem besseren Blickwinkel.
 

Dhaôma hatte schon am Anfang das Problem, dass er die Stufe nicht erklimmen konnte. Zwar waren in dem polierten weißen Stein kleine Löcher, aber die waren zu klein für seine Füße oder seine Hände. Also zuckte er mit den Schultern und betrachtete stattdessen einfach so das kullernde Ei.

Es gab ein leises Knacken, ein Geräusch, das in der riesigen Halle vielfach widerhallte, dann zog sich ein Riss über das Ei. Dann noch einer. Und schon hoben sich einige Splitter, versanken wieder, hoben sich erneut, als der schlüpfende Drache genug Kraft für einen neuen Anlauf gesammelt hatte. Das erste, das herauslugte, war die Nase. Blau mit einem winzigen weißen Horn. Und auch das verschwand noch einmal in dem Ei, bevor er den Kopf herausstreckte und ein klägliches Geräusch von sich gab. Ein Fuß folgte und das Ei kippte um, kullerte über den Rand und fiel.
 

„Nicht!“, rief Mimoun. Er hechtete nach vorn, war aber nicht schnell genug, um zu verhindern, dass es fiel. Der Geflügelte setzte nach und ergriff es im Fall. Er überschätzte seine Kräfte, Schwerkraft und Gleichgewicht. Nun war er es der stürzte. Das Baby in seinem weißen Gefängnis locker in der Hand haltend, drehte er sich noch halb in der Luft, so dass er nicht auf dem Gesicht sondern tatsächlich auf den Füßen landen konnte. Der Geflügelte brach weiter in die Knie und kippte nach vorn. Während er den Jungdrachen beschützend an die Brust drückte, verhinderte er mit der zweiten Hand ein endgültiges Vornüberkippen.

„Ich brauch definitiv Schlaf.“, war sein einziger Kommentar zu dieser Aktion. Seufzend stieß er die Luft aus.
 

Eigentlich hatte Dhaôma ebenfalls schon dagestanden, um den Drachen zu fangen, aber dann war er lieber ausgewichen. Mimoun hatte ihn auch nur um Haaresbreite verfehlt.

Was war er erleichtert, als er ihn reden hörte. Als er aus den Augenwinkeln sah, wie er stürzte, hatte er sich schon umdrehen wollen, aber nun atmete er erleichtert wieder aus. „Ja, brauchst du. Und den wirst du auch bekommen.“

Es knackte wieder leise, diesmal gedämpft und der Kopf schob sich erneut aus der Schale. Blaue Augen öffneten sich, hatten Schlieren davor, die eine graurosafarbene Zunge abschleckte. Einmal, zweimal. Dann schoben sich beide Vorderfüße aus dem Ei gegen Mimouns warme Hand. Ein Körper folgte. Keine Flügel, nur Vorderbeine. Und eine Größe zum Kuscheln. Der kleine Drache war gerade mal doppelt so groß, wie Mimouns Daumen.
 

„Wie winzig.“, murmelte Mimoun. Er setzte sich dort, wo er war, auf seinen Hosenboden und betrachtete das Geschöpf von allen Seiten. Der kleine Kopf folgte dabei seinen Handdrehungen, schaute ihn unentwegt an und gab ein klägliches, hohes Fiepen von sich.

„Warte hier.“, bat Mimoun seinen Freund. „Ich bring ihn nur kurz in sein Nest zurück.“ Mit einem tiefen Einatmen spannte er die Flügel und stieß sich ab. Es war nicht hoch, dafür reichte seine Kraft aus. Es war auch nicht schwierig, ihn zwischen seinen noch in den Eiern schlummernden Geschwistern abzusetzen. Doch kaum war er neben Dhaôma gelandet und wollte sich dem Eingang zuwenden, als er über sich wieder dieses klägliche Fiepen hörte. Zum Glück sah er zurück zu dem Nest. So konnte er gerade noch erkennen, wie sich das kleine Wesen über den Rand von Nest und Stufe zog und ihm wieder entgegen fiel. Reflexartig machte Mimoun einen Schritt nach vorn und fing es erneut auf. Erneut schwang er sich empor, mit dem Unterschied, dass das Drachenbaby sich nicht von seinen Fingern lösen ließ. Mit einer Kraft, die man den wenigen Zentimetern gar nicht zutraute, schlang es sich um seinen Finger.

„Komm schon. Lass los. Du musst hier warten, bis deine Mama zurückkommt.“, redete er sanft auf das Tierchen ein, erhielt aber nur ein erneutes Fiepen zur Antwort. „Was mach ich denn jetzt?“, fragte Mimoun verzweifelt nach unten. Er konnte doch keine Gewalt gegen ein Baby einsetzen.
 

Dhaôma hatte das sehr lustig gefunden, wie Mimoun das kleine Wesen anhimmelte. Und wie es ihn anhimmelte! Jetzt hielt er sich den Bauch vor Lachen. Es sah einfach zu lustig aus, wie hilflos Mimoun angesichts dieses unerwarteten Ausdrucks von Willen war. Wie er den Winzling schüttelte.

„Ich glaube…“, brachte er zwischen seinen Lachern hervor, „Fiamma hat soeben ein Geschwisterchen bekommen!“ Und wieder brach er in Gelächter aus, bis ihm die Luft wegblieb. „Vielleicht kriegst du jetzt ein Nest hier in der Halle zugeteilt.“
 

Mimoun war der Verzweiflung nahe. Deswegen waren sie nicht hergekommen. „Da. Nimm du ihn. Du wolltest doch einen Drachen.“ Noch immer auf der Kante sitzend, streckte er seinem Freund die Hand entgegen. Den Finger nicht loslassend schlängelte sich der junge Drache ein wenig die Hand in seine Richtung hoch. Es quietschte Mimoun an, während seine blauen Augen ihn unverwandt anstarrten.

Worte lagen ihm auf der Zunge, nur zum Aussprechen kam er nicht. Neben ihm erklang leises Knacken und beinahe panisch wandte er sich dem Nest zu, nur um im nächsten Augenblick von der Kante zu springen und durch den Eingang zu verschwinden. Schon nach wenigen Schritten kehrte er wieder zurück und hielt auf den großen goldenen Drachen zu.

„Bitte. Ich weiß doch nicht, wie man einen von euch versorgt. Ich will ihm nicht schaden.“, bat er sie ihm diese Aufgabe abzunehmen.
 

„Er weiß es.“, antwortete die Drachenmutter. „Keine Sorge.“

Und inzwischen saß Dhaôma am Boden. Der Schreck in Mimouns Gesicht, als die anderen Drachen zu schlüpfen begannen, hatte einen erneuten Lachflash ausgelöst, der ihm die Kraft zum Stehen raubte. In gerade diesem Moment liebte er diesen Jungen wirklich von ganzem Herzen für seine warmherzige, etwas hilflose Art, aber er konnte es ihm weder zeigen noch sagen.
 

Der Drache löste sich von seinem Finger, als Mimoun keine Anstalten mehr machte, ihn loswerden zu wollen, und rollte sich auf dessen ausgestreckter Handfläche zusammen. Der Schlupf war anstrengend gewesen.

Vorsichtig, nur mit der Spitze des Fingernagels, begann der junge Geflügelte das kleine Geschöpf an der Stirn zu kraulen. „Mädchen oder Junge? Und welchen Namen hast du? Muss ich dir einen geben?“ Die Fragen wirkten zwar, wie an den Kleinen gerichtet, waren aber für die große Mutter bestimmt.
 

„Es ist deine Wahl, einen Namen zu finden, der zu ihm passt und ihn mit Stolz erfüllt.“

Inzwischen hatte Dhaôma sich beruhigt. Er konnte das Gespräch zwischen den beiden nicht hören, aber er wusste, es ging um den Drachen. Geduldig lehnte er an der Wand und beobachtete sie, bis neben ihm ein Geräusch entstand, das ihm seltsam vorkam. Neben ihm schwebte eine blaue schlangenhafte Gestalt und blickte ihn an. Ihre Zunge berührte ihn nicht, war aber sehr aktiv. Letztlich ließ sie von ihm ab und wandte sich dem Gelege über ihm zu, das sie daraufhin beim Schlüpfen unterstützte. Sie war die Mutter. Und sie war gerade mal so groß wie sein Arm. „Mimouns Schützling bleibt also so winzig.“, kicherte er. „Aber wunderschön…“ Ihre Augen waren so beeindrucken gewesen!
 

„Okay.“, gab der Geflügelte schließlich klein bei. „Danke.“

Als er zu Dhaôma trat, blickte er diesen voller Kummer an. „Erster.“, meinte er wenig enthusiastisch und hob sein Findelkind hoch. „Dabei waren wir auf der Suche nach einem Drachen für dich.“
 

„Ich komme schon zu einem Freund.“, sagte der Braunhaarige beruhigend und legte seinen Arm um Mimoun. „Und dein Baby ist schon süß. Und es passt in die Tasche, also wird es dich auch kaum behindern, wenn du fliegst.“ Seine Hand fuhr durch schwarzes Haar. „Kopf hoch. Wir suchen uns jetzt einen Platz zum Schlafen und morgen wirst du sehen, dass es lustig ist, wieder ein Baby zu haben, das du verwöhnen kannst.“ Mit der freien Hand zeigte er hinauf zu dem Nest. „Da, schau. Mama Drache ist wirklich eine Schönheit.“
 

„Wenn es in die Tasche geht und sich nicht wieder an meinen Finger klettet.“, murrte Mimoun. Dennoch ließ er seinen Blick zu dem bezeichneten Wesen empor gleiten. Ja. Sie war wunderschön.

„Es tut mir Leid.“, wandte er sich halblaut auch an dieses Geschöpf. „Ich hatte nicht vor, dir eines deiner Babys streitig zu machen oder gar wegzunehmen.“ Kurz sah sie zu ihm herunter, züngelte in seine Richtung, wandte sich aber schnell wieder ihrem verbliebenen Nachwuchs zu. „Sie scheint nicht böse zu sein.“, meinte er aufatmend und wandte sich dem Ausgang zu. Kurz schob er sein Baby zurecht und hielt es nun sicher zwischen seinen Händen an die Brust gedrückt. Der Geflügelte versuchte ein Gähnen zu unterdrücken, was ihm nur kurzfristig gelang. Kurz bevor er die Höhle verließ, blieb er erneut stehen und sah zu Dhaôma.

„Was meintest du? Sie sollten mir hier ein Nest zur Verfügung stellen? Wäre eine gute Idee. Dann hätten wir in unmittelbarer Nähe einen Schlafplatz.“
 

„Du hättest einen. Wenn du richtig schaust, dann hat hier jedes Nest nur einen Drachen darin.“ Also entweder waren Drachenmütter oder Drachenväter ausgeschlossen. „Außerdem würde ich ungern in einem Gebäude sein. Wir könnten einfach unter freiem Himmel schlafen, bis wir was Geeigneteres gefunden haben.“

Langsam strebten sie dem Ausgang zu, wo sie helles Sonnenlicht empfing. Und jede Menge neugieriger Drachen. Seltsamerweise kehrten ihnen, kaum dass sie sich zeigten, viele schon wieder den Rücken.

„Vielleicht haben sie darauf gewartet, ob uns was passiert. Oder ob sie uns fressen dürfen.“
 

„Beruhigend zu wissen, dass sie es anscheinend nicht dürfen.“ Er drückte seinen neuen Schützling noch ein wenig fester an seine Brust, beschützend, nicht schmerzhaft.

Suchend sah der Geflügelte sich um. Ihm war nicht nach langer Wanderung. Kurz deutete er auf ein von der Sonne beschienenes flacher abfallendes Wiesenstück, als er sich auch schon dorthin begab. Das Gras war halb verdorrt und störrisch. Robuste, kleine Pflänzchen, die hier oben überleben mussten. Mimoun rupfte einen ganzen Haufen davon aus und schichtete sie zu einem provisorischen Nest auf. Vorsichtig bettete er seinen Drachen darauf, legte sich direkt daneben und breitete seinen Arm auf der anderen Seite aus, als Einladung für Dhaôma zum Kuscheln.
 

Sie schliefen. Seite an Seite. Eigentlich hatte Dhaôma noch etwas sagen wollen, aber als er Mimouns Arm um sich spürte, war der Gedanke auch schon weg. Es war so viel passiert. Sie hatten einen weiteren Schritt auf ihr Ziel zu getan, hatten gefunden, was sie gesucht hatten. Ihm fielen einfach die Augen zu.

Und während sie schliefen, besuchten immer wieder mal Drachen ihren Schlafplatz, weil sie wissen wollten, was die seltsamen Wesen, die sie nur aus Geschichten kannten, hier taten.
 

Sein Schlaf war so tief, dass der Geflügelte nicht spürte, wie sich ein winziger Körper an seinem Hemd hochzog und sich in seiner Halskuhle zum Schlafen zusammenrollte. Instinktiv spürte Mimoun es und rührte sich nun nicht mehr.

Lange schlief der Zwerg jedoch nicht. Schnell wurde sein Schlaf von Hunger abgelöst und als seine Bezugsperson sich von den leichten Stupsern mit der Nase nicht wecken ließ, zwickte er Mimoun frech in den Finger. Mit einem unwirschen Murren zog dieser die Hand weg. Der nächste Biss der kleinen Kreatur landete in der Lippe, da es sich nach erneuten erfolglosen Stupsern auf das Gesicht des Geflügelten hoch geschlängelt hatte. Das weckte diesen und der Geflügelte saß senkrecht. Haltlos purzelte der Kleine nach unten, schüttelte verwirrt das Köpfchen und quäkte lautstark.

„Was?“, murrte Mimoun und rieb sich die Augen. Es war nun merklich dunkler, der Tag war schon fast vorbei, stellte er fest, als er einen Blick in den Himmel geworfen hatte.
 

Da neben ihm Mimoun aufgeschreckt war, war auch Dhaôma wach, denn es bedeutete Gefahr. Zumindest auf ihrer Reise hatte es das getan. Jetzt bedeutete es das gleiche wie damals in der Hütte von Addar: Baby füttern.

„Hey, ich dachte immer, Reptilien könnten sich vom ersten Moment an selbst versorgen.“, sagte er und stupste den kleinen Blauling an. „Was ist denn mit dir? Kannst du das nicht? Oder gibt’s das, das du essen willst etwa nicht in der Umgebung?“ Was ihn darauf brachte, dass er gar nicht wusste, was Drachen aßen. Fleisch doch sicher, oder? Oder Früchte?

Aber er wurde ignoriert. Der Drache hatte nur Augen für Mimoun.
 

„Vielleicht muss ich ihm das Jagen aber auch erst beibringen.“ Ein herzhaftes Gähnen begleitete diese Worte, gefolgt von einem ausgiebigen Strecken. „Schlaf ruhig weiter.“, bot er seinem Freund an und gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Zumindest einer sollte morgen früh frisch und ausgeruht sein. Ich werde bald zurück sein.“ Er pflückte sich die Miniaturausgabe eines Drachens aus dem Gras und setzte ihn sich auf die Schulter. Dann fielen dem Geflügelten wieder die Notfallrationen ein. Wasser hatten sie im Gebäude gesehen, konnten dort den Wasserschlauch nachfüllen, falls sie woanders nichts Geeignetes fanden. Und auf Nahrungssuche begab er sich sowieso. Also bot er Dhaôma alles, was er bei sich trug, zum Essen an.
 

Dieser schüttelte amüsiert den Kopf. „Glaubst du wirklich, dass ich jetzt wieder schlafen kann? Ich habe noch Licht, das werde ich natürlich nutzen!“ Er nahm ein wenig von dem Essen und grinste seinen Freund an. „Bis später also.“, winkte er und lief los.
 

Mimoun packte die Reste nicht weg, sondern verzehrte sie vollständig, nachdem er probeweise etwas davon zu dem Winzling auf seiner Schulter geschoben hatte. Ein kurzes Schnuppern war alles, wozu es gewürdigt wurde. Also kein Trockenfleisch.

Der Geflügelte sah seinem Freund hinterher. Ohne Scheu, voller Elan sprang dieser über die Wiese davon. Er wirkte gut gelaunt und ohne Furcht. Fast war Mimoun geneigt ihm zu folgen, aber ihnen drohte hier keine Gefahr. Die Mutter hatte sie hier akzeptiert und ihnen eigentlich Narrenfreiheit zugesprochen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich irgendjemand freiwillig den Zorn dieser gigantischen Kreatur zuziehen wollen würde.

Er spürte winzige Krallen an seinem Ohr und eine schnelle Zunge. Nur knapp konnte Mimoun verhindern, den Kopf ruckartig wegzuziehen. Dieses kleine Wesen wirkte so fragil, dass die kleinste falsche Bewegung tödlich enden könnte.

„Wir brauchen noch einen Namen für dich, nicht wahr?“, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seinem Baby zu. Nach Minuten nutzlosen Überlegens wandte er sich seufzend ab. „Wir finden noch etwas Passendes für dich, versprochen.“

Sein Weg führte ihn zum Fuß des Hügels, eine andere Richtung einschlagend als sein Freund. So deckten sie in kürzerer Zeit eine größere Fläche ab und konnten hinterher Informationen austauschen. Der Geflügelte beschränkte sich ebenfalls aufs Laufen. Seine Schritte wurden von unzähligen Augenpaaren begleitet. Zu vielen dieser Augen zeigten sich auch die dazugehörigen Köpfe oder gar Leiber, bevor sie schnell wieder verschwanden. Doch sie ließen ihn in Ruhe, so wie er sie nicht weiter behelligte.

Nachdem Mimoun gefühlte Ewigkeiten gelaufen war, blieb er beeindruckt stehen. Diese Insel war gigantisch und von einer nicht abzuschätzenden Größe. Musste sie auch sein, wenn sie diese Vielzahl an unterschiedlichen Drachenarten hier beheimaten sollte.
 

Die Sonne färbte sich schon rot, als Dhaôma den Hügel überschritten hatte. Höher hinauf ging es nicht. Und man hatte eine phantastische Sicht über die ganze Insel. Sie war gigantisch groß, man konnte kaum die Kanten sehen, an denen sie endete. Vielleicht konnte er mehr als einen ganzen Tag laufen, ohne dass er eine erreichte! Nur ganz hinten verrieten blutrote Wolken, wo das Ende sein musste. Und auf der anderen Seite leuchtete die untergehende Sonne von unten durch die Wolken und ließ sie orange-gelb aufleuchten. Am Himmel kreisten einige Drachen, einer flog ganz dicht an ihm vorbei, in seinen Fängen einen riesigen Fisch haltend. Fisch fraßen sie also!

Dhaôma drehte sich weiter, ließ seinen Blick über Land gleiten. Auf einer Seite versperrte dieser seltsame Nest-Tempel die Sicht auf das dahinter Liegende, aber der Rest bot eine hügelige, teils zerklüftete Aussicht mit unterschiedlichstem Bewuchs. Und er konnte hier eine Magie spüren, die niemals so stark in ihm widergehallt hatte. Diese Drachen waren einfach großartig!

Dann wurde es zunehmend dunkler und der Magier beeilte sich, den Hügel wieder bergab zu laufen. Er wollte Mimoun wieder finden, damit er nicht alleine sein musste in der Nacht. Aber sobald der Morgen graute, würde er wieder nach den Drachen suchen. Er wollte wissen, wie sie lebten!
 

Der Tag neigte sich immer schneller dem Ende zu und im gleichen Maße schwand das Licht. Um das Ganze nun abzukürzen, griff sich Mimoun den Winzling von seiner Schulter und barg ihn schützend in seinen Händen, als er sich in die Luft schwang.

Sofort hatte er weitere Begleiter, die neugierig waren auf das fremde Wesen, das flog wie sie. Kurz ließ er sich zu einem Fangenspiel in der Luft überreden, bis ein Quäken ihn wieder darauf hinwies, was er eigentlich geplant hatte.

Mit einem Nicken verabschiedete er sich von den Drachen und steuerte ein schmales blaues Band an, das sich durch die Landschaft zog. Hier würde er seinen Wasserschlauch auffüllen können. Kaum gelandet, setzte er den Winzling ins Gras, damit dieser ein wenig die Gegend unsicher machen konnte. Wie erstaunt war er zu sehen, dass der kleine Drache blitzschnell ins Wasser sprang und mit geschickten Bewegungen unter der Oberfläche entlang schoss, kleinen silbrigen Fischen hinterher. Als Mimoun sich genauer umsah, entdeckte er mehr von dieser Drachenart. Vor allem Jungdrachen, die gerade lernten, Beute zu machen. Zwischen ihnen hatte er seinen schnell aus den Augen verloren. Kurz keimte Sorge in ihm auf. Wenn er aber an die Szene im Gebäude zurückdachte, wusste er mit Sicherheit zu sagen, dass sein Kleiner sich bemerkbar machen würde, sollte er Anstalten machen zu gehen.

Nachdem der Geflügelte den Wasserschlauch aufgefüllt hatte, ließ er sich am Ufer nieder und beobachtete das Spiel der Kleinen. Ab und zu sprang einer von ihnen aus dem Wasser und versuchte eine vorüberschwirrende Libelle zu erhaschen. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Es hielt Mimoun nicht lange dort. Er watete knietief ins Wasser und lauerte. Er suchte Fische, die zu groß waren, um als Futter für die Kleinen zu dienen. Kaum hatte er das Abendessen für sich und Dhaôma entfernte er sich vom Ufer. Keine Reaktion erfolgte in dem Bach.

„Bis morgen.“, winkte er laut und beinahe sofort sprang einer der Winzlinge aus dem Wasser. Er fiel nicht zurück zu Boden, sondern schwebte auf ihn zu und schlängelte sich um die erstaunt gehobenen Finger. Nass und kühl fühlte sich der Winzling nun an, aber nicht unangenehm.

„Du kannst fliegen?“ Ein Quäken war die einzige Antwort und schon verbiss sich das Tierchen in den gefangenen Fischen. Mimoun lachte auf. „Immer noch Hunger oder einfach erfolglos gewesen?“

Er hielt sich nicht weiter mit reden auf, sondern schwang sich in die Lüfte und nutzte das letzte Licht des Tages, um zu ihrem Rastplatz vom Nachmittag zu gelangen. Dort hoffte er, seinen Magier wieder zu finden.
 

Dhaôma wartete mit leichter Ungeduld auf Mimoun, aber wie schnell war das vergessen, als ein Erddrache sich näherte und ihn dann reglos fixierte, sobald er ihn bemerkte. Still und starrend saß er da, geduckt, lauernd oder auch neugierig. Und während Dhaôma zurückstarrte, hörte er Mimoun kommen. Die Flügelschläge waren ganz eindeutig die seines Hanebito. Dennoch rührte er sich nicht. Viel zu neugierig war er, warum dieser Drache sich so seltsam benahm.

Als Mimoun allerdings zur Landung ansetzte, zuckte der Blick hinauf, dann verschwand der Drache so schnell, dass man ihm kaum folgen könnte.
 

„Entschuldige.“, gab Mimoun von sich, nachdem er aufgesetzt hatte. Er hatte gesehen, was sein Erscheinen angerichtet hatte. „Ich hatte nicht vor, ihn zu vertreiben. Beim nächsten Mal bleib ich auf Abstand.“ Er pflückte seinen Minidrachen von den Fischen und präsentierte sie stolz. „Abendessen oder Frühstück. Ganz wie dir beliebt. Nur für Feuer müssten wir hier irgendwie sorgen, falls sich die Drachen nicht dadurch gestört fühlen.“
 

„Glaube ich kaum. Immerhin gibt es sogar Feuerdrachen, die hier leben. Da könnten wir fast nachfragen, ob sie uns Feuer zur Verfügung stellen.“

Er schnupperte an dem Fisch, der schon blutige Stellen hatte. Offenbar hatte der Kleine großen Hunger gehabt. „Iss du ruhig schon heute. Du magst es doch, wenn er noch warm ist, nicht?“
 

„Nicht unbedingt warm.“, korrigierte Mimoun mit lehrmeisterisch erhobenem Finger. „Frisch.“

Während er die anderen für Dhaôma zur Seite legte, nahm sich der Geflügelte den bereits angefressenen. Mit geschickten Bewegungen schälte er einen kleinen Streifen aus der Flanke des Fisches und spielte damit vor der Nase des kleinen Blauen, der auf seinem angezogenen Knie thronte.

„Ich habe einen Bach gefunden.“, erklärte Mimoun zwischen zwei Bissen und löste den prall gefüllten Wasserschlauch von seinem Gürtel. „Da waren vor allem Jungtiere wie er. Sie haben Jagen geübt. Im Wasser. Er ist ein besserer Schwimmer als du. Und er kann fliegen. Schau.“

Er hielt den Fischstreifen ein wenig entfernt hin. Zu weit, als dass der Kleine danach greifen konnte. Potestierenden und jammerndes Quäken und Fiepsen waren die einzigen Erwiderungen. Er flog nicht.

„Na komm. Ich weiß, du kannst es.“
 

„Ich weiß es.“, sagte Dhaôma lächelnd. „Seine Mutter konnte es auch. Ich habe sie gesehen.“ Dann kicherte er aber. „Vielleicht ist er müde vom Schwimmen. Ich muss heute auch früh schlafen, immerhin will ich morgen früh alles anschauen, was heute nicht mehr geklappt hat. Mimoun, die Insel ist riesengroß! Wir werden Tage oder Wochen brauchen, um alles zu erkunden!“
 

„Ich weiß.“, lächelte der Angesprochene. „Und so wie es aussieht, haben wir ja nun auch Tage, um sie zu erkunden.“

Gemütlich beendete er seine Mahlzeit und versuchte auch nicht seinen Minidrachen erneut zum Fliegen zu überreden.

Doch plötzlich entgleisten ihm alle Gesichtszüge. „Nicht nur Tage. Wochen, Monate.“, keuchte er auf. Entsetzt sah er Dhaôma an. „Wenn die Insel länger über Land schweben würde, wüssten wir von ihr. Sie wird bereits wieder über das Wasser ziehen. Sie ist zu schnell. So weit kann ich mit dir nicht fliegen.“
 

Dhaôma nickte und zuckte mit den Schultern. „Ich werde einen Drachen haben, der mit mir fliegt, nicht wahr? Deswegen bin ich doch gekommen.“ Er schüttelte den Kopf. „Natürlich könnte es sein, dass ich auch so einen Zwerg bekomme, wie du hast, aber andererseits können wir erst wieder gehen, wenn die Mutter uns das erlaubt. Du solltest dir darüber erstmal nicht so viele Gedanken machen, okay?“ Weich glitten seine Finger über Mimouns Stirn, um die Falten zu glätten.
 

„Selbst ohne dich könnte ich nicht mehrere Tage ohne Pause durchfliegen.“ Mit geschlossenen Augen lehnte er sich gegen die Finger. „Wir werden mindestens ein Jahr weg sein, ohne eine Nachricht schicken zu können. Wieder keinen Hinweis auf meinen Verbleib für meine Familie. Ich konnte sie nicht einmal vorwarnen.“ Der Geflügelte spürte ein leises Stupsen an seinem Hals. Mit einem traurigen Lächeln glitten seine Finger über den kleinen Körper.

„Aber du hast Recht. Kümmern wir uns um ein Problem nach dem andern. Erst dein Drache. Dann die Mutter. Und zum Schluss unsere Rückkehr.“

Der Geflügelte löste sich von seinem Freund und rollte sich an der Stelle zusammen, an der er den Nachmittag verschlafen hatte. Sein Baby setzte er wieder in das provisorische Nest, wo es erwartungsgemäß nicht lange blieb.
 

Dhaômas Lächeln verschwand. Mimouns Familie... Seit dem letzten Zusammenstoß mit ihnen war er nicht mehr so gut auf sie zu sprechen.

Die Knie anziehend schlang er die Arme darum und legte das Kinn darauf, ließ seinen Blick weit in die inzwischen vollkommene Dunkelheit schweifen. Sein Versprechen, Drachen zu finden, hatte er erfüllt. Auch jenes, dass es Mimoun immer noch gut ging. Aber egal, was er noch schaffen würde, in dieser Familie war und würde er immer ein Störenfried sein. Das lag nicht zuletzt daran, dass sich Cerel immer aus allem heraushielt. Nachdem er Leoni kennen gelernt hatte, wusste er, dass Cerel niemals herzlich gewesen war, sondern dass sie alles laufen ließ, sich nicht anstrengte, die Familie zu unterstützten. Sie überließ es Mimoun, sich um Silia zu kümmern, half nicht wirklich bei Problemen und erzog das Gör nicht. Sie hatte ihren Lebenswillen verloren, seitdem sie ihren Mann verloren hatte, auch wenn man das nicht gleich sah.

Und Silia war für ihn der Inbegriff einer verwöhnten, eingebildeten, egoistischen Sumpfkuh. In seinen Augen war es nicht schlimm, wenn sie nicht wussten, wo sich Mimoun befand, aber für Mimoun war es wichtig, dass die Verbindung zu seiner Familie bestehen blieb. Irgendwie fühlte er sich schlecht, weil er so dachte, aber er konnte sich auch nicht dagegen wehren.
 

Eine Hand wanderte suchend durch die Dunkelheit. Er wollte schlafen, aber Dhaôma kam nicht wie erwartet zu ihm kuscheln. Als seine Finger endlich auf warmen, weichen Widerstand stießen, zog er ihn unnachgiebig in seine Arme, darauf bedacht das Federgewicht, das sich wieder in seine Halskuhle gelegt hatte, weder zu verschrecken noch zu zerquetschen.

„Tut mir Leid. Ich hätte nicht mit solch kleinen Problemen kommen dürfen. Mach dir darum keinen Kopf, hörst du?“, murmelte er im Halbschlaf und war völlig eingeschlafen, bevor er eine Antwort hören konnte.
 

„Sicher.“, murmelte Dhaôma und streichelte sanft über die Arme. Auch er schlief ein, aber sein Schlaf war nicht entspannend.
 

*************
 

Stellt euch das mal vor, Torateh ist das wirklich passiert. Okay, es war kein Drache, nicht mal ein Reptil, sondern ein Frosch, aber er klammerte sich so fest an ihre Finger, dass er selbst durch Schütteln nicht mehr abging. Es war also ein ERFAHRUNGSBERICHT, dass Mimouns blauer Wurm so geklammert hat ^^

Entführung

Kapitel 42

Entführung
 

Und er war am nächsten Morgen früh wieder wach. Er machte sich auf die Suche nach Feuerholz und stellte nach der ersten Ladung fest, dass er gar keinen Feuerstein mehr besaß. Der lag noch immer am Strand. Er hatte ihn nicht mitgenommen. Und Mimouns Drache war offenbar ein Wasserdrache, wenn er doch so gut schwimmen konnte.

Seufzend kehrte er zurück und setzte sich neben Mimoun, wühlte sich durch seine Samen, um sein Frühstück zu finden. Am Ende entschied er sich für einige weiße Wurzeln und Blaubeeren, die sättigten. Seine Magie war bereits zu einem Teil wieder zurückgekommen, da konnte er sie auch nutzen.
 

Sich ausgiebig streckend, zeigte Mimoun an, dass er langsam aus dem Traumland zurückkehrte. Ein Quäken ließ ihn erstarren. Als er sich suchend umsah, saß der Winzling auf seiner Brust und blinzelte ihn aufmerksam an.

„Essen ist dort.“, teilte er seinem Baby mit, denn das war es, was der Kleine vermutlich wollte, doch die tiefen, dunkelblauen Augen fixierten ihn weiter. Missmutig brummend ließ Mimoun den Kopf wieder sinken und verbarg das Tierchen einfach unter seiner Hand. „Ich hoffe, du lernst schnell in meinem Kopf zu sprechen wie deine Artgenossen.“ Mimouns Blick glitt erneut umher und hatte Dhaôma bald ausgemacht. „Guten Morgen.“, begrüßte er diesen mit einem Lächeln. „Na? Gut geschlafen in deiner ersten Nacht auf der Dracheninsel?“ Der Winzling schob seinen Kopf durch die Finger hindurch.
 

„Ja.“, nickte Dhaôma. „Wenn auch nicht viel. Blaubeeren?“ Er hielt seinem Freund ein paar hin. „Es tut mir Leid, dass ich deinen Fisch nicht essen kann, aber ich kann kein Feuer machen, deswegen bin ich vorübergehend auf pflanzliche Kost angewiesen.“
 

„Oh.“, war Mimouns einzige Erwiderung. „Kein Problem. Dann werd ich beim nächsten Mal einfach weniger fangen.“

Der Geflügelte griff sich eine der Beeren und machte sich dann lieber daran, die Fische gänzlich zu vernichten, damit sie nicht umsonst gestorben waren. Sein neuer Anhang beteiligte sich fleißig.

Nach der langen Nacht und dem ausreichenden Mahl fühlte er sich besser und endlich nahm sich Mimoun die Zeit, seinen Drachen mal wirklich in Augenschein zu nehmen. Winzig, fragil und von einem unbeschreiblich schönen Blauton. Die tiefen Augen blickten ihn groß und unverwandt an. Die beiden Füßchen krallten sich an seinem Finger fest, während sich sein Hinterleib einmal darum schlang. Vom Kopf bis zum Rücken ragten kleine, unterschiedlich lange Stacheln aus seinem Körper, zwischen denen sich feine Häute spannten, blass, beinahe durchsichtig. An seinem Schwanzende befanden sich ebenfalls Stacheln, die rückwärts gerichtet waren. Wenn er größer wäre und damit zuschlug, könnte er sicher böse Wunden reißen.

„Tyiasur.“, murmelte er. Dieses Wort kam ihm plötzlich in den Sinn. Es gefiel ihm, auch wenn er nicht wusste, ob es eine Bedeutung hatte. „So nenn ich dich.“ Der Drache sah ihn nur weiter unverwandt mit nun schräg gelegtem Kopf an.
 

„Tyiasur?“, fragte Dhaôma neugierig. „Das klingt nett.“ Dennoch musste er kichern. Wenn er bedachte, was es in der alten Sprache übersetzt hieß, konnte er nicht anders. Pusteblume als Namen für einen Drachen war einfach zu komisch.
 

„Also abgemacht.“ Der Geflügelte hob den Drachen an sein Gesicht und drückte zärtlich die Nase gegen ihn, was dieser mit einem Fiepsen und stärkerem Druck erwiderte. Dhaômas Kichern bemerkte er nur am Rande, aber er schob es auch wieder auf die Tatsache, dass er nun erneut ein Baby hatte. Den Magier hatte schon die Familienzusammenführung im Saal der Nester unglaublich Spaß gemacht.

Fließend erhob er sich, setzte sich den kleinen Drachen wieder auf die Schulter und hielt Dhaôma eine Hand entgegen. „Na komm. Wir brauchen noch einen richtigen Unterschlupf und einen Überblick über die Insel. Und der Tag ist noch jung. Fangen wir also gleich an.“
 

„Lass uns erst nach dort gehen!“, rief Dhaôma sofort, zog sich hoch und zeigte dann in die gewünschte Richtung. „Da hinten gibt es einen Wald! Einen richtigen, echten, großen Wald! Vielleicht lerne ich neue Pflanzen kennen! Außerdem ist es schon lange her, dass ich in einem Wald gewesen bin!“
 

Uh. Genau. Wälder. Toll. Sein Gesicht nahm einen gespielt leidenden Ausdruck an, als er fröhlich jauchzender Stimme meinte: „Wie hab ich das vermisst.“

Aber dennoch war er neugierig auf diesen Wald. Diese Insel flog weit höher als die, die er kannte. Und auf seinen war es zeitweise schon schwer, nur einen Baum am Leben zu erhalten. Hier warteten so viele Wunder auf sie, die es zu entdecken galt. Gut gelaunt ergriff er Dhaômas Hand und lief los.
 

Gespielt beleidigt stupste Dhaôma seinem schwarzhaarigen Freund in die Rippen, folgte dann aber.

Um zu dem Wald zu kommen, mussten sie ziemlich weit laufen. Und immer wieder flogen über ihren Köpfen Drachen hinweg, die irgendwo zum Rand der Insel wollten. Vielleicht wollten sie Fische fangen. Ihnen fiel es wahrscheinlich nicht schwer, die Insel zu erreichen. Und dann mussten sie hinab. Immer weiter den Hügel hinunter, den Wald konnten sie am Fuß schon erkennen. Offenbar lag er in einem Tal. Und je näher sie kamen, desto ungewöhnlicher wurde es. Die Pflanzen waren ihm nicht unbedingt unbekannt, aber ihre Ausmaße waren gigantisch. Dann wieder waren eigentlich mannshohe Bäume so groß wie sein Finger. Die Größenrelation war absolut durcheinander geraten. Das wurde in dem Moment klar, als sie einen Pilz fanden, unter dem sie gut und gerne viermal Platz hatten.

„Ich komme mir vor wie ein Käfer.“, lachte Dhaôma und versuchte auf den Pilz zu klettern.
 

„Sehr schön. Dann bin ich eine Schmeißfliege.“, lachte Mimoun und flog hoch. Auf dem Bauch liegend, die Krallen tief in den Hut gegraben, lugte er über den Rand und versuchte Dhaôma bei seinen Bemühungen zu beobachteten, was nur mittelmäßig gelang, wollte er nicht abstürzen. Tyiasur hangelte sich mit Protestgeschrei in seine Haare, an denen er sich besser festhalten konnte.
 

Der Stamm des Pilzes war weich und er konnte seine Füße in kleine Löcher stellen, die er mit den Händen machte, aber weit kam er trotzdem nicht, denn waagerecht am Hut entlang zu klettern war einfach zuviel verlangt. Lachend ließ er sich wieder zu Boden fallen.

„Hey, wenn ich so einen Pilz wachsen lassen könnte, dann würde Addars Dorf drei Tage davon satt werden!“

Er sah sich weiter um, entdeckte ein paar Büsche mit Nüssen daran und etwas weiter entfernt Erdbeeren. Große Erdbeeren.

Wieder bracht er in Gelächter aus. „Mimoun, umdrehen und dann immer der Nase nach, da liegt dein persönliches Paradies!“
 

Wenn er sich umdrehte, hatte er nur die Spitze des Pilzhutes im Blick; das konnte Dhaôma nicht meinen. Auf dem Bauch kriechend schob er sich bis ganz nach oben. Dort angekommen hellte sich sein Gesicht mit jedem Augenblick, den die Erkenntnis brauchte, weiter auf.

„Dhaôma!“, rief der Geflügelte voller Begeisterung. „Hier richten wir uns häuslich ein. Und dann lernst du das.“ Noch während er sprach, schmadderte er sich mit Pilz voll. Mit hektischen Bewegung hatte er weiterkrauchen wollen, doch die Seite des Pilzes war schon leicht matschig, so dass er darin versank. Kurz entschlossen schwang er sich in die Lüfte und flatterte hinüber. Bis zum Bauch versank er in den Pflanzen und suchte sich eine frische rote Frucht heraus. Es kostete ein wenig Kraft sie zu lösen, aber überglücklich präsentierte er sie in die Richtung des Magiers. Das Glück wurde stark geschmälert, als ein sich windender weißer Wurm aufgeschreckt aus der Beere lugte. Der Größe nach angepasst natürlich. Angeekelt ließ Mimoun diese wieder fallen. Er mochte seine Erdbeeren ohne Beilage.
 

Als Dhaôma Mimoun erreicht hatte, war der kleine Drache dabei, den um einiges größeren Wurm zu verspeisen. Offenbar mochte er auch so was. Vielleicht hatte er aber auch nur Spaß daran, den sich windenden Gegner zu beißen, wer konnte das schon sagen.

„Du willst hier bleiben? Was ist mit dem Entdeckerdrang?“ Aber es machte wirklich Spaß, Mimoun so ausgelassen zu sehen. Die Freude gefiel ihm. Und dieses verwegene Aussehen nach dem Pilzunfall und einigen Erdbeerspritzern sowieso. Leoni hätte ihn auf direktem Weg zum See geschickt.

Dann erschütterte etwas die Erde und als sie aufsahen, stand über ihnen ein Drache in hellem Grün. Seine Zunge schwirrte für Sekunden über ihnen in der Luft, bevor er damit Mimoun die aktuelle Erdbeere aus der Hand nahm und selbst verschlang.
 

Sprachlos starrte der junge Geflügelte auf seine nun leeren Hände. „Hey.“, protestierte er halbherzig. „Pflück dir gefälligst deine eigenen! Sind doch genug da!“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, rupfte er sich eine weitere vom Stängel. Aber auch diese war plötzlich verschwunden. „Das ist doch...“ Jetzt wurde er langsam wütend. Niemand stellte sich zwischen ihn und seine Erdbeeren. Erst recht nicht, wenn sie solch ansprechende Größe besaßen! Mit eher minderem Erfolg stemmte er sich gegen das Bein des Untieres. „Verschwinde. Such dir einen eigenen Futterplatz.“
 

Der Drache betrachtete sich das Wesen an seinem Bein. Er schien nachzudenken. Und aß dann die nächste Beere.

Währenddessen nahm Dhaôma den kleinen blauen Drachen von der Beere am Boden, bevor das riesige Vieh ihn versehendlich noch mitaß. Die Reaktion war heftiger als erwartet: er wurde stocksteif und dann, ganz plötzlich, blähte er sich auf.

„Uah!“, rief Dhaôma und hätte den Kleinen fast losgelassen, denn winzige Nadeln bohrten sich in seine Haut.
 

Schlagartig war der Erdbeerenräuber uninteressant. Hektisch und alarmiert wandte sich Mimoun um, doch alles was er erblickte, war ein verunsicherter Magier mit einem blauen Ball in der Hand. „Was zum...?“ Dieser stachelige Ball hatte die Augen seines Drachens. „Tyiasur?“

Zögerlich streckte er die Hände nach dem Tier aus und nahm ihn vorsichtig aus Dhaômas Fingern. „Hey. Alles okay.“, redete der Geflügelte beruhigend auf das Baby ein. Man konnte richtig dabei zusehen, wie die Luft entwich und es seine ursprüngliche Form annahm. Nun konnte Mimoun nicht anders als zu lachen. „Schwimmer, Flieger und Ball. Mal schauen was du sonst noch so alles drauf hast.“

Neben ihm ging eine weitere Erdbeere den Weg allen Irdischen und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf das große Exemplar. Kurz schenkte er seinem Magier ein liebevolles Lächeln. Schließlich hatte dieser das getan, wozu Mimoun verdammt worden war, nämlich auf das Baby aufzupassen. „Danke.“
 

Sich seine Hände betrachtend zuckte Dhaôma mit den Schultern. Die Linien auf seinen Wangen begannen zu leuchten und die Wunden schlossen sich. Viel schneller als gewöhnlich!

Und im nächsten Moment schien die Zeit still zu stehen. Der Drache hielt mitten in der Bewegung, eine Erdbeere mit seiner Zunge zu sich zu holen, inne und starrte ihn an. Viele andere Geräusche im Wald änderten sich, wurden leiser, bevor der Drache seine Haltung änderte. Mächtige Schwingen breiteten sich aus, bevor er Dhaôma mit seiner Zunge umfasste und umgehend losflog, einfach stur und auf geradem Weg durch die Äste und Zweige des Waldes brechend.

Viel zu erschrocken, um zu schreien, schickte Dhaôma Mimoun einen Hilfe suchenden Blick, doch der Geflügelte war schon aus seinem Sichtfeld verschwunden.
 

Alles ging zu schnell, als dass er hätte reagieren können. Dann brauchte er aber nur den Bruchteil einer Sekunde. Er wirbelte auf dem Absatz herum und schwang sich in die Lüfte. Seinen Winzling stopfte er ohne viel Federlesen unter sein Hemd.

Eine ganze Weile konnte er dem Tier folgen, doch nicht nur dessen Größe und Geschwindigkeit forderten von Mimoun all seine Kräfte: Er war die geringe Luftdichte hier oben einfach nicht gewohnt. Immer weiter fiel er hinter dem grünen Untier zurück. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig. Er musste landen, wenn er nicht wie so häufig in den letzten Tagen einfach abstürzen wollte. Er wählte die höchste Baumspitze im Umkreis.

„Gib mir sofort meinen Magier zurück, du überdimensionale Eidechse!“, fluchte er lauthals. Keine Antwort. Verzweifelt raufte er sich die Haare. „Drachen sind friedliebend, hat er gesagt!“ Tyiasur lugte aus seinem Hemd hervor, blinzelte ihn verwirrt an. „Toll. Aber Entführung ist drin, oder was?“

Nach einigen Minuten Rast folgte er weiter der Richtung, in der der Drache mit seiner Last verschwunden war. Es brachte nichts mehr, sich die Seele aus dem Leib zu hetzen, und so flog er gemächlicher und hielt eher nach Spuren am Boden Ausschau. Irgendwann musste das Viech doch wieder gelandet sein.
 

Ihm wurde fast die Luft genommen, so schnell flog der Drache, und wegen des scharfen Flugwindes sammelte sich viel zu viel Wasser in seinen Augen, als dass er etwas sehen konnte. Faktisch blind, taub und stumm war Dhaôma dem Gutdünken des Drachen ausgeliefert und gerade überlegte er, ob er dem ein Ende machen sollte, da ging es plötzlich abwärts. Wenig später wurde er unsanft abgesetzt und hörte schon den Drachen starten, als er eine Stimme in seinem Kopf hörte: „Hilf.“

„Ja, sehr hilfreich, wenn du mir nicht sagst, wobei.“, murrte der Braunhaarige und wischte sich das Wasser aus den Augen, aber der Drache war schon verschwunden. Zaghaft sah sich Dhaôma um und erhob sich. Fast augenblicklich wurde er von einem reißenden, fast unerträglichen Wind ergriffen. Er befand sich auf einer Klippe. Scharfe Felsen ragten rechts von ihm in die Höhe und um ihn herum wuchs fast nichts, nur ein paar zähe Flechten konnten sich hier halten. Und unter dem Pfeifen des Windes hörte er ein tiefes Grollen. Was war das?

Unsicher suchte er nach Mimoun, konnte ihn jedoch weder sehen noch antwortete er, wenn er nach ihm rief. Wahrscheinlich hatte der Drache ihn abgehängt. Sein Armer Freund war höchstwahrscheinlich in größter Sorge um ihn und suchte ihn jetzt. Er sollte sich auf die Suche nach ihm machen.

Wieder erklang das Bauch füllende Dröhnen und die Idee, nach Mimoun zu suchen, verschob er nach hinten. Er wollte wissen, was das war!

Zuerst versuchte er in der flachen Umgebung das zu suchen, was das Geräusch verursachte, doch da war nichts. Es fiel höchstens auf, dass hier nicht ein einziger Drache zu sehen war. Warum? Gab es hier etwas Gefährliches? Warum wollte der Drache, dass er half? Wobei?

Jetzt von brennender Neugier erfasst, suchte er einen Weg über die Klippen. Es war hart, einfach nur so dort zu klettern, aber mit dem Wind fast unmöglich. Schon nach kurzer Zeit hatte er das Gefühl, dass er keine Luft mehr bekam. Er kannte das, denn bei dem Erklettern des Drachenfriedhofs und seinen ersten Wochen auf den Inseln war es ähnlich gewesen. Mimoun hatte ihm mal erklärt, dass das an der dünnen Luft in großen Höhen lag. Und hier waren sie noch höher als jemals zuvor.

Notgedrungen suchte er einen Weg um die Klippen herum und hatte tatsächlich Glück. Da gab es einen Durchgang, der zwar von endlos scharfen Steinsplittern ausgelegt war, aber er musste nicht klettern. Hier klirrte es und verbreitete eine angenehme Melodie. Hübsch, war Dhaômas erster Gedanke, der sich allerdings nur hielt, bis er einige Schritte in den Durchgang gesetzt hatte. Urplötzlich wurde der Wind stärker, zerrte so unvermittelt an seinen Kleidern und Haaren, dass er zurückwich, dann kamen die Steinsplitter geflogen. Die ersten stießen wie Nadelspitzen in sein Fleisch, so dass er das Gesicht abwandte, die nächsten waren schon größer. Entsetzt flüchtete der Magier in Sicherheit. Daher also diese klirrende Melodie. Das war der Wind, der über die Steinsplitter wehte und sie damit leicht bewegte!

Hier war also auch kein Durchkommen, außer er könnte den Wind stoppen wie damals bei dem Gewitter. Nur wie er das gemacht hatte, konnte er nicht mehr genau sagen. Schön blöd.

„Au.“, murmelte er, als ihm brennend die kleinen Wunden wieder zu Bewusstsein kamen. Das war auch blöd, verdammt. Mit einem unwirschen Gedanken initiierte er die Heilung und war erstaunt, als die Wunden einfach geschlossen waren. Kein Prozess, kein Zusehen, sie waren einfach weg, als wären sie nie da gewesen! „Was zum…“ Erstaunt versuchte er das zu begreifen, scheiterte aber. Das hatte er noch nie erlebt. Aber vielleicht war das auch ein Zauber dieser Insel. Das wäre wirklich toll!

Aber sein aktuelles Problem war, wie er über diese Klippen kam. Klettern kam einfach nicht in Frage, wie er nach einem weiteren Versuch feststellte. Die Felsen waren zu scharfkantig und teilweise zu glatt, um daran hinaufzuklettern. „Mimoun, du hättest damit keine Schwierigkeiten.“, murmelte er, dann seufzte er. Im Grunde hatte er zwei Möglichkeiten: erstens konnte er Mimoun suchen und ihn bitten, ihn über diese Klippen zu tragen, oder zweitens konnte er lernen, seine Magie zu benutzen, um durch den Durchgang zu kommen. Die erste Variante erschien ihm schon wegen der Aussicht, dann bei Mimoun zu sein, viel angenehmer, aber er erinnerte sich daran, dass ihm gesagt worden war, dass er wachsen sollte, um die Insel wieder zu verlassen, also war es seine Aufgabe. Der Drache hatte doch selbst gesagt: Hilf. Er hatte es zu ihm gesagt, nicht zu Mimoun.

Dhaômas Idee war einfach. Er würde sich in den Windkanal stellen und seine Magie wirken. Im günstigen Fall hörte der Wind damit auf, im ungünstigen würde er sich heilen müssen. Es war wie das Training, das er wegen Mimoun nicht machen konnte, gefährlich, aber nicht so, dass sein Leben gefährdet wurde.

Zwei Stunden später hatte er einfach keine Kraft mehr. Ja, er hatte Magie gewirkt! Auch die richtige, denn der Wind war schwächer geworden, aber irgendetwas hatte dem entgegengewirkt! Die Steinsplitter waren unaufhörlich geflogen, er hatte sich heilen müssen, was genauso einfach gegangen war wie das Mal davor, aber dennoch hatte es seine Kraft aufgefressen, von der er eh nicht besonders viel hatte. Er schaffte es einfach nicht! Er war zu schwach! Wie sollte er da helfen?

„Verzeih mir, Mimoun.“, flüsterte er erstickt. Bei dem Gedanken, so lange von seinem Freund getrennt zu sein und diesen in Sorge zu versetzen, tat ihm der Bauch weh und die Brust schnürte sich ihm zu, aber dennoch musste er versuchen, den Wünschen der Drachen zu entsprechen, damit sie eben schnell wieder auf die unteren Ebenen gelangen konnten. „Ich werde es noch ein wenig versuchen.“

Er suchte sich eine windgeschützte Stelle und schlief dort sofort ein, obwohl es noch nicht dunkel war.
 

Inzwischen hatte Mimoun den Bereich des Waldes verlassen und überflog eine Ebene. Doch nirgends zeigte sich eine Spur von seinem Magier oder dem Drachen. Der Geflügelte war sich aber auch absolut sicher, dass er diesen speziellen Drachen nicht von denen seiner Art unterscheiden konnte. Er hatte Tyiasur zwischen den anderen Jungdrachen ja auch aus den Augen verloren.

„Jetzt weiß ich, wie Dhaôma sich gefühlt hat.“, keuchte er und ließ sich im Gras auf die Knie sinken. Die dünne Luft erschwerte ihm Atmen und Fliegen.

Aufmerksam sah Mimoun sich um. Der junge Geflügelte konnte einige Drachen in Reichweite ausmachen und begab sich nach einigen Verschnaufminuten zu ihnen, darauf bedacht, dass sie ihn kommen sahen. Er wollte sie nicht erschrecken, auch wenn er nicht glaubte, dass ihm das gelingen könnte. Sein einziges Interesse bestand darin, Dhaôma wieder zu finden. Doch auf all seine Fragen bekam er nur wage Antworten, wenn überhaupt. Sein Weg führte ihn von einem zum anderen, keiner konnte ihm zufrieden stellend weiterhelfen, einige ignorierten ihn sogar!

Und schließlich kam ihm noch sein Baby dazwischen, das inzwischen wieder auf seiner Schulter saß und neugierig die Umgebung beobachtete. Hier gab es nirgends einen Fluss oder Bach oder Teich oder ähnliches. Mit einem frustrierten Seufzen schwang er sich in die Luft. Mimoun kannte bisher nur einen Bach, in dem sich das Jungtier ernähren konnte. Und Dhaôma und sicher auch die Mutter wären sehr enttäuscht von ihm, wenn er den Kleinen vernachlässigen würde.

Sein Gesicht hellte sich auf. Die Mutter. Sie hatte sie nicht hergebracht, aber dennoch von ihnen gewusst. Sie wusste sicher alles, was sich auf dieser Insel abspielte. Sie konnte ihm sicher weiterhelfen! Und schließlich hatten sie sich schon einmal getrennt und sich vor dem Gebäude wieder getroffen, ohne sich vorher abzusprechen. Wenn der Geflügelte jeden Abend dorthin zurückkehrte, würde ihn Dhaôma auch finden können.

Mit neuem Mut machte er sich auf den Rückweg.

An diesem Tag schaffte er es aber nur noch zum Bach und schließlich in tiefster Dunkelheit zu ihrem Rastplatz, wo trotz Hoffnung kein Magier auf ihn wartete. Lange stand er am Hang und sah in die Finsternis hinaus, in der sich nichts rührte. Seine Gedanken waren flüchtig; er wusste nicht zu sagen, was er dachte, und doch waren sie bei seinem Magier. Völlig übernächtigt legte er sich erst weit nach Mitternacht mit einem flauen Gefühl im Magen und ohne die vertraute Nähe zum Schlafen nieder. Tyiasur schlummerte bereits seit Stunden auf seinen um den Bauch geschlungenen Armen.

Er erwachte auch kurz nach Sonnenaufgang aus einem unruhigen Traum. Mimoun wusste nicht zu sagen, worum es dabei ging, und er war auch froh darüber. Es war nicht angenehm gewesen. Dann erst ging ihm auf, was ihn geweckt hatte. Seine Finger umschlossen fest einen blauen Ball. Erschrocken riss er seine Hände weg.

„Es tut mir Leid. Hab ich dir wehgetan?“, wollte er besorgt wissen. Tyiasur blieb länger als nötig in seiner aufgeblasenen Form und sah ihn ebenso erschreckt und fast vorwurfsvoll an. „Ich mache mir wohl schon wieder zu viele Sorgen um Dhaôma.“, erklärte er mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln und strich seinem Drachen mit der Fingerspitze vorsichtig über die Nase. Anschließend bot er ihm als Wiedergutmachung den Fisch an, den er am Abend zuvor als Frühstück aus dem Bach geholt hatte. Er selbst plünderte die letzten Reste von Dhaômas gepflanzten Beeren. Es war nicht viel davon übrig geblieben, dennoch genoss Mimoun jede einzelne davon. Es brachte ihn seinem Magier näher, auch wenn es die Leere in ihm nicht völlig vertreiben konnte.

Sobald sein Baby satt war, setzte er sich den Winzling wieder auf die Schulter und strebte dem Gebäude entgegen. Auch hielt sich der Geflügelte nicht lange mit der Betrachtung des Ganges oder der Nester auf, sondern schritt zielstrebig auf den goldenen Drachen zu.

„Verzeih, dass ich schon wieder störe, aber du weißt doch sicher über alles Bescheid, was auf dieser Insel geschieht, nicht wahr?“, begann er ohne Umschweife. „Ich wollte fragen, ob du weißt, wo Dhaôma steckt, ob es ihm gut geht.“ Hoffnungsvolle grüne Augen sahen zu dem Ungetüm empor.

„Er hat eine Aufgabe gefunden.“, erhielt er nur zur Antwort.

In einer Mischung aus Unglück und Freude verzog er das Gesicht. „Das heißt, ich darf nicht zu ihm?“, hakte er noch einmal nach. Seine Finger glitten unruhig über den Jungdrachen auf seiner Schulter, begannen ihn im Nacken zwischen den Stacheln zu kraulen.

„Wenn du ihn findest.“ Die gewaltigen Pranken legten sich gemächlich übereinander.

„Aber wo soll ich suchen?“

Die gewaltige Drachin blieb stumm, sah nur unverwandt auf das für sie winzige Geschöpf zu ihren Füßen. Nach einigen Augenblicken vergeblichen Wartens auf eine Antwort drehte sich Mimoun einfach um und verließ den Saal der Nester wieder. Direkt vor dem Eingang blieb er stehen und ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen. Sollte er nun nach Dhaôma suchen oder nicht? Auf die Hilfe der Drachen konnte er anscheinend nicht zählen.

Mit Schwung drehte er sich um und erklomm den Hügel wie schon sein Freund ein paar Tage zuvor. Es war ihm egal, was für eine Aufgabe Dhaôma hatte, ob er selbst dabei stören würde oder was sonst noch alles dagegen sprach. Der Geflügelte wollte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es seinem Freund auch wirklich gut ging.

Auf dem Bergkamm angelangt, drehte er sich mehrfach im Kreis und verschaffte sich einen groben Überblick über Landschaft und Ausmaße.

„Du musst mir helfen.“ Ein Stupsen in Tyiasurs Seite begleitete seine Worte. „Du musst auch die Augen aufhalten. Dann finden wir ihn schneller, hörst du?“ Ein Quäken war seine Antwort und er lächelte zuversichtlich. Auch wenn ihm der Kleine noch nicht antworten konnte, ging er laut seinen Plan durch, beschrieb welche Bereiche er wann durchforsten würde. Für jeden Tag nahm er sich einen anderen Teil der Insel vor. Und abends würde er zum Gebäude zurückkehren, dort die Nacht verbringen.
 

Am nächsten Morgen machte Dhaôma dort weiter, wo er aufgehört hatte, nachdem er etwas gegessen hatte, das er ebenfalls mit erstaunlicher Leichtigkeit wachsen ließ. Und wie schon am Vortag wirkte die Windmagie, die er initiierte, aber dennoch kam er keinen Schritt vorwärts. Es war zum Verrücktwerden! Was sollte er denn sonst noch machen? Inzwischen hatte er sich festgebissen an dem Problem, dabei wusste er gar nicht, ob dahinter auch das lag, was er suchte. Bis zur Erschöpfung machte er weiter und hatte vor Mittag schon einen Erfolg zu verzeichnen: er konnte zwei Schritte näher an die Engstelle des Durchgangs heran als zuvor.

Dann schlief er wieder, um Kraft zu sammeln. Der Traum von Mimoun, der nach ihm rief, brachte ihn zum Weinen, aber er wollte das hier alleine schaffen. Es tat ihm nur Leid, dass er ihm nicht Bescheid sagen konnte. Wer wusste schon, wo Mimoun jetzt war.

Nach seiner Pause am Mittag machte Dhaôma noch am Nachmittag einen neuen Versuch. Diesmal ging er ganz anders an die Sache heran, denn er beschloss, einfach alle Magie, die er hatte, in das Auflösen des Windes zu stecken. Das könnte gefährlich werden, wenn er danach nicht rechtzeitig aus dem Trichter herauskäme, aber er wollte es schaffen. Also stellte er sich mit aller verfügbaren Kraft gegen den Wind und initiierte Magie. Er spürte, wie die vertraute Wärme ihn durchströmte, dann ließ der Wind nach. Eilig machte er ein paar Schritte vorwärts, froh, dass der Wind noch nicht wieder zurück war.

Und dann setzte seine Magie plötzlich aus, war vollkommen aufgebraucht. Mit voller Wucht packte ihn der Wind und schleuderte ihn zu Boden, blies ihn noch ein wenig weiter über die scharfkantigen Scherben. Auf ihn regneten Splitter hinab, die an Wucht verloren hatten, aber er bekam es kaum mit. Mit letzter Kraft zog er sich aus dem Gefahrenbereich und rollte sich in einer Kuhle zusammen.

Es dauerte, bis er wieder erwachte, denn die sich regenerierende Kraft nutzte er zur Heilung. Dann suchte er sich etwas zu essen und zu trinken, während immer wieder das tiefe Grollen zu hören war. Gerade als er zurückkam, sah er etwas Erstaunliches: einer der großen Drachen kreuzte über ihn hinweg und ließ etwas fallen, das an der Stelle landete, die er erreichen wollte; hinter den spitzen Felsen. Das Grollen setzte aus, der Drache wirbelte durch die Lüfte und fing sich gerade so wieder, bevor er den Boden erreichte. Dhaôma war sich sicher, dass er einen Fisch hatte fallen sehen. Einen großen Fisch. Wofür? War da hinter den Felsen jemand, den man füttern musste? Ein Gefangener vielleicht?

Entsetzt schüttelte er den Kopf. Ein Gefangener käme sicher leichter heraus als er hinein. Aber warum sonst sollte jemand Essen an eine so gefährliche Stelle schicken? Nein, er musste sich vergewissern! Wenn da wirklich jemand gefangen gehalten wurde, dann würde er das ändern! Und dazu musste er durch diesen Durchgang!

Ein Entschluss setzte sich fest und Dhaôma machte sich an die Vorbereitung. Er polsterte seine Kuhle mit Moos aus und ließ ein paar essbare Büsche wachsen, die ihn noch ein wenig mehr schützten, dann suchte er Wasser und deponierte es neben seinem Schlafplatz, dann legte er sich wieder zur Ruhe. Er würde sich jetzt einfach die Zeit nehmen, all seine magische Kraft zurückzuerlangen, dann würde er es erneut versuchen! Den Dreh hatte er schließlich raus, nur die Kraft reichte einfach nicht. Aber er würde es schaffen!

Den ganzen Tag über ruhte er sich aus, machte nur einmal einen Spaziergang an den spitzen Felsen entlang, um zu sehen, wie groß der Ort dahinter sein mochte. Die erstaunlichste Entdeckung, die er machte, war wohl die, dass die Felsen direkt mit dem Ende der Insel abschlossen und dahinter nichts kam außer Sturm mit Blitzgewitter zu seinen Füßen und Sonnenschein über seinem Kopf. Aber der Wind war auch hier recht scharf. Das bedeutete, dass der möglicherweise Gefangene irgendwo auf der anderen Seite saß. Vielleicht konnte er nicht fliegen! Oder er war durch einen Unfall an diese Stelle gelangt und konnte dort nicht mehr weg! Bei dem Wind war das Starten sicher nicht möglich.

Aufregung machte ihm das Warten schwer, aber dennoch zwang er sich, auch die Nacht noch zu ruhen. Er wollte es schaffen, also durfte er nicht ungeduldig werden!

Dann war es soweit. Frisch und ausgeruht machte er sich bereit, dieses Hindernis zu überwinden. Er fühlte sich stark genug, um einen Baum wachsen zu lassen, das musste reichen. Wie das Mal davor, holte er tief Luft, bevor er in den Luftstrom trat und Magie fließen ließ. Und tatsächlich hielt der Wind inne und ließ ihn vorwärts gehen. Das Grollen versiegte und Dhaôma trat durch den schmalen Durchgang in den dahinter liegenden Raum. Es war eine große Plattform kahlen Steins. Es gab gar nichts. Nur ein Drache kauerte sich an eine der Wände und blickte ihm entgegen. Wie auf dem Präsentierteller saß er da und starrte ihn an, viel zu groß, um durch den schmalen Weg zu passen. Allein sein Körper war mindestens doppelt so lang wie er selbst groß war und endete in einem ebenso langen Schwanz. Grünlich rot schillernd waren seine Schuppen, bildeten komplizierte Muster auf seinem Körper. An seinen Füßen prangten weiße, dolchartige Krallen, sein Kopf war Dornenbewehrt, aber sein Rücken war glatt, genauso wie seine Flanken oder sein Schwanz. Die Flügel hatte er ordentlich gefaltet.

Erstaunen wanderte durch die goldenen Augen, als der Kopf mit dem langen Hals sich hob. Die Nüstern blähten sich schnupperten in seine Richtung. Der Drache machte einen fragenden Laut, dann tat er einen Schritt auf ihn zu.

Dhaôma musste lächeln. „Bist du hier gefangen?“

Zusammenzuckend zog der Drache den Kopf ein, versuchte sich zu verstecken. Hastig hob Dhaôma die Hände.

„Ich bin nicht hier, um dir wehzutun, ich bin hier, um dich kennen zu lernen. Warum bist du hier und nicht da draußen, wo du mehr Platz hast? Wo du frei fliegen kannst und nicht vom Wind behelligt wirst?“

Der Drache duckte sich noch ein wenig mehr. Bemitleidenswert, fand Dhaôma. Als wäre es wirklich seine Strafe, dass er hier war.

„Kannst du nicht sprechen?“

Es kam keine Antwort und Dhaôma spürte, wie seine Kräfte nachließen.

„Hör mal, wenn du Angst hast, dann rede mit mir darüber! Ich komme bestimmt wieder! Sobald ich stark genug dafür bin!“ Der Wind wurde stärker und zerrte an Dhaômas Kleidern, drückte die Flügel des Drachen gegen dessen Flanke. Vor seinen Augen wurde der schöne Große möglichst klein und versteckte den Kopf. Und wieder hörte der Magier das tiefe Grollen und plötzlich wusste er mit erschreckender Klarheit, dass es ein hoffnungsloses Seufzen war.

„Was ist mit dir?“, brüllte Dhaôma, doch der Wind riss seine Stimme mit und erfasste ihn mit aller Macht. Vor ihm schossen Regentropfen durch die Luft, wurden zu Eis und schlugen die kleinen Scherben aus dem Stein, die durch den Gang fegten. Sie trafen auch den großen Drachen. Kam daher das Rot?

„Ich komme wieder!“, aber wahrscheinlich hörte der Drache das nicht mehr. Dhaôma wurde mitgerissen und schlitterte über die Scherben den Gang entlang hinaus aus der Felswanne. Mit einem Hechtsprung beförderte er sich aus der Gefahrenzone und blieb schwer atmend liegen. Ungewollt quoll Hoffnungslosigkeit und Mitleid in ihm hoch. Warum tat der Drache sich das an? Was hatte er davon? Hatte er etwas ausgefressen und wurde dort bestraft? Aber diese Strafe war zu hart! Ständig diesem Wind ausgesetzt zu sein, musste an den Kräften zehren. Die Kälte dort oben war nicht gut für Echsen! Sie brauchten doch Wärme!

„Jetzt weiß ich, was er mit Helfen meinte. Natürlich werde ich ihm helfen.“, flüsterte Dhaôma in den Wind. Sobald er das Problem herausgefunden hatte, würde er damit anfangen.

Müde kuschelte er sich auf dem Moos zusammen und schloss die Augen. Wenn Mimoun da wäre, könnte er mit ihm darüber reden, aber so musste er eben mit diesen schweren Gefühlen allein klar kommen. So wie früher.
 

Als erstes nahm sich der Geflügelte den verdrehten Wald vor, in dem er Dhaôma gestern verloren hatte. Vielleicht war ihm der Landeplatz des Drachens verborgen geblieben. Vorsichtig, beinahe zärtlich berührte er die Löcher, die Dhaôma in den Pilz gebohrt hatte und schritt einmal um diesen herum. Die Erdbeeren, die ihnen, wenn auch unbeabsichtigt, zum Verhängnis geworden waren, würdigte er keines Blickes, als er durch das Feld tief in den Wald schritt.

Fast sehnte er sich nach den Wäldern, die er mit Dhaôma unten hatte durchwandern müssen. Die verdrehten Größenverhältnisse machten ein Durchkommen zeitweise unmöglich. Die schlanken Drachen ohne Beine und nur mit libellenartigen Flügeln umschwirrten ihn neugierig und luden ihn zum Spielen ein. Sie verstanden nicht, dass er keine Zeit für sie hatte. Andere wiederum kletterten die meterhohen Grashalme empor und schauten von den sich nach unten biegenden Spitzen auf die Neuankömmlinge herab.

Erschöpft und müde kehrte er am Abend zu dem Rastplatz zurück. Keine Spur von seinem Magier. Weder im Wald noch hier. Dafür hatte er einen kleinen Morast gefunden. Sein Drache war begeistert den durch den Schlamm hüpfenden Fischen hinterher gejagt - sie imitierend. Mimoun hatte ihm eine zeitlang seinen Spaß gelassen, war er doch noch ein Baby und musste lernen. Als der Tag aber unaufhaltsam weiter geschritten war, watete er in den Schlamm, um seinen Kleinen wieder einzufangen, der auf Rufe einfach nicht reagieren wollte. Doch kaum war er bis zu den Knien hineingewatet, kam Mimoun nicht mehr von der Stelle. Dafür versank er aber immer weiter. Auf seine hektischen Bewegungen und sein Fluchen kam Tyiasur angeschossen und zog eine Schlammspur über Hose und Hemd, als er daran hoch kroch. Augenblicke später versank Mimoun nicht weiter, dafür steckte er in Erde fest. Es war ihm nun leichter, sich zu befreien, doch verlor er einen seiner Schuhe, den er erst mühsam frei buddeln musste.

Am nächsten Tag wollte er über die Steppe hinter dem Wald fliegen, entschloss sich nach der Schlammschlacht am Vortag aber lieber erst dem Bach zu folgen und sich und seine Kleider zu reinigen. Tyiasur befand sich voll in seinem Element und tobte herum, jagte Fische und Kaulquappen, ohne sie wirklich erwischen zu wollen.

Nach der kurzen Reinigung folgte Mimoun dem Bachlauf, immer einen Blick ins Wasser werfend. Sein Baby folgte ihm, sprang heraus und flog ein Stückchen, bevor es pfeilschnell wieder eintauchte. So konnte er auch schnell reagieren, als Tyiasur auf einen Fisch traf, dem er nicht gewachsen war. Zwar rettete ihn sein ballonförmiger Körper, der verhinderte, dass der Fisch ihn schlucken konnte, doch nach einem gezielten Hieb von Mimouns Krallen wurde aus dem Jäger die Beute. Nach diesem Schreck verbrachte der Jungdrache den Rest des Tages auf der Schulter seines großen Beschützers.

Der Bach mündete in ein Teichsystem, das sich teilweise über mehrere Stufen erstreckte. Das Schilf, das hier zahlreich wuchs, war faserig und weich, wiegte sich sanft in leisem Wind hin und her. Farbenfrohe Libellen tanzten über das Wasser. Am äußersten Rand erhoben sich mehrere Trauerweiden, die ihre Zweige in die Teiche hängen ließen. Der ganze Ort strahlte Frieden aus. Diesen Platz würde er Dhaôma zeigen, sobald er ihn gefunden hatte.

Nicht weit davon entfernt, fanden sich in einem Hügel mehrere Höhlen. Mal nur große Löcher einfach in Erde gegraben, mal tief ins Erdreich getriebene Gänge durch Leuchtmoos erhellt. Manche Höhlen waren bewohnt, andere schienen leer zu sein. Als er hineinrief, war das Echo seiner Stimme die einzige Antwort.

Niedergeschlagen und ohne Essen rollte er sich am Abend neben den Blaubeerbüschen zusammen, eine Hand zwischen den Blättern und Zweigen vergraben. Tyiasur musterte ihn mit schief gelegtem Kopf, quäkte kurz. Anschließend kuschelte er sich wieder an Mimouns Hals.

Die Nacht war für Mimoun genauso kurz wie die vorhergehenden. Dennoch blieb er reglos liegen, als er spürte, dass sein Winzling noch immer an ihn gekuschelt dalag. Seine Finger glitten über das Holz der kleinen Sträucher, rastlos, ohne Unterlass.

Nachdem auch Tyiasur endlich erwacht war und das mit einem fordernden Fiepsen auch anzeigte, kümmerte sich der Geflügelte erst um ihrer beider leiblichen Wohls, bevor er sich seiner heutigen Etappe zuwandte. Die Steppe hinter dem Wald war sein Ziel. Und sie war noch genauso leer, wie bei seinem ersten Flug da drüber. Zwar waren auch hier zahlreich Drachen vertreten und einige flogen über ihn hinweg zum Rand der Insel, doch auch hier zeigte sich keine Spur seines Magiers. Da er bereits einen Gutteil des Tages dafür hatte aufwenden müssen, zu diesem Teil der Insel zu gelangen, hatte er einige Fische dabei. Diese Nacht würde er hier verbringen, da sein Plan darin bestand, bis zum äußersten Ende dieser Insel vorzudringen. Sollte sein Magier wider Erwarten doch in der Zwischenzeit zum Gebäude zurückfinden, würde er eine Nachricht zwischen den Blaubeerbüschen finden. Mit dem Saft der Beeren hatte er auf einen Lederstreifen „Warte hier auf mich“ geschrieben. So wollte er sicher gehen, dass Dhaôma nicht wieder von dort verschwand auf der Suche nach dem Geflügelten.

In Schleifen flog er über das Gebiet, teilweise im Tiefflug, um leichter Spuren entdecken zu können, teilweise in höheren Schichten, um den Gesamtüberblick nicht zu verlieren. Dazwischen ging er immer wieder Strecken zu Fuß, da das Fliegen hier für ihn noch immer anstrengend war. Das lange Gras wickelte sich um seine Beine, wirkte jedoch nicht störend. Es war angenehm, hier zu laufen und seine Finger über die Spitzen gleiten zu lassen.

Gegen Abend suchte er sich einen halb aus dem Gras ragenden Hügel und legte sich auf dem braunen, festen Untergrund schlafen. Erschöpft schlief der Geflügelte sofort ein und bemerkte nicht, wie sich ein breiter, flacher Kopf hob und mit einer Drehung auf dem kurzen Hals versuchte, einen Blick auf den Störenfried zu erhaschen. Tyiasur schob sich vor Mimoun und plusterte sich mit einem quietschenden Fauchen auf. Träge erhob sich der Erdrache und trottete vorwärts, ein leises Grollen von sich gebend. Das sanfte Schaukeln und das angenehme tiefe Geräusch sorgten bei dem Geflügelten für den entspanntesten Schlaf seit langem.

So erwachte er auch erst, als der Tag schon weit fortgeschritten war. Die Sonne brannte auf ihn hernieder und sein Körper wippte hin und her. Es war angenehm, erinnerte ihn ein wenig an die Bootsfahrten mit Dhaôma und Kummer ergriff wieder Besitz von ihm.

Verwirrt blinzelnd öffnete Mimoun die Augen. Warum schaukelte es hier eigentlich so? Es dauerte einige Zeit, bis er begriff worauf er geschlafen hatte und hastig ließ er sich vom Rücken des Drachens gleiten. Träge trottete dieser weiter, bevor er überhaupt registrierte, dass seine Last verschwunden war. Kurz wandte er seinen Blick dem merkwürdigen Geschöpf zu, tat sich an den Grashalmen neben sich gütlich und setzte seinen Weg fort, ohne auch nur einen Augenblick in seinem Lauf zu stocken.

Ausgiebig streckte sich Mimoun, stellte fest, dass etwas fehlte und hetzte dem Erddrachen nach. Mit einer leisen Entschuldigung nahm er sein fiepsendes Baby wieder an sich.

Dieses Mal gönnte er sich ein ausgiebiges Frühstück und erhob sich anschließend in die Luft, um zu sehen, wo sie überhaupt waren. Der Drache hatte sie näher an den Rand der Insel gebracht. Hier herrschten stürmischere Winde, was er der nahen Wolkenbarriere zuschrieb und er behielt Tyiasur sicherheitshalber in der Hand. Die Landschaft wurde felsiger, kaum eine Pflanze zeigte sich. Hier wäre es einfach, seinen Magier zu finden, wenn er Pflanzen rief, doch warum sollte sich dieser freiwillig hier aufhalten wollen?

Mimoun wollte bereits abdrehen und sich wieder ins Inselinnere begeben, als der kleine Drache sich halb aus seiner Hand wand.

„Lass das.“, rief der Geflügelte erschrocken. Erstaunt sah er, wie Tyiasur seine Nase schnuppernd in den Wind hielt und quäkte, fordernd zu ihm aufsah. „Dorthin?“, fragte Mimoun nach. Gerade war ihm nicht danach, dem Spieltrieb seines Babys nachzugehen. Zu lange war er schon ohne ein Lebenszeichen von Dhaôma getrennt. Dennoch ergab er sich mit einem Seufzen in sein Schicksal.

Sein Drache strebte weiter auf den Rand der Insel zu und so entschied sich Mimoun die Strecke zu Fuß zu gehen, um den tückischen Winden auszuweichen. Die kleine Nase hing immer wieder schnuppernd im Wind und führte sie zu einer Klippe mit steil aufragenden Felsen. Voll überschwänglicher Freude drückte Mimoun den Winzling an sich, als er inmitten dieser unwirtlichen Gegend üppige Büsche entdeckte. Diese waren auf keinen Fall natürlich gewachsen. Sie hätten sonst kleiner, schiefer und zerfledderter sein müssen.

Ohne sein Zutun beschleunigte sich sein Schritt. In einer Kuhle zwischen den Büschen sah er ihn. Rotbraune, lange Haare, wirr und strähnig aufgrund der tagelangen Vernachlässigung. Die Kleider wiesen mehrere Risse auf, doch nur unter den wenigsten zeigten sich Kratzer. Nichts davon sah gefährlich aus. Aber er rührte sich nicht. Hastig eilte er auf ihn zu und strich ihm über das Gesicht. Vom Sturm am Strand hatte er gelernt, nicht vorschnell über Sachen zu urteilen, die er nicht überprüft hatte.
 

Die unerwartete Berührung riss Dhaôma aus seinem Halbschlaf. Seit einiger Zeit schon hatte er nur noch mit geschlossenen Augen dem Lied des Windes gelauscht. Jetzt war er wach.

Erstaunt blickte er in Mimouns Gesicht. „Hey, du bist ja hier! Wie hast du mich gefunden?“ Glücklich krabbelte er aus seinem Loch und umarmte seinen geflügelten Freund. „Ich bin so froh, dass es dir gut geht!“
 

Ohne auf eine der Aussagen einzugehen, drückte er seinen Freund fest an sich, vergrub seine Nase an dessen Hals. Es tat einfach nur gut, Dhaômas Nähe zu spüren, seinen Geruch in sich aufzunehmen, zu wissen, dass ihm nichts geschehen war. Er schien auch nicht gewillt, den Magier in nächster Zeit los zu lassen.
 

Dhaôma ließ ihn, schmiegte sich an ihn und schloss die Augen. Jetzt war es plötzlich warm und angenehm und nicht mehr ungemütlich. Und im Grunde war er immer noch müde.

„Weiß du, Mimoun, es tut mir Leid, dass ich dich nicht suchen gegangen bin, aber hier ist jemand, der Hilfe braucht, deswegen konnte ich nicht weg.“
 

„Ich weiß.“, antwortete Mimoun endlich. Sanft begann er Dhaômas Nacken zu kraulen. „Die Mutter meinte, du hättest eine Aufgabe gefunden. Sie wollte mir nicht helfen, dich zu finden, aber sie hat es mir auch nicht verboten.“ Der Geflügelte schnaubte belustigt. „Jetzt hab ich wenigstens meinen Überblick über die Insel erhalten. Es gibt so schöne Plätze. Die muss ich dir unbedingt zeigen, bevor wir von hier weggehen.“
 

Dhaôma nickte ohne Begeisterung. „Ich kann ihn nicht alleine lassen. Das muss warten, bis ich weiß, was mit ihm los ist.“ Er seufzte traurig und drückte seine Wange gegen Mimouns Hals. „Das tiefe Knurren ist Ausdruck seiner Hoffnungslosigkeit. Es tut mir in der Seele weh, wenn ich es höre.“
 

Die ersten Sätze verstand Mimoun noch gut, die letzten wurden an seinen Hals genuschelt. „Natürlich erst, wenn du hier fertig bist. Wir wollten doch lernen, unsere Vorhaben ohne Unterbrechungen durchzuziehen.“ Er löste sich von Dhaôma und löste den Wasserschlauch von seinem Gürtel. „Ich werde dich hier mit allem versorgen, was du brauchst. Und du konzentrierst dich voll und ganz auf deine Aufgabe. Und solange du mich nicht fragst oder etwas Dementsprechendes andeutest, werde ich dich weder aufhalten noch unterbrechen noch sonst irgendwie stören, versprochen. Es ist deine Aufgabe.“, bekräftigte er noch einmal.
 

„Und wir können abends zusammen schlafen?“, fragte er hoffnungsvoll. „Wenigstens heute?“
 

Unglücklich verzog sich das Gesicht, als sein Blick über die nicht mehr vorhandenen Fische an seinem Gürtel glitt. Tyiasur quäkte auch schon wieder fordernd.

„Gibt es hier in erreichbarer Nähe Fische?“, schnitt er vorsichtig das Problem an, das sich gerade auftat. Sollte es ihm hier nicht möglich sein, den Kleinen zu versorgen, konnte er immer nur für kurze Besuche zu Dhaôma gehen.
 

Dieser zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“, sagte er. „Seit dieser Drache mich hier abgesetzt hat, habe ich nicht viel getan außer zu versuchen, zu ihm zu kommen. Aber da vorne gibt es so was wie einen Bachlauf. Wirklich winzig. Ich habe Wasser von dort geholt.“
 

„Ich bin gleich wieder zurück. Flieg mir bloß nicht wieder davon.“, lächelte er und machte sich in die angegebene Richtung auf. Was er fand, war kaum mehr als ein Rinnsal, das sich über die Steine kämpfte. Viel versprechend sah es zumindest nicht aus, dennoch folgte er ein wenig seinem Verlauf. Aufmerksam war sein Blick auf das klare Wasser gerichtet, dennoch entging ihm das kurze Aufblitzen silbriger Schuppen.

Nicht jedoch seinem Drachen. Plötzlich sprang Tyiasur von seiner Schulter. Mimoun wollte nachgreifen, ihn wieder auffangen, der Kleine nutzte die ausgestreckte Hand aber einfach nur als weitere Etappe auf seinem Weg nach unten. Mit einem lautlosen Eintauchen war der Winzling unter der Wasseroberfläche verschwunden. Mimoun hockte sich neben den Verlauf und versuchte zu erkennen, was sein Findelkind dort jagte. Den kleinen Fisch hatte der Drache jedoch schnell verspeist. Das würde seinen Hunger aber nicht auf Dauer stillen, befürchtete Mimoun. Aber anstatt zurückzukehren schoss der Kleine weiter durchs Wasser, wandte sich in blitzschnellen Drehungen hierhin und dorthin. Verwundert und mit einer Vermutung hielt er eine Hand ins Wasser. Nun konnte er erkennen, was sein Kleiner da jagte. Kleine, durchsichtige Fischlarven, deren dunkle Augen vor dem Licht-und-Schatten-Spiel des steinigen Untergrundes für ihn nicht zu erkennen waren. Lächelnd wartete der Geflügelte ab, bis Tyiasur sich voll gefressen hatte. Aber er wusste, dass das nur eine Notlösung war.

Dies teilte er auch Dhaôma mit, als er schließlich wieder bei ihm landete. „Heute Nacht bleiben wir hier. Aber es wird nicht reichen, ihn zu ernähren.“
 

„Ist gut.“, nickte der Magier und lächelte. „Immerhin weiß ich jetzt, dass du gesund bist. Und du weißt, wo du mich finden kannst, das sollte reichen.“ Inzwischen hatte er das Moospolster etwas ausgebaut, so dass auch Mimoun weich lag.
 

Er fühlte sich zwar ausgeruht, doch folgte er der stummen Einladung. Lächelnd ließ er sich neben Dhaôma ins Moos sinken, schob seinen Drachen an dessen bevorzugte Schlafstelle und breitete einen Arm aus.

„Ach ja.“, grinste er und stupste Tyiasur noch einmal an. „Du musst ihm noch danken. Ohne ihn hätte ich dich wahrscheinlich so schnell nicht gefunden.“
 

Dhaôma tat gerne, was Mimoun gesagt hatte, doch der kleine blaue Drache interessierte sich absolut nicht für das, was der komische Mensch zu sagen hatte. Und als Dhaôma ihn anstupste, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, versuchte er ihn zu beißen.
 

*************+

echt, diese Drachen haben aber auch ne Art... 'Hilf'. 'du musst deinen eigenen weg finden, aber sei nützlich' ganz klasse ^^

oh, es hat eine Menge Spaß gemacht, das hier zu schreiben.

Und Dhao spielt auch noch einfach so mit.

Der Drache im Wind

Kapitel 43

Der Drache im Wind
 

Die Nacht kam spät, aber dennoch lehnte es der Magier ab, mehr als einen kleinen Spaziergang zu machen, und ließ Mimoun die ganze Nacht nicht einmal los. Er holte sich zurück, was ihm in den letzten Tagen gefehlt hatte.

Und am nächsten Tag verabschiedete er Mimoun und Tyiasur mit der Bitte, ihm Fisch oder Fleisch oder irgendetwas anderes Essbares für den einsamen Drachen mitzubringen, bevor er zu dem Rinnsal ging und sich wusch. Dann flocht er sich die Haare. In dem Sturm waren sie derartig verknotet worden, dass er sie kaum auseinander bekam und einige abschneiden musste, was ihn ärgerte. So ausgerüstet wagte er sich am Nachmittag wieder in den Windkanal und diesmal suchte er mit den Augen direkt den Drachen.

„Hallo!“, winkte er ihm. „Ich bin wieder da!“

Der Drache sah verwirrt aus und sah sich um, bevor er ihn wieder fixierte.

„Mein Name ist Dhaôma. Ich bin ein Magier und komme von unten.“

Die Pupillen weiteten sich und verengten sich wieder, die Nüstern blähten sich. Er schien interessiert zu sein.

„Möchtest du mir nicht sagen, warum du hier alleine bist?“

Sofort zog der Drache seinen Kopf zurück und wandte den Blick ab. Was hatte ihn nur so verschreckt?

„Ist gut, du musst es mir nicht sagen!“, wandte Dhaôma hastig ein. „Es ist egal, ob ich es weiß oder nicht, ich komme sowieso zurück.“ Der Wind wurde wieder stärker. „Hast du vielleicht einen Namen? Oder eine Leibspeise, die ich dir mitbringen kann?“

Kam es ihm nur so vor oder war der Blick tatsächlich hoffnungsvoll? Erneut verlor sein Zauber an Kraft und die ersten Eiskristalle flogen und prallten stechend gegen seine Wange und seine Arme. Schützend hob er den Poncho. Er wusste, dass er nicht mehr lange bleiben konnte. „Ich werde üben, damit ich länger bleiben kann, ja?“, rief er, als seine Füße schon zu rutschen begann. „Hörst du? Lass uns Freunde werden! Gib dich nicht auf!“ Dann schob ihn der Wind davon und Dhaôma ließ seine Magie versiegen. Wie am Vortag schlitterte er über die Scherben und sprang am Ende behände beiseite. Diesmal fühlte er sich nicht so ausgelaugt, leider aber auch nicht weniger bedrückt. Dieser Drache musste wirklich ein schreckliches Trauma haben, wenn er so gar nicht bereit war, darüber zu reden, wenn er sich so sehr schämte, dass er den Grund nicht sagen wollte, warum er dort war.

Nachdenklich ging der Braunhaarige zum Wasserlauf und stillte seinen Durst. Die Anstrengung machte sich schon bemerkbar, aber so wie es momentan lief, konnte es nicht bleiben. Wenn er dort bei dem Drachen bleiben wollte, dann brauchte er einen adäquaten Schutz vor dem eisigen Regen. Den würde er suchen müssen. Schön wäre ein Schild, so etwas wie ein Holzbrett oder so. Und das musste er entweder suchen oder wachsen lassen. Am besten auch noch mit Abstandhalter, damit es ihn nicht einfach gegen die Wand drückte.

Nach einem Schläfchen machte er sich also auf die Suche. Er hoffte, Energie sparen zu können, wenn er einen vorhandenen Ast einfach vergrößerte, anstatt einen ganzen Baum wachsen zu lassen, aber er fand nichts. Das würde er Mimoun sagen, wenn er das nächste Mal kam.

Auch am nächsten Nachmittag versuchte er sein Glück mit dem Wind, aber der Abstand war zu kurz gewesen, so dass er nicht lange bleiben konnte. Gerade mal einen Satz konnte er ihm sagen, dann wurde er wieder davon geweht. Aber er hatte den Eindruck gewonnen, dass der Drache schon etwas glücklicher ausgesehen hatte – falls man das bei der nicht vorhandenen Mimik erkennen konnte.
 

Nahezu einen ganzen Tag hatte der Geflügelte in dem verdrehten Wald zugebracht. In dem Erdbeerenfeld sammelte er mehrere Blätter ein, zupfte von einer der Beeren zwei Kerne ab und zog sich dann mit seiner Beute in die Teichlandschaft zurück. Es kostete ihn einiges an Übung, aber nach einigen Versuchen gelang es ihm unter zur Hilfenahme von dünnen Weidenzweigen eine Art Tasche aus den stabilen Blättern zu formen. Eine große bastelte er als Transportbehältnis für die Fische für Dhaômas Drachen. Eine kleinere diente zum Aufbewahren für seine und Tyiasurs Nahrung. Aus Resten formte er eine winzige Tasche, die an einer Art Kette um seinen Hals hing. In dieser hatte sein Drache ausreichend Platz und musste sich nicht an ihm festklammern, wenn seine Hände nun mit den Fischen überladen waren. Er hoffte nur, dass sie stabil genug war, dem Wind an Dhaômas derzeitigem Aufenthaltsort standzuhalten.

Er nutzte noch einen weiteren Tag, um sich dort zu entspannen, suchte sich auch eine leere Höhle, die er sich noch wohnlich einrichten würde, und kehrte am nächsten Tag mit vollen Armen zu Dhaôma zurück. Er legte seine Last neben den Sträuchern um der Kuhle herum vorsichtig ab, damit die Blätter nicht doch noch einrissen. Er brauchte sie noch.
 

Dhaôma hatte ihn schon erwartet. Jetzt hockte er neben ihm und besah sich neugierig die Taschen. Blättertaschen. Sehr einfallsreich. Über den Inhalt musste er sich keine Gedanken machen, der Geruch verriet den Fisch.

„Wow, da wird er sich aber freuen.“, kicherte er. So viel hatte Mimoun gefunden.
 

„Das wird aber auch ein oder zwei Tage reichen müssen.“, schränkte Mimoun ein. „Ich weiß nicht, ob es so gut ist, wenn sich ein großer Drache auf Dauer aus den Revieren der kleinen Wasserdrachen ernährt. Hin und wieder ist okay.“ Versichernd glitten seine Finger über die Zweige, die den Riemen zu Tyiasurs Tragetasche bildeten. Sie hielten zum Glück. Er selbst ließ sich in die Kuhle sinken, um dem meisten Wind zu entkommen.
 

„Ich weiß nicht mal, ob es so gut ist, wenn er überhaupt etwas von mir bekommt. Vielleicht nimmt er auch gar nichts an. Bisher hat er nicht einmal mit mir gesprochen.“ Seufzend kuschelte er sich neben Mimoun. „Er ist wie ein Kind, das man lange Zeit im Dunkeln eingesperrt hat, so dass es jetzt freiwillig dort bleibt.“
 

„Ach ja.“, schmunzelte Mimoun. „Das kenn ich irgendwoher.“ Liebevoll zog er an dem für ihn leicht zu erreichenden Ohr und kraulte dann beruhigend den Nacken seines Freundes. „Genau deshalb bist du wahrscheinlich der einzige, der ihm wirklich helfen kann. Du darfst jetzt nur nicht aufgeben.“
 

Nachdenklich stimmte Dhaôma zu. Wenn er es genau bedachte, dann hatte Mimoun Recht, auch wenn es ihm vorher gar nicht bewusst gewesen war. Aber es gab ihm Selbstvertrauen.

Sie aßen zusammen und Dhaôma beobachtete voller Glück, wie Mimoun seinen Kleinen mit einem runden Stein über die Felsen scheuchte. Tyiasur war ein Wirbelwind und wechselte häufig zwischen Schweben und sich über den Boden Winden. Manchmal war er so schnell, dass man kaum sah, wie er den Boden überhaupt berührte. Und weiterhin mied er Dhaôma, was diesen nicht weiter störte. Er wusste, dass Babys, bevor sie etwas anderes kennen lernen konnten, erst einmal die Eltern verstehen mussten. Das hatte ihm Leoni beigebracht.

Am nächsten Tag verschwanden seine beiden Begleiter wieder und Dhaôma stellte sich der langweiligen Aufgabe, trotzdem Ruhe zu halten. Er saß am Rande der Insel und starrte in das Gewitter zu seinen Füßen. Blitze ohne Ende, aber kein Donner oder Regen. Und über ihm waren lediglich ein paar kleinere Wölkchen, die eilig dahin zogen. Es schien nicht so, als würde es hier jemals regnen, aber er konnte sich auch irren, denn dafür war die Insel definitiv zu grün.

Am Abend beobachtete er ein weiteres Mal, wie ein Fisch so groß wie Mimouns Brustkorb über der unzugänglichen Stelle abgeworfen wurde, und beschloss, dass er noch eine Nacht Kräfte sammeln würde, bevor er mit Mimouns Beute den Drachen besuchen würde. Dann würde er vielleicht etwas länger bleiben können.

So war er am nächsten Morgen hibbelig vor lauter Energie und Vorfreude auf seinen neuen Freund. Er war so gespannt, was der Drache sagen würde! Und er versuchte des Weiteren mit seiner Kraft zu haushalten, damit er möglichst lange bleiben konnte. Dafür tastete er sich mit Magie an die Stärke des Windes heran, bevor er ihn ausschaltete. Es erforderte eine ungeheure Konzentration, aber er merkte, dass diesmal nicht so viel Magie aus ihm heraus floss. Schon am Rand der Felsen sah er, wie der Drache ihn neugierig musterte. Die großen gelben Augen blinzelten, er schnupperte. Fast hätte Dhaôma gelacht.

„Riechst du den Fisch?“, fragte er und trat zwei Schritte auf ihn zu. Misstrauisch wich der Drachenkopf zurück. Er bleckte sogar die Zähne. „Ja, es ist gruselig, dass ich einfach so zu dir komme, aber ich habe wenig Zeit, wie du weißt.“ Mit Schwung setzte Dhaôma den inzwischen welken Korb ab und zog die Fische heraus. „Sie sind nicht so groß wie die, die sonst geflogen kommen, aber Mimoun hat sich sehr viel Mühe gegeben, sie zu fangen.“

Jetzt wirklich neugierig gab der Drache einen Großteil seiner Deckung auf. Als Dhaôma ihm den ersten Fisch hinhielt, ging ein wahres Leuchten durch die goldgelben Augen, bevor er sich vorwagte und ganz vorsichtig den Fisch zwischen die Zähne nahm. Sie waren spitz und reihten sich in unebenmäßiger Größe in einem weiten Bogen. Erst jetzt fiel Dhaôma auf, dass die Nase gar nicht so spitz war wie er es bei den meisten Drachen gesehen hatte. Sie war zwar auch nicht wie die von einem Frosch, aber dennoch ungewöhnlich. Und die Zähne waren nicht so lang wie der, den er um den Hals hatte.

„Wirst du noch größer?“, fragte er neugierig. „Oder bist du ausgewachsen?“ Der Drache betrachtete ihn aufmerksam, antwortete aber nicht. „Du kannst nicht sprechen, oder?“ Leicht enttäuscht und mitleidig rückte er den nächsten Fisch heraus, der ebenso vorsichtig genommen wurde. „Ich hatte gehofft, du könntest mir erzählen, was mit dir ist.“

Er hatte vergessen, wie der Drache auf dieses Thema reagierte, und war auf das Zusammenzucken nicht vorbereitet. Danach tat es ihm Leid, dass er so ungeschickt gewesen war. Seufzend legte er die übrigen Fische auf den Boden, denn er spürte, dass seine Magie sich bald erschöpfen würde. „Wenn ich das nächste Mal komme, erzähle ich dir von mir.“, beschloss er, während er rückwärts ging. „Bis dahin bin ich genau hinter dieser Wand, dann bist du nicht so alleine, ja?“

Wieder sah ihn der Drache an und fast hatte Dhaôma das Gefühl, er wäre erleichtert. Es beruhigte ihn, denn er hatte begonnen zu glauben, dass er vielleicht störte. Aber nun war er davon überzeugt, dass dieser Drache einsam war. Das würde er zu ändern wissen. Einsamkeit war nicht schön.

Aber ab diesem Zeitpunkt änderte sich das Geräusch, das er von der anderen Seite hörte. Das Magen füllende Dröhnen war selten geworden, eher hörte er nun ein helleres Geräusch, eines, das wie das Pfeifen eines Wasserkessels klang, eines, das tiefer klang, und ein in allen Tönen variierendes. Es war fast, als würde der Drache versuchen, ihm etwas mitzuteilen. Fast platzte der Magier vor lauter Wissbegierde, was das bedeuten könnte. Warum erholte sich seine Magie nur so langsam?

Gegen Abend beschloss er, etwas zu entwickeln, das ihn in die Lage brachte, bei dem Drachen zu bleiben. Lange suchte er in seinen Samen einen schnell wachsenden, stabilen Baum, dessen Holz auch den starken Wind und die Eiskristalle aushalten konnte. Jetzt musste er nur noch hoffen, dass er ihn auch wachsen lassen konnte, denn der Boden war schließlich aus massivem Fels.

„Ich fürchte, das bedarf bei weitem mehr Vorbereitung.“, bedauerte er. Auch wenn es ihm noch immer am leichtesten fiel, Pflanzen wachsen zu lassen, einen ganzen Baum an einem Tag hochzuziehen und dabei auch noch zu formen, war schwer. Dazu bräuchte er Erde und Material, aus dem er selbige machen konnte.

Schließlich stabilisierte er lediglich den Behälter Mimouns, füllte ihn mit Wasser und bereitete sich wieder auf seine Exkursion vor, indem er schlief.
 

Der nächste Tag begann mit erstaunlich vielen Wolken am Himmel, die Luft war schwer und roch nach Regen. Sollte das heißen, sein Wasser wäre umsonst? Nein, der Drache hatte seit Tagen nichts mehr getrunken, also sollte er es mitnehmen.

Gegen Mittag drang er zu dem Drachen vor. Er wurde interessiert begrüßt und wieder erklang das vibrierende Gurren. Das schien Freude zu sein. Aber was für ein Geräusch! Es klang, als hätte der Drache mehrere Kehlen, die alle etwas Unterschiedliches sagen würden.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen.“, lachte Dhaôma. „Ich habe Wasser mitgebracht. Falls du trinken willst.“ Sachte stellte er das schwappende Gefäß auf den Boden und bot es dem Drachen an. Nach einem misstrauischen Schnuppern machte der es dann in einem Zug leer. Seine Zunge war nicht gespalten, stellte Dhaôma fest, als er sich über die Nase leckte, um dort verbliebenes Wasser aufzuschlecken. Dennoch war er viel mehr Eidechse als andere Drachen. Nur eben viel größer.

„Ich hatte gesagt, ich erzähle von mir.“, fing der Braunhaarige wieder an zu reden. „Ich komme aus einer Stadt ganz weit von hier entfernt. Und meine Mutter konnte mich nicht…“ Ein Donnerschlag zerriss die Luft und unterbrach ihn. Erschrocken fuhr er herum, als Regentropfen auf seinen Umhang fielen. Sie kamen von der Seite. Seine Magie reichte nicht, den Wind auszuschalten!

Schnell verstärkte Dhaôma den Zauber, aber dennoch reichte es nicht. Der Wind packte ihn und schleuderte ihn gegen die Wand, presste ihm alle Luft aus den Lungen. Sein kleiner Behälter wurde an der Wand einfach zerdrückt, bemerkte er aus den Augenwinkeln und bekam Panik. Er würde hier sterben!

Dann war der Wind plötzlich weg und es war warm. Vor ihn schob sich ein dunkelgrüner Flügel, hüllte ihn ein und zog ihn an einen noch größeren Körper. Der Schreck, der seinen Körper heimgesucht hatte, sein Herz schneller schlagen und das Blut in seinen Ohren rauschen ließ, flaute ab, als er begriff, dass es der einsame Drache war, der ihn vor dem schneidenden Wind zu schützen versuchte. Dabei mussten die Regentropfen ihm Schmerzen zufügen, wenn sie ihn trafen, zumal davon viele zu Hagel wurden, wie er zu seinen Füßen sah.

Erschöpft lehnte sich Dhaôma gegen den großen Körper. „Danke.“, flüsterte er, wollte sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn er noch ungeschützt wäre. Es war ein richtiges Gewitter, ein Unwetter, das über ihnen tobte, und Dhaôma war sich sicher, dass er nur deshalb überlebte, weil der Drache ihn beschützte. Mimoun würde außer sich sein, wenn er realisierte, dass er in diesem Sturm so nahe an der Klippe war.

Der Regen dauerte an und Dhaôma beruhigte sich immer mehr. Unter seinen Händen spürte er das Beben des großen Körpers und jedes Zusammenzucken, wenn ein Hagelkorn eine empfindliche Stelle traf. Er setzte seine Erzählung fort, erzählte von seinem Zuhause und seiner Flucht, dass er Mimoun getroffen und die Geflügelten kennen gelernt hatte, mit denen sein Volk eigentlich im Krieg stand. Irgendwann verstummte er, spürte, wie der Drache sich entspannte und beruhigte. Der große Kopf lag inzwischen neben ihm im Schutz des Flügels und die goldenen Augen waren vertrauensvoll geschlossen.

„Deine Stimme ist schön.“, hallte es plötzlich in seinem Kopf wider. „Sie zeugt von Stärke, denn in ihr ist viel Ruhe.“

Vor Glück hätte Dhaôma beinahe geweint. Endlich! Endlich sprach der Drache zu ihm! Er konnte sprechen! Selig lächelnd lehnte er sich gegen die große Klaue und nickte. „Das war nicht immer so.“, gab er zu. „Ich musste das lernen.“

„Wie?“

„Ich habe doch erzählt, dass ich meine Familie verlassen habe. Mimoun hat es mir beigebracht.“

„Ich kann nicht weg. Der Sturm ist zu stark.“

Das war ein Problem. Mitleidig öffnete Dhaôma die Augen. „Warum bist du hier? Willst du es mir nicht sagen?“

„Es ist kein Geheimnis. Jeder weiß es.“

„Ich nicht.“ Der Braunhaarige zog die Knie an den Körper. Irgendwie war ihm kalt. „Mir hat keiner gesagt, warum du hier bist.“

Lange herrschte Schweigen, dann schlossen sich die wunderschönen, bezaubernden Augen wieder und das dröhnende Seufzen erklang, das Dhaômas Herz vor Mitleid zu zerquetschen drohte. Obwohl es jeder wusste, fiel es dem Drachen schwer, darüber zu reden. „Ich bringe das Gleichgewicht der Magie ins Wanken.“

Irritiert schüttelte Dhaôma den Kopf. „Wie denn?“

Schweigen. Um sie herum ließ der Regen nach.

„Erzähle es mir. Ich kenne mich mit Magie ein wenig aus, vielleicht kann ich dir irgendwie helfen. Es wäre doch schön, wenn du diesen Ort hier verlassen könntest.“

Hoffnungsvoll leuchteten die Augen im Halbdunkel auf. „Das könntest du schaffen?“

„Dafür musst du mir erzählen, was das Problem ist.“

„Ich wirke Magie.“

„Ich auch.“, antwortete Dhaôma verständnislos, als einige Zeit nichts kam. Ging der Drache davon aus, dass er verstand?

„Bei uns ist das nicht normal. Nicht jeder Drache besitzt Magie.“

„Das ist mir neu. Ich habe gelesen, dass Drachen unglaublich starke Magie wirken und unerschöpfliche Reserven haben.“

„Das ist wahr.“ Die Nase bewegte sich sacht. „Aber es ist nicht bei allen so. Nur manche können Magie wirken. Ich kann es. Ich verstärke die Magie anderer.“

„Ach, deshalb wirkt meine Magie in deiner Nähe besser.“, freute sich Dhaôma über die Erkenntnis, das Rätsel um die sich sofort schließenden Wunden betreffend. „Das ist phantastisch!“

„Das ist deine Meinung.“, erklang es neutral in seinem Kopf.

„Und was ist deine?“

„Ich verstärke die Magie dieser Insel. Deshalb ist hier dieser kalte Sturm. Es ist ein Zauber, der von außen alle fernhalten soll.“

„Ich verstehe. Und du verstärkst ihn. Das heißt, du kannst hier nicht weg, weil der Wind dich hier festhält. Vielleicht könnte ich lernen, ihn auszuschalten, damit du raus kannst.“

„Ich zerstöre Jashar, wenn ich diesen Ort verlasse.“

„Wieso? Das stimmt doch nicht. Oder?“, hakte er unsicher nach, denn dieses Gewitter war sicherlich gefährlich genug, um etwas zu zerstören.

„Doch.“ Wieder erklang dieses seltsame vibrierende Geräusch. „Ein Zauber speist die Quelle. Komme ich ihr nahe, läuft sie über und schwemmt all die kleinen Drachen und ihr Futter fort. Fliege ich über den Wald, wachsen die Bäume und sterben. Regnet es, wird ein Gewitter daraus, das kleine Wesen wie du kaum überstehen können. Wirkt ein anderer Drache Magie, kann daraus eine Katastrophe erwachsen.“

Mitleidig legte Dhaôma ihm die Hand auf die Kralle. „Ich fange an zu verstehen. Du bleibst also hier, um ihnen nicht zu schaden.“ Und nach einiger Zeit: „Das ist ziemlich edel von dir, aber warum fliegst du nicht einfach zur Erde hinunter? Dort gibt es keine ewigen Zauber, die du verstärken könntest.“

„Ich habe es versucht. Der Wind war zu stark. Ich wäre fast gestorben.“

Also waren die Wolken um die Insel auch magisch erschaffen. Um die Drachen zu schützen. Aber das half diesem Drachen nicht. Aber Dhaôma wollte noch nicht aufgeben. Und dass diese Magie so gar nicht zu beherrschen war, erinnerte ihn an das Erwachen seiner Magie. Nur dass es länger andauerte. „Sag mal, wie lange ist das denn schon so?“

„Ich weiß nicht.“ Er schwieg einige Zeit und beobachtete Dhaôma mit einem Blick, der unter die Haut ging. „Es ist so, seit ich weiß, dass ich ein magisches Wesen bin.“

„Hast du keine Einschätzung für die Zeit?“

„Ich habe aufgehört zu zählen.“

Betroffen presste Dhaôma die Lippen zusammen. Der Drache tat ihm Leid. Was sollte er dazu sagen? Er konnte ihm kaum helfen, oder? „Meinst du, ich kann dir helfen, den Sturm zu durchfliegen?“

„So lange wirst du das nicht können.“

„Ich könnte es lernen.“

„Würdest du das tun?“

„Ja. Ich werde mich anstrengen.“

Die goldenen Augen musterten ihn lange. „Warum ist ein kleiner Jagmarr wie du so stark?“, wollte der Drache wissen.

Früher hätte Dhaôma diese Frage als impertinent empfunden, wäre vielleicht verletzt oder beleidigt gewesen, aber die Worte des Drachen waren so neutral gehalten, dass er wusste, dass dieser es nicht böse meinte. Außerdem war ihm inzwischen klar, dass die Meinung anderer nicht zählte, solange er wusste, dass er stark war. Hatte Mimoun gesagt. Und dieser Drache ja auch. „Weil ich nicht alleine bin.“, verriet er und lächelte bei dem Gedanken an seinen Freund. „Mimoun ist meine Stärke, denn ich möchte für ihn Frieden schaffen. Dafür muss ich stark genug sein, um von niemandem besiegt zu werden.“

„Aber das hier hat nichts mit deinem Ziel zu tun, Frieden zu schaffen.“

„Nicht direkt.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Aber du brauchst Hilfe, nicht wahr? Wäre es nicht auch schön, wenn ich dir Frieden bringen könnte? Wenn du keine Schmerzen mehr hättest von den Eiskristallen, wenn dir nicht mehr kalt wäre, wenn du nicht mehr Hunger leiden müsstest, ohne selbst etwas dagegen tun zu können? Wäre es nicht schön, wenn du deine Magie unter Kontrolle bekämst, so dass du nicht einmal dein Zuhause verlassen müsstest?“ Seine Finger fuhren über die feinen Schuppen auf dem Zeh des Drachen kurz hinter der ellenlangen, dolchscharfen Kralle. „Weißt du, es geht mir nicht darum, für mich selbst Frieden zu haben. Natürlich wäre das auch schön, aber eigentlich wäre es mir lieber, wenn um mich herum kein Leid mehr wäre.“

„Das ist ein optimistischer Wunsch.“

Lachend nickte der Braunhaarige. „So lange du nicht sagst, dass es ein unmöglicher Wunsch ist, bin ich damit zufrieden.“

„Es ist nicht unmöglich. Nur unwahrscheinlich.“

Draußen stoppte für einige Zeit das leise Pladdern des Regens auf den Flügeln und wurde kurz darauf von einem leiseren Trommeln ersetzt. Zu seinen Füßen konnte Dhaôma sehen, dass es wieder die Eiskristalle waren, die die Steine zerschlugen. Seine Zähne mahlten aufeinander.

„Bist du böse, Freiheit?“

Seufzend schüttelte Dhaôma den Kopf. „Nein.“

„Aber du bist unglücklich.“, war die einfache Feststellung.

„Weil ich dir nicht gleich helfen kann.“, platzte es aus Dhaôma heraus. „Ich bin so schwach, dass du mich beschützten musst. Meine Magie reicht nicht einmal aus, um deine Wunden zu heilen.“

„Du musst mich nicht heilen. Es reicht mir, wenn du hier bist.“

„Ich will aber!“, rief Dhaôma laut und sank dann in die Knie. „Entschuldigung. Ich wollte nicht schreien.“

„Du bist ein netter Jagmarr. Du willst helfen und nicht töten.“

Dhaôma antwortete nicht darauf, sondern zuckte mit den Schultern. „Wie wäre es, wenn du versuchst, deine Magie zu unterdrücken, damit du dir selbst helfen kannst?“

„Ich weiß nicht, wie.“

„Ai.“ Das war nicht so einfach zu erklären. „Kannst du fühlen, wie deine Magie aus dir heraus fließt?“

„Ich weiß nicht. Es gibt viele Ströme in meinem Körper, die ich verfolgen kann.“

‚Interessant!’, schrie etwas in Dhaôma, aber er unterdrückte seine Neugier, wie das funktionierte oder was er da fühlte. Das war Thema eines anderen Tages. „Ich schicke mal etwas von meiner Magie in dich, vielleicht findest du dann deine.“ Auf seinen Wangen leuchteten die Linien auf und er konnte den Körper des Drachen unter seinen Finger spüren, wie dort Blut pulsierte, wie die Muskeln sich zusammenzogen, wie ein paar kleine Schrammen auf dem schützenden Flügel sich schlossen. Es war ganz leicht.

„Das sieht hübsch aus.“, weckte ihn die Stimme in seinem Kopf aus seiner Erkundung. „Und es fühlt sich hübsch an.“ Als Dhaôma die Augen wieder öffnete, blickte er direkt in eines der goldenen des Drachens, das ganz dicht vor seinem Gesicht war. „Deine Magie ist ganz warm.“

„Kannst du deine Magie jetzt spüren?“

Die Augen verloren ihren Fokus, als der Drache nach innen horchte. Lange sagte er nichts und bewegte sich nicht. „Ich denke, da ist etwas.“, bestätigte er. „Etwas, das sich so ähnlich anfühlt.“

„Dann halte es in deinem Körper. Lass es nicht hinaus.“

„Wie?“

„Weißt du, wie es aus dir heraus rinnt?“

„Ich denke…“

„Dann stell dir vor, es bliebe in dir. Vielleicht stellst du es dir als Wasser vor, das in einem Bach fließt. Stopfe den Bach zu, bilde damit einen See.“

Stille. Sehr lange Zeit. Dhaôma blieb ruhig und wartete. Er wusste, dass das Konzentration erforderte und wollte nicht stören. Fast schlief er ein. Die Anstrengung der Magieanwendung, die Tatsache, dass es bald dunkel wurde, und die Wärme in seinem Rücken machten ihn schläfrig. Dann verstummte das eintönige Trommeln und schlagartig war er wach. Hatte es etwa funktioniert?

Doch das Trommeln setzte wieder ein, hörte sich sogar stärker an als vorher, bis es wieder abflaute.

„Das ist sehr anstrengend.“, ertönte es in seinem Kopf. Der Drache klang müde und auch ein wenig unzufrieden.

Dhaôma dagegen war richtig glücklich. „Aber es hat funktioniert! Mit ein bisschen Übung könntest du es kontrollieren, dann wärst du frei! Frei, das zu tun, was du gerne tun möchtest.“

„Es tut danach mehr weh.“

„Dann mache ich etwas dagegen, dass dich der Wind triff, okay? Ich lasse dir einen Schild wachsen, der die Kristalle aufhält, wenn sie stärker fliegen, wenn du die Magie nicht mehr halten kannst.“ Er strahlte. „Oder noch besser, du legst dich auf die andere Seite von den Steinen. Da ist der Wind einfach nicht so stark und die Eiskristalle fliegen nicht. Ich könnte dich sogar heilen, damit die kleinen Kratzer nicht mehr brennen.“

Irgendwie ließ sich der Drache von Dhaômas Freude mitreißen. Zwar überlegte er ein wenig, dann bewegte er sich und schüttelte seinen Flügel. „Das wäre angenehm.“, stellte er fest. Und weil Dhaôma grinste, fragte er noch: „Wirst du mir auch weiterhin helfen?“

„Natürlich.“ Sanft klopfte Dhaôma auf die Kralle. „Ich helfe dir, solange du es nicht ganz alleine schaffst. Du kannst einfach Bescheid sagen, wenn ich dir helfen kann.“

„Wie lange brauchst du, um den Wind erneut zu stoppen?“

„Mindestens einen Tag.“

„Dann gehen wir morgen auf die andere Seite der Felsen.“

„Du kommst mit?“

„Ja.“

„Danke.“

„Wofür?“

„Dass du dich nicht aufgibst.“

„Das liegt an dir.“

Weich strich Dhaôma über das Bein. Er freute sich über diese Worte. Sie bedeuteten, dass er jemandem hatte helfen können. Das machte ihn immer glücklich.

„Freiheit.“ Der Drache bewegte sich erneut, legte seinen Leib auf den Boden und streckte die Vorderbeine aus. „Erkläre mir, wie ich diese Kraft in ein Ziel lenke.“

Wieder dachte Dhaôma nach, wie man das am besten erklärte.

„Leg dich zu mir, Freiheit. Ich passe auf, dass dir nichts passiert, wenn du schläfst.“

Der Braunhaarige nickte und ließ sich neben ihm nieder. Der ledrige Flügel ließ ihm gerade genug Platz, um ihn warm zu halten und nicht zu ersticken, aber er fühlte sich nicht bedroht, eher noch geborgen. Mimoun würde sich Sorgen machen, wenn er ankam und ihn nicht vorfand, aber das konnte er nicht ändern. Und wahrscheinlich konnte er sich auch denken, wo er sich befand.

„Wenn du deine Magie auf etwas richten möchtest, dann stell dir doch einfach vor, dass die Energie aus dem See oder dem Bach in das Ziel hineinfließt.“ Immerhin hatte diese Vorstellung schon einmal geholfen. „Ich gebe zu, ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht. Ich habe nicht genug Energie, als dass ich es mir leisten könnte, sie ohne Grund aus mir hinaus fließen zu lassen. Ich werde dann müde und kann nichts mehr tun, deshalb speichere ich sie von Natur aus. Und aus diesem Grund richte ich sie auch immer auf ein Ziel.“

Der Drache antwortete nicht und Dhaôma wurde wieder schläfrig. Kurz bevor er einschlief, fragte er jedoch noch: „Wie heißt du eigentlich?“

„Lulanivilay.“

„Das klingt schön.“, murmelte der Magier mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Schön und seltsam bekannt. „Was bedeutet das?“

„Inmitten von Leben.“

Der letzte Gedanke, der Dhaômas Bewusstsein streifte, war, dass der Name nicht passte, da sich dieser Drache in so unwirtlichem Land versteckte, aber er würde dafür sorgen, dass er seinem Namen wieder alle Ehre machte.
 

Selten hatte Dhaôma so tief geschlafen wie in dieser Nacht. Er fühlte sich wohl, es war warm und am Rande seines Bewusstseins nahm er eine einnehmende, tiefsinnige Melodie wahr, die ihn in ihren Bann zog, ohne dass er es richtig bemerkte. Fast war es, als hätte er einen strahlenden, überglücklichen Mimoun vor sich – nur er hatte es bisher geschafft, diese Zufriedenheit in ihm auszulösen.

Doch als er erwachte, war nur der Drache da. Lulanivilay. „Guten Morgen, Lulanivilay.“, wünschte er und streckte sich. Durch die Flügelhaut schimmerte Tageslicht.

Sofort sah er sich mit goldenen Augen konfrontiert. „Ich habe geübt.“, teilte ihm der Drache mit. „Findest du es schlimm, wenn ich meine Magie in dich fließen lassen würde?“

„Du meinst die verstärkende?“ Dhaôma zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich, solange du mich vorwarnst. Es wäre nicht gut, wenn meine Magie außer Kontrolle geriete. Aber solange ich es weiß, kann ich versuchen, die Auswirkungen zu kontrollieren.“

„Dann fliegen wir jetzt hinüber. Bring den Wind zum Stillstand.“

Überrascht nickte Dhaôma. Das kam unerwartet, aber wenn er es recht bedachte, dann musste er eh zum Fluss und vielleicht wartete ja auch Mimoun auf der anderen Seite. Es wäre besser, wenn er ihm sagen konnte, dass es ihm gut ging. „Also gut.“ Die Augen schließend konzentrierte er sich auf den Wind und ließ seine Magie fließen. Kurz danach spürte er, wie etwas an ihm zerrte, wie es schwer wurde, sich zu bewegen oder zu atmen. Das war höchstwahrscheinlich die Hilfe von Lulanivilay. Er musste das abschwächen, sonst würden sie beide ersticken. Also zog er seine Kraft ein wenig zurück, bis sie kaum noch floss. Aber selbst dann noch war sie stark genug, um den Wind aufzuhalten. Wenn er so wenig Magie aufrechterhielt, dann könnte er das sicher mehrere Stunden durchhalten!

„Halt dich fest, Freiheit.“, erklang es in seinem Kopf und die Konzentration ging für einige Momente verloren. Der Wind wurde wieder wie Stein so unbeweglich, bis er sich wieder beruhigte. Seine Hände hielten sich an Lulanivilays Bein fest, da griff der Drache ihn mit beiden Pranken und flog auf. Er schwankte fürchterlich und es sah so aus, als würde er abstürzen, aber glücklicherweise fing er sich wieder. Wenige Augenblicke später landete der grüne Drache und setzte Dhaôma sanft ab.

„Ist er der Freund, den du Himmel nennst?“
 

Der Sturm war auch im Inselinneren deutlich zu sehen und teils auch zu spüren gewesen. Die Sorge um seinen Freund hatte ihn schneller wieder an den Rand der Insel geführt. Durch die starken Winde hatte Mimoun es aber vorgezogen, einen Großteil der Strecke zu Fuß zurückzulegen. Seinen Kleinen hatte er dabei unnachgiebig immer wieder unter das Hemd gestopft, aus dem dieser ebenso häufig neugierig hervorlugte.

Mit gemischten Gefühlen fand er das Mooslager verlassen vor. Stattdessen breitete sich in der Kuhle eine kleine Pfütze aus. Unsicher glitt der Blick des Geflügelten zum Gang. Dort würde Dhaôma sicher rechtzeitig Schutz gefunden haben. Eine andere Möglichkeit wollte er nicht zulassen.

Noch immer zerrte der Wind an ihm, dennoch hütete er sich davor, den Gang zu betreten. Das war die Aufgabe des Magiers. Er wollte ihm nicht schon wieder etwas kaputt machen, indem er ungeschickt in etwas hineinstolperte. So ließ er sich zwischen den Büschen nieder, setzte seinen Winzling in die Pfütze und wartete. Er war so in das Spiel des kleinen Drachens vertieft, dass er erst spät merkte, dass endlich der Wind nachließ. Seufzend ließ er sich ein wenig tiefer sinken, bevor er sich erhob. Nun, da der Wind keine Bedrohung mehr darstellen konnte, würde er noch ein wenig in der Umgebung herumstreunen, immer in Sichtweise zu der ehemaligen Schlafstätte. Er sah wie Tyiasur ab und zu aus dem Wasser sprang und nach ihm Ausschau hielt. Fast war er versucht zum Bach zu gehen und ein paar der Fischlarven daraus zu fangen und hier einzusetzen, da hörte er das Rauschen über sich. Neugierig sah er sich nach dem Störenfried um. Wie erstaunt war er, als er seinen Magier in den Klauen des Drachens erkannte. Reflexartig ging er einen Schritt in die Richtung und hielt dann wieder inne, trat schließlich sogar zurück, um diesem gewaltigen Tier Platz zum Landen zu lassen.

„Alles okay?“, fragte Mimoun seinen Freund und sah dann vorsichtig zu dem Drache. „Ist er derjenige, dem du helfen möchtest?“
 

„Ich bin in Ordnung.“, lächelte Dhaôma und ging zu Mimoun. „Mimoun, das ist Lulanivilay. Lulanivilay, das ist Mimoun. Irgendwo müsste noch ein kleiner Wasserdrache sein, den Mimoun Tyiasur getauft hat.“

Die goldenen Augen betrachteten den Geflügelten genau, nahmen alle Einzelheiten in sich auf, während um sie herum der Wind wieder stärker wurde und schließlich mit alter Stärke blies. Selbst die Pfütze mit ihrem quirligen Inhalt begutachtete er, bevor er sich an die Felsen legte, möglichst viel Deckung vor dem kalten Wind in Anspruch nehmend. „Warum nennt jemand einen Wasserdrachen Pusteblume?“

Dhaôma kicherte, als er zu dem Drachen trat und seine Hände auf dessen Brust und Halsansatz legte. „Das liegt daran, dass er die alte Sprache nicht gut genug beherrscht. Aber glaube mir einfach, dass es zu ihm passt. Manchmal ist er genauso kugelig und schweben kann er auch.“
 

„Puste…“, entgeistert entglitten Mimouns Gesichtszüge. Darum hatte Dhaôma wohl damals gekichert. Vorwurfsvoll funkelte er seinen Freund an. „Das hättest du mir sagen müssen. Ich sollte ihm einen Namen geben, auf den er stolz sein kann. Und dann verpass ich ihm die Bezeichnung von Unkraut.“ Der Geflügelte fischte sich den Winzling aus dem Wasser, als der Wind wieder stärker wurde und folgte den beiden anderen in den Schutz der Felswand.
 

„Unkraut?“, fuhr Dhaôma empört auf und unterbrach sich darin, die heilenden Fähigkeiten anzuwenden. „Was ist daran Unkraut? Es sind wunderschöne Blumen, die Unmengen von Bienen und Käfern füttern, deren Blätter man essen kann, und die obendrein noch unfassbar zarte, fragile Samen produzieren, die auf dem Wind schweben können und selbst von Regen kaum zerdrückt werden. Nimm das sofort zurück!“
 

Verblüffung war auf dem Gesicht des Geflügelten zu erkennen, kurz bevor er breit zu schmunzeln anfing und schließlich lachte. „Ah. Ich vergaß. Vergreif dich nie an den Lieblingen eines Magiers. Weder tätlich noch mit Worten.“ Er trat auf Dhaôma zu, ergriff sein Gesicht und drückte ihm, ohne auf Gegenwehr zu achten, einen Kuss auf die Stirn. „Du bist süß.“ Und um die Wogen zu glätten, fügte er noch an: „Ja. Es tut mir Leid. Und ich werde vorsichtiger in der Wahl meiner Worte sein. Okay?“
 

„Solange du zu schätzen weißt, dass der Name deines Drachen vielleicht auch bedeutet, dass er besonders widerstandsfähig ist.“ Aber dennoch war er nicht länger böse. „Und jetzt lass mich Lulanivilays Wunden behandeln, damit er schneller lernt, seine Kraft zu beherrschen. Dann ist es auch nicht mehr so windig in seiner Gegenwart.“

Er strubbelte noch einmal durch das schwarze Haar und platzierte seine Hände wieder auf Schulterblatt und Hals des Drachen. Die Linien begannen zu leuchten.

„Ich werde dir helfen.“, erklang es in seinen Gedanken und sofort spürte er, wie sich der ganze Drache regenerierte, sich Wunden schlossen und die Müdigkeit verschwand, noch bevor er seine Kraft zurücknehmen konnte, um sie zu kontrollieren.

Seufzend schüttelte er den Kopf. „Ich sagte zwar, dass du vorher Bescheid sagen sollst, aber es wäre hilfreich, wenn du mir auch Zeit ließest, darauf zu reagieren. Wenn es ein anderer Zauber gewesen wäre, könnte das schlimm enden.“

„Sicher.“, war die knappe Antwort, während die großen Flügel ausgestreckt wurden. „Das fühlt sich gut an.“ Es waren nicht einmal Narben zurückgeblieben.
 

„Ja, nicht wahr.“, stimmte Mimoun voller Inbrunst zu. Er kannte dieses Gefühl schließlich schon zur Genüge. Dann drängte sich ihm eine Frage auf. „Wie hast du ihm geholfen?“, wollte er neugierig von dem Drachen wissen. Den beunruhigenden Nebensatz Dhaômas verdrängte er lieber. Langsam ließ er seine Finger kreisen, denn Tyiasur begann an ihnen herum zu klettern und sich darum zu winden.
 

„Ich gebe ihm meine Magie.“, war die kryptische Antwort des Drachen, der jetzt von Dhaôma staunend betrachtet wurde. Zehn Meter Spannweite hatte er einfach nicht erwartet! Dieser Drache war gigantisch. Nicht so groß vielleicht wie die Mutter, aber dennoch…

Dann riss er sich zusammen. Er konnte sich denken, dass Lulanivilays Antwort Mimoun in die Irre führen würde, deshalb übersetzte er. „Er verstärkt die Magie anderer. Die Heilung hat so gut funktioniert, weil er meine Kraft verstärkt hat.“

„Sage ich ja.“ Zufrieden schüttelte der Drache die Flügel und zog sie dann wieder ein, um sie vor dem Wind zu schützen. „Wirst du mir auch helfen, Himmel?“
 

„Natürlich. Wenn ich kann.“ Magie verstärken? Da kam ihm doch eine Idee. „Wenn du mir auch einen Gefallen tun könntest? Später irgendwann?“
 

„Sicher.“, kam die Antwort schnell, die Aufmerksamkeit wurde jedoch von dem schnellen Wesen auf Mimouns Hand abgelenkt. Die goldenen Augen zuckten bei jeder Bewegung, die Pupillen adjustierten ebenso schnell. Sie funkelten förmlich, während sie Tyiasur folgten.

Dhaôma seufzte. „Ich werde jetzt zum Bach gehen. Ich brauche etwas zu trinken und möchte gerne den Staub aus meinen Haaren waschen.“

„Du solltest dich schütteln.“, kam ein abgelenkter Tipp, denn noch immer war Tyiasur interessanter.
 

Mimoun lachte aus vollem Halse. „Das versuche ich ihm auch beizubringen. Die Ansätze, die er zeigt, sind ganz nett, aber bedauerlicherweise wollte er wohl ursprünglich ein Wasserdrache werden.“ Er hielt seine Hände ein wenig auf Abstand. So versuchte er schon seit einigen Tagen dem Kleinen zum Fliegen zu bewegen. Dieses Mal tat er es, wenn auch widerwillig und unter protestierenden Quäken. Es reichte Mimoun fürs Erste. Er ließ Tyiasur wieder um seine Finger tanzen. „Kommst du allein zurecht?“, wandte er sich an den Magier. „Soll ich hier bei unserem neuen Freund bleiben?“
 

„Wie du willst.“, zuckte der Braunhaarige die Schultern. „Ich brauche eh nicht lange.“ Und dann fügte er noch hinzu, weil er Mimouns Antwort gehört hatte: „Aber selbst mit nassen Haaren wirst du wohl kaum zulassen, dass mir kalt wird. Und du scheinst Wasserwesen zu mögen. Hast schon drei adoptiert.“
 

„Drei?“ In Gedanken ging er alle infrage Kommenden durch. „Du. Tyiasur.“, zählte er laut auf, da er partout nicht auf die von Dhaôma vorgegebene Zahl kommen wollte. Fragend sah er ihn an. „Wer soll der Dritte sein? Ich mag Fische, am liebsten roh, aber das kannst du nicht meinen.“
 

„Ich meinte Fiamma. Sie ist eine Magierin und kann später schwimmen. Ich werde ihr beibringen, dass man sich regelmäßig baden muss. Und sie sollte wissen, wie man schwimmt, damit sie nicht irgendwann absäuft, wenn sie ins Wasser fällt.“

„Wer ist Frieden?“, fragte der Drache dazwischen.

„Ein Baby, das wir gefunden haben.“, antwortete Dhaôma unwirsch. Und an Mimoun gewandt fügte er hinzu: „Außerdem ist Wasser per se nichts Schlechtes. Soll ich welches mitbringen?“
 

„So schnell wird sie nicht ertrinken, schließlich passen wir bei unserem Nachwuchs generell auf, wenn Wasser in der Nähe ist.“ Mit dem Finger deutete er auf das Planschbecken des Minidrachens inmitten der Sträucher. „Wenn es ums Trinken geht, haben wir dort ein wenig. Es sei denn unser großer Freund hier…“ Bezeichnend klopfte er Lulanivilay auf die Flanke. „…hat Durst. Dann dürfte es schnell wieder leer sein und uns bleibt nichts mehr.“
 

Nachdem das geklärt war, ging Dhaôma. Und bis er zurück war, beobachtete Lulanivilay Tyiasur, der sich unablässig bewegte.

Jashar

Kapitel 44

Jashar
 

Danach begann eine Zeit, die für Mimoun und Dhaôma ziemlich langweilig war. Der grüne Drache musste lernen, seine Konzentration zu stärken, was vor allem Zeit und Meditation bedeutete. Er wurde langsam besser, konnte es mit jedem Tag ein wenig länger aufrechterhalten und sich auch mal ein bisschen bewegen, da zu dieser Zeit der Wind beinahe ganz abflaute. Tyiasur begleitete ihn bei diesen Spaziergängen regelmäßig, denn der erste Weg führte ihn immer zum Wasser, aus dem er trank, bis er seinen Durst gestillt hatte. Danach beobachtete er den kleinen Blauen, wie er Fische fing, was er mit der Zeit zielsicher und geschickt bewerkstelligte. Kam Mimoun mit, wurde ihm auch jedes Mal ein Teil der Beute abgetreten, eine Art Freundschaftsbeweis oder Ehrerbietung.

Das zweite, das Lulanivilay lernen wollte, war Dhaômas Magie gezielt zu unterstützen. Ein sinnvolles Ziel war die Fähigkeit, Essbares wachsen zu lassen. Dank Mimoun, der ganz stolz seine Riesenerdbeerensamen präsentierte, die die beiden miteinander zu ansehnlich großen Früchten wachsen ließen, war auch schnell geklärt, was der Drache jeden Tag aß. Dabei gefiel es Mimoun, dass er seine Erdbeeren bekam, von denen er tatsächlich satt wurde, während der Drache begeistert davon war, jeden Tag etwas Neues zu probieren. Seine Favoriten waren Bambusgräser und eine Nadelbaumart, die nach Zitronen duftete. Doch zu allererst kam immer noch Fisch. Zum Glück brachten die Drachen regelmäßig alle paar Tage einen gewaltigen Fisch vorbei. Die Ausmaße stellten Dhaômas Körper in den Schatten, reichten aber meistens gerade mal ein paar Minuten. Übrig blieben nur manchmal ein paar Knochen, die dann von Tyiasur blank geputzt wurden.

Es dauerte fast einen Monat, bis Lulanivilay seine Kraft für mehr als eine Stunde vollkommen unter Kontrolle hatte, aber dann stand er vor einem neuen Problem. Auch wenn das ausreichen würde, durch die Schutzwolken um die Insel zu fliegen, waren seine Flügel einfach zu schwach, um ihn zu tragen. Seit Jahren hatte er sie nicht mehr genutzt, nun waren sie nutzlos. Es stürzte ihn in tiefe Trauer, aus der ihn zum Glück Mimoun reißen konnte, indem er ihm erzählte, dass es ihm einst ähnlich gegangen war, als sein Flügel völlig zerrissen gewesen war. Danach trainierten sie das Fliegen. Der Wind, den die Flügel verursachten, kam dem gleich, den Lulanivilay zu diesem Zweck ausgeschaltet hatte, und Dhaôma hielt danach wohlweislich Abstand, damit er nicht wegflog.

Aber auch das wurde besser, als der Drache lernte, wie er das vermeiden konnte. Bald konnte er sich für längere Zeit in der Luft halten und auch ein wenig gleiten. Das, was er als Junges gelernt hatte, kehrte schnell zurück, und bald war er sogar schneller als Mimoun, wenngleich auch nicht so wendig.

Und dann passierte es immer wieder, dass plötzlich sowohl der Wind erstarb, als auch Dhaômas Fähigkeit, Pflanzen wachsen zu lassen. Es war nie lange, aber immer mal wieder und sehr irritierend. Der Grund dafür interessierte Dhaôma brennend, aber er blieb ihm verschlossen.
 

Solange er nicht mit Lulanivilay das Fliegen trainierte, suchte sich Mimoun selbst etwas zum Üben. Ihm war es schon zu Beginn ihres Aufenthaltes auf der Insel schwer gefallen, sich längere Zeit in der Luft zu halten. Ihm fehlten sowohl die Kraft als auch die Ausdauer dafür. Aber je länger sie blieben, umso besser wurde es. Zu häufig flog er zwischen der Teichlandschaft und den Klippen hin und her. Doch es genügte seinen Ansprüchen nicht. Dhaôma wollte auf einem Drachen fliegen und Lulanivilay hatte ihm eindrucksvoll gezeigt, dass er mit seinem derzeitigen Können auf keinen Fall längere Zeit mit einem dieser riesigen Tiere mithalten konnte. So nutzte der Geflügelte freie Momente, die er weder mit dem großen noch mit dem kleinen Drachen verbrachte, und wo auch sein Magier gut beschäftigt war und flog immer in Sichtweite absichtlich in heftige Winde hinein.

Bei seinen ersten Übungsflügen wurde er kräftig durcheinander gewirbelt. Nicht selten passierte es dann, dass der Wind einfach erstarb. Es kam immer unerwartet und meist strauchelte er in der Luft. Genauso geschah es hin und wieder, dass es ihm leicht fiel hier zu fliegen. Manchmal konnte er ansonsten unvorhersehbare Strömungen ganz leicht für sich nutzen. Es war dann jedes Mal ein berauschendes Gefühl, keine Winde fürchten zu müssen, frei und unbeschwert auf ihnen zu gleiten.

In der Zeit, die sie am Rande der Insel mit Lulanivilay trainierten, wuchs Tyiasur heran. Es würde noch dauern, bis er die Ausmaße seiner erwachsenen Artgenossen erreichen würde, aber schon jetzt konnte man ihm fast beim Wachsen zusehen. Er hatte jetzt bereits die Länge von Mimouns Unterarm erreicht. Der kleine Blaue wurde neugieriger und begann auch auf eigene Faust seine Umgebung zu erkunden. Zwar blieb er noch immer in Rufweite zu seinem großen Beschützer, doch er klammerte sich nicht mehr an ihn.

Zusätzlich zu seiner Größe, was alle mitbekamen, änderte sich auch etwas in Tyiasurs Inneren, das nur für ihn spürbar war. Er konnte fühlen, wie die Magie um ihn herum verschwand, wenn er es wirklich wollte. Es war lustig, wenn der Flügellose völlig irritiert war, wenn sein Grünzeug nicht mehr so wuchs, wie er es beabsichtigte. Manchmal setzte der kleine Drache auch den Wind außer Kraft, wenn er dachte, sein Freund wäre in Gefahr.

Verwirrender als diese Fähigkeit war etwas anderes, was im Laufe der Zeit mit ihm geschah. Es passierte anfangs ganz unbewusst. Tyiasur vernahm Stimmen, wo keine sein durften, sah Bilder, die nicht sein konnten. Wenn sein Beschützer mit dem Flügellosen kuschelte und beide keinen Laut von sich gaben, konnte er sie dennoch hören. Zeitgleich, durcheinander, in wechselnden Lautstärken. Nur langsam wurde ihm bewusst, was er da vernahm und er begann gezielt Stimmen zu suchen oder auszublenden. Das war anstrengend und nervig. Man hatte keine Ruhe mehr. Nur nachts wurde es ruhiger. Dann wurde sein Kopf nicht mehr von Stimmen gefüllt, nur noch von Bildern, manche sanftmütig und ruhig, andere unruhig.

Nachdem er einmal in den Traumbildern gesehen hatte, dass es für seinen Beschützer unangenehm wurde, ihn weiter auf dem Hals nächtigen zu lassen, zog er sich von selbst auf die sich gleichmäßig hebende Brust zurück, wo nicht selten auch die Hand des Flügellosen lag.
 

Dann, eines Tages, flog Lulanivilay fort. Schon länger hatte er erzählt, er würde gern die Welt ohne Magie erkunden, endlich dieser Spannung entkommen, der er immerzu ausgesetzt war. Dhaôma und Mimoun winkten zum Abschied, Tyiasur schwebte ihm sogar ein Stückchen nach, bevor der Schwarzhaarige ihn wieder einfing. Die Stimmung war irgendwie gedrückt. Sie hatten gehofft, Lulanivilay würde bleiben und sich ihnen anschließen, aber Dhaôma hatte ihn nie gefragt, weil er ihn nicht in Gewissenskonflikte bringen wollte. Er hatte ihm geholfen, um ihm seine Freiheit wieder zu geben; die würde er ihm nicht nehmen.

Und etwas wurde ihm danach auch klar: Seine Magie war schwach geworden. Zumindest kam es ihm so vor. Weil Lulanivilay immer da gewesen war und ihm geholfen hatte, war es immerzu leicht von der Hand gegangen, wenn man von der Konzentration zum Zurückhalten mal absah, jetzt brauchte alles wieder viel mehr Zeit und Kraft.

Deprimiert fügte sich der Braunhaarige in sein Schicksal. „Ich bin ein Esel.“, sagte er missmutig. „Dabei sollte ich doch wachsen. Stattdessen mache ich einen Rückschritt.“ Entschlossen stand er auf und sah Mimoun auffordernd an. „Ich hätte Lust, endlich einmal die ganze Insel zu erkunden. Vielleicht unterbricht mich diesmal ja kein Drache dabei, so dass ich tatsächlich einen guten Überblick bekomme.“ Ja, Mimoun hatte ihm viel erzählt, so wie Lulanivilay auch, aber gesehen hatte er kaum etwas. Und Tyiasur hatte auch kaum etwas von seiner Heimat kennen gelernt. „Kommst du mit?“
 

Gespielt beleidigt legte Mimoun den Kopf schief und verschränkte die Arme. „Nein.“, erwiderte er lang gezogen. „Ich bleib hier und warte darauf, dass du mich wieder abholst.“ Mit einem frechen Grinsen, das ihn wie einen kleinen Jungen wirken ließ, ergriff er Dhaômas Handgelenk und zog ihn mit sich.

Zuerst führte der Geflügelte seinen Freund auf die Steppe und zeigte dem Magier dort die Erddrachen. Kurz erklärte Mimoun, was er über diese Tiere herausgefunden hatte, ihre komplette Friedfertigkeit und ihre Vorliebe für Gräser. Anschließend strich er einem dieser Geschöpfe über den Rücken und setzte sich darauf. Kurz wandte der Drache seinen Kopf und setzte sich leicht schwankend und mit einem tiefen Brummen in Bewegung.

„Los komm. Das fühlt sich genau wie auf deinem Boot an.“, lachte Mimoun und streckte eine Hand in Dhaômas Richtung.
 

Sprachlos starrte Dhaôma seinem Freund hinterher, dann begann er zu laufen, um das Tier einzuholen. Trotz seiner Trägheit war es viel schneller als er. Zum Glück zog ihn Mimoun hinauf, als er seinen Sprung nicht ganz schaffte.

Es war wirklich wie auf einem Boot, nur dass das Schwanken viel gleichmäßiger war und statt dem stetigen Plätschern gab es ein leises Donnern, wenn die Füße Kontakt mit dem Boden schlossen. Und wie weit er sehen konnte! Es war phantastisch. Überall waren Drachen und sie ritten einfach an ihnen vorbei, wurden dabei kaum beachtet. Ab und zu kamen ein paar Vögel und pickten auf dem Drachen herum, bevor sie wieder wegflogen. Anscheinend suchten sie kleine Insekten, die in den Schuppen und Hautfalten lebten. Und die Landschaft war beeindruckend. Wie die Gräser sich wiegten, sahen sie aus wie das seidige Fell eines schlafenden Tieres. Die Bäume waren kräftig und ausladend und dabei so verwinkelt, dass es erstaunlich war, dass sie standen. Kleine Bäche oder Teiche wimmelten vor Kleinstgetier, dass manchmal die Oberfläche brodelte, wenn ein Wasserdrachen seine Krallen danach ausstreckte. Auf der einen Seite waren die Wolken des Schutzwalls hinter dem Rand der Insel zu sehen, auf der anderen Seite der Berg und die Wälder, dazwischen erstaunliche Felsenriffe, die wie eigenständige Inseln aus den Baumriesen herausragten. Vor Begeisterung fiel Dhaôma beinahe von dem Rücken des Drachens herunter.
 

Lachend griff Mimoun zu und hielt die Hüften seines Freundes umschlungen, bot diesem so die Möglichkeit sich ungestört umzusehen. Mit einem intensiven Glücksgefühl nahm er das Bild von Dhaômas leuchtenden Augen, seine geröteten Wangen tief in seiner Seele auf.

„Sag Bescheid, wenn du dich satt gesehen hast. Dann geht's zum nächsten Ort. Oder willst du wie ich auf meiner Suche jeden Tag einen anderen Teil erkunden?“, fragte er schließlich neugierig nach.
 

„Was? Nein, einfach herumlaufen und dann sehen, wohin man gelangt. Ich habe keine Eile damit. Wir kommen hier eh nicht weg, bevor wir alles erreicht haben, nicht wahr?“ Tief kuschelte er sich in die Arme Mimouns und lehnte sich gegen ihn. So war es noch besser. Er konnte alles sehen und haderte nicht mit der Problematik, seinen Schatz nicht ganz nah bei sich zu haben.

Doch plötzlich blieb der Drache stehen. Er hatte etwas entdeckt, das er fressen konnte. Und tat es. Der Ritt war vorbei. „Ai. Jetzt heißt es wieder selbst laufen.“, lachte der Braunhaarige und wurstelte sich aus der Umarmung. „Ein paar Stunden haben wir noch, bis es dunkel wird, bis dahin kommen wir doch sicher noch ein Stück weiter.“ Auffordernd hielt er Mimoun die Hand hin.
 

„Ein wenig können wir noch herum spazieren, aber wenn es dunkel wird, müssen wir an einem bestimmten Ort sein. Ich will dir schon so lange etwas ganz Tolles zeigen.“ Sein Blick glitt über den Himmel, missmutig zogen sich die Brauen zusammen. „So ein oder zwei Stunden.“ Elegant ließ sich der Geflügelte vom Rücken des Tieres hinunter gleiten und wandte sich zu dem großen, breiten Kopf zu. „Vielen Dank fürs Tragen.“ Sacht streichelte er die Nase des Tieres, das davon keine Notiz nahm.

Lächelnd ergriff der Geflügelte Dhaômas Hand und lief ein paar Schritte rückwärts, seinen Freund mit sich ziehend, einfach in irgendeine Richtung.

Sie blieben bis zum letztmöglichsten Zeitpunkt in der Steppe, ließen sich die Gräser um die Beine streichen, beobachteten junge Erddrachen. Im Gegensatz zu ihren ausgewachsenen Artgenossen, wirkten sie lebendiger, nicht so träge. Sie rannten noch über die Steppe und wenn man ihrer Laufbahn zu nahe kam, bebte die Erde. Mit Begeisterung erkor sich Mimoun einen Favoriten aus und feuerte ihn lauthals an. Auch wenn dieser nicht gewann, hatte der Geflügelte dennoch einen Heidenspaß an der Situation.

„Komm. Es wird Zeit.“ Sanft umschlang er die Hüften seines Freundes und stieß sich ab. Ja er hatte Fliegen im Sturm geübt. Es war dennoch schwieriger als erwartet. Vielleicht hätte er auch Fliegen mit Ballast trainieren sollen.

Seine Route führte ihn nicht über den verdrehten Wald in Richtung des riesigen Hauses. Er schwenkte ein wenig seitlich, strebte der Teichlandschaft zu. Bei jedem seiner Flüge dorthin hatte er ein wenig Gras aus der Steppe mitgenommen und seine auserkorene Höhle ausgepolstert. Selbst Tyiasur hatte nach einiger Zeit angefangen einzelne Halme zu tragen. Aber im Endeffekt blieb auch das an Mimoun hängen, da er den kleinen Drachen ja ebenfalls trug.

Kurz bevor das letzte Licht schwand, erreichte der Geflügelte sein Ziel. Sanft stellte er seinen Freund neben dem Höhleneingang ab, zeigte ihm kurz, wo sie nächtigen würden, und zog ihn dann am Handgelenk zu den Teichen. Im immer weiter schwindenden Licht konnte man erkennen, dass sich die kleinen Wasserdrachen zur Nachtruhe zwischen das Schilf zurückzogen und auch die Libellen flogen bereits nicht mehr so zahlreich. Aber das war es nicht, worauf Mimoun wartete. Selbst als der letzte Sonnenstrahl verschwunden war, stand er abwartend zwischen den Teichen.

Dann langsam begann es. Ein leises Glimmen war zwischen dem Schilf zu erkennen, wurde zahlreicher und erhob sich schließlich daraus empor. Der Schwarm der kleinen leuchtenden Insekten verteilte sich sanft wiegend über den Teichen, spiegelte sich im Wasser wider.
 

„Glühwürmchen!“, hauchte Dhaôma hingerissen. „Wie schön!“

Es sah wirklich wunderschön aus. Die Teiche an sich waren schon hübsch, glitzerten im schwachen Mondlicht, wenn sich ihre Oberfläche ein wenig kräuselte, aber die Glühwürmchen waren noch viel schöner. Sie verzauberten die Umgebung, schwebten unkoordiniert über das Wasser und um sie herum. Das Schilf mutete aufgrund der Schatten beinahe gespenstisch an und die nachtaktiven Drachen huschten wie Leib gewordene Schatten über die winzigen Erdbrücken, um die Glühwürmchen zu fangen und zu fressen. Man konnte sie kaum erkennen, so schnell waren sie.

Ergriffen lehnte sich Dhaôma auf Mimouns Schultern. Der Schwarzhaarige war tatsächlich noch einmal gewachsen. Sie waren jetzt fast gleich groß. So war er genau groß genug, damit er sein Kinn auf Mimouns Schulter legen konnte, ohne sich anstrengen zu müssen, weil er krumm stand. „Das ist wirklich schön.“, sagte er leise.
 

Jedes weitere Wort hätte die Stimmung gestört, befand Mimoun und schwieg. Er hatte den Flug der Glühwürmchen schon so häufig gesehen, dass er sich nun leisten konnte, etwas anderes zu beobachten. Der Geflügelte war so sehr in Dhaômas Anblick versunken, dass es völlig an ihm vorbeiging, dass Tyiasur ihn intensiv anstarrte. Der kleine Drache schüttelte mit Unverständnis den Kopf und erfreute sich lieber selbst an der Jagd nach den leuchtenden Insekten. Sie schmeckten nicht, das wusste er bereits, aber sie zu fangen, war eine Herausforderung.

„Komm.“, flüsterte Mimoun nach einer Ewigkeit und seine Lippen fanden den braunen Haarschopf des anderen. „Wir sollten langsam schlafen gehen.“ Er verwob seine Finger mit Dhaômas und lächelte sanft.
 

Dieser drückte die vertraute Hand und nickte. Noch immer war die Atmosphäre zu angefüllt für irgendwelche Worte, also zogen sie sich zusammen in die Höhle zurück und legten sich hin. Und obwohl Dhaôma nichts sagte, schlief er nicht, sondern hielt mit geschlossenen Augen Mimouns Hand fest und spürte in sich nach, was das war, das in ihm so überquoll.

Freude, dass er wieder mit Mimoun reisen konnte – das hatte er vermisst.

Glück, dass Mimoun bei ihm war, bedingungslos und jederzeit - wie er es gewöhnt war.

Zufriedenheit, dass trotz eines traurigen Abschieds die Welt noch so wundervoll sein konnte.

Wärme, dass er nicht allein war.

Und davon angefüllt schlief er schließlich doch ein.
 

Es war die letzte Nacht, die sie auf längere Zeit in der Höhle verbringen würden, denn Dhaôma weigerte sich, von Mimoun hin- und hergetragen zu werden, wie der verweichlichte Magiersohn, der er einst hätte sein sollen. Er wollte frei sein, zu entscheiden, wohin ihn seine Füße lenkten. Für Tyiasur würden sie schon eine Lösung finden, denn diese Landschaft war mit Sicherheit nicht der einzige Ort, an dem es kleine Fische und Wasser gab.

Dennoch war die Seenlandschaft groß und sie wanderten den ganzen Vormittag durch sumpfiges, morastiges Gebiet. Reiher standen in den flachen Teichen und warteten geduldig auf eine Gelegenheit, den Schnabel ins Wasser zu stoßen. Nicht selten wurden sie dabei von den kleinen Wasserdrachen gestört, die durch das Wasser flitzten und mit dem Schlamm, den sie aufwühlten, die Sicht versperrten. Sie wurden Zeuge, wie einer der kleinen Drachen gefangen und verschluckt wurde. Dies hier war zwar die Insel der Drachen, aber das hieß wohl nicht, dass die Drachen hier die einzigen Herrscher waren. Offenbar galt auch hier das Gesetz des Stärkeren.

„Du musst schnell sehr stark werden.“, erklärte Dhaôma Tyiasur, als der Kleine von einem Kurzausflug zurückkehrte. „Damit wir keine Angst haben müssen, dass du einmal nicht zurückkommst.“

Irgendwann wurden die kleinen Flüsschen und Teiche zu einem einzigen Wasserlauf, der über Steine plätscherte und teilweise sogar unterirdisch verlief. Natürlich konnte der kleine Blaue nicht widerstehen, die dunklen, verborgenen Teile des Wassers stromaufwärts zu erkunden und erwartete die beiden Freunde jedes Mal etwas weiter oben, wo das Wasser verschwand. Für Dhaôma war der Weg am beschwerlichsten, da die losen Steine unter seinen Füßen wegrutschten und er ständig stolperte. Fast war es wie die Geröllhalde, die er mit Mimoun überquert hatte. Es schien ein ganzes Leben her zu sein. Jetzt konnte Mimoun einfach flatternd die unwegsamsten Stellen überqueren und kam nicht mehr in die Verlegenheit, wie ein Betrunkener zu torkeln. In diesem Gebiet lebten wieder Steindrachen und Erddrachen, sowie Eidechsen und Schlangen, die sich genüsslich in der Sonne aalten, bis Tyiasur sie aufschreckte. Beide jungen Männer lachten, als eine Schlange sich verteidigte und aus dem Blauen eine Kugel wurde. Es sah immer wieder lustig aus.

Bei Sonnenaufgang konnten sie in der Ferne hinter dem Hügel das gigantische Haus ausmachen, in dem die Mutter wohnte, aber sie wollten dort nicht hin, also wendeten sie ihren Weg von dem Flüsschen ab auf einen Wald aus Nadelbäumen und niedrigem Gestrüpp zu. Für Mimoun war es die denkbar schlechteste Umgebung, also hielten sie sich am Rande, so dass Dhaôma kurze Ausflüge hinein machen konnte, ohne dass Mimouns lederne Flügel beschädigt wurden. Was er fand, waren Pilze, die sie zum Abendessen verzehrten, und einen Drachen, der sich absolut nicht bewegte, egal, ob er ihn ansprach oder berührte. Als wäre er nur aus Holz geschnitzt – und genauso gefärbt. Aber es war langweilig, nur einer eintönigen Linie an Baumstämmen zu folgen, also streunten sie in das wogende Grasland daneben ab, um zu einem grotesken Felsen in seiner Mitte zu gelangen. Versteckt unter den Gräsern fanden sie immer wieder Teiche, die vollkommen zugewachsen waren, so dass Dhaôma unfreiwillig erkundete, dass sie tiefer waren als er groß. Natürlich war ihr Drachenfreund begeistert und holte einen sehr ungewöhnlich aussehenden Fisch an die Oberfläche. Er war platt und hatte vorne einen großen, hammerähnlichen Knubbel, wo bei einem Wirbeltier vielleicht die Nase sitzen würde. Etwas später stritt er sich mit einem äußerst apathischen Drachen, der halb im Wasser saß und eine eigenartige Mischung aus Kröte und Regenwurm zu sein schien. Tyiasur gewann durch Nicht-reagieren.

Schon von weitem erkannte Mimoun, dass der Felsen bewohnt war. Und zwar von kleinen geflügelten, grauen Drachen. Nähern konnten sie sich dann aber nicht, denn die Winzlinge waren absolut nicht begeistert darüber, dass so seltsame Wesen ihr Territorium betraten. Sie griffen an und nach einem stummen, versichernden Blick ergriffen Mimoun und Dhaôma die Flucht. Vielleicht war es nicht schlecht gewesen, denn sie beobachteten einen Tag später, wie eben jene Drachen einen viel größeren Erddrachen angriffen und ihm bei lebendigem Leib Stücke aus dem Panzer brachen. Beeindruckt wohnten sie dem Schauspiel aus sicherer Entfernung bei, bis die Beute komplett zerlegt und abtransportiert war. Nur noch ein gewaltiger Blutfleck zeugte davon, dass hier ein Drache gestorben war.
 

Dieses Schauspiel war nicht nur beeindruckend, gleichzeitig war es beunruhigend. Die Schnelligkeit, mit der diese Drachen zuschlugen, die Brutalität, mit der sie zu Werke gingen! Und dabei waren sie so klein.

Mimoun legte einen Arm um seinen Freund, umfasste mit der anderen Hand Tyiasur. Ab jetzt würden sie solche Felsen und ihre Bewohner besser weiträumig umgehen.

Ihr Weg führte die beiden Freunde wieder näher an den Rand der Insel. Unaufhaltsam kamen sie dabei in eine unwirtlichere Gegend. Es fing langsam an, fast unmerklich. Kleine Spalten zogen sich durch die Erde, wurden tiefer und breiter. Das Erdreich wurde fester, felsiger und die Vegetation nahm immer schneller ab. Im selben Maße stieg die Landschaft sanft an, bis sie abrupt abbrach.

Unter ihnen erstreckte sich eine zerklüftete, von Rissen durchzogene Felslandschaft. Rotes Glühen drang durch die Spalten hervor und bestialische Hitze und Gestank schlugen den beiden jungen Männern ins Gesicht. Keuchend wandte sich Mimoun ab und rutschte ein paar Meter den Abhang hinunter. Tyiasur bereute seine Neugier ebenfalls schnell und verdrückte sich mit einem leisen, kläglichen Fiepen bei seinem großen Beschützer. Die Haut des Wasserdrachens, sonst kühl und glitschig, war trocken und an der Schnauze rissig. Mitfühlend griff der Geflügelte nach dem Wasserschlauch und beträufelte den Kleinen zur Linderung. Selbst für ihn war die Hitze, die dort in dem Kessel herrschte, unerträglich, doch für seinen Winzling war es die feindlichste Umgebung, die es auf dieser Insel geben konnte. Dennoch war er neugierig auf die Drachen, die hier wohl leben mochten.

Dhaôma erschien an seiner Seite und überzeugte sich davon, dass alles in Ordnung war. Frustriert zupfte er an seinem Pony herum, der trocken und strohig geworden war. Der Geflügelte übergab seinen Schützling an den jungen Magier und schob sich vorsichtig an den Kraterrand heran. Geduckt, den Kopf aus dem unerträglichen, gen Himmel strebenden Wärmestrom heraushaltend, lugte er in den Glutkessel. Die Hitze ließ die Luft flirren und gaukelte Bewegung vor, wo keine war. Fast war Mimoun versucht zu glauben, dass hier kein Leben existieren konnte, als er einen erblickte. Kurz erschien ein rotgelb gemusterter Kopf und verschwand nur wenige Augenblicke später wieder in einer der Spalten. Ein schlanker, schlangenförmiger Leib folgte dieser Bewegung. Dann erfüllte nur noch das Flirren die Umgebung. Diese Drachen schienen sich wohl eher in den kochenden Tiefen dieses Kessels aufzuhalten.

Zufrieden kehrte der Geflügelte zu seinen Freunden zurück, das Gesicht stark gerötet und schweißnass. „Jetzt…“, begann Mimoun langsam. „…brauchen wir wohl alle ein Bad.“
 

„Aber besser nicht hier in der Nähe, denn wahrscheinlich werden neben einer solchen Hitze eher heiße Quellen sein. Das halten du und Tyiasur kaum aus.“ Während Mimoun gespannt hatte, hatte Dhaôma Tyiasurs Nase geheilt. Der kleine Drache war von diesem Gefühl irgendwie nicht ganz überzeugt, aber dass das eklige Reißen auf seiner Schnauze verschwand, ließ ihn stillhalten, bis die Haut wieder weich und geschlossen war.

Leider fanden sie an diesem Tag keinen Ort, an dem sie baden konnten, also übernachteten sie verschwitzt und trocken unter einem Felsen, der an einen riesigen Riss im Boden grenzte, durch den man auf das Große Wasser hinab sehen konnte. Der Zugwind machte es kalt und Dhaôma kuschelte sich dicht an seinen schwarzhaarigen Freund, um warm zu bleiben.

Aber es lohnte sich definitiv, denn im zunehmenden Licht des neuen Morgens konnten sie zwischen den felsigen Wänden viele gespannte Schnüre sehen, an denen in Trauben ovale Gebilde schaukelnd im Wind hingen. Das hier war eine ganz andere Art von Nest. Und die eifersüchtigen Drachenweibchen, die sie bewachten, hatten die ganze Nacht keine Landung eingelegt.

„Vielleicht fliegen sie immer. So wie die Felsensegler.“, suggerierte Dhaôma nachdenklich.
 

„Möglich.“, zuckte Mimoun mit den Schultern. „Wir müssten länger hier bleiben, um ihre Ausdauer zu testen.“

Dennoch entschieden sie sich, weiter die Insel zu erkunden. Es gab noch so viel zu entdecken, so viel Ungewöhnliches zu sehen. Ein Salzsee, Schwefelquellen, dazwischen die unterschiedlichsten Drachenarten. Alle Größen und Farben waren vertreten und sie nutzten wirklich jede sich bietende Landschaft als Lebensraum. Große geflügelte Drachen beherrschten den Himmel, solche ohne Flügel stampften auf der Erde herum und es gab sogar einige, die sich durch die Erde wühlten. Als die kleine Wandergruppe eine üppig blühende Wiese überquerte, brachen sie nicht selten in die teilweise nur knapp unter der Oberfläche verlaufenden Gänge ein. Das Gezeter der kleinen Schuppentiere war noch meilenweit zu hören.

Schließlich betraten sie ein kleines Tal. Die Hänge der sanft ansteigenden Berge waren zum Teil dicht bewaldet. Der Boden des Tals wurde fast vollständig von einem kristallklaren See ausgefüllt. Und hier fanden die Freunde wieder etwas, dass sie verblüffte. Schwebende Inseln über einer schwebenden Insel. Und ebenso dicht bewaldet wie die Hänge. Dagegen trieb wie ein unvollständiges Spiegelbild eine einsame Insel im See.

Der Geflügelte ließ es sich nicht nehmen, sich das Ganze aus der Luft zu betrachten und auch die kleinen Inseln zu besuchen. Winziges Getier verschwand huschend in dem dichten Unterholz, kaum dass er einen Fuß darauf setzte. Doch mehr konnte er auch nicht tun oder entdecken. Für Mimoun war hier ein Durchkommen unmöglich. Und so kehrte er zu seinem Magier zurück. Tyiasur tobte bereits durch die sanften Wogen, die über das Ufer rollten.
 

Dhaôma hatte sich das einige Zeit angeschaut und die friedliche Atmosphäre genossen, die seine Familie hier vorfand, dann hatte er sich nach rechts gewandt und war an den Ufern des Sees entlang gelaufen – ohne Schuhe, denn er wollte das Wasser auf der Haut spüren. Am Abend würde er vielleicht mit dem Wasserdrachen schwimmen gehen, aber bis dahin wollte er noch ein wenig vorankommen.

Der Hang fiel flach zum See hin ab und war bewachsen mit lichten Erlen und Birken. Ihr Laub war hell und jung und erinnerte Dhaôma daran, dass eigentlich längst Herbst herrschen sollte. Die Hanebito würden jetzt alles geben, um ihre Vorratskammern aufzufüllen, und die Tiere würden sich ebenfalls für den Winter bereit machen. Selbst er hätte es tun müssen, eine Höhle finden und Vorräte sammeln sollen, stattdessen war er hier und irgendwie herrschte hier eine andere Art von Klima, so dass es vom Rest der Welt unbehelligt blieb. Er wusste nicht, ob es ihn beruhigen sollte, oder ob er nicht trotzdem Vorbereitungen treffen sollte.

Der Wald zu seiner Rechten wurde höher und dichter, als Mimoun zurückkam. Und gerade, als Dhaôma ihn begrüßen wollte, hielt er mitten im Atmen inne, als hinter seinem großen Freund ein noch größeres Wesen erschien. Allein der Kopf ließ Lulanivilay wie einen Grashüpfer wirken.

„Mimoun!“
 

Das Rauschen herabstürzenden Wassers erfüllte die Luft und Dhaôma verlor schlagartig alle Farbe. Der Name des Geflügelten drang zittrig und panisch zu dem Gerufenen empor. Und schlagartig wurde es dunkler. Mimoun flog nicht mehr im Sonnenlicht. Etwas hatte sich dazwischen geschoben.

Während er sich ein stückweit fallen ließ, drehte er sich um… und vergaß beinahe seine Flügel wieder in Bewegung zu setzen. Zwar fing er sich wieder ab, doch der Geflügelte wagte es nicht, diesem gigantischen Geschöpf den Rücken zuzudrehen und zu verschwinden. Der gewaltige Kopf drehte sich und kam ein Stück näher, so dass sich Mimoun direkt mit dem Auge konfrontiert sah, selbst noch ein Stück größer als der Winzling, als der er sich gerade fühlte. Flink schob sich eine durchsichtige Haut davor und verschwand wieder.

„Ähm…“, begann er, räusperte sich kurz, weil seine Stimme nicht so wollte wie er. „Hallo.“

Der Kopf zog sich ein wenig zurück und wandte sich zur anderen Seite. Der Drache musterte ihn nun mit dem anderen Auge.
 

Er öffnete das Maul. Eine monströse Zunge erschien, beweglich wie eine Wüstennatter. Wieder schlossen sich die Augen, ohne dass sie verdeckt wurden und zu Dhaômas Füßen schlugen hohe Wellen ans Ufer. In seinem Kopf setzte einen Augenblick alles aus, dann fand er sich selbst auf den Knien wieder, die Hände bis zu den Ellbogen im Wasser. Mit hoher Geschwindigkeit gefror die Oberfläche des Sees, krachte und knackte und barst, während es immer wieder fest wurde, wenn Wasser auf das Eis gespült wurde. Aus den Tiefen schoss ein silbrigblauer Blitz, als das Monster sich erneut bewegte und wieder hohe Wellen auftürmte. Seine Nase schoss vor, direkt auf Mimoun zu, als wolle er ihn fressen.
 

Das war die Grenze. Nichts wie weg, war der einzige Gedanke, der den Geflügelten beherrschte. Er ließ sich nicht nur einfach fallen. Gezielt schoss er auf die Eisfläche zu. Auf halbem Wege schoss etwas Blaues aus einem Loch in der scharfkantigen Masse, wickelte sich um sein Bein und schlängelte sich höher, bis Tyiasur sich an den Halsausschnitt krallte. Sanft stieß der kleine Drache die Schnauze an das Kinn des Geflügelten.

Zittrig fing sich Mimoun wieder und verharrte nahezu bewegungslos an der Stelle. Tyiasur hatte ihm schon einmal den richtigen Weg gewiesen und jetzt schien er angstfrei zu sein. Es war nicht falsch, sich auf das Gespür des Winzlings zu verlassen. Mit geschlossenen Augen und halb abgewandtem Kopf harrte der Geflügelte aus, als sich die Schnauze des Giganten weiter näherte.
 

In Dhaôma blieb das Herz einen Moment stehen, als er sah, wie Mimoun plötzlich in seinem Fluchtversuch verharrte und schlitternd mit beiden Füßen auf dem Eis zum Stehen kam. Verkrampft und geduckt wartete sein schwarzhaariger Beschützer auf diesen riesigen Drachen.

„Nein!“, wisperte Dhaôma, sich die schlimmsten Dinge ausmalend, die gleich passieren würden. In seinem Geist sah er, wie Mimoun in dem Schlund verschwand, nicht einmal genug, um den Drachen zu sättigen. Er sah vor sich, wie Mimoun blutüberströmt auf einem dieser spitzen, stalagmitenähnlichen Zähne steckte, die Augen leer und gebrochen…

In der Realität splitterte das Eis, als der weißgraue Drache sich vorwärts schob, und sein Maul wieder schloss. Die scharfen Scherben schossen durch die Luft, aber die Haut des Drachens durchdrangen sie nicht, als sich die ovalen Nüstern blähten. Sekundenlang geschah nichts, dann stieß der Drache einen Schrei aus, der so tief war, dass das Wasser vibrierte, das Eis völlig barst und in den Mägen der beiden Menschen ein Gefühl der Angst entstand, weil es jenseits alles Hörbaren lag. Im nächsten Moment brach Mimoun ein.
 

Das Wasser schlug über ihm zusammen, kurz nachdem er ein letztes Mal verzweifelt Luft geholt hatte. Um sich herum sah er die Luftblasen emporschweben und sank selbst noch tiefer. Ein angestrengtes Auffächern der Flügel verhinderte weiteres Absinken, doch er kam nicht wieder nach oben, so sehr er auch mit den Füßen strampelte, wie er es von dem Magier kannte. Am Rande bekam Mimoun mit, wie Tyiasur im Kreis um ihn herum schoss, sich an der Kleidung festkrallte und zog - ohne Effekt.

Das Wasser geriet in Bewegung. Der Druck schob den Geflügelten in Richtung Ufer, aber im gleichen Maße auch weiter nach unten. Die Nase des großen Grauen pflügte durch das Wasser, traf auf das kleine, verzweifelt ums Überleben kämpfende Geschöpf und hob es aus der nassen Umklammerung heraus. Keuchend und zittrig blieb Mimoun liegen. Seine Finger fuhren suchend über die Schuppen, suchten eine Möglichkeit sich festzuhalten.
 

Dhaômas Magie hatte ihn verlassen, bevor er etwas tun konnte. Das lag nicht etwa daran, dass sie erschöpft gewesen wäre, nein, sein Kopf hatte ihm die Kontrolle über alles verwehrt, das ihm gehörte: seine Magie und sein Körper. Als Mimoun versank und dieses Ungeheuer hinterher tauchte, wusste er einfach, dass er nichts mehr machen konnte. Ihm versagten die Knie und er sank bis in die Grundfesten erschüttert zu Boden.

Verloren, schoss es ihm durch den Kopf und alles wurde weiß, als er sich weigerte, das als Wahrheit zu akzeptieren.

Und dann tauchte Mimoun wieder auf. Auf der Nase des Drachens liegend, triefend nass. Es dauerte endlos, bis Dhaôma verstand, was sich hier abspielte, dass sein Freund am Leben war, dass der Drache ihn nicht gefressen hatte, dass er ihn nicht verloren hatte.

Ein Schluchzen schüttelte ihn und Erleichterung brach sich in Form von Tränen ihre Bahn. Der Braunhaarige hatte nicht einmal genug Kraft in seinen Muskeln, um sich über die Augen zu wischen.
 

Langsam kam Mimouns heftiger Atem wieder zur Ruhe und er stemmte sich hoch. Zumindest versuchte er es, denn er rutschte ein Stück von der glitschigen Nase herunter. Hastig begab er sich wieder in die Liegende. Das half ihm auch nicht, als eine nachlässige Bewegung des gigantischen Kopfes ihn mit Schwung ans Ufer warf. Die unglückliche Landung trieb ihm alle Luft aus den Lungen, dennoch machte ihn momentan nichts glücklicher, als Erde unter sich zu spüren.
 

Kaum sah Dhaôma den Geflügelten ‚landen’, hastete er auch schon auf ihn zu. Er bildete sich ein, ein hässliches Knacken gehört zu haben. „Mimoun! Mimoun, Mimoun, bist du okay?“, stammelte er, während er versuchte, ihn auf den Rücken zu drehen. Die schmalen Finger zitterten und er spürte, wie unter der Oberfläche seiner Haut seine Magie brodelte wie ein ungeduldiges Tier.
 

War alles in Ordnung? Ja. Er war nicht mehr im Wasser und am Ertrinken. Dennoch schmerzte seine Brust tierisch. Und die Bewegung durch den Magier machte es nicht besser.

„Ich hasse Wasser.“, murmelte er, begann zu husten und krümmte sich leicht zusammen, da die ruckartigen Bewegungen seine Schmerzen verstärkten.
 

Die Schmerzen, die sich auf Mimouns Gesicht abzeichneten, waren ihm Warnung genug. Er gab dem Drängen unter seiner Haut automatisch nach, die Linien auf seinen Wangen begannen zu leuchten, wie sie nur selten gestrahlt hatten, und wie in einem magischen Sog pulste die Magie in Mimoun hinein, heilte einige geprellte und gebrochene Rippen, regenerierte und säuberte eine mit Wasser gefüllte Lunge und richtete eine ausgekugelte Schulter. Das entstehende schnalzende Geräusch war derartig eklig, dass sich ihm beinahe der Magen umdrehte.

Erschöpft brach er über dem Geflügelten zusammen und lehnte seine Stirn gegen die Flügel. Noch immer zitterte er, diesmal mehr vor Überanstrengung als vor Angst. „Irgendwann einmal bin ich nicht da, um dich von dieser Art Verletzungen zu befreien, dann werde ich dich verlieren.“ Hart schluckte er weitere Tränen herunter, die ihm in den Augen brannten. „Lass nicht zu, dass das passiert.“ Wieder schluckte er und seine bebende Stimme brach. „Bitte!“
 

Mit geschlossenen Augen und einem leisen Seufzen ließ der Geflügelte diese altbekannte und gewohnte Prozedur über sich ergehen. Himmel, war er verwöhnt geworden.

Nach den Worten seines Freundes hatte Mimoun erwidern wollen, dass Verletzungen vorher auch ohne seine Hilfe geheilt waren, doch stattdessen schloss er das zitternde Bündel fest in seine Arme.

„Scht.“ Vorsichtig setzte er sich auf und wiegte ihn hin und her. „Ich habe es dir doch versprochen. Ich werde dich niemals allein lassen. Ich werde immer an deiner Seite sein.“

Ein starker Wind ließ die zwei Ineinanderverschlungenen ein Stück das Ufer hinaufrollen und brachte Mimoun mit den Gedanken wieder zu ihrem Zuschauer.
 

„Ihr seid ziemlich schwach für Auserwählte.“, erklang es in ihren Köpfen, während sie wieder ein Stückchen zum Ufer zurückrollten. Die Stimme war nicht unangenehm, aber so dunkel, dass man sich einbilden konnte, dass sie gar nicht da war. Der Drache hatte ausgeatmet, das hatte sie weggeweht.

Verschnupft stemmte sich Dhaôma hoch. „Hätte es keine andere Möglichkeit gegeben, uns zu begrüßen?“, fragte er, verspürte Wut bei dem Gedanken, dass dort ein magiebegabter Drache vor ihnen aus dem Wasser schaute. „Wer bist du überhaupt?“

„Man nannte mich Hondaran, Der Mit Den Wellen Gleitet.“

Eher noch verursachte er diese Wellen, aber vielleicht war er ja nicht immer so groß gewesen.

„Also, ihr seid hier, um Lesley zu finden.“ Seine grünblauen Augen wurden wieder von dem durchsichtigen Lid überzogen, als er blinzelte. „Er wird sich freuen, jemanden zu haben, dem er etwas erzählen kann. Findet ihn bitte bald.“
 

„Schon wieder einem Drachen helfen?“, hakte Mimoun nach und seufzte. Sie klapperten die ganze Insel ab und halfen jedem wieder auf die Sprünge, der ihrer Hilfe bedurfte. Wie hatte die Welt vorher nur ohne sie überlebt? „Na dann los. Wir wollen seine Wartezeit ja nicht unnötig in die Länge ziehen.“

Der Geflügelte wandte sich seinem Freund zu und strich ihm vorsichtig ein paar Fransen aus dem Gesicht. Seine eigene Mimik drückte Sorge aus, als er fragte: „Geht es? Soll ich dich mal wieder für eine Weile tragen?“
 

„Geht schon.“ Dennoch reckte er seinem Freund die Hände entgegen und ließ sich auf die Beine ziehen. Ganz wackelig waren sie, aber das war ja auch kein Wunder nach all der Aufregung. Eigentlich sollte er sich langsam mal daran gewöhnen, damit es nicht immer so schlimm für ihn aussah.

„Wir warten auf euch.“, erklang es erneut in ihren Köpfen, dann tauchte der Kopf unter Wasser, ohne eine einzige Welle zu erzeugen.

Entgeistert starrte Dhaôma auf den träge dahin treibenden Eismatsch. „Was war das denn für einer?“, wollte er kopfschüttelnd wissen. „Ist das bei Drachen immer so, dass sie Forderungen stellen, ohne einen zu Wort kommen zu lassen, ob es einem auch gefällt?“
 

„Ihre Insel, ihre Regeln“, zuckte der Geflügelte mit den Schultern. Sein Blick glitt ebenfalls über das Wasser, aber er hoffte seinen Drachen zu finden, der wahrscheinlich schon wieder abgetaucht war. Mit einem Ruf lockte er Tyiasur zu sich und strich ihm über Kopf und Rücken. „Ich hoffe, du lernst nicht reden, dann kannst du auch keine Regeln aufstellen.“ Spielerisch stupste er an die kleine Schnauze und erntete einen verdutzten Blick. „Bleib bitte in der Nähe.“, wies er ihn an, als er dem Kleinen mit einer bezeichnenden Handbewegung die Erlaubnis gab, weiter durchs Wasser zu jagen.

Seufzend schätzte er ihre Chancen ab. Dieser Drache lebte im Wasser. Also musste sein Freund irgendwo am Rande dieses Gewässers zu finden sein. Je nachdem, für welche Richtung sie sich entschieden, würden sie länger oder kürzer brauchen.

„Rechts, links, Pause?“ Sein Finger wies dabei bezeichnend in die gewiesenen Richtungen.
 

„Da lang.“, zeigte Dhaôma in die Richtung, die er schon eingeschlagen hatte. „Und Pause machen wir, wenn wir eine Stelle finden, die der Drache nicht überschwemmt hat, so dass wir trocken sitzen können. Außerdem wollte ich baden. In dem Eismatsch ist mir das definitiv zu kalt.“

Sie machten sich auf den Weg, immer am Ufer entlang, während ihre Kleider trockneten. Irgendwann ging die Sonne unter und sie richteten sich ein Lager in einer windgeschützten Senke ein. Dhaôma wäre am liebsten in diesem fantastischen Wasser schwimmen gegangen, aber er traute sich nicht, also wusch er sich nur.
 

Von Wasser hatte Mimoun erst einmal die Nase voll. Ihm war sogar der Appetit auf Fisch fürs Erste vergangen. Das hinderte den Geflügelten jedoch nicht daran, mit verschränkten Armen und finsterem Blick dicht am Ufer zu stehen und die ruhige Oberfläche des Sees im Auge zu behalten. Selbst als sein Freund sich abwandte, blieb seine Aufmerksamkeit einen Moment länger als nötig darauf hängen.

Seinen Magier zwang er mit einem Kuss auf die Schläfe und einer bezeichnenden Handbewegung zu ihrem Lager sich auszuruhen. Mimoun wusste, von wem die Eisdecke gekommen war, dazu die Heilung seiner anscheinend schweren Verletzungen. Er würde nicht zulassen, dass Dhaôma jetzt noch ihr Abendessen wachsen ließ.

Noch einmal wanderte sein Blick über die leicht gekräuselte Wasseroberfläche, dann verschwand er im Dickicht, auf der nervenaufreibenden Suche nach Grünfutter.
 

Es war, als würde die Müdigkeit Dhaôma in die Träume rufen, aber er wollte nicht schlafen, ohne zu wissen, dass Mimoun an seiner Seite und sicher war. Kaum sah er den Schwarzhaarigen und seinen kleinen blauen Wirbelwind durch die Bäume treten, war er aber auch schon weg.
 

Am nächsten Morgen aß er dann Mimouns Funde: eine große hölzerne Nuss mit weißem Inhalt, die aufgeplatzt war, und ein paar süße Beeren, die laut Mimoun ebenfalls auf Bäumen wuchsen und goldgelb waren. Die Kerne bewahrte er auf – aber die weiße Frucht hatte keine, so sehr er sie auch suchte.

Sie gingen den See weiter entlang und achteten darauf, dem Ufer nicht allzu nahe zu kommen. Und schon gegen Mittag erblickten sie zwischen den Bäumen etwas, das aussah, wie Häuser. Oder vielleicht waren sie auch nur entfernt damit zu vergleichen, denn sie waren zugewuchert und die steinernen Wände besaßen keine Dächer, aber sie waren groß und viele.

Neugierig geworden gingen sie hinüber und scheuchten ein paar Ratten auf. Begeistert ging Tyiasur auf sie los, grub seine scharfen Zähne in den Nacken einer großen Braunen und wand sich gewohnheitsmäßig um ihren flauschigen Körper, um den Halt nicht zu verlieren. Es war ein Fehler. Die Ratte versenkte ihrerseits ihre Zähne in dem Feind und Blut sickerte über die Schuppen des Blauen, während dieser in Raserei verfiel.
 

In den ersten paar Sekunden war Mimoun stolz auf seinen kleinen Liebling, dass dieser so eigenständig war, sich selbst Gegner zum Erproben zu suchen, und trainierte. Doch als das erste Blut floss, mischte er sich mit einem wütenden Knurren ein. Niemand verletzte seinen Drachen ungestraft. Seine Hand griff in das sich windende Knäuel aus Schuppen und Fell, schloss sich um den Blauen. Beinahe zeitgleich gruben sich die Zähne der Ratte und die rückwärts gerichteten Stacheln von Tyiasurs peitschendem Schwanz in seine Haut. Mit einem Zischen ergriff der Geflügelte mit der zweiten Hand die Ratte und trennte mit einem entschlossenen Ruck die zwei Gegner. Der Pelzball flog in hohem Bogen ins nächste Gebüsch. Mit einem Quieken schoss sie davon. Fauchend wand sich Tyiasur in dem Griff des Geflügelten, wollte dem Feind hinterher, nur ein scharfer Befehl Mimouns ließ ihn zusammenzucken, Ruhe geben.

„Ist ja nicht zu fassen. Ein kleiner Rabauke bist du!“ So wirklich konnte er seinem Drachen nicht böse sein, als er sich über die kleinen Kratzer auf seiner Hand leckte. „Bei der weiteren Erkundung bleibst du hier.“, bestimmte er und ließ ihn auf seiner Schulter Platz nehmen. Schon im nächsten Atemzug begann er zu lehrmeistern. „Lege dich nur mit Gegnern an, die du einschätzen kannst. Ausweglose Kämpfe nur in ausweglosen Situationen beginnen. Schnell wunde Punkte finden und nutzen. Selbst deine Deckung nicht vernachlässigen.“
 

Kichernd folgte Dhaôma den beiden und wollte ihre Wunden gerade heilen, als seine Aufmerksamkeit jäh von einem fantastischen Ausblick gefesselt wurde. In einer Senke vor ihnen breitete sich eine Stadt aus, die Gebilde, an denen sie gerade vorbeigekommen waren, verschwanden im Vergleich dazu förmlich. Sie war rund in ihrer Architektur und bestand aus sechs konzentrischen Ringen. Jeder Ring wurde von Säulen flankiert, auf denen Statuen von Geflügelten und Magiern standen oder saßen, jeweils mit einem Drachen abgebildet. Teilweise wurden sie überwuchert von Ranken – Brombeere, Efeu, Jelängerjelieber, Gold- und Blauregen – teilweise waren sie eingestürzt und lagen zerstört am Boden. Die Gebäude waren verschnörkelt und jede Wand war verziert mit Drachenfresken und alten Schriften, dazwischen wuchsen Büsche und Bäume, deren Wurzeln einige der Steine derart fest umschlungen hielten, dass nur sie die Bauten am Einstürzen hinderten. Und zwischen den Häusern konnte man hier und da Wasser glitzern sehen, das offenbar durch Kanäle und Risse in vorgefertigte und natürlich entstandene Wasserbecken plätscherte.

„Ai!“, rief der Braunhaarige aus und begann zu strahlen. „Der Wahnsinn! Wir haben den Ort gefunden, an dem die Drachenreiter gelebt haben!“

Der Verrückte am See

Kapitel 45

Der Verrückte am See
 

Wenn man glaubte, auf dieser Insel gab es nichts mehr, das einen überraschen konnte, dann musste man diesen Ort hier einfach sehen. Der Anblick, der sich unter ihnen ausbreitete, war atemberaubend.

Mitten in seiner Predigt stockte der Geflügelte und ließ die in dieser Senke ruhende Magie und Faszination auf sich wirken. Die ganze Ausstrahlung dieser Stadt sprach von Alter, Erhabenheit und Stolz. Auch wenn die Natur sich über die Jahre hinweg hierher zurückgekämpft hatte, konnte nichts die Monumentalität der uralten Gebäude zerstören.

Zögerlich und ehrfürchtig wollte der Geflügelte den ersten Schritt in den Kern der Stadt setzen, zog den Fuß aber zurück. Sein Blick war von dem leuchtenden Gesicht seines Freundes gefangen genommen worden. Mit einem leichten Schubs in den Rücken des Magiers, ließ er Dhaôma den Vortritt und die Ehre der Entdeckung. Das alles hier, war das, was sich dieser gewünscht hatte. Drachen, die Freunde fürs Leben werden konnten. Magier und Geflügelte in friedlicher Eintracht. Auch wenn nur noch bröckelige Statuen davon zeugten, war hier ein Ort, wo Hass und Krieg keinen Zugang gehabt hatten und nie haben würden.
 

Stolpernd setzte also Dhaôma den ersten Schritt hinab in die Senke. Fragend blickte er zu seinem schwarzhaarigen Freund hin, aber er verstand. Auffordernd und lächelnd hielt er ihm seine Hand hin. Wenn sie schon die einzigen Menschen waren, die hier waren, dann sollten sie zumindest zeigen, dass auch sie Frieden halten würden.
 

Das Lächeln erwidernd ergriff der Geflügelte die dargebotene Hand und drückte einen Kuss auf den Handrücken. Sanft verwob er ihre Finger, als er zwei Schritte vor ging, sich umdrehte und den Magier rückwärts gehend mit sich zog. Noch immer sagte er kein Wort. Selbst Tyiasur blieb friedlich. Der Geflügelte spürte, wie das kleine Wesen vor Neugier und Bewegungsdrang brodelte, aber gehorsam an seinem Platz auf der Schulter wartete. Mit einem leichten Nicken gab er ihm schließlich die Erlaubnis. Sofort schoss der kleine Blauling in einen der Kanäle und verschwand.

Mimoun löste nur widerwillig seine Hand von Dhaômas und wandte sich wieder in Laufrichtung. Neugierig ging der Geflügelte auf einzelne Gebäude zu und betrachtete die Fresken und Schriften. Nichts was er mit seinen bescheidenen Kenntnissen entschlüsseln konnte.
 

Währenddessen hatte Dhaôma etwas anderes gesehen. Hier wuchsen Pflanzen, die kaum Erde brauchten, in dem, was sich auf den Fresken gesammelt hatte. Seltsamerweise waren die Gebäude absolut fugenlos. Sie bestanden nicht aus vielen Ziegeln oder Bruchsteinen wie die Häuser der Magier, die Dhaôma kannte, sondern aus einem scheinbar massiven, bläulichgrauen Felsen. Neugierig lugte er in eine Öffnung, die vielleicht einmal eine Tür beinhaltet hatte, jedenfalls gab es metallene Scharniere, die ziemlich verrostet aussahen. Drinnen leuchtete Moos und eine glockenförmige Blume schaukelte in einer Ecke, in der Wasser durch einen schmalen Riss sickerte. Auch sie schimmerte in einem hellen, roten Licht. Eine schnelle Berührung und sie verblühte, bevor sie Samen abwarf. Glücklich nahm Dhaôma einen davon an sich, bevor er die anderen wieder erblühen ließ.

Im Raum gab es Reste von Möbeln, die einst aus Stein gefertigt wurden, aber es gab etliche Hinweise darauf, dass es nicht alles war. Vermutlich waren alle anderen aus Holz gewesen und mit der Zeit verrottet.

„Es ist eine Schande, dass es keine Drachenreiter gab, die das hier bewahrt haben.“, sagte er, als er wieder herauskam. „Die Wände drinnen waren mal bemalt, aber das Moos hat fast alle Spuren davon verwischt.“
 

„Ja.“, pflichtete Mimoun leise bei. Er kam sich wie ein Verbrecher vor, mit Worten die Stille des Ortes zu stören. „Als sie am Dringendsten gebraucht wurden, verschwanden sie. Bedauerlich.“ Seine Finger glitten über den Türrahmen. Er hatte nur draußen gestanden und sich aus der Ferne alles angesehen. Nicht, dass es darin eng geworden wäre. Aber hier draußen gab es ebenso viel zu entdecken. Er flatterte zu einer der Figuren hinauf. Eine Magierin zu deren Füßen der kopflose Torso eines Drachens lag, der ihr wahrscheinlich nur bis zu den Hüften gereicht hatte. Suchend sah er sich um und entdeckte den rissigen Kopf in dem Gestrüpp am Fuß der Säule. Vorsichtig, um ihn nicht weiter zu beschädigen, hob er das steinerne Gebilde hoch, befreite das aufgerissene Maul von einigen Blättern und ließ ihn dann auf den Pfoten des Drachens wie im Schlaf ruhen. Diese Aktion mochte für andere nutzlos wirken. Zu viel war hier schon unrettbar zerstört. Der Geflügelte hatte einfach das Gefühl es tun zu müssen, diesem Ort den gebührenden Respekt zu zollen.
 

Sie gingen weiter, fanden überall neue Dinge, angefangen bei silbrigen Wasserspeiern über gewundene, verwilderte Blumenbeete bis hin zu metallenen Gegenständen wie Tellern oder tönerne Vasen. Und dann kamen sie zu einem Haus im vierten Ring, das erstaunlich gut aussah. Auch dieses Haus war verfallen, aber es hatte noch eine Tür und sogar Glas in den Fenstern, hinter denen gemusterte Gardinen zu sehen waren. Davor lag in der Sonne eine ausgemergelte Gestalt mit einem windelartigen Lendenschurz und verwitterter, derber Haut. Haare und Bart wucherten schier endlos, waren verfilzt und voller Gestrüpp.

„Ist das ein Mensch?“, fragte Dhaôma zaghaft.
 

„War.“, korrigierte Mimoun. So dürre wie der war, sah er bereits halb mumifiziert aus. „Er war wohl der Letzte. Es gab also niemanden, der ihm die letzte Ehre erweisen konnte.“ Er kniete sich bereits neben dem alten Mann nieder und streckte die Hand nach ihm aus. „Wir sollten ihm besser seine Ruhe schenken.“

Beinahe sanft strich er ihm die Haare aus dem Gesicht und entdeckte ein verschlungenes, kompliziertes Zeichen auf der Stirn. Mimoun wollte Dhaôma nach der Bedeutung fragen, als sich die Augen der ausgemergelten Gestalt öffneten und sich der Mann ruckartig aufsetzte.

Mit einem erstickten Keuchen wich der Geflügelte zurück und starrte den Alten mit einer Mischung aus Verwirrung, Schrecken und Fassungslosigkeit an. Zum Zeichen, dass er nichts Böses wollte, hob er die Hände.

„Ist.“, korrigierte er unsinnigerweise erneut.
 

„Ayay. Hihihi. Ein Lufthauch mit Händen! Ist schon lange her, dass ich so was sah!“ Der Alte rappelte sich auf und betrachtete mit verklärtem Blick Mimoun, neigte dabei den Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen. „Das ist erstaunlich. Die deutlichste Vision seit Jahren!“ Wieder kicherte er. „Sieht fast aus wie ein Hanebito. Vielleicht Jasper. Der hatte schwarzes Haar.“ Dann plötzlich wandte er sich nachdenklich ab und kratzte sich das Kinn. „Oder war es braun gewesen? Golden?“ Desinteressiert zuckte er mit den Schultern und griff sich einen Besen, mit dem er den Platz kehrte, auf dem er gerade geschlafen hatte. Dabei murmelte er Dinge auf einer seltsamen Sprache vor sich hin. Oder war es ihre Sprache und nur unverständlich?

Dhaôma war absolut sprachlos. Da lebte tatsächlich noch jemand. Und das Zeichen… „Ein Zeitmagier!“, flüsterte er ehrerbietig. „Das ist der erste seit mehr als vierhundert Jahren!“

„So was ist traurig.“, nickte der Mann und lächelte die Freske einer Frau in der Wand an. „Ist denn wirklich keiner da, der mich ablösen will?“ Dann seufzte er. „Ich fürchte, ich werde noch ein wenig warten müssen, Isabelle, meine Liebste.“
 

Jetzt war nur noch Fassungslosigkeit auf Mimouns Gesicht zu lesen. Und schließlich Mitleid. Wie lange lebte dieser Mann nun schon allein hier? Zeitmagier, hatte Dhaôma gesagt. Was auch immer es bedeuten mochte. Und er schien sich früher noch in Gesellschaft von mindestens einem Geflügelten befunden haben.

Zögerlich trat er hinter den Mann und griff nach dem Besen. „Beim Fegen kann ich Euch eine Zeit ablösen.“, lächelte Mimoun zögerlich. Schon wieder ein einsamer Magier.
 

Aber der Mann wich behände aus, zog den Besen Besitz ergreifend an sich. „Lass mir Dilao! Nimm ihn mir nicht weg! Er ist der beste Schüler, den ich je hatte! Er hat sich am aller längsten gehalten!“

Dann tanzte er ein Stück weiter und stellte den Besen gegen die Wand, um an einem Bach zu trinken, hielt mitten im Schritt inne, drehte sich auf der Ferse zu Mimoun zurück und runzelte die Stirn. „Warum kannst du sprechen? Du stinkst sogar nach zu viel Bewegung. Eine Vision hat sich nicht so menschlich zu verhalten.“
 

„Entschuldigung.“

„Entschuldigung angenommen.“ Und schon drehte sich das Männchen wieder um und ging.

Mimoun lachte und ließ einen Finger neben seiner Stirn kreisen. Der Arme war durch die Einsamkeit wahnsinnig geworden.

„Heißt das jetzt, ich soll mehr baden oder weniger reden?“, wollte er von seinem Magier wissen.
 

Dhaôma lachte ebenfalls. „Beides?“, zuckte er hilflos mit den Achseln. Da fanden sie einen Menschen und was war? Er war verrückt. Dabei hätten sie von ihm so viel lernen können. „Ob das Lesley ist? Der, von dem Hondaran gesprochen hat?“

„Ha!“, sah er sich urplötzlich mit dem Alten konfrontiert, dessen Finger gefährlich nahe vor seiner Nasenspitze schwebte, seine Augen bohrten sich fast bildlich in Dhaômas. „Du kennst meinen Namen! Und du bist ein Magier. Hab ich dich ertappt! Dachtest wohl, ich merk es nicht?“ Er kam noch einen Schritt näher und Dhaôma wich wie erstarrt zurück, die Augen weit aufgerissen, Angst davor, verzaubert zu werden. Doch der Alte lachte nur meckernd, dann wandte er sich wieder ab. „Ist lange her, dass ich von einem Magier geträumt habe. Könntest Garanai sein. Hab ich Recht? Konnte mich nie leiden und hat immer gelacht.“

Hilflos zuckte Dhaôma die Schultern, dann lächelte er sanft. „Lesley Han.“, sagte er ehrerbietig. „Ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Dhaôma en Finochinu en Regelin und ich komme aus Helgen, der Hauptstadt an der Steppe zum Nordwald. Ich bin genauso wenig wie Mimoun ein Phantasiegebilde, sondern ein lebender Mensch, der gekommen ist, um ein Drachenreiter zu werden. Mimoun ist sogar schon einer. Zumindest ist er Tyiasurs Ersatzvater.“

„Tyiasur? Pusteblume? Was ist das für ein Name?“

„Werdet nicht unverschämt.“, knurrte Dhaôma. „Die Butterblume ist eine sehr zähe, äußerst robuste Pflanze mit vielen nützlichen Eigenschaften.“

„Jetzt weiß ich es!“, rief der Mann plötzlich, der bei den Worten förmlich an Dhaômas Lippen gehangen hatte. „Du bist ein Gärtner! Das erklärt natürlich Vieles.“ Dann hielt er plötzlich inne wie vom Blitz getroffen. „Sagtest du Lesley Han?“ Die Zeichen auf seiner Stirn begannen zu leuchten und seine Augen wurden silbern. Und dann wurden sie plötzlich feucht und Tränen rannen die Wangen hinab. Abermals hilflos konnte der Braunhaarige nicht viel tun, als daneben zu stehen und es geschehen zu lassen. Er wusste einfach nicht, was er tun sollte. „Ah, so ist das.“, kam schließlich ein Seufzen von dem Mann und mit einem zittrigen Luftentweichen verglommen die Linien wieder. Plötzlich wirkten seine Augen völlig klar. „So ist das also.“, wiederholte er und lächelte grimassenhaft. „Ich bin gleich wieder da.“ Mit einem Arm wischte er seine Augen trocken, warf Mimoun noch einen kurzen Blick zu, dann verschwand er ins Haus, leise vor sich hinmurmelnd.
 

„Äh.“, war alles, was der Geflügelte von sich gab. Irgendwie fühlte er sich von dem Alten völlig überfordert. Seine Aktionen und Bewegungen waren nicht vorhersehbar. Und dann hatte er Magie eingesetzt. Die Zeichen hatten geglüht, doch er konnte keinen Effekt feststellen. War das nun ein gutes Zeichen? Und dieser Alte schien tatsächlich keinerlei Angst vor ihm zu haben.

„Dem Himmel sei Dank, dass ich dich rechtzeitig fand.“, murmelte Mimoun und trat neben Dhaôma. Aus einem Reflex heraus schlang er seine Arme um den Hals seines Freundes.
 

„Was meinst du?“, wollte der Braunhaarige irritiert wissen. Sanft tätschelte er Mimouns Arm und lächelte ihn an. „Ich verstehe nicht.“
 

„Wer weiß was aus dir geworden wäre, wenn du zu lange allein geblieben wärst.“, nuschelte er durch die Haare ins Ohr seines Freundes. „Vielleicht hättest du dir im Laufe der Zeit eingebildet, dass die Pflanzen mit dir reden, mit dir lachen und tanzen.“ Mit einem Kichern ließ er wieder los. „Entschuldige. Nicht böse werden.“
 

Aber Dhaôma lachte nur. „Ja, ich habe als Kind wirklich geglaubt, wenn ich nur genau hinhören würde, dann könnten sie mir Dinge erzählen. Und später habe ich dann mit ihnen gesprochen. Vermutlich ist deine Befürchtung gar nicht soweit hergeholt.“

Tyiasur schoss aus dem Wasserkanal neben dem Haus und brachte einen kleinen silbernen Fisch mit, den er auf Mimouns Schulter sitzend verspeiste. Der Kleine sah trotz der Bisswunden fidel aus, aber mit Bissen sollte man nicht scherzen.

„Hey, Tyiasur. Komm her.“, lockte Dhaôma, die Hand ausgestreckt. „Wenn du krank wirst, ist Mimoun sicher traurig.“
 

Dunkelblaue Augen fixierten den Flügellosen. Nicht nur seine Worte, auch seine Gedanken verrieten seine Absichten und Sorgen. Zu recht. Die Bisse brannten tatsächlich ein wenig. Und schon das letzte Mal hatte die Berührung von ihm gut getan. Dennoch wollte der kleine Drache nicht von ihm angefasst werden.

Den angefressenen Fisch in den Krallen schlängelte er sich auf die andere Schulter, als Zeichen, dass er nicht wollte.

Die Rechnung hatte Tyiasur dabei aber ohne Mimoun gemacht. Blitzschnell schlossen sich kräftige Finger um den schlanken Leib und streckten ihn in die Richtung des Flügellosen. Da half selbst winden nichts mehr. „Das sind bei deiner Größe ernsthafte Verletzungen und damit spaßt man nicht.“, bestimmte Mimoun, als ein böser Blick aus Drachenaugen ihn traf.
 

Aber Dhaôma hatte den Wink verstanden. Sich ein wenig darüber amüsierend, wie scheu der Kleine war, legte er nur zwei Fingerspitzen knapp unterhalb der Bisse gegen die Haut und initiierte die Magie. Es war schwerer so, weil er sie auch noch auf einen schmaleren Kanal konzentrieren musste, aber mit ein bisschen Verzögerung schlossen sich die Wunden und er zog die Hand zurück.

„Verletze dich nicht, wenn du nicht willst, dass man sich um dich sorgt.“, riet er. Und sah dann Mimoun an. Ein schneller Griff, dann zog er beide Hände an den Handgelenken an sich vorbei, so dass er zwischen beiden Armen stand. „Das gilt auch für dich.“ Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Ernst und einer Art Schalk, die ihn nur selten erfasste, aber die leuchtenden Linien auf seinem Gesicht zeigten deutlich, dass es Ablenkung war.
 

Was zum…? Völlig überrumpelt hatte der Geflügelte keine Chance zur Reaktion. Dann umwölkte Wut seine Stirn. Er ballte seine Hände zu Fäusten und drückte sie leicht gegen Dhaômas Schläfen, rieb sie daran.

„Du kleiner…“, begann Mimoun, ließ aber offen, als was er seinen Freund gerade sah. „Du weißt auch nicht, wann du dich schonen sollst, kann das sein?“

In der kleinen Ecke seines Bewusstseins, begann sich seine Liebe zu Dhaôma zu regen, die er ganz fest darin verschlossen hatte, damit keiner sie je fand. Aber die Fürsorge des Magiers und seine hilfsbereite Art waren der ideale Nährboden dafür.

Der Geflügelte schlang erneut seine Arme um Dhaôma und vergrub sein Gesicht an dessen Hals. „Ich mach mir auch Sorgen, wenn du ständig über deine Grenzen gehst und dich bis zur völligen Erschöpfung verausgabst. Lulanivilay ist nicht mehr hier, um dich zu unterstützen.“
 

Lächelnd kraulte Dhaôma durch das schwarze Haar. Er wusste, was Mimoun meinte, aber er wollte stärker werden und dazu musste er seine Grenzen austesten und soviel wie möglich zaubern. „Ich weiß.“ Seine Stimme klang sanft und verriet nichts von dem leisen Stich bei der Erwähnung des Freundes. „Aber eine so kleine Wunde zu heilen braucht nicht viel. Wenn du Fieber bekommst oder Schlimmeres, dann wird es erst richtig anstrengend.“

„Oh, ihr seid euch derartig zugetan?“, erklang urplötzlich hinter ihnen die dünne Stimme des Alten. „Verzeihung, aber würdet ihr das vielleicht nicht gerade vor meiner Tür machen? Am besten verschiebt ihr es auf sehr viel später, dann können wir euer Training beginnen. Ihr seid schon…“ Kurz stockte er, das Zeichen auf seiner Stirn leuchtete, dann grinste er und enthüllte einen zahnlückigen Mund. „Ihr seid schon beinahe 3 Monate hier und habt im Grunde genommen noch nichts erreicht. Es wird Zeit, dass ihr lernt, wie man mit Drachen umgeht und wie ihr eure Stärken mit ihnen verbindet und die Schwächen gegenseitig kompensiert. Deswegen seid ihr doch hier.“

Dhaômas braune Augen wurden ganz groß bei der Informationsflut. Hatte dieser Mann sie wirklich als seine Schüler akzeptiert? Und wann war er aus diesem Wahnsinn entkommen? Woher wusste er überhaupt, seit wann… Das Leuchten gab den Ausschlag, denn das Zeichen auf der Stirn war das Zeichen der Zeitmagie. Diese Leute konnten in die Vergangenheit und die Zukunft schauen und teilweise sogar in die Gegenwart zu jedem beliebigen Ort auf der Welt. Es war erstaunlich, dass er ihr Kommen so gar nicht vorhergesehen hatte.

„Steht nicht da wie angewurzelt. Wo ist Tyiasur? Ah, das bist du, nicht wahr? Sehr hübsch. Erst ein paar Wochen alt. Aber schon sehr gut ausgebildet. Aber das geht noch besser. Deine Magie?“
 

„Jetzt mal langsam.“, forderte Mimoun ein wenig schärfer als beabsichtigt und hob abwehrend die Hände. „Also Drachenreiter will er hier werden.“, brachte er die Sache auf den Punkt und schob seinen Magier ein Stück vor. „Und das mit Tyiasur war mehr oder weniger ein Unfall. Ich pass nur solange auf ihn auf, bis er alleine zurechtkommt.“

So schnell konnte der Geflügelte gar nicht gucken wie der Alte plötzlich vor ihm war und sein Ohr gepackt hatte, ihn unnachgiebig ein Stück zu sich herunter zog. „Bei den großen Ohren solltest du gut zuhören können, also höre zu.“ Das gebrechlich wirkende Männchen grinste noch immer. „Es ist eine Ehre von einem Drachen erwählt zu werden. Das wird nicht jedem zuteil, egal wie sehr man danach strebt. Und wie es aussieht, müssen wir für deine Ausbildung noch ein paar Grundlektionen über Drachen mit einbauen. Also fangen wir an. Wir haben wenig Zeit.“ Endlich ließ er Mimouns Ohr wieder los, da Tyiasur nach den quälenden Fingern schnappte, und der Geflügelte legte schützend die flache Hand über das malträtierte Körperteil, hielt sichernd die andere vor seinen Drachen.
 

„Also fürs Erste bist du mein Schüler. Was ist mit dir? Warum hast du keinen Drachen? Genug Potential hättest du.“ Er musterte Dhaôma von oben bis unten und lief einmal um ihn herum. „Ein Heiler und Gärtner, soviel ich sehen kann. Dann noch…“ Wieder leuchteten die Zeichen und eine seiner buschigen Augenbrauen hob sich. „…Wind und Wasser. Wir wollen wohl hoch hinauf auf der Treppe der Macht. Also, warum hast du keinen Drachen?“

„Ich suche noch.“, gab Dhaôma kleinlaut zu, doch der Alte wedelte mit seiner Hand vor seinem Gesicht.

„Völlig falscher Ort. Einen Drachen bekommt man bei seinem Schlupf. Soll heißen, man ruft seinen Drachen aus dem Ei. Das bedeutet entweder, zu der Zeit, als du im Hort warst, wollte kein zu dir passender Drache schlüpfen, oder du bist nicht geeignet. Wir werden am besten gleich morgen zur Mutter gehen, sie kennt meistens den Zeitpunkt, an dem magiebegabte Drachen schlüpfen. Sie hat eine noch stärkere Hellsicht als ich.“ Wieder verharrte er urplötzlich, kniff die Augen zusammen und starrte in Dhaômas Augen. „Was ist das? Du bist ja schon vergeben.“

„Wie?“

„Du bist schon gebunden.“ Die seltsamen Augen Lesleys wurden schmal, als er die Stirn runzelte. „Du weißt nichts davon.“, stellte er dann fest, was keine Schwierigkeit war angesichts von Dhaômas Irritation. „Ist in deinen Händen kein Drache geschlüpft? Oder ist dein Drache womöglich schon gestorben?“

Noch während der Braunhaarige mit einem Kopfschütteln antwortete, holte sich Lesley die Antwort selbst aus der Vergangenheit. Sich abwendend, mit dem Daumen durch den Bart kratzend murmelte er vor sich hin. Es ging dabei um illegale Babys und seltene Fälle, in denen Drachenbabys jemanden banden, bevor derjenige geboren wurde.

Hilflos sah Dhaôma unterdessen zu Mimoun. Was sollte das heißen, er war schon gebunden? Woran konnte man das ausmachen?
 

Ratlos zuckte dieser mit den Schultern. Er hatte selber grad mit der Tatsache zu kämpfen, dass er zum Drachenreiter - wohl eher Drachenträger ausgebildet wurde, ohne eine Chance auf Widerspruch zu haben. Es war nicht schlimm. Im Gegenteil, es war tatsächlich eine Ehre. Es war nur nicht das, was er eigentlich geplant hatte. Sein Leben lief schon lange nicht mehr nach Plan ab.

Seine Finger glitten massierend über kühle Schuppen und der kleine Wasserdrache schmiegte sich an die warme Hand, während die Augen des kleinen Drachens den Bewegungen des Mannes folgten.

„Könnt Ihr denn auch erkennen, mit welchem Drachen Dhaôma verbunden ist?“, wollte Mimoun wissen.
 

„Das geht niemanden etwas an außer dem Drachen und seinem Reiter.“ Unwirsch wedelte der Alte wieder mit der Hand, verfing sich in seinen Haaren und zog danach ärgerlich daran. Genervt schnitt er einen Teil davon ab, so dass er jetzt noch wilder aussah. „Wie auch immer. Es bringt nichts, morgen zur Mutter zu gehen. Ein Drachenreiter hat kaum die Chance, einen zweiten Drachen zu bekommen. Das ist äußerst selten. Natürlich waren da schon einige, die sich mit anderen Drachen verbündet haben, aber die Tiefe einer wahren Beziehung erreichen diese Paare nie.“ Nachdenklich betrachtete Lesley den jungen Magier vor sich, bevor er den Kopf schüttelte. „Ruf ihn.“

„Ai? Und wie?“

„Wie ruft man schon nach jemandem? Benutze Worte.“

Zaghaft nickte Dhaôma und rief. Da er nicht wusste, was er rufen sollte, rief er nach einem Drachen. Was den Erfolg hatte, dass ein halbes Dutzend Felsendrachen angestromert kamen, um zu sehen, was vor sich ging.

Lesley schüttelte bedauernd den Kopf. „Wie auch immer. Ich werde… Mimoun auf jeden Fall ausbilden. Und du bist trotz allem ein Drachenreiter, also wirst auch du dem Training beiwohnen. Und weil ihr so schwächlich ausseht, werde ich euch zunächst einmal die Theorie beibringen, bevor wir zur Praxis schreiten, sonst kommt ihr vermutlich durch Versuch und Irrtum zu Tode und das können wir uns einfach nicht leisten.“
 

Unwirsch und frustriert rieb Mimoun sich mit dem Handrücken über die Stirn, ließ einen abgrundtiefen Seufzer hören. „Na das kann ja was werden.“, prophezeite der Geflügelte und fing dann an mit kichern. Zumindest würde es mit dem sicher nie langweilig werden.

Ohne den beiden Freunden Zeit für Betrachtungen zu lassen, schleppte er sie durch die halbe Stadt zu einem riesigen Gebäude nahe dem Stadtkern. Die nicht mehr vorhandene Tür war durch dicke Stränge eines Klettergewächses ersetzt worden, wie auch die Wände nur noch von diesem Gewächs gestützt wurden. Mimoun passte nicht hindurch. Lesley war bereits im Inneren verschwunden und schimpfte über Pflanzen und Unordnung. Widerwillig ließ der Geflügelte zu, dass Dhaôma den Eingang ein wenig verbreiterte.

Drinnen führte ein langer Gang direkt zum Zentrum des Gebäudes. Links und rechts zweigten Räume ab. Aus einem der hinteren schob sich schwungvoll ein Kopf mit wirrem wippendem Bart. „Wo bleibt ihr denn? Wir wollen doch nicht meine Zeit vergeuden.“ Ein Arm wedelte fordernd in der Luft.

In dem Raum zeugten nur noch wenige Spuren von der Existenz einiger Regale und Sitzgelegenheiten. Dafür waren die komplizierten Mosaike auf dem Boden noch erhalten. Auf den durch Farben und Symbole klar definierten Flächen befanden sich kleine, zum Teil nicht mehr intakte Staturen von Drachen. Einige erkannte Mimoun wieder. Solchen war er schon begegnet. Andere wiederum waren ihm unbekannt.

Lesley erklärte ihnen die verschiedenen Drachen, die Elemente, denen sie zugeordnet waren, ihre Verhaltensweisen, Gemütszustände, Fressverhalten und viele Dinge mehr. In den nächsten Tagen gab sich der alte Mann wirklich die größte Mühe die beiden Jungen mit der Informationsflut zu erschlagen. Und er fragte immer wieder ab, um herauszufinden, was sie behielten und ob sie seinen Ausführungen überhaupt folgten. Mimoun fühlte sich bald, als würde ihm der Schädel platzen.
 

Immer wieder ließ er Dhaôma seinen Drachen rufen, bis er irgendwann entschlossen sagte, sie sollen zum See, um sich von Hondaran unterrichten zu lassen, während er über Drachen recherchierte, die ihren Reiter anders auserwählten als durch den Schlupf und Instinkt. Er brauchte sechs Tage, in denen er Dhaôma konsequent den Eintritt in die riesige Bibliothek verwehrte, da er später noch genügend Zeit zum Lesen hätte, wenn er seine Ausbildung beendet hätte. Da er ja offenbar auch keinen Drachen aufzuweisen hätte, der flog, würde er ihm auf ewig Gesellschaft leisten. Tolle Aussichten, wie Dhaôma fand, und absolut nicht akzeptabel.

Sie lernten von Hondaran, wie man erkannte, wo Schwachpunkte lagen. Es waren sehr lehrreiche Lektionen und gerade Mimoun war darin besonders begabt. Dhaôma schaffte es nur auf Mittelmaß, da er nicht einsah, weshalb er jemanden angreifen sollte und auch noch seinen Schwachpunkt auszunutzen hätte.

Danach ging es weiter mit körperlichem Training, was beiden Spaß machte und Mimoun von seiner Unruhe befreite, die ihn davor regelrecht gequält hatte. Und während Lesley Mimoun und Tyiasur Tipps und Ratschläge gab, wie sie ihr Zusammenspiel noch verbessern konnten, unterrichtete Hondaran Dhaôma in Magie. Der Drache kannte alle Kniffe des Wassers und war nicht geizig mit seinen Hinweisen, wie Dhaôma die Ströme lenken musste, um das Wasser seinem Willen zu unterwerfen. Von der Wettermagie war er besonders angetan und auch da konnte er ihm ein wenig unter die Arme greifen.

Zwei Dinge jedoch ließen Lesley keine Ruhe: Das eine war Dhaômas nicht vorhandener Drache. Das zweite war die magische Fähigkeit Tyiasurs. Der Kleine zeigte einfach kein magisches Potential. Gar nichts. Und das obwohl er besser mit Mimoun zusammenarbeitete als viele andere Drachen es je versucht hatten. Es gab keine nicht magisch begabten Drachenreiter-Drachen! Das hatte es noch nie gegeben! Voll Unmut suchte er in der Zukunft und verlor sich gleich mehrere Male in seinem Wahnsinn, ohne einen Erfolg zu verzeichnen.
 

Diese Momente waren für Außenstehende ganz amüsant, wenn der Alte wieder mit Dilao vor seiner Hütte tanzte. Es war aber auch schwer, ihn wieder daraus zu befreien. Mimoun riet Lesley schließlich, diese Art Zauber zu unterlassen, wenn er die Ausbildung der beiden jungen Drachenreiter erfolgreich beenden wollte.

Danach konnte sich der Geflügelte nicht mehr vor dem Lehrer retten. Immer wieder bemerkte er die scharfen Blicke, mit denen Tyiasur taxiert wurde. Immer wieder wurde Mimoun mit Fragen traktiert, ob er Veränderungen an seinem Begleiter spüren konnte. Jedes Mal verneinte er. Tyiasur hatte nicht angefangen zu reden, so wie es andere magisch begabte Drachen taten. Es war nicht notwendig, verstand der Geflügelte auch so immer, was der kleine Blaue ihm mitteilen wollte. Und dass der Drache auch ohne viele Worte verstand, was Mimoun von ihm verlangte, lag sicher nur daran, dass er seit seinem Schlupf bei ihm war.

Je mehr Zeit verstrich, desto mehr regte sich der Verdacht in Mimoun, dass der Alte im Wahn gesprochen hatte. Vielleicht sehnte er sich so sehr nach den Traditionen der Drachenreiter, dass er eine einfache Freundschaft ohne Magie und Verpflichtung fehl gedeutet hatte. Aber er schaffte es auch nicht, Lesley diese Hoffnung zu nehmen. Zu viel brachte ihnen der Sonderling bei. Zu viel schenkte er ihnen. Der Geflügelte würde wohl noch ein wenig länger den Drachenreiter spielen.
 

Drei Monate vergingen auf diese Weise, bis Lesley einmal etwas an Mimoun auffiel, das so bei einem Hanebito nicht normal war: zeitweise war er schneller als der Wind es eigentlich zulassen würde. Er erklärte den beiden Freunden, dass das bei Drachenreitern der Gattung Hanebito häufiger passierte, dass sie einen eigenen Speicher magischer Energie entwickelten und damit auch eine eigene Magie, die sich meistens mit ihrem eigenen Körper befasste. In Mimouns Fall, so dozierte der Alte, war das offenbar eine Geschwindigkeit steigernde Fähigkeit, die dem Wind entsprang, der die Flügel umspielte, wenn er flog. Daraufhin fiel der Schwarzhaarige jeden Abend derartig todmüde ins Bett, weil er beinahe ununterbrochen fliegen musste, um möglichst häufig diese Magie willentlich zu wecken.

Des Weiteren beschäftigte Lesley, dass manchmal die Magie versiegte. Unerklärlicherweise beschränkte sich das nicht nur auf Dhaômas magisches Training, sondern beeinträchtigte auch seine Zeitmagie und die Magie des Sees, der Stadt und der Pflanzen. Selbst Hondaran beklagte sich darüber, dass ab und zu sein See dunkler wurde und die Vegetation, die ihn ernährte, langsamer wuchs.

„Also wirklich. Seit Jahren wünsche ich mir, dass endlich diejenigen kommen, die die Traditionen fortführen, aber jetzt, wo ihr da seid, wünsche ich mir meine Ruhe.“, sagte er an einem Abend, als sie an einem Lagerfeuer saßen und Ratten grillten. „Ihr macht nur Probleme. Früher war es nie so schwer. Da hatte alles seine Wege, die Dinge liefen ab, wie sie es sollten…“ Sein faltiges Gesicht wurde noch ein wenig faltiger, als er das Gesicht auf die Hände stützte. „Aber das Essen war nicht so gut.“, fügte er nach einer Pause hinzu. „Morgen gehen wir zur Mutter und fragen sie um Rat.“

Doch auch das brachte nichts. Die goldene Drachendame meinte nur, zu gegebener Zeit würde sich alles nahtlos fügen.
 

Wo sie schon einmal in der Nähe waren, wollte Mimoun wieder zu der Teichlandschaft. Er mochte diesen Ort und ließ einen Widerspruch seines Meisters nicht gelten. Ein wenig war er enttäuscht, als er einen Erddrachen in der Höhle vorfand, die er zeitweise bewohnt hatte. Von seinem ehemaligen Graslager zeugten vereinzelte, in Ritzen klemmende Halme. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte sich der neue Bewohner daran gütlich getan.

Der Geflügelte ließ es sich auch nicht nehmen, die abendlichen Glühwürmchenschwärme zu beobachten. Sanft umschlang er Dhaômas Hüften und zog ihn an sich. Viel Zeit hatte ihnen Lesley nie für sich gelassen. Jetzt nahm sich Mimoun sie einfach.
 

Und Lesley ging mit den Worten, er erwarte sie in drei Tagen zurück. Wie er den Weg im Dunkeln fand, war den beiden schleierhaft aber egal. Sie nutzten die Zeit für sich. Es war warm und sie badeten zusammen in einem kleinen Teich, spielten mit Tyiasur und ließen es sich einfach gut gehen, um sich von den Strapazen zu erholen, die sie durchlebt hatten. Dhaôma zeigte Mimoun auch, was er gelernt hatte, dass er Wassertropfen aus einem Teich ziehen und sie schweben lassen konnte, oder dass er einen kleinen Strudel kreieren konnte, ohne das Wasser wirklich zu berühren. Es waren nur Spielereien, aber es machte ihm Spaß und erfreute Tyiasur, der wie ein Derwisch die Wasserblasen jagte, die zerplatzten, sobald er sie berührte.

Fast hätten sie den Treffzeitpunkt verschlafen, also zeigte nun Mimoun, was er gelernt hatte, indem er den Magier und Tyiasur durch die Lüfte trug und dabei die ihm eigene Magie gebrauchte, was ihn schneller und ausdauernder machte.
 

Wie hatte er es vermisst, die Zeit nur mit seinem Magier zu verbringen. Mit ihm gemeinsam durch die Luft zu gleiten. So sehr er den Alten auch mochte, war es zeitweise auch anstrengend mit ihm in der Nähe.

Kaum berührten seine Füße den Platz vor Lesleys Hütte, kam dieser schon angewuselt. Es war wieder einer dieser Tage, die Mimoun fast durchgängig in der Luft verbrachte. Ein Drache war über den See geflogen, Beute im Maul, und der Geflügelte hatte es ihm abjagen sollen. Anfangs hatte es das Wesen nicht gestört, dass das bedeutend kleinere Wesen nahe kam. Als ihm aber bewusst wurde, worauf es abzielte, ging die Hatz los. Und Mimoun hatte schlussendlich das Nachsehen. Zwar kam er nahe genug heran, riss sogar ein kleines Stück heraus, doch als der Drache die Beute mit den Klauen packte, um die scharfen Zähne frei zu bekommen und diese einzusetzen drohte, floh der Geflügelte lieber.

Missmutig präsentierte er die magere Beute. Als ein riesiger Fisch dicht neben ihm zu Boden fiel, sprang er erschrocken zur Seite.

„Kannst du nicht mehr jagen? Dann helfe ich dir.“, erklang eine leidenschaftslose Stimme in ihrem Kopf.
 

Neben Mimoun landete ein großer grüner Drache mit roten, komplizierten Mustern auf dem ganzen Körper. Der lange Schwanz peitschte durch das Wasser, als er sich abfederte. Im nächsten Moment ging eine Springflut über den dreien nieder.

Prustend schüttelte sich Lesley, als das Wasser verschwunden und er aufgestanden war. „Was war das denn? Hondaran! Was treibst du da? Und wer bist du?“ Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. „Ich habe dich schon einmal gesehen. Bist du nicht der Unglücksrabe am Kliff?“

„Lulanivilay!“, erklang es in diesem Moment seitlich von ihnen. Dhaôma rannte auf sie zu, hatte sein Training bei dem Gefühl überlaufender Magie, die beinahe eine aquatische Katastrophe ausgelöst hätte, einfach vergessen. „Du bist zurück! Wie geht es dir?“
 

So gern Mimoun den Freund auch begrüßt hätte, musste er sich erst einmal wieder trockenlegen. Wie er Wasser hasste. Vor allem im Übermaß. Seinem Schützling schien die Sache schon eher zu gefallen, denn er suhlte sich ausgelassen in dem Schlamm, der vom Ufer übrig geblieben war.

„Gut.“, hörte der Geflügelte und fühlte dann den Blick der gelben Augen auf sich gerichtet. Lulanivilay marschierte über das Ufer zu dem fortgespülten Fisch und brachte ihn zu dem Geflügelten zurück. Auf seinem Weg wich er geschickt dem glitschigen Schlammwurm aus, zu dem der kleine Blaue geworden war.

„Ich freue mich, dich wieder zu sehen.“, begrüßte Mimoun, der sicheren Abstand zur Wassergrenze gesucht hatte, den Drachen und tätschelte den Brustkorb. Und fragte sicherheitshalber noch nach: „Bist du müde? Kannst du die Magie nicht mehr kontrollieren?“
 

„Ich habe Freiheit gerufen.“, war die Antwort.

Dann war Dhaôma da, strahlend über das ganze Gesicht. In den Monaten des Trainings hatten sie viele Umgangsformen entwickelt, aber was Lulanivilay nun tat, gehörte definitiv nicht dazu. Er senkte den Kopf, drückte seine Nase gegen den Bauch des Braunhaarigen und schnaubte. Sanft legte Dhaôma seine Arme auf die kühle Nase und wurde urplötzlich hochgehoben. Lachend hing der Magier knapp zweieinhalb Meter über dem Boden, seine Beine baumelten hilflos in der Luft. „Ich bleibe jetzt hier.“, teilte der Drache mit.

„Das ist ja schön. Sagt mir mal jemand, was hier los ist?“, forderte ein noch immer tropfender Lesley.
 

„Dhaôma hat ihm geholfen seine Kräfte zu kontrollieren.“, erklärte Mimoun, erstaunt davon, dass Lesley es nicht in ihrer Vergangenheit gesehen hatte. „Als er es gut genug beherrschte, wollte er sich die Welt anschauen.“ Er verschränkte die Arme und freute sich mit seinem Magier. „Irks.“ Der Geflügelte krampfte sich zusammen, als sein Schlammwürmchen sich dazu entschloss, an ihm empor zu klettern. Auf den Schultern angelangt, wickelte der junge Drache seinen einen Meter langen Körper um den warmen Hals. Der Schlamm hatte auf Tyiasurs Schuppen viel von seiner ursprünglichen Wärme verloren, war nun kalt und unangenehm. „Frechdachs.“ Das Kinn des nun fast ausgewachsenen Wasserdrachens kraulend, wandte er sich wieder ihrem Lehrer zu. „Wenn ich das richtig sehe, ist er wieder da.“, grinste er frech.
 

Der Mann mit dem struppigen Haar betrachtete sich das Wiedersehen kritisch, bis er plötzlich die Stirn runzelte. In den Augen dieses Drachen… „Er ist ebenfalls gebunden.“, sagte er. „Also sind sie vielleicht aneinander gebunden, denn zu Lulanivilays Zeiten gab es keinen Menschen außer mir hier oben. Es ist erstaunlich, wirklich erstaunlich. Bisher war das Binden eines Ungeborenen nur möglich, wenn die Mutter mit ihrem Kind in dieser Stadt lebte.“ Die Finger kratzten durch den Filz, dann leuchteten die verschlungenen Zeichen auf seiner Stirn auf, als er in der Vergangenheit nach dem Zeitpunkt suchte. Er fand ihn nicht. Es gab keinen Moment, der eine Bindung mit irgendjemandem verriet. „Aber das Alter könnte stimmen…“

Inzwischen wurde der lachende junge Mann wieder auf den Boden gesetzt. „Ihr seid jetzt Schüler von Ewigkeit.“, stellte der Drache fest. „Dabei bist du umsichtiger als er.“

„Sag das nicht.“ Liebevoll kratzte Dhaôma über die schuppige Nase. „Ich habe hier eine Menge gelernt, von dem ich vorher keine Ahnung hatte. Mimoun hat Magie entwickelt und kann es manchmal mit einem viel größeren Drachen aufnehmen, und ich wusste noch nie soviel über Drachen!“

„Du bist glücklich.“, war die neutrale Antwort. „Gut.“ Der Drachenkopf wandte sich dem Alten zu, der wieder in irgendeiner anderen Zeit weilte, dann Mimoun und Tyiasur. „Willst du meine Beute nicht?“
 

Völlig aus dem Konzept gerissen, starrte der Geflügelte den Grünen an. Dann lachte er los. „Ich nehme ihn gerne. Aber ich habe gerade keinen Hunger und ich wollte lieber erst einmal dich begrüßen.“ Sein Blick glitt zu dem wirklich großen Exemplar, das ihn vorhin fast erschlagen hatte. „Davon können wir nachher alle satt werden.“ Im Gegensatz zu Tyiasur ließ er die Beute links liegen und trat an die Seite der anderen. „Ich danke dir dafür.“

Kurz sah Mimoun zu Lesley und schüttelte den Kopf. Und ihm kam ein fieser Gedanke. „Hey.“, rief er und riss seinen Lehrer in ihre Zeit zurück. „Wenn die zwei hier tatsächlich zusammengehören, dann sollten sie langsam mal den Trainingsrückstand von mir und Tyiasur aufholen.“ Damit erhoffte er sich Freizeit für den Rest des Tages.
 

„Einen Moment.“ Lesley hob beide Hände in die Luft, um die sich überschlagenden Ereignisse ein wenig zu beruhigen. Er war leicht überfordert und konnte die Geschehnisse nicht schnell genug aufarbeiten. „Ich verstehe nicht…“

„Lesley Han, können wir heute nicht den Rest des Tages frei haben? Ich will Lulanivilays Geschichten hören. Er hat sicherlich viel erlebt.“

Völlig überfahren starrte der Alte sie alle an, dann seufzte er. „Gut, okay. Reden wir. Essen wir Fisch. Und ihr klärt mich derweil auf. Tyiasur, geh dich baden.“ Dann wandte er sich an den großen Grünen. „Willkommen in Drangar.“

Goldene Augen blinzelten, dann legte sich der ganze Körper der Länge nach zu Boden. Stolz stellte Dhaôma fest, dass sein Freund ziemlich an Kraft zugelegt hatte. Er strotzte förmlich vor Muskeln. Auch die Augen wirkten lebendiger. Mit Sicherheit hatten sie viel gesehen.

Gerade machte Dhaôma Anstalten, den Boden vom Wasser zu befreien, da hörte er in seinem Kopf ein „Ich helfe“ und schon war selbst die Luft staubtrocken. Er musste lachen – und husten. „Wie in alten Zeiten, huh? Lulanivilay, bitte lass mir Zeit, auf deine Hilfe zu reagieren.“

„Sicher, Freiheit.“

„Also unterstützt er deine Magie?“, wollte Lesley wissen. „Es ist erstaunlich, dass du diese ungeheure Kraft bändigen konntest, Lulanivilay. Wie hast du das geschafft?“

„Ich besitze einen See und gebe Freiheit ein wenig davon ab.“

„Wie bitte?“

Dhaôma lachte und brauchte einige Zeit, bis er das erklären konnte. „Er verstärkt meine Magie. Und weil er so stark ist, muss ich mich wirklich anstrengen, damit meine Kraft nicht überschießt.“
 

Mimoun konnte nicht anders. Er lachte ebenfalls lauthals los. Nur mit einer bezeichnenden Handbewegung konnte er seinem Drachen begreiflich machen, Lesleys Anweisung zu befolgen. Dieser hatte keine weitere Aufforderung gebraucht. Die trockene Luft hatte es für den kleinen Drachen fast unerträglich gemacht, sich außerhalb des Sees aufzuhalten.

„So war es einfacher für ihn zu verstehen.“, presste der Geflügelte heraus, bevor sein Lehrmeister die Frage erneut stellen konnte, denn der junge Magier hatte die von Lulanivilay gegebene Antwort nicht erklärt. „Seine Magie ist ein See, der unkontrolliert ausgelaufen war. Jetzt hat er das Loch gestopft. Nur mit der Dosierung hapert es noch ein wenig.“
 

„Ach der Energiespeicher.“ Er schien es zu verstehen. „Als ich es ihm vor Jahren erklärte, schien es nicht zu funktionieren.“

„Deine Worte sind kompliziert.“, sagte Lulanivilay, dann begann er zu berichten.

Er war dem Weg der beiden Freunde rückwärts gefolgt, hatte erst das seltsame Floß gesucht und war dann dem Fluss hinauf gefolgt. Das breite Wasser hatte ihm sehr gefallen und er verlor sich einige Zeit in der Beschreibung der Unterwasserwelt dort und den netten Fischen, die verkehrt gelagerte Flossen hatten. Als Dhaôma fragte, ob er Flussdelphine meinte, konnte er die Frage nicht beantworten, da ihm das Wort unbekannt war. Dann war er an Stellen gekommen, an denen es noch nach Dhaômas Magie gerochen hatte, und fragte, ob es eine besondere Bewandtnis hatte, dass überall dort Erdbeeren wuchsen. Er berichtete davon, dass er bei den Hanebito gewesen war, um nach Addar, Asam und Leoni zu fragen, um Seren und Fiamma kennen zu lernen, aber sie hatten ihn fortgejagt, weswegen er länger gesucht hatte, bis ihm aus großer Höhe eine Insel aufgefallen war, die Dhaômas Beschreibung entsprach und eine Jagmarr beherbergte. Er hatte sie besucht und war wieder auf viel Geschrei und Panik gestoßen, was ihn traurig gestimmt hatte, so dass er es nicht noch einmal versucht hatte. Danach erzählte er, dass er die Winterhöhle gefunden hatte und die Klamm, die er allerdings nicht betreten hatte, weil sie zu klein war für ihn. Der Drachenfriedhof hatte ihn sehr interessiert, aber viel schöner war der Wald zu seinen Füßen gewesen, denn dort war alles rot und gelb und braun gewesen, als hätte es ohne Feuer gebrannt. Sein Weg hatte ihn die Reise Dhaômas rückwärts geführt, er hatte das Leere Land überflogen und hatte den Dschungel angeschaut, war durch die Große Schlucht gezogen und musste die Reise dort unterbrechen, da er sonst in die Kämpfe geraten wäre. Und die Magier hatte er auf der ganzen Strecke gemieden. Danach war er weitergeflogen, um Neues kennen zu lernen, war aber von einer schrecklichen Kälte überrascht worden, so dass er die Zeit lieber unter der Erde verbracht hatte, wo er sich kaum hatte bewegen können. Sobald es warm genug gewesen war, hatte er kehrtgemacht, um seine drei Freunde wieder zu sehen, weil er sie vermisste. Es war schön auf der Erde, aber langweilig und einsam, wenn man alleine war. „Das war ich lange genug.“, schloss er.

Inzwischen brutzelte über dem Feuer ein kleiner Teil des Fisches, den Lulanivilay mitgebracht hatte, ein anderer Teil war bereits in Mimouns und Tyiasurs Magen, den Rest hatte der Drache selbst gegessen. Dhaôma lehnte müde an der Seite seines großen Freundes. Er konnte gar nicht sagen, wie er es vermisst hatte, das zu tun. Bis zu diesem Zeitpunkt war es ihm nicht bewusst gewesen.
 

Was war das? Was war dieses brennende Gefühl in seinem Inneren? Mimoun freute sich für Dhaôma, freute sich, dass dieser seinen Drachen nun anscheinend gefunden hatte. Aber er wollte derjenige sein, an den sich sein Magier lehnen sollte, auf den er sich stützen sollte.

Ein kräftiger Stoß an seinem Kinn riss ihn aus seinen Betrachtungen und Überlegungen. Da Tyiasur eine gute Größe erreicht hatte und ordentlich an Kraft zugelegt hatte, steckte hinter seinen liebevollen Kopfstößen manchmal richtig Schwung.

„Mir geht es gut.“, flüsterte er seinem auf seiner Schulter ruhenden Gefährten zu und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Der Blick der tiefen blauen Augen zeigte Zweifel. Kurz wischte Mimoun mit einer Hand über die Schnauze des Wasserdrachens, verbarg auch diese fast vorwurfsvollen Augen, und wandte sich wieder den Ausführungen des Drachens zu. „Ich weiß ja, ich weiß.“

Als er sah, dass Dhaôma am wegdämmern war, erhob er sich und holte aus dem Zimmer, das sie gemeinsam bewohnten, eine leichte Decke. Die Nächte hier waren warm, dennoch wollte er es seinem Freund bequemer machen und breitete sein Mitbringsel über ihm aus.
 

Lulanivilay betrachtete sich das neugierig, dann bewegte er seinen langen Schwanz so, dass er Mimoun aufforderte, sich einfach dazuzulegen. Ihn störte es nicht, genügend Platz war dort und aus früherer Erfahrung schlief der Magier einfach ruhiger, wenn der Hanebito dabei war.
 

Nach einigen Momenten Schweigens lächelte Mimoun dankbar und ein wenig ergriffen. „Später.“, erwiderte er leise und deutete auf Lesley, das Feuer und die Überbleibsel ihres Grillfestes. „Erst einmal sollte man hier ein wenig aufräumen.“

Nachdem der Alte fertig mit Essen, das Feuer gelöscht und ihre Habseligkeiten zusammengeräumt waren, schlich sich der Geflügelte zu dem Schlafenden und legte sich zu ihm, den Kopf auf dessen Schoß gebettet. Tyiasur schlief schon lange nicht mehr auf seinem Brustkorb und formte sich in der Armbeuge seines Reiters zu einem Haufen blau.
 

Während Mimouns Training sich kaum änderte und er immer noch seine Kraft mit Drachen messen sollte, wurde es für Dhaôma und Lulanivilay schwieriger. Der alte Magier fragte sie ganz genau nach der Kraft aus, die der Drache hatte, dann konzipierte er ein Training für sie, das sich gewaschen hatte. Zunächst musste Dhaôma lernen, auf dem Rücken zu sitzen und auch beim Flug nicht herunterzufallen. Das allein war ein Kraftakt, da der Drache ungleich schneller flog als Mimoun und auch die Griffigkeit der Schuppen zu wünschen übrig ließ. Dann sollten sie üben, Magie zu nutzen. Nachdem klar war, wie heftig die Auswirkungen auch kleinster Anwendungen waren, bekam Dhaôma die Aufgabe, mal ohne Verstärkung zu zaubern, nur um gleich darauf den gleichen Zauber mit Verstärkung zu tätigen. Der Witz an der Sache war, dass die Auswirkung nicht stärker sein sollte. Er sollte vollkommene Kontrolle erlangen. Außerdem übte Dhaôma auch ohne Lulanivilay, weil er nicht das Gefühl für seine eigenen Kräfte verlieren wollte.

Bald hatten die beiden ein wunderbares Timing, in dem sie kaum noch mit einander sprechen mussten, um zusammen Magie zu wirken.

Und kaum dass Dhaôma sicher auf dem starken Rücken sitzen konnte, ohne sich festhalten zu müssen, bekam Mimoun die Aufgabe, ihn anzugreifen. Er sollte ihn vom Rücken herunterwerfen oder mit Filzkugeln bewerfen, damit Dhaôma wenigstens lernte, sich zu verteidigen, wo er sich schon weigerte, wirklich kämpfen zu lernen.

Dann wurde deutlich, dass Mimouns Kraft, den Wind zu bändigen, stärker war, als angenommen, so dass er die Aufgabe bekam, seinem Drachen unter Wasser zu folgen, indem er den Wind wie einen Schutzfilm um sich legte. Das kostete einiges an Überwindung, aber funktionierte für einige Sekunden, so dass der Schwarzhaarige wie ein Eisvogel unter- und wieder auftauchen konnte, ohne nass zu werden. Sogar Fische konnte er so fangen, auch wenn er nicht die Wendigkeit Tyiasurs besaß.

Der kleine blaue Drache brach im Laufe der Zeit sein Schweigen zumindest gegenüber Lulanivilay, weil ihn die Beziehung zwischen Mimoun und Dhaôma zunehmend verwirrte. Die beiden verhielten sich manchmal seltsam und im Gegensatz zu Lesley fanden sie hundert Ausreden, um sich immer wieder zu berühren. Er verstand es nicht ganz, zumal sich beide irgendwie zurückhielten. Auf Lulanivilays Frage hin, warum er das nicht die beiden frage, meinte er traurig, dass Mimoun nicht wolle, dass er sprach. Deshalb sagte Lulanivilay nichts weiter.

Dann war die Zeit gekommen, wieder in die Bibliothek zu gehen. Sie bekamen einen Rundumschlag an Informationen über Kriegsstrategien, Diplomatie, Geschichte, Redegewandtheit und Auftreten. Sie mussten lernen, wie die Welt aussah und wie man in unterschiedlichen Landstrichen zurecht kam, was praktisch vermittelt wurde, indem die Insel bereist wurde. Zu diesem Zweck und damit Lesley es einfacher hatte, konstruierten sie eine Art Geschirr für den Drachen, an dem man sich mit den Füßen einhaken und festhalten konnte.

Feuertaufe

Kapitel 46

Feuertaufe
 

Und dann stand Lesley eines Tages vor ihnen, in seinem Rücken sein riesenhafter Drache Hondaran und lächelte sie stolz an. „Ihr seid fertig. Klar, ihr müsst noch üben – Mimoun in den geistigen Fähigkeiten und an seiner Etikette, Dhaôma an seiner Kampflust und Strategiedenken – aber ich denke, ihr könnt jetzt dort weitermachen, wo ihr aufgehört habt, bevor dazu kein Grund mehr besteht. Fliegt zu den Hanebito und informiert euch über die Zustände der Kämpfe, dann überlegt gut, was ihr tun könnt, bevor ihr euch in Gefahren stürzt.“
 

So etwas Ähnliches hatte Addar damals auch gesagt, dachte Mimoun, bevor er irritiert die Stirn runzelte. „Wir sind fertig?“, fragte er sicherheitshalber noch einmal nach, nachdem er sich die Worte noch einmal durch den Kopf hatte gehen lassen. „Das Training ist beendet und wir dürfen die Insel wieder verlassen? Ich dachte, das entscheidet die Mutter.“
 

Schmunzelnd zuckte der Alte mit den Achseln. „Mein Training ist beendet und ihr könnt ja sehen, ob ihr aufgehalten werdet, wenn ihr die Insel wieder verlassen wollt. Aber es wird bald Herbst auf der Erde und für euch wird es Zeit. Ihr werdet gebraucht.“

„Ist es so schlimm geworden?“, fragte Dhaôma dunkel.

„Schlimm ist vielleicht das falsche Wort. Zur Zeit herrscht so etwas wie Waffenstillstand, weil zu viele gefallen sind, aber das wird sich ändern, denn der Zirkel der Geteilten Geister wird langsam ungeduldig.“ Er lächelte. „Jetzt bleibt euch noch eines zu tun. Ihr müsst die Glocke schlagen, dann gehen.“

„Etwa die große Glocke aus den Legenden, die man überall auf der Welt hören kann?“, fragte Dhaôma begeistert.

„Es ist so eine Art Kriegserklärung.“, nickte Lesley. „Ich habe euch ein wenig Proviant zusammengepackt, wenn ihr wollt, könnt ihr heute noch gehen.“

Fragend sah Dhaôma seinen schwarzhaarigen Freund an. Er wollte. Wenn gerade Waffenstillstand war, dann konnte man das vielleicht nutzen. Und ihnen blieb noch der Herbst, um etwas zu erreichen. „Gehen wir?“
 

Mimoun reagierte anfangs nicht auf diese Frage. Stattdessen sah er sich lange und schweigend in der Umgebung um, dachte an den Frieden in der leeren Stadt. Es war nicht schlimm. Auf einen Tag mehr oder weniger kam es für den Geflügelten nicht an. Ein Tag voller Ruhe und Entspannung, bevor sie sich wieder in den Krieg stürzten. Aber er konnte es an Dhaômas Blick erkennen: den Wunsch zu gehen, alles zu beenden. Mit einem leicht wehmütigen Lächeln nickte er schließlich zum Zeichen seines Einverständnisses. „Gehen wir.“

Lesley führte sie ins Zentrum des innersten Ringes, den sie bisher nicht hatten betreten dürfen. Leicht erhöht auf einem Hügel rankte sich ein schneeweißer Turm empor, völlig frei von Pflanzen oder Beschädigungen, so dass sämtliche Details der verzierten Außenmauern deutlich zu erkennen waren. Feuer-, Erd- und Wasserdrachen, die die unterste Ebene bevölkerten, Luftdrachen, die zu den höheren Etagen aufstrebten. Zwei geflügelte Drachen mit gespannten Schwingen aus demselben hellen Material des Turmes bildeten die Wächter des Eingangs. Ihre aus roten Edelsteinen geformten Augen schienen jede ihrer Bewegungen zu registrieren und ihnen zu folgen.

Lulanivilay passte nicht durch den Eingang, so dass nur Tyiasur die drei Nichtdrachen auf ihrem Weg in die Turmspitze begleitete. Aber er beschrieb ihrem zurückgebliebenen Freund ausführlich jedes Detail. Die Wendeltreppe war breit und leicht zu besteigen. Sie führte an der Außenwand entlang. Vom Boden des Turmes, auf dem dasselbe Mosaik wie in dem Lehrraum abgebildet war, konnte man bis fast nach oben sehen. Überall in der Wand waren kleine Löcher, die Licht herein ließen und von außen nicht zu erkennen waren. Diverse, geschickt angebrachte Spiegel sorgten für genügend Helligkeit.

Auf der Treppe konnte man gut nebeneinander laufen, ohne befürchten zu müssen durch das fehlende Geländer in die Tiefe zu stürzen. Auch im Turm zogen sich Fresken und Gemälde die Wände entlang bis in die Spitze. Es war wie eine Reise durch die Zeit. Die Geschichte der Drachenreiter. Diese hatten die beiden Jungen bis zum Erbrechen durchkauen dürfen. Der eine mehr, der andere weniger begeistert. Es nun hier in Farbe und Bild zu sehen, machte es greifbarer.
 

Immer weiter hinauf ging es, bis sie auf eine Galerie kamen, von der aus man die Glocke berühren konnte. Die ganze Zeit über hatten sie gedacht, es wäre schon die Decke, aber nun, da sie die Glocke sahen, wussten sie, dass sie noch nicht ganz oben waren. Die Glocke war aus Gold und mit verschiedenen farbigen Metallen eingelassen, so dass die Oberfläche zwar glatt und eben war, aber dennoch verschlungene Zeichnungen Geschichten von Drachen, Pflanzen und den unterschiedlichsten humanoiden Wesen erzählte. Und sie war unfassbar groß. Drei Schritt hatte sie im Durchmesser, vier Schritt war sie hoch, der bauchige Schwung öffnete sich nach unten hin ein wenig, um einen optimalen Klang zu gewährleisten. Allein die Aufhängung bestand ganz offensichtlich aus Magie, sonst hätte dieser mickrige Balken das Gewicht kaum halten können.

„Also dann.“, durchbrach Lesley die staunende Stille der beiden jungen Männer. „Läutet sie. Jeder sieben Mal.“

„Wie soll das gehen?“, fragte Dhaôma, bemühte sich, seine Sprache wieder zu finden. Wie sollte er an das Seil an dem Schlägel innerhalb der Glocke kommen?

„Fällt dir da nichts ein?“

Mimoun könnte ihn tragen, aber das war sicherlich nicht das richtige.

„Darf ich Magie benutzen?“

„Sicher.“, zuckte der Alte mit den Schultern. Dann seufzte er. „Wisst ihr, es hat Spaß gemacht mit euch beiden. Jetzt werde ich wieder einige Zeit alleine sein. Aber ich freue mich darauf, dass ihr die Quälgeister mitbringt, dann habe ich wieder etwas zu tun.“

„Die Quälgeister?“ Irritiert runzelte der Magier die Stirn, dann lächelte er. „Haru und die anderen? Sie wollten ja mit.“

„Natürlich müssen sie sich bewähren.“

„Und wie?“

„Euch fällt schon was ein. Ihr seid nun Drachenreiter. Damit seid ihr befugt, neue Drachenreiter auszuwählen. Und solange sie friedliebend sind, sind sie qualifiziert. Macht es ihnen nur nicht zu einfach.“ Er lächelte breit. „Und nun, schlagt die Glocke. Verkündet dem Rest der Welt, dass eine neue Generation Drachenreiter geboren wurde. Danach müsst ihr aufbrechen. Wir sehen uns wahrscheinlich in ein, zwei Jahren wieder. Bleibt bis dahin gesund und munter.“ Er legte jedem eine Hand auf die Schulter, dann schob er sie ein wenig nach vorne.

Dhaôma machte den Anfang. Mit dem Samen einer Liane erreichte er das Seil der Glocke und zog kräftig daran, siebenmal an der Zahl. Der Ton ging ihm durch Mark und Bein, erschütterte seinen ganzen Körper und klang vielstimmig in seinem Kopf wider. Was für eine Melodie! Es war, als wäre diese Melodie ein Inbegriff seiner Selbst, als würde sie ihn beschreiben, ihn offen legen, ihn ankündigen und definieren. Harmonisch, zielstrebig und nachgiebig weich erfüllte sie die ganze Luft um ihn herum. Komplett erfüllt von den Emotionen färbten sich seine Wangen rot, während seine Hände zitterten. Er war jetzt ein echter Drachenreiter. Der Traum seiner Kindheit hatte sich erfüllt, der erste große Schritt auf dem Weg zu seinem jetzigen Traum war getan!

„Was für eine friedliche Melodie.“, murmelte Lesley und lächelte in sich hinein. Er hatte so etwas schon erwartet. Bei Mimoun würde die Glocke anders sein, ganz bestimmt, würde sie von Kraft und Mut sprechen, von Treue…
 

Die Melodie der Glocke änderte sich. Als der Geflügelte sie schlug, wurde der Ton tiefer, dunkler. Aus ihm sprachen Ruhe und Vertrauen, zeugte aber auch von ungebändigter Kraft. Mimoun zog sich auf die Galerie zurück und lauschte mit geschlossenen Augen dem Geräusch.

Ein Ruck ging durch seinen Arm, als der Alte daran zog. „Hört auf zu träumen und verschwindet endlich.“

Trotz der beinahe harschen Worte umarmte der junge Mann seinen alten Lehrmeister lange. „Wir kommen garantiert wieder. Halt dich solange aus der Zeit fern.“, schmunzelte Mimoun und ließ seinem Freund nur einen kurzen Moment, sich ebenfalls zu verabschieden, bevor er seine Hüfte umschlang und vom Turm sprang. In der Luft reichte er den Magier an Lulanivilay weiter und strebte dann dem Sturm zu, der die Insel von der Außenwelt abschottete. Es fiel ihm nicht schwer, mit dem größeren Wesen mitzuhalten.

Auf diesem Weg kamen sie auch an dem See vorbei. Die Wasserwand, die sich urplötzlich vor ihnen aufbaute, versperrte ihnen diese Richtung aber. Dahinter sahen sie Hondarans riesige Gestalt aufragen. Dhaômas Drache musste abdrehen, während Mimoun seine Magie nutzte, um hindurchzupreschen.

„Was soll das?“, verlangte er zu erfahren, erhielt aber keine hilfreiche Antwort.

„Beweist euch.“, hörte er in seinem Kopf und schon begann der Drache abzutauchen, ohne die Wasserwand abzubauen.

Der Geflügelte schwenkte einmal herum und warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf das Auge seines Freundes. Ein Lachen war die einzige Reaktion. Und dann fiel das Wasser zusammen.

„Kommt bald wieder. Lesley mochte eure Gesellschaft.“, bat Hondaran und Mimoun nickte.

„Und du pass auf den alten Knochen auf.“
 

„Mach’s gut!“, rief auch Dhaôma und winkte, dann wurde es plötzlich turbulent, als ein paar Flugdrachen auf sie losgingen. Niemals hatten sie sich so kämpferisch gegeben, hatten sie meistens eher nicht beachtet, aber jetzt blitzten ihre Augen. Sie versuchten, an Dhaôma heranzukommen, und griffen Mimoun an, der der Masse kaum etwas entgegenzusetzen hatten. Dann fegte ein Windstoß über sie hinweg und hätte Lulanivilay fast aus der Luft geholt. Nur mit einer seitlichen Rolle konnte er sich wieder abfangen, was Dhaôma fast alle Kraft abverlangte, um sich zu halten.

Langsam begann er zu begreifen, was Lesley gemeint hatte. Die Glocke war eine Art Kriegserklärung? Ja, denn offenbar war sie ein Aufruf an die Drachen, ihnen die Feuertaufe zu geben. Halleluja! Wie sollten sie von der Insel herunterkommen, ohne verletzt zu werden?

„Lulanivilay! Flieg höher, ja? Oben können uns wenigstens nicht die Drachen erreichen, die am Boden sind.“

„Glaub das nicht, Freiheit.“, antwortete sein Freund. „Sie können zielen.“

Der Beweis flog gerade in Form eines riesigen Felsens knapp an ihnen vorbei.

„Ai, das ist ja gemeingefährlich.“, stöhnte Dhaôma und sah sich nach Mimoun um, der gerade Slalom um einige Feuersäulen flog. Lulanivilay könnte einfach hindurch fliegen, wenn er selbst nicht wäre – er hatte gesehen, dass große Hitze dem Drachen nicht schadete. Jetzt aber, stoppte er mit ein paar kräftigen Flügelschlägen mitten in der Luft, um höher zu steigen, wie Dhaôma es sich gewünscht hatte.

„Mimoun!“, rief währenddessen der Braunhaarige und ließ die Kunststückchen seines Freundes keinen Moment aus den Augen. „Hast du eine Idee? Bis zum Rand ist es noch eine ziemliche Strecke!“

Ein großer roter Drache zischte über ihn hinweg und versuchte nach ihm zu greifen. Mehr aus Reflex denn aus Willen duckte er sich gerade noch rechtzeitig und musste sich im nächsten Augenblick mit aller Macht festklammern, als Lulanivilay mit den Klauen gegen einen ebenbürtig großen Drachen anging. Sein markerschütterndes Brüllen donnerte durch die Luft, betäubte Dhaômas Ohren und jagte einige kleinere Drachen in die Flucht. Er war so froh über das Geschirr, an dem er sich festhalten konnte.

„Freiheit, rufe Regen!“

Nickend konzentrierte sich der junge Magier und Wolken ballten sich über ihnen zusammen. Es ging derartig schnell, dass kaum jemand wirklich damit rechnete, denn Lulanivilays Hilfe war unkontrolliert, da er abgelenkt war.

„Himmel, komm unter mich!“, gab der große, rotgrüne Drache Anweisungen, als der erste Donner krachte und Blitze zu zucken begannen.

„Mimoun!“, rief nun auch Dhaôma. Auch er wusste, dass ein echter Platzregen dessen Magie gefährdete.
 

Der Ruf erreichte ihn, doch es fiel ihm schwer, darauf zu reagieren. Der Geflügelte hatte einem Drachen nicht mehr ausweichen können und befand sich nun in direktem Kampf mit ihm. Knurrend krallte er sich am Hals des Größeren fest. Seine Krallen fanden nur da Halt, wo die Schuppen übereinander lagen, und selbst da kam er nur schwer an das verwundbare Fleisch darunter. Zeitgleich musste er den scharfen Krallen ausweichen, die ihn von seinem Platz vertreiben wollten, und den Zähnen, als der Kopf sich nach hinten bog. Tyiasur löste sich von seinem Reiter und biss dem Silbergrauen in das fransige Ohr, schlängelte sich weiter den Kopf entlang und malträtierte die empfindliche Nase des Ungetüms. Wütend fauchend machte der Winzling seinem Unmut über die Situation kund, dicht gefolgt von einem erneuten Krachen innerhalb der zusammengeballten Wolken. Erste Tropfen lösten sich daraus und Mimoun schüttelte grimmig den Kopf.

„Entschuldige.“, sagte er zu seinem Gegner und zog sich auf dessen stacheligen Rücken hoch. Dieser schlug wilde Kapriolen und schaffte es, den kleinen Wasserdrachen loszuwerden. Weit wurde Tyiasur durch die Luft geschleudert, dabei war die feuchtigkeitsschwangere Umgebung für diesen die ideale Flugbedingung.

Als die Rollen des großen Drachens den lästigen Störenfried auf seinem Rücken nicht verschwinden ließen, ruckte der gewaltige Kopf wieder herum und versuchte ihn zu beißen. Ein beherzter Griff in die Stacheln knapp hinter dem Nacken verringerte dessen Reichweite enorm.

Mimoun sah sich nach Dhaôma und Lulanivilay um, sah aber keine Möglichkeit, jetzt noch zu ihnen zu kommen. Nur sein Drache verbiss sich wieder im Ohr von Mimouns neuem Reittier.
 

„Vilay. Wir müssen zurück. Mimoun kommt nicht mit.“

Der Drache hatte gerade damit zu tun, gegen ein paar Dutzend Himmelsgeister zu kämpfen, lästige handgroße Drachen, die winzige Elementstöße verursachten, aber er sah dennoch hinüber und verstand. Mit einem weiteren ohrenbetäubenden Brüllen drehte er bei und flog direkt auf Mimoun zu. Mit den Vorderläufen griff er nach dem Drachen, mit dem dieser rang, der entsetzt aufquiekte und floh.

„Mimoun, lass los!“

Hätte sich Dhaôma nur ein wenig mehr auf die Umgebung konzentriert, wäre ihm sicher aufgefallen, dass die Drachen sich formierten, so aber sah er sich ein paar Augenblick später einer Übermacht entgegen, die offenbar vorhatte, diesen Kampf mit Magie zu gewinnen. „Ai jaaa.“, stöhnte der junge Mann und presste seine Beine warnend gegen Lulanivilays Schultern. „Was nun? Jemand einen Plan?“
 

Mimoun löste sich von seinem unfreiwilligen Reittier und schloss sich wieder seinen Freunden an. Seinen Drachen packte er einfach und zog ihn von dem Ohr. Da dieser nicht losließ, riss er ein Stück davon ab.

Der kleine Wasserdrache war ernsthaft sauer. Während sich Mimoun erleichtert durchatmend an den Bauch Lulanivilays hing, schoss der Blauling an dem Drachenbein empor, fegte über das Bein des Magiers und den Hals des Grünen hinauf und platzierte sich auf dessen Stirn. Wütend fauchte er die Angreifer an und plusterte sich auf. Fast gleichzeitig erloschen die Feuersäulen und die Windböen verebbten. Vereinzelte Felsbrocken krachten ohne Ziel und Kontrolle wieder zu Boden. Selbst einige fliegende Drachen strauchelten und gingen tiefer. Selbst der gerufene Regenguss verweigerte sein Erscheinen, obwohl es noch immer donnerte und krachte und stürmte.
 

„Was ist denn jetzt los?“, fragte Dhaôma ängstlich. Sein Rücken und seine Schultern juckten unerträglich, selbst seine Wangen und die Arme ein wenig. Es war fast, als drücke irgendetwas dagegen und enge ihn ein. „Vilay? Lulanivilay?“

„Beruhige dich, Freiheit.“, erklang es wie immer neutral in seinem Kopf. „Ihre Verwirrung nutzt uns.“ Auch Lulanivilay spürte den Druck auf seine Magie, aber er ließ sich davon nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Er hatte das schon früher gefühlt und wusste, dass es irgendwann von alleine wegging.

„Mimoun?“ Suchend sah Dhaôma sich um.

„Er hängt an mir. Wir fliegen schneller.“ Und kaum hatte er das mitgeteilt, legte der grüne Drache an Geschwindigkeit zu, dass der Wind den Reitern fast die Luft zum Atmen nahm. Erschrocken duckte sich der Braunhaarige auf den Rücken und klammerte sich fest. Aber sie kamen dadurch dem Rande der Insel ein gutes Stück näher, bevor die gegnerischen Drachen wieder angriffen. Diesmal waren es nur noch die großen und Lulanivilay konnte ihnen leichter ausweichen. Dennoch wurde er von dem sperrigen Mimoun an sich behindert und kam nicht umhin, mit Schwanz und Klauen um sich zu schlagen, bis man ihm Platz machte.
 

Mimoun löste sich von Lulanivilay. Er behinderte ihn nicht nur beim Fliegen. Mit dem zusätzlichen Gewicht vor dem Bauch konnte er schlechter kämpfen. Und der Geflügelte nutzte mehr, wenn er selbst sich am Kampf beteiligte. Sein Blick glitt in die Ferne, schätzte die Entfernung zum Rand der Insel und die Menge ihrer Gegner ab. Die Chancen standen deutlich schlecht und so suchte er nach einem Ausweg, während er zeitgleich versuchte, sich ihre Widersacher vom Hals zu halten.

Nachdenklich runzelte er die Stirn. Diesen Ort kannte er. Weiter vorne war der Vulkankrater. Hier war doch irgendwas gewesen. Etwas Elementares, etwas Wichtiges. Mit der Erkenntnis hellte sich sein Gesicht auf.

„Dhaôma, halte dich gut fest! Lulanivilay, folge mir!“, verlangte er und begab sich in den Sturzflug. Mit dieser Aktion hatten die anderen Drachen nicht gerechnet und so störte es auch nicht, dass der Gefährte des Magiers nicht sofort reagierte. Sie gewannen dennoch Abstand zu der Meute. Der Geflügelte spürte das leichte Prickeln nicht mehr auf seiner Haut und nutzte all seine ihm zur Verfügung stehende Magie.

Auf ihrem Flug kamen sie dem Lavasee immer näher, doch das war nicht das Ziel des Geflügelten. Er schwenkte ein wenig zu Seite, wich geschickt einigen nun wieder fliegenden Felsen aus und stürzte sich wenig später wieder gen Erdboden, direkt hinein in die große Spalte.
 

Der Riss in der Insel. Wo diese seltsamen Gelege wie Trauben hingen. Eine wunderbare Idee!

Begeistert lachte Dhaôma. Der seltsame Druck auf ihn und das Jucken waren verschwunden und vor ihnen lag die Lösung, die aus diesem Kampf führte. Hoffentlich würden sie nicht noch weiter verfolgt werden.

Schon schossen steile Felswände an ihm vorbei und eines der Nestseile riss, weil Lulanivilay es übersehen hatte, ein paar der zahnbewehrten Drachen gingen auf sie los, schrieen wütend, weil sie die Fremden aus ihrem Revier vertreiben wollten, aber sie konnten mit der Geschwindigkeit Mimouns und Lulanivilays nicht mithalten, da sie über freien Fall hinausgingen. Hinter ihnen schossen noch ein paar Feuerbälle vorbei, aber Dhaôma wusste einfach, dass sie es geschafft hatten, denn die Drachen folgten ihnen nicht weiter. Erleichtert drehte er sich um und sah zurück. Tatsächlich waren viele der Drachen gelandet und andere schwebten über dem Riss, um ihnen nachzuschauen.

„Bis irgendwann mal!“, rief der Braunhaarige und winkte. „Danke, dass ihr uns aufgenommen habt!“

„Du bedankst dich, obwohl sie uns angegriffen haben.“, statuierte Lulanivilay und sah seinen Reiter an.

„Ich denke, es war so eine Art Abschied mit Glückwünschen für die Zukunft. Sonst wären wir sicherlich stärker verletzt, denn immerhin waren sie in der hoffnungslosen Überzahl.“

Der Grüne dachte darüber nach, dann stimmte er zu. „Freiheit, warum nennst du mich nicht mehr Lulanivilay?“, fragte er schließlich, als endgültig feststand, dass ihnen keiner folgte.

„Uh? Ah das. Entschuldige, stört es dich? Dann werde ich es nicht mehr tun. Vilay ruft sich nur viel einfacher als Lulanivilay. Ich hatte es eilig.“

„Es stört mich nicht. Leben ist ein sehr schöner Name.“ Und nach einer kurzen Pause meinte er: „Du kannst mich weiter so nennen.“

Liebevoll kratzte Dhaôma mit den Fingern über die Schuppen am Hals. Es freute ihn, dass sein großer Freund nicht mehr so depressiv und verloren war, dass er endgültig begann, sich ihnen gegenüber zu öffnen. Seine Augen suchten Mimoun und er winkte ihm zu, von einem bis zum anderen Ohr grinsend. „Gewonnen!“, rief er ihm zu. „Dank deines rettenden Einfalls.“
 

„Tja, ich bin halt der Größte.“ Angeberisch ließ Mimoun seine Muskeln spielen. Doch das Lächeln erlosch schnell und mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen ließ er sich rücklings fallen. Nur wenige Meter, aber es zeigte deutlich, wie fertig er war. Am wohlsten würde er sich fühlen, wenn er sich irgendwo ausstrecken konnte, aber vorher kam noch der Sturm und darunter erstreckte sich das große Wasser so weit sein Blick reichte. Egal in welche Richtung. Über ihnen zog die Insel der Drachen ohne Unterbrechung ihre Bahn. Und die Gewitterwolken wirbelten in gewohnter Manier um sie herum.

„Weißt du wo es langgeht?“, fragte er Lulanivilay. „Ich habe hier keinen Orientierungspunkt.“
 

„Folge mir.“ Lulanivilay hielt sein Tempo gedrosselt, um dem erschöpften Hanebito Gelegenheit zu geben, sich ein wenig zu erholen. Ein langsamer Gleitflug sollte für ihn kein Problem darstellen. Mit Tyiasur verabredete er, dass der kleine Blaue vorerst bei ihm bleiben sollte, um Mimoun zu entlasten. Die kleine Schlange wog nicht genug, um Lulanivilay zu behindern.

Die Wolken- und Windschicht unter ihnen war schnell durchflogen, weil sie nicht dicht war und schon breitete sich unter ihnen das Meer aus. Wie lange war es her, dass Dhaôma es gesehen hatte. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren auf der Insel, wo alle Jahreszeiten egal welches Landes nebeneinander existiert hatten. Es war kühl und windig und roch nach Salz und weit und breit waren nur blaue Wogen zu erkennen. Und über ihnen verschwand langsam der Schatten der Insel, so dass der Blick auf Regenwolken und Gewitter frei wurde. Das Wetter, das er gerufen hatte und das nicht so geworden war, wie er es gerufen hatte. Aber sie würden es bald hinter sich lassen.
 

Mit geschlossenen Augen lauschte Mimouns Herz dem Wind, fühlte den Strömungen nach. Seine Flügel bewegten sich kaum, als er sich von der Brise einfach nur tragen ließ. Seine Ohren meldeten ihm die Richtung Lulanivilays und schließlich auch das Geschrei von Vögeln. Sie zu hören bedeutete, dass der Strand nicht mehr weit sein konnte. Dennoch verging fast eine Stunde, bis der helle Streifen Sand sichtbar wurde.

Mimoun landete dicht hinter der Wassergrenze und wurde doch noch von einer vorwitzigen Welle erwischt. Er ließ sich davon nicht stören, wich auf seinem Weg der grasübersäten Düne entgegen einem Glibberschleimchen aus, das angespült worden war, und ließ sich zwischen die Pflanzen fallen.

„Wir sind wieder da.“, lächelte der Geflügelte.
 

Lulanivilay landete wenig später direkt neben dem mit Sand zugewehten, umgedrehten Boot. Es hatte einiges abbekommen, war an einer Seite eingedrückt und inzwischen bewohnt, wie ein lautes Knurren zeigte. Ein Sandfuchs ergriff kläffend die Flucht, als der große Drache in das Boot linste.

Dhaômas erster Weg führte ihn zu seinem schwarzhaarigen Freund. Glücklich ließ er sich neben ihn fallen und drückte ihn fest an sich. „Geschafft, geschafft, geschafft!“, jubelte er. „Mimoun, wir sind so weit gekommen!“

Hinter ihnen gab es ein erschrockenes Quietschen. Tyiasur hatte zum ersten Mal in seinem Leben Bekanntschaft mit Salzwasser gemacht.
 

Weiche Finger glitten durch braune Strähnen, wickelten sich darin ein, zupften daran. Kurz sah er auf, als sein Drache protestierte, lachte aber nur darüber. Es schien nicht so, als würde es ihm schaden. Obwohl. Er traute sich nicht mehr wirklich hinein. Das seltsame Gefühl hatte den Kleinen wohl verschreckt.

Die Sonne brannte auf sie hinab und die gute Laune seines Freundes war ansteckend. Doch plötzlich entgleisten die Gesichtszüge des Geflügelten. Den Sandfuchs hatte er nur am Rande wahrgenommen, so dauerte es eine Zeit, bis er begriff, was es bedeuten konnte.

„Dieses Mistviech.“, fluchte er lauthals und sprang auf. Es hatte sich unter dem Boot eingenistet. Wenn dieses Biest an seiner Rüstung herumgekaut hatte, würde Mimoun den ersten Pelz für ein neues Kleidungsstück für Dhaôma beisteuern!

Der Geflügelte erinnerte sich noch genau daran, welche Kraft nötig gewesen war, um das Boot hier heraufzuschleppen. Umso mehr erstaunte es ihn, dass es ihm nun keine große Mühe mehr bereitete. Aber auch diese Tatsache war nebensächlich angesichts des Anblicks.

Ja. Es waren Bissspuren zu erkennen, aber selbst ohne sie war deutlich ersichtlich, dass die Rüstung nicht mehr zu retten war. Tiefe Risse zogen sich durch das heller gewordene Leder. Als Mimoun es berührte, fühlte es sich spröde und brüchig an. Es war ihm ein leichtes, dort ein weiteres Loch zu hinterlassen. Eine der Beinschienen war komplett verschwunden, wahrscheinlich durch ein Tier weggeschleppt. Die Armschienen hatten sich verkeilt und steckten mit der scharfen Kante im Brustharnisch fest.

Niedergeschlagen ließ er sich in den Sand daneben sinken. Kurz sackte er ganz in sich zusammen, bevor er sich straffte, eine Handvoll Sand ergriff und mit einem wütenden Aufschrei von sich schleuderte. Anschließend ließ er sich zurückkippen, einen Arm über das Gesicht gelegt, den Mund zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
 

Dhaôma war seinem Freund verwirrt gefolgt, blieb betroffen stehen. Er wusste genau, wie viel ihm diese Rüstung bedeutete, dass sie von seinem Vater war und ein Erinnerungsstück, aber jetzt war sie kaputt. Und er konnte sie nicht reparieren. Auch wenn er Pflanzen wieder zum Leben erwecken konnte, klappte das bei Tieren oder Teilen von Tieren nicht. Er konnte kein Leder regenerieren, oft genug hatte er es schon probiert, mit und ohne Lulanivilay. Aber was hatten sie erwartet? Selbst mit täglicher Pflege sahen ihre alten Kleider inzwischen arg mitgenommen aus, waren oft geflickt und zerschlissen und fleckig. Nur der Fellponcho sah noch einigermaßen gut aus, da Dhaôma ihn dort oben kaum gebraucht hatte. Wie hätte die Rüstung ganz ohne Pflege an einem so feuchten Ort schon aussehen sollen?

Mitleidig hockte er sich neben Mimoun und berührte ihn sachte am Arm. Es war seine Schuld, dass die Rüstung kaputt war, denn nur wegen ihm waren sie zu der Insel hinauf geflogen und hatten sie nicht mehr verlassen können. Aber das half dem Schwarzhaarigen sicher nicht weiter.

Dann waren auch alle anderen Sachen von ihnen verschwunden. Der Bogen Mimouns war fort, dort lagen nur noch ein paar Pfeile ohne Federn und zerbissen, die Decken zerfetzt, sein Rucksack mit den Feuersteinen und dem Wasserschlauch, die Bücher und das Messer waren verschwunden – wahrscheinlich wegen der Vorräte entführt. Sie waren praktisch mittellos.

Müde rieb sich Dhaôma über die Augen. Abgesehen davon, dass es sie lange Zeit kosten würde, das alles zu ersetzen - bei Mimouns Rüstung schlicht ein Ding der Unmöglichkeit - gab es mit Silia und Cerel mit Sicherheit einen Aufstand, wenn sie erfuhren, dass die Rüstung hin war.
 

„Nicht!“, zischte Mimoun und entzog den Arm der Berührung. Das war jetzt absolut nicht das, was er brauchte. „Nicht.“ Diesmal schwang nur noch Resignation in diesem Wort mit.

Mimoun erhob sich wieder, ließ wie beiläufig nur für Sekunden die Hand auf Dhaômas Kopf liegen, und machte sich daran, die Armschienen herauszuholen. Kurz wendete er sie hin und her und begann dann das unbrauchbare Leder von den Klingen zu entfernen.

Aus den Augenwinkeln entdeckte er Tyiasur, der neben ihm saß und still und mit undeutbarem Blick zu ihm hochblickte. Auch ihm ließ er ein kurzes Kopftätscheln zukommen, bevor er sich wieder seine Arbeit widmete.
 

Verstehend nickte der Braunhaarige, stand auf und entfernte sich ein wenig. Lulanivilay warf ihm einen interessierten Blick zu und mit einem schwachen Lächeln beruhigte ihn Dhaôma. Es war jetzt kurz nach Mittag, sie waren lange geflogen. Also bereitete er ein wenig entfernt ihr Mittagessen vor, das aus Trockenfleisch und Früchten bestand. Es war sogar ein wenig Honig darin, aber den wollte er sich lieber aufsparen. Addar und seine Leute hatten immer ein wenig Probleme gehabt, an Salbengrundlage zu kommen, weil die Bienen unberechenbar und schwer zu finden waren, also wollte er ihnen zukommen lassen, was möglich war. Eloyn würde sich sicher freuen.

„Ihr seid traurig.“, stellte Lulanivilay schließlich fest, als er sich neben Dhaôma in den Sand fallen ließ. „Gerade ward ihr noch froh, jetzt nicht mehr. Warum?“

„Das liegt daran, dass unsere alten Sachen kaputt sind.“, war die sehr leise Antwort. „Mimoun hat die Rüstung sehr viel bedeutet.“ Selbst Tyiasur kam an und rollte sich in der Kuhle zusammen, die Lulanivilays Rücken und Flügel bildeten, aber sein Blick klebte zu jeder Zeit an seinem Freund. Hätte nicht selbst er verstanden, dass Mimoun alleine sein wollte, wäre er wohl nicht gegangen.

„Wir sollten ihm dann eine neue Rüstung suchen.“

Weich lachend schüttelte Dhaôma den Kopf. „Nein, das wäre nicht dasselbe. Lass gut sein, Lulanivilay.“

„Eine Rüstung wäre dennoch von Vorteil, wenn man auf die trifft, die spitze Stöckchen werfen.“

Spitze Stöckchen? Meinte er Speere? Pfeile? „Die Hanebito werden ihm nichts tun. Schlimmer sind die Magier. Die Rüstung könnte zumindest zu einem kleinen Teil Feuer- und Eisschaden fernhalten, vielleicht sogar andere Magie abhalten.“

„Sie bestand aus Tierhaut und Wachs. Das ist nicht sehr stabil.“

Tadelnd blickte Dhaôma ihn an. Wie immer hatte er Recht, aber Lulanivilay sollte die alte Rüstung nicht so herabsetzen. „Sie kann sich natürlich nicht mit Drachenhaut messen, aber denke daran, dass wir für Drachenhaut einen Drachen töten müssten. Keiner von uns will das.“

Das sah dann auch Lulanivilay ein und gab Ruhe. Stattdessen streckte er sich in der Sonne aus und ließ sich von ihr wärmen. Er liebte das.
 

Der letzte Rest brüchigen Leders flog in hohem Bogen über die Düne. Mimoun berührte noch einmal den Brustharnisch, ließ seinen Blick über die Überbleibsel gleiten und seufzte ergeben. Entschlossen nahm er die Klingen an sich, erhob sich und stülpte entschlossen das Boot wieder darüber. Es war vergangen. Dieser Abschnitt seines Lebens war vorbei. Nun begann sein Leben als Drachenreiter.

Unschlüssig streunte er zu seinen Freunden hinüber. Der Geflügelte erinnerte sich gut daran, dass er seinen Magier vorhin böse angefahren hatte, und er bereute es zutiefst. Dieser konnte schließlich nichts für den Zustand der Rüstung. Zögerlich ließ er sich hinter seinem Freund nieder und schlang seine Arme um dessen Hals. „Tut mir Leid.“, murmelte er in die Haare.
 

„Alles in Ordnung.“, erwiderte Dhaôma und kraulte sachte den Haaransatz seines Freundes, indem er hinter sich griff. „Mir tut es auch Leid.“ Vertrauensvoll lehnte er sich gegen Mimoun. „Möchtest du hier noch einige Zeit bleiben oder sollen wir heute lieber noch ein wenig weiterreisen und diesen Ort vergessen?“
 

Dhaôma begriff anscheinend nicht, worauf er hinaus wollte. Aber vielleicht war es auch besser so.

„Drängeln und schleichen an einem Tag fordern.“ Mimoun kicherte. „Du wirst dich wohl nie entscheiden können. Und warum sollte ich diesen Ort vergessen wollen? Hier haben wir die Insel gefunden, nicht wahr? Hier sind wir deinem Traum endlich ein Stück näher gekommen.“ Der Geflügelte streckte seine Beine ein wenig und lehnte sich halb zurück, nur auf einen Arm gestützt. Mit dem anderen hielt er noch immer seinen Magier umschlungen. „Aber wir sollten dennoch weiter. Unsere Freunde haben sich lange genug Sorgen machen müssen.“ Ein spitzbübisches, bösartiges Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. „Du weißt doch hoffentlich noch, wie der Text ging, oder?“
 

„Ai?“ Welcher Text? „Meinst du die Begrüßungsformel, mit der man als Drachenreiter jemanden begrüßen soll?“ Lesley hatte ihnen da einiges beigebracht. „Friede sei mit euch zwischen Himmel und Wasser.“, rezitierte er mit genau der gleichen blasierten Stimme, die Lesley dabei immer an den Tag gelegt hatte.
 

Mimoun lachte und ließ sich endgültig zurückfallen. Dieser Magier war unglaublich.

„Unsere Freunde haben sich lange genug SORGEN gemacht.“, wiederholte er zwischen Glucksern. „Welchen Text werde ich wohl meinen?“
 

Braune Augen weiteten sich, als er begriff. Dann lachte auch er. „Verzeih, dass ich dir Sorgen gemacht habe.“ Das war Mimouns erste Lektion gewesen, kurz nach dem Tag, an dem sie Freundschaft geschlossen hatten.“

„Sie hätten sich keine Sorgen machen müssen, hätten sie mir zugehört.“, mischte sich der neutrale Ton Lulanivilays ein.
 

„Sie hatten Angst.“, erklärte Mimoun. „Seit Jahrzehnten wurden keine Drachen mehr gesichtet. Und du bist mitten in den Dörfern gelandet, hast ihnen keine Zeit gelassen, sich auf dich einzustellen. Wie hätten sie reagieren sollen?“ Seine Finger zwirbelten wieder Dhaômas Haare. Zwar hatte er zum Aufbruch gemahnt, dennoch wollte er noch ein Weilchen hier so bleiben.
 

„Ich habe mich angekündigt.“

Dhaôma lachte leise. Wahrscheinlich war eine Stimme aus dem Nirgendwo nicht unbedingt beruhigender. „Diesmal werden sie dich nicht wegjagen, denke ich. Aber zur Not suchen wir uns einfach eine kleine, unbewohnte Insel, damit sie dich kennen lernen können, denn wie ich sie kenne, siegt ihre Neugier über jegliches Angstgefühl, wenn sie nur genügend Zeit zur Verfügung haben.“

Der Drache antwortete nicht darauf und so schwieg Dhaôma länger, bis ihm ein Gedanke kam. „Mimoun, vielleicht sollten wir ihnen mit der zeremoniellen Begrüßung klar machen, wer wir nun sind. Damit sie wissen, dass von Lulanivilay und Tyiasur keine Gefahr droht.“ Und ein paar Augenblicke später begann er zu grinsen, als er anfügte: „Oder damit sie denken, wir wären jetzt ferngesteuerte Puppen ohne Leben und Seele, damit wir sie erschrecken können.“ Amar hatte mal gefragt, ob er davor keine Angst hatte, wenn er die Drachen gefunden hatte.
 

„Du hast ja richtig bösartige Gedanken.“, schmunzelte der Geflügelte. Er setzte sich wieder auf und führte die fremde Haarsträhne an seine Lippen, hauchte einen Kuss darauf. „Ich bin beeindruckt.“ Seine Augen blitzten gefährlich und belustigt zugleich. „Und dann überfallen wir Leoni oder einen der anderen mit einer Umarmung. Das wird sie völlig aus dem Konzept bringen.“ Der irritierte Blick des Wasserdrachens entging ihm völlig. Zu begeistert war er von der Idee, seine Freunde zu veralbern.
 

Dhaôma fand das ungeheuer witzig, wie sich sein Freund über die lapidar dahin gesagten Worte freute. „Leoni sollte das freuen, sie meinte, ich sei zu ernst. Vielleicht sollten wir dann genau gleichzeitig die gleichen Worte sagen und die gleichen Gesten machen?“
 

Erneut konnte der Geflügelte nicht anders als zu kichern. „Das müssen wir dann aber üben. Sehr häufig. So dass wir nicht schon vorher in Gelächter ausbrechen.“

Beherzt griff er bei dem bereiteten Mahl zu und lenkte seine Gedanken wieder auf das Wesentliche. Ihm war nicht entgangen, dass nicht nur er Verluste zu beklagen hatte.

„Wir müssen dem Fluss folgen, solange wir keinen Wasserschlauch mehr haben. Und wir brauchen gutes Wild oder besser ihr Leder, damit wir mal wieder anständige Kleider bekommen können. Und wir mal wieder etwas anderes essen als Fisch und Ratte. Und dann noch die Frage, ob wir einen Direktflug zu Addar hinlegen oder magst du noch deiner dir vom Rat übertragenen Aufgabe nachgehen?“
 

„Was? Du willst, dass ich jetzt Inseln begrüne? Die werden sich schön freuen. Nein, ich denke, es ist besser, wenn Addar erst einmal beweist, dass unsere Freunde ungefährlich sind, bevor wir diese Arbeit wieder aufnehmen, sonst werden sie Lulanivilay immer beschießen. Das will ich ihm ersparen.“ Dann seufzte er. „Andererseits wissen wir gar nicht, wo Addars Insel zur Zeit ist, nicht wahr? Also müssten wir das erfragen. Oder weißt du es?“

„Ich könnte dir sagen, auf welcher der Inseln du vorher schon Magie gewirkt hast. Eine ist dabei, die ist besonders von dir erfüllt.“, schaltete sich wieder der grüne Drache ein.
 

„Die Inseln haben ihren vorbestimmten Weg. Und ich war nun schon häufig genug da, um ihn zu erahnen. Ich könnte das Suchgebiet zumindest eingrenzen.“ Mimoun erhob sich endgültig und klopfte Lulanivilay auf den Hals. „Aber wenn du sie schneller findest, wäre das uns eine große Hilfe.“ Er wirbelte zu seinem Freund herum und streckte eine Hand in seine Richtung. „Komm.“, lächelte er. „Ich möchte sie endlich wieder sehen.“
 

„Ja.“ Dhaôma ließ sich mitziehen und kletterte, nachdem er alles wieder eingesammelt hatte, wieder auf Lulanivilays Rücken. „Wahrscheinlich ist die am stärksten nach mir riechende Insel die von Mimouns Dorf. Dort war ich am längsten. Du sagtest doch, du wärst schon auf Addars Insel gewesen und hättest sie anhand der Beschreibung gefunden.“

„Diese Insel finde ich wieder. Und sie riechen nicht nach dir, sondern fühlen sich nach dir an.“

Liebevoll kratzte Dhaôma über die grün-rot gemaserten Schuppen. „Ich weiß. Wie lange werden wir dorthin brauchen?“

„Ein paar Tage.“

„Und wenn wir Orte umgehen, an denen wir gesehen werden?“

„Jahre.“

„Dann müssen wir auf die Heimlichkeit verzichten. Wir sind eh schneller als alle anderen, da werden sie uns unseren Spaß wohl kaum nehmen.“

Mit kräftigen Flügelschlägen erhob sich Lulanivilay in die Luft, Tyiasur wieder auf seinem Kopf sitzend. Der Blaue hatte bei Mimoun nur kurz eine Streicheleinheit gesucht, bevor er umgestiegen war, denn er wusste, dass sein Freund bereits erschöpft war und wollte seinen Wunsch nicht gefährden, heute möglichst noch weit zu kommen.
 

Dankbar über das wenige Gewicht schwang sich auch der Geflügelte in die Luft und folgte dem Drachen. Dieser achtete darauf, dass Mimoun mitkam, ohne seine Magie nutzen zu müssen. Dennoch war sein Limit schnell erreicht. Und der Kräfte sparende Gleitflug, in den er überging, war für den Drachen trotz seiner Bemühungen zu langsam. Dennoch schafften sie es, das Flussdelta hinter sich zu bringen, für das sie auf ihrer Hinreise Tage gebraucht hatten.

Sie beschlossen den restlichen Tag und die Nacht am Ufer zu verbringen. Und während Tyiasur durch den Fluss tobte, der hier kein Salzwasser führte, und Dhaôma sich um den pflanzlichen Teil ihres Abendessens kümmerte, ging Mimoun in der Schwüle des Nachmittags noch ein wenig Wild jagen. Er kehrte mit zwei Kaninchen zurück. Eines verfütterte er an Lulanivilay, nachdem er das Fell gerettet hatte. Das andere war für ihn selbst. Zwar bot er seinem Schützling etwas an, aber dieser blieb lieber bei seinem Fisch. Und Dhaôma konnte sich das Fleisch aufgrund fehlender Feuersteine nicht braten.
 

Sie übten noch ihren Spruch, bevor sie endlich schlafen gingen. Es war ein ausgelassenes Spiel und sie lachten wie verrückt, aber besser sie lachten jetzt all ihre Freude heraus, als dass sie ihren Spaß mit einem unkontrollierten Lachen störten.

Am nächsten Tag konnten sie schon wieder viel schneller fliegen. Mimoun nutzte all seine Kenntnisse der Windmagie, um Lulanivilay auszustechen, wie er es unzählige Male versucht hatte, aber außer einer größeren Wendigkeit konnte er gegen den Drachen mit seiner großen Spannweite kaum etwas erreichen. Immerhin befähigte sie dieses Tempo, einfach über die schwebenden Inseln hinweg zufliegen, weit oben, damit sie nicht vorzeitig erreicht werden konnten. Die Hanebito wirkten winzig, wie sie sie verfolgten, und Dhaôma lachte, weil sie alle früher oder später aufgaben.

Auch an diesem Abend übten sie noch mal, weil sie wussten, dass sie am nächsten Tag ankommen würden, wenn Mimoun sich weiter so erfolgreich schlug. Dieses Mal ging Lulanivilay auf die Jagd. Er brachte einen Hirsch zur Strecke, indem er einfach auf ihm landete. Das Tier hatte keine Chance. Mimoun bekam seinen Teil ab und der Winzling verzehrte einen vorzeitig ergatterten Fisch, denn ihre Lagerstatt lag inmitten einer riesigen Graslandschaft ohne den Hauch eines Wasserbeckens. Es war eine Notlösung, denn fast alle Wasserlöcher und Flussläufe wurden von den Tieren besucht und waren daher von Hanebito umschwärmt, die Vorräte für den Winter suchten. Und sie wollten keinen Angriff riskieren.

Früh am nächsten Morgen stiegen sie wieder hinauf in höchste Höhen, bis Dhaôma ganz aufgeregt wurde, weil er die Insel in der Ferne erkannte. Genau neben dem Haus in der Mitte leuchtete ein Kirschbaum rot inmitten all diesen Graus. Das war Addars Baum.

„Wir sind da!“, rief er und wäre fast von Lulanivilays Rücken gefallen, weil er sich reckte, um sie besser zu sehen.
 

Ein tiefes Glücksgefühl ergriff von dem Geflügelten Besitz. Hier war er Zuhause, hier waren seine Freunde. Zu gern hätte er nun noch einmal an Tempo zugelegt, zu gern hätte er ihren ganzen Scherz über den Haufen geworfen und seine Freunde einfach nur ausdauernd begrüßt, aber auf seinen Spaß wollte er auch nicht verzichten.

Schon von weitem konnte er erkennen, dass hektische Bewegung aufkam. Die Kleinen wurden in die entfernteste Hütte gebracht, die Erwachsenen versammelten sich, ein Teil erhob sich sogar in die Luft. Erst beim Näherkommen erkannte der Geflügelte, dass nicht wenige einen Bogen zur Hand hatten. Aber sie wirkten unschlüssig. Und dann kam erneut Bewegung in die Menge, was endgültig Verwirrung in die Masse brachte. Sie mussten wohl die kleineren Gestalten, die sich in Begleitung zu dem Drachen befanden, entdeckt haben.

Unschlüssig wurde ihnen auf der Insel Platz gemacht. Sie wussten nicht recht mit der Situation umzugehen. Einerseits war da dieses riesige Geschöpf, das schon einmal auf ihrer Insel gewesen war. Zum anderen waren da ihre Freunde. Asam entschloss für sich, dass dieser Drache nicht gefährlich sein konnte und kam mit einem Strahlen auf sie zu, nachdem er sie hatte landen lassen. Seine Gesichtszüge entgleisten jedoch, als diese mit völlig ausdruckslosen Gesichtern ihren Spruch losließen und steif eine synchrone Bewegung ausführte, die die genannten Bereiche einschloss. Bevor die zwei Spaßvögel jedoch zum zweiten Teil ihres Plans kommen konnten, färbte sich Asams Gesicht wutrot und auch andere wirkten kämpferisch entschlossen.

„Was hast du mit meinen Freunden gemacht, du Monster?“, fauchte das junge Ratsmitglied ungehalten und stürmte auf den deutlich größeren Gegner zu. Es war nur ein einfacher Schritt zur Seite, eine gemächliche Bewegung mit der Hand und Asam lag auf dem Rücken und zu Mimouns Füßen. Dieser hockte sich grinsend neben ihm und klopfte seinem Freund auf die Brust.

„Himmel hilf. Da bin ich einmal nicht da und du lässt so stark nach.“ Enttäuscht schüttelte der junge Geflügelte den Kopf.
 

Some say love, it is a river that drowns the tender reed

Some say love, it is a razor that leaves your soul to bleed

Some say love, it is a hunger, an endless aching need

I say love, it is a flower and you its only seed
 

It's the heart afraid of breaking that never learns to dance

It's the dream afraid of waking that never takes the chance

It's the one who won't be taking, who cannot seem to give

And the soul, afraid of dyin' that never learns to live
 

When the night has been too lonely and the road has been too long

And you think that love is only for the lucky and the strong

Just remember in the winter far beneath the bitter snows

Lies the seed that with the sun's love in the spring becomes the rose
 

[Bette Middler - The Rose]

Aufregung

Kapitel 47

Aufregung
 

Gleichzeitig perlte Dhaômas Lachen über die erschrockenen und verwirrten Gestalten hinweg. Er rutschte von Lulanivilays Hals herunter und kam mit beiden Füßen auf, als Amar ihm in die Arme flog. Irgendwie hatte der Rabauke es geschafft, den Aufpassern zu entkommen. Er hatte Dhaôma und Mimoun längst erkannt und warum sollten ausgerechnet diese beiden etwas Gefährliches auf die Insel bringen?

„Wo seid ihr gewesen? Du hast versprochen, regelmäßig zu kommen!“ Der Junge war ein gutes Stück gewachsen und ging dem Magier inzwischen bis zur Brust. Offenbar hatte er vor, größer zu werden als Addar. „Ihr hättet ruhig wenigstens Briefe schreiben können!“

Im nächsten Moment prallte ein zweiter Körper gegen ihn. „Dhaô! Dhaô, Dhaô, Dhaô!“ Rote, wuschelige Haare, eine helle Stimme und viel Kraft in den schmalen Armen. Sie war ebenfalls gewachsen, wenn auch nicht so viel. Elin.

„Was machst du denn hier?“, rief er erstaunt aus. Dann drückte er die beiden Kinder an sich. Er war wirklich froh, sie zu sehen.

„Sind das deine Kinder, Freiheit?“, erklang es in den Köpfen aller und die Menge zuckte zusammen. „Sie sehen dir nicht ähnlich.“

Wieder begann Dhaôma zu lachen und strahlte seinen Drachen an. „Das sind Amar und Elin. Sie sind meine Freunde.“

„Wo ist dann Frieden?“

„Wer ist denn Frieden?“

„Fiamma.“, übersetzte der Braunhaarige und die Kinder begannen zu strahlen.

„Vermutlich in der Schutzhütte.“

„Wenn sie nicht weggelaufen ist.“

„Sie ist gut darin, musst du wissen!“

„Und Seren hilft immer mit. Dabei sind sie erst anderthalb!“

Wie hatte er diese Informationsfluten vermisst. Erneut drückte er die beiden Kinder an sich.
 

„Elin.“ Erstaunt beobachtete Mimoun das Treiben der Kinder und vergaß sein derzeitiges Opfer. Dennoch rang dessen Gegenwehr ihm nur ein spöttisches Lachen ab. Unterstützung erhielt Asam von seiner Gefährtin, die Mimoun einfach umarmte.

„Wo ward ihr so lange? Wir haben uns Sorgen gemacht.“

Endlich entließ Mimoun den Freund aus seinem Griff und erwiderte die Umarmung der jungen Frau. „Ich weiß. Tut mir Leid.“, erwiderte er. Wenige Augenblicke später fand er sich in Asams Würgegriff wieder, während sich Leoni nun dem zweiten Heimkehrer zuwandte. Das darauf folgende Gerangel wurde von einem kleinen blauen Drachen unterbrochen, der fauchend auf den Älteren losging. Lachend fing Mimoun seinen Begleiter wieder ein.

„Es ist schon okay.“, erklärte er. „Das ist seine Art mich zu begrüßen.“ Dass Asam ihm tatsächlich eine kleine Strafe bezüglich zu langen Wegbleibens hatte angedeihen lassen wollen, wussten nur dieser und der Wasserdrache.
 

Mit Elin auf dem Rücken, die ihren angestammten Platz nun erstmal nicht mehr räumen wollte, umarmte auch Dhaôma Leoni. Die junge Frau sah wunderschön aus, denn sie strahlte wie die Sonne mit den goldblonden Locken. Das Familienleben tat ihr offenbar richtig gut.

„Wie ist es gelaufen, während wir weg waren?“, wollte Dhaôma wissen. „Und wie geht es allen? Hat sich Fiamma gut eingelebt? Und der Kirschbaum?“

Leoni begann zu lachen. „Halt, halt. Der Reihe nach! Erstmal…“

„Erstmal will ich wissen, ob irgendjemandem außer mir auffällt, dass da ein Monster steht und uns beobachtet.“, unterbrach Janna das fröhliche Wiedersehen.

„Ach das ist…“

„Eidechse!“ Aus dem Pulk schaulustiger Hanebito rannte ungelenk ein kleines Kind. Einige der Erwachsenen stöhnten auf, als kurz darauf ein zweites hinterherdackelte. In beiden Augenpaaren, blau wie der Himmel, leuchtete pure Begeisterung. Drei Leute versuchten die Kleinen wieder einzufangen, aber als der Drachenkopf sich senkte, um sie eingehend zu betrachten, blieben sie wie angewurzelt stehen.

„Das sind deine Kinder.“, stellte Lulanivilay fest, während Fiamma einfach in ihn hineinrannte und an ihm kleben blieb. Seren blieb stehen und starrte hypnotisiert zu dem goldenen Auge hinauf.

Neben ihm keuchte Leoni auf und wurde blass, Janna war schon im Sprung begriffen, Dhaôma war dennoch als erster dort. Dass er keine Angst vor Lulanivilay hatte, erleichterte ihm das gewaltig.

„Ai, ihr seid aber groß geworden.“, staunte er und hockte sich vor sie. „Siehst du, Vilay, das sind Seren und Fiamma.“ Die beiden Kleinen schauten ihn an, doch im Gegensatz zu dem Drachen war er uninteressant.
 

Einem jedoch war die Angst vor dieser Bestie nicht im Weg. Asam stürmte erneut darauf zu, griff sich mit jeder Hand jeweils ein Kind und flatterte ein Stück zurück.

„Wer passt eigentlich auf die Kinder auf?“, fauchte er ungehalten. „Es kann nicht sein, dass sie hier ungehindert rumlaufen!“

Mimoun seufzte. Schon wieder ein fehlgeschlagener Erstbesuch. Die Dorfbewohner hatten Angst. Eigentlich hätte er es vorausahnen müssen, doch ihm war sein Spaß wichtiger gewesen. Vielleicht sollte er seine Prioritäten mal ein wenig anders verteilen.

Er trat zu dem aufgebrachten Vater. Sein Drache hatte sich wieder auf seine Schulter platziert und sich wie ein Schal um den Hals gewickelt.

„Keine Angst. Sie sind unsere Freunde.“, erklärte er sanft. „Wir sind jetzt Drachenreiter und sie gehören zu uns. Das sind Lulanivilay und Tyiasur. Tyiasur, sag Hallo.“

Der kleine Wasserdrache verließ seinen Platz und schlängelte sich bis zu der Hand vor, die dem anderen offen gereicht wurde. „Hallo.“, erklang es in den Köpfen aller. Mimoun starrte seinen Drachen verblüfft und mit offenem Mund an.
 

Dhaôma war zusammengezuckt, als Asam seine Kinder von ihm und Lulanivilay weggerissen hatte, nun staunte er Bauklötze. Tyiasur konnte sprechen? „Da brat mir doch einer ’nen Storch.“, murmelte er, dann lächelte er. Seine Hand strich über die Nase seines Drachen, während er aufstand. „Wir sind ganz schön übereilt, was?“, fragte er leise, dann erhob er die Stimme. „Entschuldigung, dass wir nicht darüber nachgedacht haben, dass wir euch ängstigen. Die beiden sind unsere Freunde und werden niemandem etwas tun, aber wenn es euch lieber ist, werde ich mit ihnen zur nächsten unbewohnten Insel fliegen, damit ihr euch an den Gedanken gewöhnen könnt.“

Genießend schloss Lulanivilay die Augen, spürte den kratzenden Fingern nach.

Dann begann Seren zu weinen, weil sie sich erschrocken hatte, während Fiamma mit ihren kleinen Händen nach Tyiasur zu greifen versuchte. „Dechse! Eidechse!“, brabbelte sie glücklich.
 

Dieser warf den Kopf zurück. Sicher hätte er noch etwas dazu zu sagen gehabt, aber er wusste nicht, ob er das durfte.

„Du kannst sprechen?“, fragte sein Reiter verblüfft nach. „Warum? Seit wann? Warum hast du nie etwas gesagt?“

„Du wolltest nicht, dass ich spreche.“ Unsicher sah der Wasserdrache zu ihm auf. Das ging aber in der Umarmung seines Gefährten unter.

„Dummkopf. Warum sollte ich nicht wollen, dass du sprichst? Ehrlich. Ich freue mich riesig.“ Die Bestätigung holte sich Tyiasur aus den Gedanken seines Freundes und seine ganze Haltung entspannte sich.

„Ich sollte nicht sprechen lernen, damit ich keine Forderungen stellen kann.“, erklärte er.

„Aber…“ Betroffen brach der junge Geflügelte ab. Er erinnerte sich wieder an diese Situation. Das hatte er nicht gewollt. Das war doch nicht ernst gemeint gewesen. Aber das Jungtier, das der Drache damals war, hatte die Anweisungen seines Ziehvaters durchaus ernst genommen. Und das ließ sich nun nicht mehr rückgängig machen.

„Du musst dir keine Vorwürfe machen.“, sprach Tyiasur weiter, als das zweite Kleinkind zu weinen anfing. Fiamma kam nicht an die Eidechse. Asam ging nicht näher heran, um ihr das zu ermöglichen, und Mimoun achtete auch nicht mehr darauf.

„Du wirst ihr nicht wehtun, oder?“, fragte Mimoun vorsichtig nach. Er wollte seinem Winzling eigentlich schon die Möglichkeit geben, ihren Quasibruder kennen zu lernen.

„Nicht, wenn du es wünscht.“

Mimoun sah Asam fragend an und dieser starrte nur auf das Wesen auf Mimouns Arm.
 

„Jetzt ist es genug.“ Die klare, laute Stimme durchschnitt das ängstliche Getuschel der Geflügelten und ihr Gezeter. Auf Karo gestützt schritt Addar auf die Gäste zu. Man hatte ihn geholt, sobald man den Drachen gesichtet hatte, der sich das letzte Mal nach ihm erkundigt hatte, da es seinem Wunsch entsprach. Jetzt lächelte er unter all den Falten. Er war wieder älter geworden, stellte Dhaôma fest. „Beruhigt euch alle erstmal und richtet eure Aufmerksamkeit auf die Situation, die sich euch bietet. Leoni steht direkt neben dem Drachen und ihr ist noch nichts passiert. Elin und Amar zeigen euch ebenfalls, dass man keine Angst haben muss. Und die beiden Drachen zeigen nicht das geringste bisschen Angriffslust, obwohl Asams hektische Reaktion durchaus eine solche hätte heraufbeschwören können.“

Er hatte Recht, das sahen die Hanebito ein, aber das änderte nichts an der Situation, dass ein Drache – ein ausgewachsener, riesiger Drache! – genau vor ihren Nasen saß. Sie fürchteten sich – verständlicherweise.

Der Alte wandte sich an Dhaôma, der kleinlaut neben seinem Drachen stand, welcher wiederum aussah, als würde er gleich einschlafen. Beinahe konnte man ein zufriedenes Lächeln um die schuppigen Züge erahnen. „Willkommen zurück, Dhaôma.“, begrüßte er ihn und kam näher. „Ich hätte wirklich niemals gedacht, dass ihr es tatsächlich schafft. Ich bin stolz auf euch.“

Dem Magier fiel ein Stein vom Herzen. „Addar Maral.“ Er verbeugte sich, was bei Leoni ein Kichern auslöste. Die unerschütterliche Ruhe ihres Schwiegeruropas gaben ihr die nötige Ruhe, um klar denken zu können. Und er hatte Recht. Wäre sie in Gefahr gewesen, wäre sie wahrscheinlich längst tot und ihre Kinder dazu.

Nach und nach ließen die Bogenschützen ihre Waffen sinken und Addar wandte sich Mimoun zu. „Auch dich heiße ich willkommen, Mimoun. Es freut mich zu sehen, dass es dir gut geht, auch wenn man in deinem Fall vielleicht eher von Drachenträger sprechen sollte.“ Ein spitzbübisches Schmunzeln grub noch mehr Falten in das alte Gesicht.
 

Während es dem einen offensichtlich peinlich war, so bezeichnet zu werden, schob sich der andere wieder den Arm herauf, wickelte sich um seinen angestammten Platz und thronte nun mit stolz erhobenem Kopf und lässig übereinander gelegten Klauen auf Mimouns Schultern.

„Es ist schön, Euch wieder zu sehen.“, erwiderte der junge Geflügelte und wandte sich dem Ältesten zu. Dieser würde keine Berührungsängste zu dem Drachen haben, also stellte es kein Problem dar, zu ihm zu gehen. Er reichte ihm einen Arm zur Stütze.

„Entschuldigt bitte den Aufruhr. Ich fürchte, ich lerne nicht aus Fehlern.“

Der Arm wurde ignoriert. Stattdessen glitt die Hand des Alten weiter nach oben und berührte den kleinen Drachen an der Nase. Kurz zuckte der Kleine zurück und duldete es dann.

„Kalt.“, stellte Addar fest und Mimoun nickte.

„Tyiasur ist ein Wasserdrache und unglaublich. Er kann fantastisch schwimmen und sogar fliegen, wenn er es will. Selbst seine Verteidigung lässt nicht zu wünschen übrig.“ Der Kopf des Gesprächsthemas entzog sich dem Streicheln des Alten und drückte sich an die Wange des jungen Geflügelte. Nun, da das Tier nicht mehr hinsah, versuchte auch Karo zögerlich ihr Glück.

Im nächsten Augenblick spürte Mimoun einen Aufprall. „Eidechse.“ Asam hatte die Kleinen absetzen müssen, da sie schwer und unhandlich geworden waren, wenn sie zappelten, und prompt war ihm Fiamma wieder abhanden gekommen.
 

Dass der Älteste eine Berührung mit einem Drachen überlebt hatte, beruhigte die Dorfbewohner noch mehr. Jeder wollte plötzlich den kleinen Drachen berühren oder wünschte es sich zumindest, denn der Große war immer noch im Weg. Und ob sie den berühren durften, wusste keiner.

Leoni hatte schließlich Erbarmen mit Fiamma. Sie hob das Mädchen hoch und fragte Tyiasur direkt. „Darf sie dich mal streicheln? Ich fürchte, die Geschichten über euch haben sie in euren größten Bewunderer verwandelt. Und sie wird kaum Ruhe geben, bevor sie dir zeigen konnte, dass sie dich gern hat.“

„Eidechse!“, bestätigte Fiamma stolz.
 

„Drache.“, korrigierte Angesprochener beleidigt und drehte den Kopf aus der Greifrichtung der kleinen Magierin. „Nicht Eidechse.“

Mimoun lachte. Seine Finger glitten beruhigend über die kühlen Schuppen unter dem Kinn. Schwachstelle gefunden, dachte er wie so häufig davor und feixte amüsiert. Die Augen halb geschlossen streckte Tyiasur den Kopf ein wenig vor, um eine größere Fläche zu bieten.

„Tust du mir den Gefallen?“, wollte auch Mimoun wissen, erhielt aber nur ein widerwilliges, unwirsches Grummeln als Antwort. Kurz drückte der Geflügelte seinen kleinen Begleiter an sich und ließ sich dann seinen Winzling aushändigen. Kurz glotzte sie ihn mit großen Augen an, bevor die Eidechse, die nun endlich in greifbarer Nähe war, wieder zum Mittelpunkt ihres Interesses wurde.

„Sie ist groß geworden.“, stellte Mimoun fest und beobachtete sie mit einem sanften Lächeln. Und schwer. Kein Vergleich zu dem Baby von damals.

Ungeschickt tatschte die Kleine auf Tyiasurs Nase herum und zog dann an den Stacheln an seinem Nacken. Der Drache folgte der Bewegung und stupste ihr die Nase in den Bauch, was sie zum Lachen brachte.

Mimoun wandte sich zu Dhaôma um und strahlte ihn glücklich an, wäre da nicht die Masse, die sich neugierig um ihn zu scharen begonnen hatte, allen voran Asam, der auf Mimouns Bemerkungen hin zu seiner alten lobpreisenden Art zurückgefunden hatte.
 

Gerade setzte er dazu an, dass sie das klügste Kind der Welt wäre, das er je gesehen hätte, so dass sie selbst den Erwachsenen gewachsen war, da war er plötzlich verdrängt worden, denn die Kinder des Dorfes stürmten nun alle auf Mimoun zu. Sie hatten ihn vermisst und nun brachte er sogar noch ein interessantes Haustier mit. Viel spannender als die Fenras, die sie hier oben beherbergten. Addar brachte sich mit einem weiteren Schmunzeln aus der Schusslinie und stellte sich lieber neben Dhaôma. Hier wurde er garantiert nicht so leicht umgerannt, da der große Drache sie davon abhielt.

„Und was kann er?“, fragte er neugierig.

„Ich gebe Freiheit ein wenig von dem See ab, der in mir ist.“, beantwortete Lulanivilay die Frage für Dhaôma. „Du bist Schwalbe Anführer. Ich habe versucht, dich zu finden.“

„Ich weiß.“ Der Alte betrachtete die goldenen Augen und amüsierte sich über die Übersetzung seines Namens. Es war ihm schon zuvor aufgefallen, dass der Drache Dhaôma und Mimoun nicht mit ihren richtigen Namen sondern mit der Übersetzung der alten Sprache anrief. „Man hat es mir gesagt, aber da warst du schon wieder fort.“

„Sie haben spitze Stöcke nach mir geworfen.“

„Das tut mir aufrichtig Leid. Sie konnten ja auch nicht wissen, dass du zu unseren Freunden gehörst.“

„Ich habe es ihnen gesagt. Sie haben nicht zugehört.“ Der grüne Drache bewegte seine Beine ein wenig und legte sich dann nieder. „Es ist schön, dass sie Freiheit und Himmel zuhören können.“

„Und was ist nun deine Fähigkeit?“

Dhaôma übernahm mit einem freundlichen Nasenstüber an seinen Freund die Erklärung. Addars Augen wurden immer größer und ungläubiger, je mehr er erfuhr. „Möchtet Ihr, dass ich es Euch beweise?“, fragte der Braunhaarige mit schelmischem Blick.

„Wenn es gefahrfrei ist.“

„Vilay?“

„Sicher.“

Strahlend bückte sich der Magier und legte die Hände auf den Boden, bevor er noch einmal hinauf sah. „Irgendwelche Wünsche?“

„Elin hat sich sehr bemüht, hier essbare Pflanzen anzupflanzen.“

„Verstehe.“

Dann initiierte er die Magie. Wie eine Welle, schossen um sie herum Pflanzen in die Höhe, Gräser, niedrige Kräuter, die Bäume am See strotzten plötzlich nur so vor Kraft, der Kirschbaum mit seinen blassroten Kirschen bildete zusätzliche Blüten und Früchte, die Büsche an den Häuserwänden wuchsen ein gutes Stückchen hinauf. Und währenddessen vergingen alte, trockene Pflanzen und wurden schlicht wieder zu Erde, die von neuen Keimlingen bevölkert wurde. Dhaôma spürte dank Lulanivilay die ganze Insel durch die Struktur der Wurzeln und konnte seine Magie auf die Pflanzen konzentrieren, die essbar waren. Um sie herum wurden erschrockene, dann erstaunte und staunende Rufe laut.
 

Und damit waren sie nicht mehr im Mittelpunkt. So sehr Mimoun es auch genoss, unter seinesgleichen zu sein, so anstrengend konnten sie bei unbekannten Sachen werden. Er nutzte eine winzige Lücke in der Mauer der Umstehenden, eilte an Dhaômas Seite und atmete einmal tief durch. Tyiasur verzog sich sofort auf Lulanivilays Rücken. Er hatte erst einmal die Schnauze voll. Da interessierten ihn die flehendlich in seine Richtung gestreckten Ärmchen herzlich wenig.

„Ihr zwei seid die Besten.“, bedankte sich Mimoun und setzte sich neben seinen Magier, die Kleine fest auf seinem Schoss haltend, von dem sie bereits wieder herunter wollte. Belustigt beobachtete er sein staunendes Volk.

Kichernd, das Kind erneut umgreifend, wandte er sich an Dhaôma, forderte seine Aufmerksamkeit. „Wenn du sie fertig beeindruckt hast, bin ich dran, oder?“, schmunzelte er.
 

„Willst du ihnen wirklich solche Vorlagen liefern?“, fragte der Braunhaarige leise, im Geiste sich vorstellend, wie Mimoun unter Wasser verschwand und tauchte, und hockte sich neben seinen großen Freund. „Sie machen schließlich alles nach.“ Sein Finger stieß gegen Fiammas Händchen und sie schloss es im Reflex darum. Die Haut war ganz warm und trocken. Auf seine Lippen legte sich ein weiches, liebevolles Lächeln. „Weißt du, dass ich dich vermisst habe, Fiamma? Dabei kannst du dich gar nicht an mich erinnern.“

„Weichfell!“, quietschte sie und versuchte aus Mimouns Armen zu krabbeln, was sie bewerkstelligte, indem sie zappelte und sich wie ein Aal wand. Kein Wunder also, dass Asam sie nicht lange halten konnte.
 

„Ihr wisst von nichts!“, schärfte er den Anwesenden erschrocken ein, während er Winzling freigab. Wenn die Kinder tatsächlich seinem Vorbild folgen sollten, dürfte er sich nie wieder hier blicken lassen. Er wäre ein toter Mann. Vielleicht hatte Lesley Recht und er musste wirklich anfangen, seine geistigen Fähigkeiten zu trainieren. Mimoun musste anfangen, solche Sachen und Handlungen von Personen vorauszusehen, jede Eventualität mit einzuberechnen.

„Stimmt. Ich weiß nicht, wovon ihr redet.“, machte Addar wieder auf sich aufmerksam. Nach einem „Ich darf doch?“ setzte er sich neben die Freunde ins Gras und lehnte sich entspannt gegen Lulanivilays Flanke, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Ich beherrsche nun auch Magie, wenn auch begrenzt. Und einige sich mir bietende Möglichkeiten sind nicht zur Nachahmung empfohlen, weil wirklich nur ich in der Lage dazu bin.“, klärte Mimoun den Ältesten auf. „Baah.“ Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen ließ er sich ins Gras kippen. „Das wäre die Möglichkeit gewesen, Asam klar zu machen, dass ich der Stärkere bin.“ Das war er wahrscheinlich auch ohne seine Magie. Dafür hatte er schließlich eine harte Schule durchlaufen, sich in den letzten Wochen nahezu täglich mit Drachen angelegt.

„Das wollen wir doch einmal sehen.“, warf Asam ein, der nur den letzten Satz mitgehört hatte und nun breitbeinig und mit verschränkten Armen vor ihnen stand.

„Lust zu verlieren?“ Mimoun stemmte sich auf die Ellenbogen hoch und blitzte das junge Ratsmitglied herausfordernd an.
 

„Du könntest einfach zeigen, was du in der Luft dazugelernt hast. Das können sie doch nachmachen, ohne Gefahr zu laufen, zu ertrinken, oder?“, schlug Dhaôma abwesend vor. Das kleine Mädchen tatschte nun in seinem Gesicht herum und malte die Linien auf seinen Wangen nach. Dann zog es an seinen Haaren. „Wie in vergangenen Zeiten.“, kicherte er, als sie grob daran riss und er sie ihr entzog.

„Fellweich.“

„Ja, sie sind weich, aber kein Fell.“

„Echse. Eidechse.“ Sie zeigte auf Lulanivilay.

„Ein Drache.“, schüttelte er den Kopf.

„Dechse!“ Sie wurde wütend. „Dechse!“

„Drache.“, widersprach er.

„Dechse!“

Er seufzte. „Wie wäre es, wenn du ihn einfach beim Namen rufst? Lulanivilay heißt er.“

Sprachlos starrte sie ihn an. Sie war es nicht gewöhnt, dass man sie mit einem so langen Vorschlag bedachte. „Eidechse?“

„Lulanivilay.“, wiederholte er geduldig. „Sein Name ist Lulanivilay.“

„Ich bin keine Eidechse.“, stimmte besagter Drache zu. „Nenn mich nicht so.“

Das verwirrte sie endgültig. „Weichfell?“, fragte sie. Und Dhaôma gab auf, drückte sie an sich und bohrte seine Finger in ihre Seiten, dass sie quietschte. Sie war süß. Und unglaublich zutraulich.

Daneben erklang eine andere helle Kinderstimme. „Drache.“, sagte Seren.

Und plötzlich ging es. „Drache.“, stimmte Fiamma zu. „Die Dechse ist eine Drache.“

„Oh, sind sie nicht unglaublich klug?“, schwärmte Asam und drückte seiner kleine Seren vernarrt einen Kuss auf die Wange. Mimouns Herausforderung ignorierte er für den Moment.

„Ist es bei kleinen Hanebito und kleinen Jagmarr immer so, dass sie so seltsam sprechen?“, wollte Lulanivilay wissen und bekam die Antwort von Janna, die ihr Misstrauen möglichst unterdrückte, dass sie es erst lernen müssten. Die goldenen Augen betrachteten die Kleinkinder einen Moment lang, dann schlossen sie sich und er legte den Kopf neben die Pranken und Dhaôma.
 

„Was ist nun? Hast du Angst, dass ich dir tatsächlich überlegen bin?“, brachte Mimoun die Aufmerksamkeit wieder auf sich.

„Pah.“, erwiderte Asam hochmütig. „Ich bin zwei Jahre älter und bin damit reifer und erfahrener als du.“

Mimoun warf den Kopf zurück und lachte lauthals. Aber du hattest nicht mein Training, dachte er spöttisch und erhob sich fließend. „Na, dann schauen wir mal.“ Suchend sah er sich auf der Insel um und entdeckte schließlich etwas Geeignetes. „Fangen wir mit etwas Leichtem an.“ Misstrauisch wanderte Asams Augenbraue nach oben, als Mimoun ein kleines Federspiel aufhob. Es war ein Spielzeug für die Fanras. „Jag es mir ab - wenn du kannst.“, forderte der Jüngere und ließ die an einem Band befestigten Federn durch die Luft sausen. Und dann war er weg. Mimoun hatte sich in die Luft geschwungen und sauste bereits über die Insel. Noch gebrauchte er seine Magie nicht.

Mit einem abfälligen Schnauben startete Asam die Jagd. Als wenn ihm dieser Jungspund das Wasser reichen konnte. Doch immer, wenn er dachte, nun hätte er ihn, war das Federspiel wieder aus seiner Reichweite verschwunden. Er brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass Mimoun seine Spielchen mit ihm trieb. Und er änderte seine Taktik, versuchte nicht mehr die Beute zu erlangen, sondern ging seinen Gegner direkt an. Aber selbst das brachte nicht den gewünschten Erfolg. Viel zu wendig und schlüpfrig war dieser Bengel geworden.

Und dann war er nicht mehr alleine. Nachdem die Auswirkungen von Dhaômas Magiedemonstration nebensächlich geworden waren, war die Jagd der beiden Kindsköpfe zum Mittelpunkt des Interesses geworden. Die Kinder waren die ersten, die sich der Hatz anschlossen. Sie ließ Mimoun näher herankommen, aber auch ihnen entzog er sich immer wieder. Dann schlossen sich ein paar Erwachsene an, um ihr Glück zu versuchen.

Lachend angesichts dieser Übermacht schwang sich Mimoun in immer größere Höhen. Nach und nach blieb einer nach dem anderen zurück und der junge Drachenreiter flog noch immer dem Blau über ihnen entgegen. Als er ordentlich Abstand gewonnen hatte, ließ er sich rückwärts kippen und beschleunigte seinen Sturzflug mit seiner Magie. Es wagte niemand, sich ihm in den Weg zu stellen. Ausgelassen erwartete Mimoun seine Verfolger bei den Drachen. „Willst du wirklich noch gegen mich antreten?“, lachte er Asam entgegen.

„Immer.“, kam die Antwort ein wenig atemlos. Erfreut ließ Mimoun das Spielzeug in Dhaômas Schoß fallen und stürzte sich auf seinen Gegner.
 

Diese Art Sturzflüge beherrschten Mimouns Spiele fast immer. Inzwischen war Dhaôma daran gewöhnt, aber die anderen stöhnten entsetzt auf, als der Schwarzhaarige der Insel immer näher kam, viel schneller als das normal der Fall gewesen wäre. Als er sich abfing, gab es sogar Applaus.

„Er hat dazugelernt.“, kommentierte das Addar und nickte zufrieden. So hatte er sich das vorgestellt mit den Drachenreitern. Sie waren Wesen, die weit stärker waren als der Durchschnitt.

Seren hockte inzwischen auch auf Dhaômas Schoß, spielte jetzt mit dem Federspiel, das Mimoun fallen gelassen hatte, während das traditionelle Gerangel losging. Zunächst sah es so aus, als wären sie noch gleich stark so wie früher, aber immer mehr kristallisierte sich heraus, dass Mimoun überlegen war. Er gab einfach nicht alles, verzichtete auf alle Angriffe mit seinen Flügeln oder Beinen. Gerade mal die Arme teilten Stüber aus, während der blonde Mann beinahe alles einsetzte, was er nutzen konnte.

„Aber er ist immer noch so kindisch wie Asam.“, stimmte Janna nach einiger Zeit trocken zu. „Aber was erwartet man schon von einem Mann?“

Ihre beiden Töchter waren da ganz anderer Meinung. Gerade noch hatten sie Dhaôma begrüßt, jetzt feuerten sie Asam an und gaben gute Ratschläge. „Mehr rechts!“ „Nein, links! Oder besser von oben!“ Amar dagegen war auf Mimouns Seite und jubelte bei jedem Treffer.

„Ist das immer so?“, wollte Elin wissen, die zwar wusste, dass Mimoun gut raufen konnte, aber dass er so gut war…

„Immer.“, bestätigten ihr mehrere Seiten.

„Er ist ganz schön gut geworden. Ich wette, jetzt könnten Haru, Ramon und ich nicht mehr gewinnen. Dabei haben wir so sehr dafür trainiert.“

„Sag mal, Elin, warum bist du hier? Sind deine Eltern hierher gezogen?“

„Nein. Ich bin hier Lehrerin!“, erwiderte sie stolz. „Ich bringe ihnen bei, was man essen kann und wie man Brot backt.“

„Wir wussten nicht, wann du wiederkommst oder ob überhaupt, da haben wir beschlossen, dass deine Schüler das Wissen an die anderen Dörfer weitergeben sollen. Deswegen ist sie hier. Für einen Monat. Die anderen Kinder sind in anderen Dörfern, aber sie wollte unbedingt hierher, weil sie eure Tochter kennen lernen wollte.“

„Und, was hältst du von ihr?“, fragte Dhaôma das Kind.

Sie strahlte. „Sie ist toll! Ich wette, sie wird eine tolle Drachenreiterin!“

„Uh? Wie kommst du denn darauf?“ Kinderlogik war für Dhaôma noch immer nicht leicht zu begreifen. „Warum sollte sie eine Drachenreiterin werden?“

„Wir werden alle welche, das haben wir beschlossen. Haru will einen Feuerdrachen und euch helfen, Frieden zu bringen. Und ich und Ramon werden Bodentruppen.“

„Ich auch!“, rief Amar begeistert dazwischen. „Ich habe sogar rennen geübt. Jetzt schlage ich dich ganz sicher!“

„Und Fiamma und Seren werden Feuer und Luft verkörpern und ihre Drachen Erde und Wasser, damit alles in einem ist, denn sie denken jetzt schon wie eine.“

„Ich sehe, ihr plant eine Armee.“, lächelte Dhaôma. „Aber wie wollt ihr zu den Drachen kommen? Ihr müsstet den Weg ganz alleine finden. Seid ihr dazu nicht noch ein wenig zu jung?“

„Ihr könnt uns doch hinbringen.“

„Das geht nicht.“, schüttelte Dhaôma den Kopf. „Zu den Drachen kann man nur, wenn man sich beweist und von ihnen als Reiter anerkannt wird. Ihr werdet euch richtig anstrengen müssen, wenn ihr das machen wollt.“ Sanft zog er die Federn aus Serens Mund. Fiamma nahm sie ihm sofort aus seiner Hand.

„Dann machen wir das eben.“, zuckte sie gleichmütig mit den Achseln. „Wir schaffen das. Ihr habt es ja auch geschafft.“

„Sie spielen nichts anderes mehr.“, verriet ihm Leoni. „Jeder weiß inzwischen ganz genau, wie sein Drache aussehen soll und was er kann.“

„So ist das also.“

Ein Aufschrei ging durch die Menge, als Mimoun über Asams Kopf flog, sich abrollte, und im nächsten Moment wieder über dem Blonden hockte. „Mann, Mimoun, was hast du gefrühstückt?“, keuchte der Ältere zwischen zusammengebissenen Zähnen.
 

„Von Drachen zerquetschten Hirsch.“, überlegte Mimoun und nagelte seinen Gegner unnachgiebig am Boden fest. Als er weiter überlegte, zeigte sein Gesicht eine Mischung aus Erstaunen und Reue. „Ich fürchte, ich hab heute noch nicht meine Portion Erdbeeren bekommen. Ich werde dann immer so übermütig.“ Grinsend ging er auf Abstand. Es wäre langweilig, wenn ihr Spiel jetzt schon enden würde. „Und du? Du scheinst heute ein wenig schwach auf der Brust. Oder ist das dein Alter?“ Mit einer schnellen Drehung des Oberkörpers ließ er einen Angriff Asams von sich abgleiten und schickte ihn im gleichen Atemzug wieder auf den Boden. „Soll dir Dhaôma ein wenig von deiner Alterslast nehmen, so wie einst Addar? Vielleicht hast du dann eine Chance gegen mich, der noch in der Blüte seiner Jugend steht.“
 

„Übermut tut selten gut!“ Und schon hatte Mimoun einen Arm vor dem Hals und wurde von Asams gesamtem Körpergewicht zur Seite und auf den Boden gedrückt, so dass er Gesicht voraus unter ihm lag. Triumphierend setzte er sich auf ihn und wurde von den anderen gefeiert, während er selbst Mimouns Flügel mit den Knien niederdrückte.

Lange währte sein Sieg nicht. Der Schwarzhaarige drückte sich nach dem ersten Schrecken in die Stütze. Zwar ging das nur langsam und erforderte eine eiserne Disziplin und Kraft, aber er kam immer weiter hoch. Selbst seine Flügel waren trainiert genug, um Asam einfach zu heben.

„Wow!“, gab dieser von sich. „Dein Training mit den Drachen war wirklich schwer, oder? Da wird sich Kaley aber freuen.“ Vorsichtig stieg er von ihm herunter. „Genug. Du hast gewonnen. Revanche erst, wenn ich dich eingeholt habe.“

Es gab Jubelrufe und Amar flog auf Mimoun drauf. „Mach das mit mir auch! Ich will auch oben sitzen, wenn du am Boden liegst und dich hoch drückst!“
 

„Du hast ja keine Ahnung.“, war Mimouns Erwiderung bezüglich des Trainings gewesen. Kaum war Asam von ihm herunter gegangen, hatte er sich wieder zu Boden sinken lassen. Nun hatte er den nächsten Quälgeist an der Backe. Spöttisch musterte er den Kleinen.

„Wenn ich es zehnmal schaffe, musst du mich auch einmal stemmen, okay?“, schlug Mimoun vor und begeistert stimmte Amar in die Wette ein. Sofort machte sich der Geflügelte ans Werk. Immer wieder glitt sein Blick zu dem Kind auf seinem Rücken, dessen Gesicht mit jedem weiterem absolviertem Liegestütz unsicherer wurde. Erst nach dem neunten tat er auf erschöpft und blieb keuchend liegen. Amar sprang jubelnd von Mimouns Rücken. Er hatte die Wette gewonnen. Als das nächste Kind ankam, wehrte der junge Geflügelte gleich ab. Irgendwann musste Schluss sein. Die Enttäuschung war natürlich groß, aber nicht zu vermeiden.

Mimoun streunte zu Dhaôma und den Babys hinüber. Seufzend ließ er sich neben ihnen fallen. Wie hatte er das vermisst. Das quirlige Leben dieser Rasselbande.

„Lesley will sich die Kleinen wirklich antun? Er sollte nicht so viel in die Zeit gehen.“, stellte Mimoun erneut fest.

„Wieder etwas, das wir nicht verstehen.“, merkte Addar an. „Wie wäre es, wenn ihr uns beim Essen die ganze Geschichte erzählen würdet. Ich bin mir sicher, ich bin nicht der einzige Neugierige.“
 

„Aber dann kriegen wir ja gar nichts mit!“, protestierte Elin. Aber ihr Gesicht hellte sich sofort auf, als sie vorschlug, ein Picknick zu machen. Auch eine von Dhaômas Erfindungen. Gerne gingen die Geflügelten darauf ein und selbst die Erwachsenen machten jetzt schnell, damit sie die Neuigkeiten möglichst bald und aus erster Hand erfuhren. Ehe sie sich versahen, waren alle bei den Vorbereitungen und Dhaômas Aufgabe war es, auf die Kleinsten aufzupassen, die sowieso kaum davon zu überzeugen waren, dass dieser junge Mann nicht nur ein vergrößerter Teddybär war. Aber auf die vorsichtige Anfrage, was die Drachen denn essen würden, versicherte Dhaôma, dass er sich selbst darum kümmern würde. Bambus würde hier sicher auch gut wachsen und Spaß für die Kinder bedeuten, wenn Lulanivilay etwas davon übrig ließ.

Dann kehrte schließlich Ruhe ein, als ein Feuer brannte, über dem Fleisch geröstet wurde, alle in einem ausladenden Kreis mitten auf dem Dorfplatz saßen, tranken und aßen, während Dhaôma und Mimoun abwechselnd von ihrer Reise erzählten. Schon zuvor hatten sie sich verabredet, das Ganze wie ein Schauspiel zu inszenieren, indem sie mit den Stimmen leiser wurden, wenn etwas Spannendes passierte, und lauter wurden, wenn der Höhepunkt erreicht war, um die angespannten Zuhörer zu erschrecken. Einmal übernahm auch Lulanivilay, der ganz glücklich erzählte, wie Dhaôma ihm aus der Patsche geholfen hatte – nicht dass ihn irgendeiner wirklich verstand, aber es gefiel ihm, dass sie ihm lauschten.

Der Wald der seltsamen Dimensionen löste skeptisches Gemurmel aus, so dass Mimoun Dhaôma vorschlug, ihnen zu zeigen, wie groß die Erdbeeren gewesen waren, die er mitgebracht hatte – natürlich ganz uneigennützig. Trotzdem futterte er danach fleißig Erdbeeren.

Der Zeitmagier, Lesley, stieß auf großes Interesse, da er schon viel länger lebte als Addar, und natürlich fragte der Älteste, ob sie in Erfahrung gebracht hatten, was den Krieg ausgelöst haben könnte. Dhaôma konnte ihm bloß sagen, dass Lesley sich geweigert hatte, ihnen das zu sagen, weil es die Zukunft ungünstig beeinflusste, wenn sie es ‚jetzt schon’ wussten. Überhaupt hatte er recht wenig gesagt über damals, solange es nicht die Drachenreiter betroffen hatte.

Während der ganzen Geschichte ließen sie jedoch schön weg, wie man zur Insel der Drachen gelangen konnte oder wo genau sie sich befand, immerhin sollten etwaige Nachfolger den Weg alleine finden.

Es war längst Nachmittag, als sie endeten, indem sie erzählten, wie sie hoch über den Inseln geflogen waren, um hierher zu gelangen, damit man sie nicht überraschen konnte.
 

Nahezu ein kompletter Tag war dafür drauf gegangen, die Freunde zu begrüßen und Geschichten zu erzählen. Dabei standen noch genug Aufgaben bezüglich des bevorstehenden Winters an. Für eine Jagd war es heute schon zu spät und so beschränkte man sich darauf, den von Dhaôma produzierten Pflanzenreichtum einzulagern.

Als Mimoun helfend zur Hand gehen wollte, wurden die jungen Drachenreiter freundlich zum Babysitten verurteilt. Sie waren derzeit die einfachste Möglichkeit, die Rasselbande beschäftigt und unter Aufsicht zu halten. Und nicht nur die zwei wurden in Beschlag genommen. Auch die Drachen waren schnell wieder im Mittelpunkt. Dem kleinen Wasserdrachen war das gar nicht recht und er flüchtete mit einem Pulk Kinder im Nacken.

Erst ein scharfes Wort Mimouns brachte sie zur Ruhe. Erschöpft flüchtete sich Tyiasur auf die Schulter seines Reiters. Lachend kraulte dieser den blau geschuppten Kopf.

„Du magst keine Kinder, oder?“

„Sie sind laut und quirlig und ihre Gedanken sind verwirrend.“, hörte nur Mimoun.

Irritiert sah Mimoun den Drachen an. Er verstand nicht ganz, was der Drache meinte.

„Ihre Gedanken sind zwar einfach, aber völlig unlogisch, folgen nicht so wie eure klaren Bahnen.“

Du kannst Gedanken lesen, dachte Mimoun gezielt und der kleine Drache nickte zur Antwort. „Das ist toll. Das ist wirklich großartig!“
 

Unterdessen wurde es abends. Dhaôma war wieder in seine alte Verhaltensweise verfallen, die Beute beim Spiel der Kinder zu sein. Er war das große Böse, das die Drachenjäger jagten und vernichteten. Und wie schon zuvor war Amar auf seiner Seite. Er spielte den Gehilfen des Bösen wirklich überzeugend. Mit seiner viel zu hellen Stimme lachte er manisch, während er den anderen Fellbälle an die Köpfe warf, was jedes Mal als Sieg galt.

Dann ging die Sonne farbenprächtig unter und seit langer Zeit zum ersten Mal konnte Dhaôma sie wieder bewundern. Zumindest bis der erste Schreckensschrei zu ihm drang. Eine Mutter hatte ihr Kind gesehen. Da es vor dem Spiel mit Dhaôma und auch währenddessen immer wieder in Ufernähe im Schlamm gewesen war, war es von oben bis unten verkrustet. So wie auch jedes andere Kind. Die Kinder störten sich nicht daran. Was machte das bisschen Dreck schon? Aber die Mutter begann zu schimpfen, es solle sich sofort waschen gehen. Andere fielen in den Sermon mit ein und geknickt zogen die Kinder ab.

„Na, soll ich euch helfen?“, fragte Dhaôma und gesellte sich zu ihnen. Er sah kaum weniger schlimm aus.

„Schwimmst du dann? Wie ein Frosch?“

„Oh, können wir auf dir reiten?“

„Nein.“, wehrte der junge Mann lachend ab. „Ich kann keinen tragen, wenn ich schwimme. Aber wir können etwas anderes machen.“ Verschwörend zwinkerte er und schon hellten sich die Gesichter vor Spannung wieder auf.

Das Waschen wurde wieder zum Spiel für alle Beteiligten, denn Dhaôma ließ Wasserblasen fliegen und warf die Kinder damit ab. Natürlich gab das ein schier ohrenbetäubendes Quietschen und Geschrei und Revanchegespritze, aber am Ende waren alle sauber und nass und zufrieden. Die meisten der Kinder gingen an diesem Tag ohne Murren ins Bett.

Wie zuvor auch schon wurde den beiden Gästen ein Bett in Addars Hütte angeboten, aber Dhaôma lehnte ab. Es war noch warm draußen und er wollte Lulanivilay nicht alleine lassen. Der Drache hatte an diesem Tag einfach viel zu wenig Aufmerksamkeit von ihm bekommen und musste sich so fühlen wie er, als er zuerst auf die Inseln gekommen war. Die Leute hatten Angst vor ihm und das war niemals ein schönes Gefühl.

Die Sorge war dann unbegründet, denn der große Grüne hatte selten so viel Spaß gehabt. Er hatte dagesessen und beobachtet, hatte Kleinigkeiten im Verhalten der Hanebito gesucht und sich damit beschäftigt, Kinder, die seinen Schwanz berühren wollten, den er lang ausgestreckt hatte, zu erschrecken, indem er im entscheidenden Moment wegzuckte.

Selbstverständlich schlief Mimoun bei seinem Kameraden draußen, auch Tyiasur zuliebe, der weniger Spaß mit den vielen Leuten hatte, da bei ihm die Hemmschwelle für Berührungen weitaus geringer war. Also lieh man ihnen warme Felle, die den Boden polsterten.

Und mitten in der Nacht waren dann Amar und Elin da und fragten, ob sie auch unter freiem Himmel schlafen konnten, weil sie das noch nie gemacht hatten. Es gefiel ihnen so gut, dass sie beschlossen, es öfter zu machen, um schon mal für später zu trainieren.
 

Zufrieden mit sich und der Welt hatte sich der Geflügelte nach der nächtlichen Störung bezüglich seines Kuscheltieres umentschieden und Elin in seine Arme gezogen. Tyiasur hatte sich daraufhin in seinem Rücken zusammengerollt und den Kopf auf dem Hals seines Reiters zur Ruhe gebettet.

Schlechte Nachrichten

Kapitel 48

Schlechte Nachrichten
 

Der Morgen darauf begann mit einer Suche, die eigentlich keine war. Die Kinder wurden in den frühen Morgenstunden vermisst und doch war jedem sofort klar, wo sie zu finden waren. Natürlich wurden sie für ihr unmögliches Verhalten gerügt, aber das störte die kleinen Plagen nur am Rande.

Solange noch nicht alle wach waren, nutzte der Wasserdrache die kinderfreie Zeit, um den See zu erkunden und sich sein Frühstück zu fangen. Auch dieser See war mittlerweile mit Fischen bevölkert worden. Nach beinahe einer Stunde erst kam Tyiasur mit einem

ansehnlichen Exemplar wieder zurück. Und wurde sofort von applaudierenden Kindern empfangen. Amar und Elin hatten ihn im Wasser verschwinden sehen und nun waren sie begeistert zu erleben, wie lange er da unten bleiben konnte, ohne Luft zu holen. Dass der Drache unter Wasser auf andere Art atmete, war ein Punkt, den sie erst noch lernen mussten.
 

Lulanivilay verabschiedete sich beim Frühstück, um auf die Jagd zu gehen. Auch er hatte Hunger und von Pflanzen allein wurde er nicht glücklich. Tyiasur begleitete den Großen, um den Kindern zu entkommen. Sie gingen ihm auf die Nerven.

Während sie aßen, erzählte Addar davon, wie segensreich die Adoption von Fiamma gewesen war, da sie die Hütte den ganzen Winter über auf einer mehr als angenehmen Temperatur gehalten hatte. Ansonsten hielt sie das gesamte Dorf in Atem, denn ihre unvorhersehbare Art verbunden mit der Unerfahrenheit seines Volkes mit Magierbabys war eine nervenaufreibende Kombination. Zusammen mit Seren watschelte sie oft genug bis kurz vor den Rand der Insel oder zum Wasser, nur um Eidechsen, Fenras oder Käfer zu fangen, die ihr gefielen. Seren begleitete sie immer, geriet aber nur halb so oft in Schwierigkeiten.

Mimoun war es, der ansprach, was ihnen Lesley aufgetragen hatte, und holte Erkundigungen über den Krieg ein. Der wirre Alte hatte Recht behalten. Für die Zeit waren die Kämpfe unterbrochen und offenbar schien es auch nicht so, als wolle eine der beiden Seiten bis zum Frühjahr noch einen Angriff starten. Es gab zu viele Verluste. Auf beiden Seiten.

Kurz wurde die Unterhaltung unterbrochen als einige Mädchen anfragten, ob sie Maß nehmen dürften, da man die Drachenreiter ja nicht in diesen Fetzen auf die weitere Reise schicken konnte, dann verschwanden sie wieder kichernd und ließen einen verwirrten Dhaôma zurück. Mit dieser Art von Aufmerksamkeit konnte er immer noch nichts anfangen, wie Leoni belustigt feststellte.

Und während Mimoun mit den anderen auf die Jagd ging, fragte sie Dhaôma, ob sich in ihrer Beziehung irgendwas geändert hatte. Die Antwort, sie würden sich jetzt blind verstehen, brachte sie zum Lachen.

„Das meinte ich doch nicht. Seid ihr jetzt ein Paar? Es wäre den Mädchen gegenüber nicht fair, wenn ihr ihnen Hoffnungen macht, obwohl ihr schon verbunden wärt.“

„So wie du und Asam können wir nicht sein.“, antwortete Dhaôma weich. „Wie sollen wir denn Kinder bekommen?“ Vorsichtig zog er die Beine an und legte den Kopf auf die Knie. Seine Finger kitzelten Seren, die danach grapschte.

„Darum geht es nicht. Es geht doch um Liebe.“

„Ich liebe ihn.“

„Wirklich?“

„Ja.“ Dhaôma lachte ob ihres Unglaubens. „Er ist derjenige, der mir am allerliebsten ist.“

„Aber dennoch scheint es nicht, als ob du verstehst, was ich meine.“, hakte sie nach und fütterte Fiamma das nächste Stückchen zermatschte Birne.

„Dann erkläre es mir.“

Sie hielt inne und sah ihn an. Ihre blauen Augen ruhten irgendwo auf seinem Gesicht. Schon früher hatte sie das getan, um zu überlegen, wie sie es ihm am besten beibringen sollte, deshalb gab Dhaôma ihr Zeit. Schließlich begann sie: „Weißt du, Liebe ist das, was man empfindet, wenn einem beim Anblick eines anderen das Herz höher schlägt. Wenn man eifersüchtig ist, wenn er jemand anderen anlächelt oder berührt.“

„Aber er gehört doch nicht mir!“ Entsetzt starrte der Magier sie an. „Ich könnte ihm daraus nie einen Vorwurf machen, wenn er jemand anderen…“

„Das ist nicht der Punkt.“, unterbrach Leoni ihn milde. „Wenn du es empfindest, musst du ihm daraus keinen Vorwurf machen. Es ist einfach so, dass du dich gegen das Stechen in deiner Brust nicht wehren kannst und es um seinetwillen akzeptierst.“ Dhaôma schwieg. Seine nachdenkliche Miene zeigte nach einiger Zeit deutlich, dass er das Gefühl kannte, also fuhr sie fort. „Wenn man jemanden liebt, kann man es nicht ertragen, dass derjenige von einem entfernt ist. Es ist beinahe schmerzhaft zu wissen, dass es noch einen Tag dauert, bis er wieder zurückkommt.“

„Sollte man sich in diesem Fall nicht freuen, dass er kommt?“

„Sicher. Das kommt noch dazu. Eine emotionale Zerrissenheit, die einen zwischen Trauer und Freude schwanken lässt.“ Freundlich drückte sie ihm die kleine Magierin in die Arme. „Weißt du, man freut sich über kleinste Gesten und gibt kleine Gesten zurück, um das Lächeln desjenigen zu sehen. Sag nicht, das machst du bei jedem. Es fällt jedem auf, dass es bei Mimoun mehr ist als bei anderen. Und sagtest du nicht selbst, dass du ihn inzwischen blind verstehst?“

Verstockt nickte der Braunhaarige und drückte das kleine Mädchen an sich, als hätte er Angst. Er bemerkte nicht einmal, dass sie versuchte, Knoten in seine Haare zu machen.

„Dhaôma, ich will dir nicht einreden, dass du ihn liebst, aber du solltest dir darüber Gedanken machen, damit du es ihm im Falle eines Falles sagen kannst. Denn glaube mir, es gibt nichts Schrecklicheres, als zu sehen, wie dein Geliebter in den Armen einer anderen ist.“

Braune Augen weiteten sich und wieder nickte Dhaôma, dass sie lachen musste.

„So schlimm, der Gedanke?“ Sie ließ ihm Zeit zu antworten, aber als er es nicht tat, fuhr sie fort. „Glaub mir, dass es gar nicht so schlimm ist, jemanden zu lieben. Man wird reich dafür entschädigt, denn es gibt Küsse und andere sehr angenehme Dinge, die man dann miteinander teilen kann.“ Es war nur eine Vermutung ins Blaue gewesen, aber nachdem sie seine Geschichte gehört hatte, schlussfolgerte sie ganz richtig, dass er davon keine Ahnung hatte.

Seltsamerweise wurde Dhaôma schlagartig rot. „Küssen?“

Erfreut klatschte sie in die Hände. „Gab es da etwa etwas?“

Wie paralysiert nickte der junge Mann. „Nachdem wir das erste Mal hier waren.“

„Na, das ist doch toll! Oder hat es dir nicht gefallen?“

„Es hat nach Blut und Fisch und Erdbeeren geschmeckt. Eigentlich hat es mir nicht gefallen.“ Und dann fügte er kleinlaut hinzu. „Und es war nur ein Scherz, glaube ich.“

Mitleidig klopfte sie ihm auf die Schulter. „Ich denke, dass er wirklich der Eine für dich ist.“

Es provozierte ein Schulterzucken. „Und wenn es so wäre? Wenn er jemanden für sich findet, werde ich ihm nicht im Weg stehen. Es würde mich freuen, wenn er seine kaputte Familie wieder aufbauen könnte. Sie bedeutet ihm so unendlich viel.“

„Kannst nicht einfach du seine Familie sein?“

„Würde ich gerne.“

„Aber?“

„Ich bin nun mal kein Hanebito.“

„Das wäre sicher nicht das Hindernis. Ihr wolltet doch rassebedingte Barrieren einreißen.“ Wieder stimmte er ihr mit einem Nicken zu und sie fuhr fort. „Und ihr habt doch schon eine Tochter. Ein guter Start für eine Familie.“

„Fiamma ist deine Tochter.“

„Sie ist ein Mädchen mit drei Vätern und einer Mutter.“, hatte Leoni dafür die Lösung parat. „Und wenn ihr hier leben wollt, könnt ihr das auch gerne tun. Jeder hier würde sich freuen.“

„Ehrlich?“

„Selbstverständlich. Ehrlich, Dhaôma, mehr Selbstbewusstsein würde dir wirklich gut stehen.“

Er lachte. „Ich gebe mir Mühe.“

„Und jetzt nimmst du diese beiden kleinen Gören und badest sie. Du wirst feststellen, dass es eine angenehme Sache ist, mit Fiamma zu baden.“ Geheimnisvoll zwinkerte sie Dhaôma zu, dann kümmerte sie sich um das Fell, das sie gerade gerbte.

„In Ordnung. Und Leoni?“

„Ja?“

„Danke.“

„Wofür?“

„Dass du meine Freundin bist und immer sagst, was du denkst.“

Lachend ging Dhaôma. Und stellte wenig später fest, dass das Wasser um Fiamma schnell sehr warm wurde, so dass es regelrecht dem von früher zuhause glich. Sie war durch und durch ein lebender Ofen.
 

Die Jagd wurde ein voller Erfolg. Die Drachen hatten die Jagdgesellschaft schnell entdeckt und sich ihnen aus Spaß angeschlossen. Es bereitete ihnen Vergnügen die Beute aufzuscheuchen und den Jägern in die Arme zu treiben. Mimoun hatte sich einen Bogen geliehen, doch er war ein wenig aus der Übung. Nach einigen Fehlschüssen ging er mit Krallen auf sein Opfer los, brach ihm mit einer einfachen Bewegung das Genick. Einen Teil seiner Beute trat er an die fleißigen Helferlein ab. Es war auch nicht viel, da diese bereits gegessen hatten. Es war mehr die Geste, die zählte.

Und sie konnten sich mit den Vorbereitungen unten Zeit lassen, da der riesige Drache mögliche andere Beutejäger auf Abstand hielt. Lulanivilay half anschließend auch beim Transport. Tyiasur hatte sich wieder bei seinem Reiter eingenistet und beobachtete das Treiben von seinem erhöhten Standpunkt aus. Mimoun ließ seine Magie spielen und das war eine erhebliche Erleichterung auf dem Rückweg.

Dhaôma befand sich zu dem Zeitpunkt noch mit den Babys beim Baden. Der junge Geflügelte wollte zu ihnen, nachdem er die erlegten Tiere zur Weiterverarbeitung weitergereicht hatte, doch packte ihn Leoni am Arm und zog ihn zur Seite, weg von seinem Freund.

„Du hast es ihm noch immer nicht gesagt.“ Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage und Mimouns Gesichtzüge zeigten eine lustige Mischung aus Unmut und Resignation.

„Warum kannst du es nicht einfach gut sein lassen?“, wollte er niedergeschlagen von ihr wissen. Mimoun wusste, dass sie ihm diesmal keine Chance auf Entkommen gewähren würde. Sanft streichelten ihre Finger seine Wange.

„Weil ihr meine Freunde seid und ich es nicht mag, wenn ihr euch quält.“ Sie nahm ihre zweite Hand zu Hilfe und zwang ihn, sie anzusehen. „Wie geht es dir damit? Bist du immer noch damit zufrieden, wie es jetzt ist?“

„Ja.“, antwortete der junge Geflügelte zu schnell, als dass es überzeugend wirkte.

„Nein.“, war Tyiasurs Erwiderung darauf. Ein scharfer Blick Mimouns war dem Drachen Warnung genug. Dennoch zischte der Geflügelte dem kleinen Kaltblüter ein „Redeverbot.“ entgegen.

Dafür erhielt er von Leoni einen Klaps. „Du bist unmöglich.“, schimpfte sie mit ihm. „Und nachher machst du dir wieder Vorwürfe.“

„Er weiß, dass ich es nicht so meine.“, rechtfertigte sich Mimoun und kraulte liebevoll den kleinen Drachen. Dafür erhielt er von Leoni nur einen scheelen Seitenblick.

„Also?“, lenkte die junge Mutter das Thema wieder auf ihr Eingangsgespräch.

„Ich werde ihn nicht einengen. Dazu ist er mir zu wichtig. Und das würde er sich antun, wenn ich ihn darauf anspreche.“ Leoni sah ihn schweigend an. Zu gerne hätte sie ihm alles gesagt, aber das war ein Hindernis, das sie selbst bewältigen mussten. „Ich habe Angst.“, gab Mimoun nach einigen Minuten des Schweigens kleinlaut zu. „Ich habe Angst davor, alles kaputt zu machen. Wenn etwas schief geht, könnte es nie wieder so werden wie früher. Wir könnten nie wieder einfach nur Freunde sein. Es wäre alles… Ich will nicht, dass…“ Unglücklich brach er ab. Sein Drache rieb seinen Kopf an seiner Wange und die andere erfuhr wieder Streicheleinheiten von Leoni. Sie lächelte ihm sanft zu, aufmunternd und mitfühlend zugleich.

„Es gibt Dinge, die das Risiko wert sind.“, erklärte sie vorsichtig.

Verstehend nickte Mimoun und schüttelte im gleichen Atemzug den Kopf. „Ich kann nicht. Ich bin noch nicht bereit dafür.“

Tief seufzend gab die junge Frau schließlich nach. „Warte nicht zu lange. Wenn es zu spät dafür ist, wirst du es dein Leben lang bereuen.“, gab sie ihm den Rat mit auf den Weg.

Unfähig etwas zu sagen, zog er Leoni in seine Arme, doch schnell schob sie ihn wieder von sich. „Du solltest wirklich dringend ein Bad nehmen.“, gab sie ihm naserümpfend den nächsten freundschaftlichen Tipp und schob ihn auffordernd in Richtung See.
 

Als Mimoun ankam, war Dhaôma gerade dabei, Seren davon abzuhalten, davonzuschwimmen. Die kurzen Stummelflügelchen störten sie noch nicht und ihre Paddelbewegungen trieben sie immer wieder davon. Fiamma hatte er sich auf den Rücken gebunden. Immer wieder quietschte sie, wenn ihre Füße das Wasser berührten. Und sie versuchte auch ständig, sich herauszuwinden. Die anderen Kinder badeten ebenfalls, natürlich auf ihre Art: wie Bleienten in Ufernähe.
 

Ja. So sah er auch noch immer aus, wenn er ohne seine Magie im Wasser war. Belustigt watete er weiter hinein und nahm Fiamma von Dhaômas Rücken, nachdem er sich bei dem Magier bemerkbar gemacht hatte. Die Kleine fest umschlungen, ließ er sich ein wenig tiefer sinken, so dass sie jetzt halb im Wasser war. Auch Mimoun merkte nun, wie schnell das Wasser um ihn herum warm wurde. Und er gab sie wieder an seinen Freund zurück. Warmes Wasser musste nicht sein. Nicht im Sommer, wenn er sowieso schon unter der Hitze des Nachmittags litt. Er hielt sich also lieber an den anderen Winzling. Ihre Hände gepackt, zog er sie ein wenig durch das Wasser.
 

An diesem Abend erfuhren sie, dass in ein paar Tagen Elins Mutter ihre Tochter wieder abholen kam, was eine wundervolle Gelegenheit bot, Mimouns Insel und Familie wieder zu treffen. Die beiden Freunde beschlossen spontan, mit Elin zurückzufliegen. Gerade Mimoun hibbelte von diesem Moment an schlimmer herum als seine Adoptivtochter.

In den nächsten Tagen gewöhnten sich die Geflügelten an Lulanivilay und seine Methode der Jagd, bei der er sich immer einfach auf seine Beute legte. Er half gerne beim Treiben, weil sie ihn dafür lobten. In der Zwischenzeit half Dhaôma den Frauen beim Sammeln von Früchten auf den Ebenen. Da er den Boden der Insel nicht erschöpfen wollte, ließ er einfach unten essbare Bäume reifen oder zog Mais und Linsen in die Höhe, die sie dann hinaufbrachten, um sie zu trocknen.

Addar und Asam erzählten von den Ereignissen des Jahres. Dass sie einen großen Sieg unter vielen Verlusten erlitten hatten, dass ein ganzer Landstrich im Sommer von Feuer verschlungen worden war, dass man sie erfolglos gesucht hatte. In diesem Zusammenhang fragte der Magier nach dem Zirkel der Geteilten Geister. Ob Addar oder jemand anderer schon einmal etwas davon gehört hätten oder ob sie wüssten, was gemeint war, wenn Lesley sagte, dass sie ungeduldig wurden. Natürlich kam er nicht umhin zu erklären, dass Lesley sie irgendwie mit dem Krieg in Zusammenhang brachte und dass sie vielleicht mit dessen Ursache zu tun hätten oder sie zumindest kannten.

Und dann war es endlich so weit, am Mittag kamen Aulee, Haru und Samos. Unter viel Freude landeten sie auf der Mitte des Dorfplatzes. Bezeichnenderweise waren die Drachen gerade mit den anderen auf Jagd, so dass sie umsonst die Augen aufsperrten. Selbstverständlich hatten sie die Gerüchte gehört.
 

Mimoun hatte sich der Jagd diesmal nicht angeschlossen. Seine Fehlversuche mit dem Bogen wurmten ihn und er beschloss für sich, dass er wieder besser werden musste. So war er auch gleich zur Stelle, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Beeindruckt stellte der junge Geflügelte fest, dass Samos ein gutes Stück in die Höhe geschossen war. Viel fehlte nicht mehr, damit er Mimoun eingeholt hatte.

Haru beschränkte sich nicht nur auf das visuelle Suchen. Kaum war er gelandet, rannte er über die Insel. Schnell hatte er Elin gefunden und seine Enttäuschung war groß, als sie ihm erklärte, wo sich die Drachen derzeit befanden. So wandte sich der Junge dem nächsten Freund zu: dem Magier.
 

Dhaôma empfing seinen kleinen Freund mit ausgebreiteten Armen. Wie ein Derwisch flog dieser hinein und ließ sich herumwirbeln und drückte sich glücklich an ihn. „Seit du weg bist, gibt’s viel weniger Himbeeren.“, teilte er ihm mit, aber er klang so glücklich, dass es vielleicht eher als ‚Ich freue mich, dich wieder zu sehen’ zu interpretieren war. Lachend drückte der Magier ihn ein wenig fester.

„Dann hast du dich nicht gut genug gekümmert.“

„Habe ich wohl! Ich habe sogar auf der anderen Insel einen Busch gepflanzt. Aber er wollte nicht schnell wachsen, ist bloß kniehoch geworden.“

„Ich hatte dir aber gesagt, dass Himbeeren zweijährig sind.“

„Ja.“, murrte Haru, doch lange hielt seine Zerknirschtheit nicht an. „Erzähl mir von den Drachen!“ Seine grünen Augen leuchteten vor Aufregung.

„Wie wäre es, wenn du ein wenig Geduld hast, und sie gleich selbst kennen lernst? Lulanivilay wird sich sicher freuen.“

„Ist er wirklich so groß wie die Insel?“

„Beinahe!“, mischte sich Elin ein und flatterte auf Dhaômas Rücken. Zusammen waren die beiden beinahe zu schwer und so hockte sich der Braunhaarige hin. „Wenn er die Flügel aufmacht, werden ganz viele Leute nicht nass, wenn es regnet.“

„In welcher Richtung sind sie jagen?“

„In der.“, zeigte Amar und schon war Dhaôma kinderlos, denn die drei drängten sich am Rand der Insel und sahen hoffnungsvoll hinunter.
 

Lachend hatte Mimoun den kleinen Wirbelwind, namentlich Haru, mit seinen Blicken verfolgt. Nun wandte er sich an Aulee und Samos.

„Es ist schön, euch wieder zu sehen.“, begrüßte er die Frau und den Halbwüchsigen. „Du bist jetzt Elins Mutter? Also haben Laru und du zueinander gefunden. Ich freue mich für euch.“

Der Blick der Frau wurde traurig. Ihr Blick wanderte zu den fröhlichen Kindern.

„Viele… haben uns dieses Jahr verlassen.“, flüsterte sie und nicht nur ihr Blick war nun gen Boden gerichtet. Auch Samos wirkte niedergeschlagen.

„Aulee.“, begann Mimoun, als sich das Begreifen durchgesetzt hatte. „Es… Ich…“ Weil er sich nicht anders zu helfen wusste, nahm er sie in den Arm. Er hatte nicht vorgehabt, die Wiedersehensfreude mit schlimmen Erinnerungen zu überschatten. „Tut mir Leid.“ Als er sie aus seiner Umarmung entließ, wandte er sich wieder den Kindern zu und er bedachte Elin mit einem mitfühlenden Blick. Nun hatte sie nicht nur ihre leibliche Mutter verloren, sondern auch noch ihren Vater und das schon in so jungen Jahren.

Er sah nicht den unsicheren Blick, den Samos und Aulee hinter seinem Rücken tauschten, sah nicht das Nicken des Jungen, nicht das unglückliche Gesicht der Frau und ihr flehendliches Kopfschütteln.

„Er muss es wissen.“, flüsterte Samos und zog damit Mimouns Aufmerksamkeit wieder auf sich.

„Was?“, fragte dieser neugierig nach, doch seine Miene wurde angesichts ihrer Gesichtsausdrücke unsicher und von böser Vorahnung geprägt.

„Silia hat einen Gefährten gefunden.“, begann Aulee und Mimouns Gesicht hellte sich auf.

„Das ist toll.“, freute er sich. Das war doch kein Grund für diese Trauermienen.

„Sie trägt sein Kind.“ Auch das war keine Hiobsbotschaft, befand Mimoun.

Nach einer unsicheren Pause und einem tiefen Seufzen fuhr Elins Mutter fort: „Er gilt als verschollen.“ Mimouns Freude schmälerte sich aufgrund dieser Nachricht und ihrem Blick konnte er entnehmen, dass das noch nicht alles gewesen sein konnte. „Und Cerel ist vor wenigen Wochen zu Rahol gegangen.“

Es dauerte einen Moment, bis Mimoun begriff, dass sie den Namen seines Vaters genannt hatte. Und noch einen weiteren, bis in seinen Verstand vordrang, was das bedeutete. Ihm wurde schlagartig kalt. Ihm wurde schlecht und er fühlte sich, als würde er den Boden unter den Füßen verlieren. Aulees Griff an seinen Armen half ihm, halbwegs klar zu bleiben. Dennoch ließ er sich auf die Knie sinken.

Wenige Wochen. Er war um ein paar wenige Tage zu spät. Er spürte die Tränen nicht, die begannen seine Wangen herab zu rinnen. Er bemerkte die betroffene Stimmung nicht, die die Versammelten um sie herum ergriff. Asam trat näher und legte ihm eine Hand auf die Schulter, drückte leicht zu, zum Zeichen, dass der Freund nicht allein war.

Allein. Silia. Sie hatte derzeit niemanden, der ihr Trost spendete. Wie mechanisch erhob sich Mimoun und strebte dem Rand der Insel zu, die Flügel bereits leicht gespannt, bereit zum Start.

Unten auf den Ebenen erstarrte ein kleiner blauer Wasserdrache und wandte sich ruckartig der Insel zu. Unsicher irrten die dunklen Augen am Himmel entlang.

„Nicht. Bleib.“, verlangte Asam und schlang seinem Freund von hinten einen Arm um die Brust und hielt mit der anderen Hand einen Arm fest.
 

Dhaôma hatte gerade vorgehabt, die Freunde zu begrüßen, als er sah, wie Mimoun aufstand und zum Rand der Insel lief. Er wirkte seltsam, als wäre er am Schlafwandeln. Asam hielt ihn auf, die Stimmung tat körperlich weh. Mimouns ganzer Körper drückte Schmerzen aus. Was war denn passiert?

Alarmiert rannte er zu den anderen und drängte sich durch die dunkel schweigenden Hanebito. „Mimoun?“ Irgendjemand griff ihn am Arm und schüttelte den Kopf. Was sollte das heißen, er sollte nicht zu ihm gehen? „Mimoun!“, erhob er die Stimme lauter und versuchte sich loszumachen.
 

Da rief jemand seinen Namen. Er hörte es, dunkel, leise, wie aus weiter Ferne. Die Stimme klang besorgt. Das sollte sie nicht. Nicht diese Stimme.

Mimoun wandte sich um. Suchend sah er sich nach dieser Stimme um. Ah. Dhaôma. Er sollte sich doch keine Sorgen machen. Er wollte ihn nicht traurig sehen. Ohne sein bewusstes Zutun erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht, nur durch die noch immer rinnenden Tränen Lügen gestraft.
 

Ein einziger durchdringender Blick ließ denjenigen, der ihn hielt, seine Hand zurückziehen, dann war Dhaôma bei Mimoun. Nur ein einziges Mal hatte er Mimoun weinen sehen und damals hatte er ihn verlassen wollen. Cerel hatte gesagt: ‚Was, wenn er es nicht erträgt?’ oder so ähnlich. Bedeutete das, dass jemand gegangen war, der ihm nahe stand? Wer blieb da schon? Cerel oder Silia. Mitleid, Angst und Sorge schossen wie ein Blitz durch seinen Körper. Was, wenn Mimoun daran zerbrach, dass einem der beiden etwas passiert war? Sanft strich er die Tränen von den Wangen. Freilich kamen welche nach.

„Du sollst nicht lächeln, wenn du Schmerzen hast.“, sagte er, mühsam den Knoten in seinem Hals überwindend, um Worte zu finden. „Was ist passiert?“

Hinter ihm die Leute tauschten unangenehm Blicke, weil sie wussten, wie schmerzhaft die Antwort für Mimoun ausfallen würde, aber vielleicht war es genauso schmerzhaft, wenn sie für ihn antworten würden. Aulee machte Anstalten, es trotzdem zu tun, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken. Selten hatte sie angesichts einer so schrecklichen Nachricht eine so sanfte und liebevolle Atmosphäre erlebt. Dhaômas Haltung drückte aus, dass es ihn nicht kümmerte, wer da um ihn herum war oder was dachte oder was er selbst fühlte. Wichtig war nur, dass sein Freund auf ihn konzentriert blieb, dass er ihm nicht verloren ging, dass der Schmerz in diesem Körper Linderung erfuhr.
 

Nach einigen Augenblicken, in denen Mimoun nicht die Anstalten machte, seinen Weg Richtung Heimatinsel fortzusetzen, löste Asam seine Hände und überließ Dhaôma komplett das Feld. Es war besser, wenn er die beiden nun erst einmal allein ließ.

Das Lächeln verschwand derweil aus Mimouns Gesicht. Langsam fing er die Finger seines Magiers ein und führte sie zu seinen Ohren. Er schloss die Augen und entließ alle Luft mit einem zischenden Seufzen. Der Geflügelte versuchte Ruhe zu finden, sich auf sein Inneres zu konzentrieren. Was oder wann war seine letzte Begegnung mit seiner Mutter, wie war sie verlaufen? Was stand in dem letzten Brief an sie? Wann hatte er ihr das letzte Mal gesagt, dass er sie lieb gehabt hatte? Er konnte sich nicht mehr erinnern.

Mimoun öffnete wieder die Augen und entdeckte den Magier. Ah ja. Er hatte ihm eine Frage gestellt. Kurz huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

„Meine Mutter ist jetzt glücklich.“, flüsterte er.
 

Auch wenn die Antwort völlig widersinnig schien, Dhaôma wusste sofort, was er meinte. Die Reaktion gepaart mit seiner Kenntnis von Cerel zeigten ihm den Grund für Mimouns Tränen auf. Traurigkeit durchfuhr ihn. Obwohl er seine Differenzen mit dieser Mutter gehabt hatte, war sie es doch gewesen, die ihm gezeigt hatte, was eine echte Mutter ausmachen konnte. Und sie hatte sich lange genug um ihn gekümmert, dass er sie wirklich gern gemocht hatte.

Als die Tränen in seine Augen traten und über seine Wangen flossen, zog er Mimoun in eine Umarmung, fuhr mit den Händen in die schwarzen Haare, wie er es bei Cerel immer beobachtet hatte. Er sagte nichts, denn egal was er geantwortet hätte, alles wäre falsch gewesen. Nie zuvor war er in dieser Situation gewesen, da kannte er sich nicht mit aus.
 

Widerstandslos ließ der junge Geflügelte diese Behandlung über sich ergehen, die Hände im Stoff von Dhaômas Hemd verkrallt.

Nach und nach verließen die Dorfbewohner diesen Ort, gaben den beiden Raum und Zeit zum Trauern. Selbst die Kinder, die mit ihren hellen Stimmen laut und neugierig nach dem Grund für diese Stimmung fragten, wurden diesmal unnachgiebig eingefangen und weggescheucht.

Die Drachen kehrten früher zurück als die Jäger. Tyiasur hatte Lulanivilay gesagt, dass etwas nicht stimmte, dass ihre Freunde traurig waren. Und sie waren ohne weitere Unterbrechung zur Insel zurückgeflogen. Nun wickelte sich der kleine Wasserdrache um die Hälse von Dhaôma und Mimoun. Mit der Zunge leckte er die Tränen seines Reiters fort. Angewidert schüttelte er sich. Salzwasser war eklig, dennoch fuhr er damit fort.
 

Schließlich legte sich Lulanivilay um die beiden jungen Männer und sperrte sie so von den neugierig-mitleidigen Blicken aus. Er konnte sich vorstellen, dass es nicht angenehm war, diese Blicke zu spüren. Und weil ihm Tyiasur telepathisch mitteilte, dass Mimouns Mutter gestorben war, gab er seit langer Zeit zum ersten Mal das dunkle, magendröhnende Geräusch von sich, das bei ihm ein Ausdruck von Trauer war. Bisher kannte er Mitleid nicht, aber wenn es dem Hanebito so schlecht dabei ging, musste es etwas Furchtbares sein.
 

Dieses dumpfe Dröhnen erfüllte jede Faser seines Körpers, passte so wunderbar zu der Stimmung des Geflügelten und vermittelte ihm dennoch ein Gefühl von Geborgenheit. Er war nicht allein. Seine Freunde standen ihm bei. Seine Hand suchte blicklos den schuppigen Leib des großen Drachens, blieb darauf liegen. Sein Kopf drehte sich ein wenig zur Seite und war nun an Tyiasur gelehnt.

„Ich muss gehen.“, flüsterte Mimoun nach einigen Minuten. „Sie braucht mich. Nun sogar mehr als sonst.“ Er löste sich nur wenig von Dhaôma, nur so weit, dass er ihm ins Gesicht sehen konnte. „Sie hat nicht nur Mutter verloren. Ihr Gefährte gilt derzeit als vermisst.“ Unsicher fing er die streichelnden Finger seines Magiers ein und drückte sie auf der Brust zusammen, knetete sie. Er wusste, wie dieser zu Silia stand. „Bitte. Ich…“
 

„Geh ruhig.“ Dhaôma schluckte seine Tränen erfolglos hinunter und versuchte ein schiefes Lächeln. „Ich weiß am allerbesten wie es ist, wenn man alleine ist, und ich will nicht, dass es ihr genauso geht.“ Erneut strich er über Mimouns Wange bis in seine Haare. „Nimm dir bitte aber noch die Zeit, Wasserschlauch und Proviant mitzunehmen. Wer weiß, wie lange du unterwegs bist.“ Er trat einen halben Schritt zurück und lehnte sich an seinen Drachengefährten. „Ich werde hier warten, bis du zurückkommst, einverstanden?“
 

Es war zu viel auf einmal. Alles überschlug sich. Trauer, Dankbarkeit, Zuneigung. All diese Gefühle wirbelten in ihm, wie in einem Kaleidoskop. Nichts greifbar, nichts verständlich.

Mimoun folgte Dhaôma den halben Schritt und flüsterte ihm ein „Danke.“ zu, bevor er ihn küsste. Vorsichtig, unsicher.

Abrupt wandte er sich um. Mit einem sichernden Griff sorgte er dafür, dass Tyiasur auf seiner Schulter blieb. Eiligen Schrittes lief er auf die Hütte des Ältesten zu. Dieser und seine Familie befanden sich davor und empfingen ihn mit mitleidigen Mienen. „Ich muss gehen.“, eröffnete der junge Mann. Zu mehr kam er nicht. Während Asam wortlos in der Hütte verschwand, zog Leoni ihn in seine Arme und streichelte seine tränennassen Wangen. Niemand sagte etwas. Alle bedachten ihn nur mit diesen mitleidigen Blicken.

Als das junge Ratsmitglied zurückkehrte, überreichte er seinem Freund einen kleinen Stapel. „Wasserschlauch, Proviant.“, erklärte er. Eine Frauenstimme fügte von hinter ihm an: „Neue Kleider.“ Mit einer leichten Verbeugung nahm er die Sachen an sich. Unsicher irrte sein Blick umher.

„Zeig uns, wie sie dir stehen, wenn du wieder kommst.“, ersparte ihm das Mädchen unnötige Ausflüchte.

Mit einem erneuten dankbaren Lächeln schwang er sich in die Luft. Kaum hatten seine Füße keinen Kontakt zum Boden, beschleunigte er. Mimoun gab alles, was er aufbieten konnte. Er mied die Dörfer auf seinem Weg nicht bewusst. Immer wieder kam er an welchen vorbei, doch bei keinem machte er Rast. Mimoun sah die schwarzen Schatten, die aufstiegen, um ihn zu begrüßen, und auf Neuigkeiten hofften, nirgends blieb er stehen. Tyiasur spürte, wie wichtig das hier seinem Reiter war und so ließ er ihn gewähren.

Die Nacht verbrachten sie unten inmitten eines kleinen Hains. Mimoun hatte kein Bedürfnis nach Gesellschaft, kein Bedürfnis nach Geschichten und Neuigkeiten. Die Nacht war kurz. Auf dem Rücken liegend, starrte der Geflügelte zum Himmel empor, ohne zu sehen. Seine Gedanken kreisten um vergangene Zeiten. Tyiasur sah Bilder aus Mimouns Kindheit, seiner Jugend, seinem Leben. Schöne Erinnerungen, Streitigkeiten, Differenzen. Freud und Leid.

Der Drachenreiter setzte seine Reise im ersten Licht des Tages fort. Nur kurz unterbrach er seinen Flug, damit auch Tyiasur die Möglichkeit bekam, sich Essen zu beschaffen. Er selbst nutzte die erzwungene Ruhepause dazu, endlich die neuen Kleider anzuprobieren. Sie waren weich und von guter Machart, kamen jedoch nicht an Jadyas Künste heran. Dann schaute er, was Asam ihm zusammengepackt hatte. Ein weiches Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Beim Öffnen des Pakets kullerte ihm eine kleine rote Frucht entgegen. Sein Freund hatte wohl ein paar Erdbeeren gemopst und vor Mimoun in Sicherheit gebracht, damit auch andere ihre Freude daran haben konnten. Nun hatte er ihm eine zur Aufmunterung mitgegeben.

Seine Heimatinsel erreichte Mimoun, kurz bevor die Sonne das nächste Mal versank. Aber er fühlte sich kraftlos und ausgelaugt. Ihn erfüllte der drängende Wunsch nach Schlaf. Schnell war er von alten Freunden umgeben, die ihn freudig, aber zurückhaltend begrüßten. Sie hatten ihn kommen sehen, in einer Geschwindigkeit, die einem Geflügelten nicht hätte möglich sein dürfen. Und dann war da noch… Mimoun zog seinen Wasserschlauch und entleerte ihn über die blaue seltsame Schlange, die auf seiner Schulter thronte. Nach einem kurzen Blick zu Mimoun erhob sie sich in die Luft und flog zu der tiefer liegenden Insel, auf der sich die beiden Seen befanden. Keiner wagte es nachzufragen, was das für ein Geschöpf wäre und was es damit auf sich hatte.

Als man sein von Trauer gezeichnetes Gesicht sah, wussten sie, dass er es bereits erfahren hatte. Mimouns Blick glitt suchend über die Versammelten. So viele vertraute Gesichter fehlten. So wenige waren noch hier. Als ihn sein Weg zur Hütte seiner Familie führte, machten sie freiwillig Platz. Jadya stand an der Lederplane, hinter der nun Silia hervortrat. Die Freundin hatte ihr wohl Bescheid gegeben.

Unschlüssig blieb er vor seiner Schwester stehen. Sein Blick glitt über die eingefallenen Wangen, die tiefen Augenringe und den schon gut zu sehenden Bauch. Sanft legte er seine Finger darauf, als sie noch immer nicht reagierte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen und schloss ihn wieder, ohne dass ein Wort seine Lippen verlassen hätte.

Als er ihr wieder ins Gesicht sah, fiel ihm auf, dass ihre kurzen Haare im abendlichen Wind flatterten. Und ihre Augen schimmerten feucht. Sie weinte nicht. Sie hatte mittlerweile all ihre Tränen aufgebraucht. Sanft glitten seine Finger durch ihre Haare und zog sie schließlich an sich. Das Mädchen wehrte sich überhaupt nicht dagegen.

Noch immer hatte keiner der beiden ein Wort gesagt, so dass auch auf dieser Insel diese bedrückende Stimmung aufkam, die urplötzlich von einer hellen Kinderstimme unterbrochen wurde. „Wo ist Dhaôma?“, wollte Ramon wissen.

„Nicht hier.“, erwiderte Mimoun leise.

Seine Schwester legte nun endlich ihre Arme um seinen Körper und drückte leicht zu.

Bevor Ramon weiter fragen konnte, wurde er von seiner Mutter auf den Arm genommen und weggebracht. Es war abends. Es war sowieso Zeit für die Kleinen zu schlafen.

Auch Mimoun führte seine Schwester wieder in die Hütte. Im Eingangsbereich lagen einige zerrissene Felle, der Tisch war nicht mehr vorhanden. Eine der Lederplanen war gewaltsam heruntergerissen und noch nicht repariert worden. Silia ging ohne ein Wort durch eine Plane und ließ sich in dem mit Fellen überfüllten Zimmer zusammensinken. Ebenso leise legte er sich zu ihr und zog sie wieder in seine Arme. Weil sie noch immer nicht mit ihm redete und er sich bis zur Erschöpfung verausgabt hatte, schlief er bald ein.
 

Dhaôma blieb wie erstarrt zurück. Seine Augen brannten noch immer von Tränen, verstärkt durch den Kuss, den er nicht verstand. Er verstand, dass es Dankbarkeit war, dass es ein Versprechen war, zurückzukommen, aber wegen Leonis Worten wusste er einfach nicht, was es wirklich bedeutete. Er fühlte sich schrecklich, weil Mimoun gehen würde, dabei war er noch nicht einmal weg. Ja, er liebte Mimoun, so wie sie es meinte, aber wie war es bei dem anderen?

Aber auch wenn er es kaum ertrug, dass Mimoun in Silias Armen Trost finden würde und nicht in seinen, er blieb. Er sah zu, wie sein schwarzhaariger Freund die Insel verließ und schon nach einigen Minuten nicht mehr zu sehen war. Wieder liefen Tränen seine Wangen hinunter und er ließ sich in die Hocke sinken, lehnte sich gegen Lulanivilay. Er fühlte sich einsam.

„Weine nicht, Freiheit.“, erklang es so leise, dass er es kaum hören konnte. „Er kommt zurück.“ Die Schwanzspitze legte sich um seine Füße, der große Kopf neben ihn.

„Ich weiß.“, war alles, was er antwortete.

Von der anderen Seite kamen Kinderstimmen, die fragten, ob er spielen kommen wollte, doch statt eine Antwort zu geben, schwang sich der Magier auf den Rücken seines Drachen und ließ ihn fliegen. So schnell es ging, so weit wie möglich, aber in eine ganz andere Richtung als Mimoun. Er wollte den Kopf freikriegen, ohne abgelenkt zu werden, ohne sich verstellen zu müssen. Lulanivilay tat ihm den Gefallen gerne.

Sie flogen über eine Stadt der Magier mitten im Wald. Es gab Geschrei und ein paar äußerst schnelle und mutige Kämpfer schossen Eis und Feuer auf sie ab, aber sie trafen nicht. Diese Angriffe waren gegen die der Drachen einfach nicht stark genug. Aber sie ernüchterten ihn und ließen ihn einen zweiten Blick hinunterwerfen.

Die Stadt sah ungepflegt aus. Die Gärten waren verlottert, die Häuser sahen aus, als hätte man sie lange Zeit nicht mehr repariert, selbst die Straßen waren aufgebrochen und die feinen Mosaiken zerstört. Es gab einfach nicht genügend Arbeiter, die die Stadt in Schuss hielten, so wirkte es. Und noch schlimmer war es in den Armenvierteln. Die Häuser waren kaum mehr als Bruchbuden! Niemals hatte er wirklich dorthin gedurft, er kannte das nur aus Erzählungen!

Ein drittes Mal ließ er Lulanivilay über die Stadt fliegen und der Drache fragte, was er sich davon erhoffte. Aber das wusste er nicht. Eigentlich wollte er nur sehen.

Sehr viel später, als er schon auf dem Rückflug war, teilte er Lulanivilay mit, dass er in den nächsten Tagen gerne mehr Städte sehen wollte, ob er ihn dorthin bringen würde. Und er versprach, dass er nicht landen würde, weil er Mimoun nicht hintergehen wollte. Er wollte bloß einen Überblick bekommen über das, was er nur aus einer sehr begrenzten Perspektive kannte.

An diesem Abend saß er bei Addars Familie und ließ deren Anwesenheit über sich hinweg waschen. Draußen regnete es und Lulanivilay nutzte die Gelegenheit, um sauber zu werden, aber er wollte nicht nass werden. Dankenswerterweise ließen sie ihn in Ruhe und so hatte er in dieser Nacht die zwei Winzlinge bei sich, die erstaunlicherweise still waren und gegen seine nächtliche Präsenz nichts einzuwenden hatten. Leoni und Asam waren darüber sogar sehr dankbar, weil sie die beiden sonst niemals jemand anderem anvertrauen konnten, ohne dass es Terror gab.

Am nächsten Tag ließ sich Dhaôma beschreiben, wie das Leben auf Mimouns Insel gewesen war, nachdem sie abgereist waren, und erfuhr dabei, dass Silia Jayan zum Gefährten gewählt hatte, der von dieser Insel hier kam. Man erzählte ihm, dass Cerel stundenlang jeden Tag unter den Kirschbäumen gestanden und auf sie gewartet hatte, bis sie zu krank geworden war. Man hatte gehofft, Mimoun käme zurück, aber die Hoffnung schwand, als sie zu schwach wurde, um nach draußen zu gehen, weil sie das Essen verweigerte. Man merkte, dass es schneller ging, nachdem Jayan zu ihr und Silia gezogen war. Als ob sie jetzt, da sie ihre beiden Kinder selbstständig wusste, keinen Grund mehr darin sah, weiterzuleben. Aulee erzählte, dass sie an dem Tag, an dem sie gestorben war, regelrecht glücklich gewesen war, weil sie Rahol wieder sehen würde. Eine halbe Woche später war eine Nachricht gekommen, dass Jayan vermisst wurde. Er war von einem der Kämpfe nicht zurückgekommen und man hatte zwar seine Leiche nicht gefunden, aber es war allgemein bekannt, dass ein Vermisster nicht zurückkehrte – Mimoun stellte da die einzige Ausnahme über Jahrhunderte dar. Danach war Silia in sich zusammengebrochen. Auch sie hatte aufgehört zu essen und man machte sich Sorgen um sie und ihr ungeborenes Kind.

Außer diesen beiden waren viele nicht mehr da. Laru war gestorben und auch Lyril, die Gefährtin des Dorfältesten war ins jenseitige Leben getreten. Mailen, Thatos, Rai und Einel waren nicht mehr dort, weil sie in den Krieg gezogen waren und ihre einjährige Ausbildung angetreten hatten. Und Aylen war zurzeit das zweite Sorgenkind des Dorfes, da sie ihrem Geliebten Rai an die Front gefolgt war und dort für Furore sorgte als einzige Kriegerin, die teilweise auch noch die Männer in den Schatten stellte.

Einen Tag darauf flogen Haru, Elin, Samos und Aulee wieder zurück, aber Dhaôma blieb. Er hatte versprochen zu warten. Und auch als Leoni sagte, er würde gebraucht, konnte er ihr nur sagen, dass Silia ihn kaum dulden würde und er deshalb bleiben würde, wo er war. Mimoun würde ihm schon sagen, wann er kommen dürfe.

Die nächsten vier Wochen hatte Dhaôma ein großes Problem: In ihm brannte der Wunsch, zu Mimoun zu fliegen und ihn in den Arm zu nehmen. Er hatte nachts Alpträume, dass Mimoun seiner Mutter und Schwester zu ähnlich wäre und sich zu Tode hungerte oder anderweitig krank wurde. Er machte sich Sorgen und aus diesem Grund stürzte er sich tagsüber in Arbeit oder das Spiel mit den Kindern. Jeder bekam mit, dass etwas nicht stimmte, aber bis auf Leoni sprach es keiner an. Immer wieder flog er mit Lulanivilay davon, um sich die Magierdörfer und -städte der Umgebung anzusehen, was er niemandem erzählte. Oder er ging mit den Mitgliedern des Dorfes auf die Jagd nach Lachsen, die in den letzten warmen Tagen des Herbstes die Flüsse heraufkamen. Nie zuvor hatten die Geflügelten das gewagt, aus Angst, von Magiern überrascht zu werden, aber mit dem Drachen an ihrer Seite konnten sie sich die Zeit nehmen, die dicken Fische in Massen aus dem Wasser zu holen. Über viele Tage hingen die Fische zum Trocknen auf langen Gestellen in der Sonne und dem Wind, bevor sie eingelagert oder an die Nachbardörfer weitergegeben wurden.

Es wurde kühler und Dhaôma stand öfter am Rande der Insel und sah in die Ferne. Er überlegte, wie er den Winter mit Lulanivilay überstehen sollte. Der Drache ertrug die Kälte nicht, wie er selbst bestätigte. Man schlug ihm vor, eine große Hütte zu bauen, in der der Drache wohnen könnte, und Fiamma würde für die nötige Wärme sorgen, aber Dhaôma wusste, dass es für seinen großen Freund das Schlimmste war, wenn er wieder regungslos gefangen sein müsste. Das würde er ihm nicht antun. Also bekam er neue Kleider, warme aus Pelz, die er über seine normalen Lederkleider und unter Jadyas Poncho ziehen konnte, wenn er fror. Auch diese Mädchen hatten versucht, den Schnitt der Magierroben nachzuempfinden und waren damit einigermaßen erfolgreich gewesen. Und Lulanivilay bekam eine Decke, die ihn fast komplett bedeckte. Das Dorf war dankbar, dass die beiden so aktiv dabei halfen, die Vorräte aufzustocken, und wollte ihnen ermöglichen, so lange wie möglich zu bleiben, um zu warten.
 

In den nächsten Tagen verließ Mimoun die Hütte so gut wie gar nicht. So lange er nicht neben Silia hockte und ihren Schmerz teilte, machte er sich daran, die Sachen zu reparieren, die sie in einem Verzweiflungsanfall zerstört hatte. Auch musste er sie zwingen, wieder zu essen. Immer wieder schärfte er ihr ein, dass ihr Baby sie brauchen würde, dass sie sicher nicht wollte, dass es ebenfalls starb.

Die Woche darauf unternahmen sie erste Spaziergänge zu den Bäumen. Jadya schloss sich ihnen sehr schnell dabei an. Sie war ebenfalls ständig um ihre Freundin herum und versuchte, ihr eine Stütze zu sein. Mimoun nutzte die Gelegenheit und hörte sich im Dorf um, fand heraus, wer nun nicht mehr da war, was sich im letzten Jahr hier getan hatte.

Dann war es an ihm zu berichten, was sich auf ihrer Reise zugetragen hatte. Zu diesem Zweck rief er Tyiasur wieder zu sich, der die ganzen Tage geduldig in dem See ausgeharrt hatte. Niemand der Geflügelten hatte sich in der Zeit dorthin getraut. Zu unbekannt war ihnen das Geschöpf. Nicht nur Tyiasur stellte er ihnen vor. Auch von Lulanivilay berichtete der junge Geflügelte, versuchte ihnen schon im Vorhinein die Scheu vor dem großen Geschöpf zu nehmen, das vielleicht einmal zu dieser Insel kommen würde. Silia hockte während seiner Geschichten mit geschlossenen Augen neben ihm, ihre Hand mit seiner verwoben, reglos, ohne ein Wort, beinahe schlafend.

Wieder wurde Mimoun mit der Frage konfrontiert, warum Dhaôma nicht mit ihm gekommen war. Nur knapp konnte sich der Angesprochene davon abhalten, in dem Moment über Silias Arm zu streicheln, aber jedem fiel es auf. Jeder wusste noch von der Abneigung der beiden. Und jeder verstand es. Nur die Kinder nicht, die ihren Magier gern wieder gesehen hätten. Er hatte es ihnen schließlich versprochen. Und das vor Jahren.

Silias Zustand änderte sich mit der Zeit. Sie aß wieder selbständig und ihre blassen Wangen gewannen wieder an Farbe. Das Mädchen hockte auch nicht mehr dumpf in einer Ecke, sondern verließ die Hütte eigenständig und mittlerweile regelmäßig. Häufig streichelten ihre Hände über ihren Bauch, wenn sie gedankenverloren am Rand der Insel stand. Nur reden wollte sie noch immer nicht.

Als er keine Gefahr mehr für seine Schwester sah, setzte sich Mimoun für wenige Tage allein ab. Er wollte Abschied nehmen. Etwas, was ihm bisher nicht vergönnt gewesen war. Er nutzte seine Windmagie, um schneller als gewöhnlich zu der kleinen, nur aus löchrigem Fels bestehenden, hoch oben schwebenden Insel zu gelangen. Er wusste noch, in welchem Spalt sein Vater ruhte. Mit Mühe quetschte er sich durch den Spalt, durch den keiner der riesigen Raubvögel passen konnte. Der poröse Fels ließ überall Licht herein. Im Halbdunkel erahnte er die Nische, in der sich die Knochen Rahols befanden. Der Geruch nach Tod war übermächtig und trotzdem trat er näher heran. In der Nische saß der zusammengesunkene Leib einer Frau. In ihren auf ihrem Schoß gefalteten Händen befanden sich weiße Knochen, zwei Puppen und ein geflochtener Zopf. Zögerlich nahm Mimoun die Puppen in die Hand. Er wusste, dass sich in vielen der Nischen solche Puppen befanden. Sie standen für die, die den Weg nach Hause nicht gefunden hatten. Der Zopf Silias war eine Art Abschiedsgeschenk, ihre Art ihre Trauer zu zeigen.

Mimoun blieb nicht lange in dem Spalt. Den Rest der zwei Tage, die er dort verbrachte, hockte er oben auf der Insel und starrte blicklos in die Welt, die Puppe, die ihn symbolisierte, fest in der Hand haltend. Bevor er zurückkehrte, legte er diese wieder an ihren Platz. Auch wenn er nicht tot war, so hatte er doch das Gefühl, auf die Art bei seiner Familie sein zu können.

Tyiasur schimpfte mit ihm. Die Zeit, die sein Reiter nicht da gewesen war, hatte ihn niemand vor den Blagen bewahrt. Da auch Elin und Haru mittlerweile wieder auf der Insel waren, hatte er fünf Zwerge, die ständig seine Aufmerksamkeit wollten. Sie hatten es so weit getrieben, dass er sich aufgeplustert hatte, aber das fanden sie eher lustig denn erschreckend.

Mit den Tagen kam auch der Winter immer näher. Die Tage wurden kürzer und die Hitze des Sommers ließ langsam nach. Und Mimoun wusste, dass es langsam Zeit wurde. Seine Unsicherheit war offensichtlich, als er sich eines Abends neben Silia hockte. Ihr Blick wurde eine Spur trauriger, noch bevor er etwas sagen konnte. Und beinahe traute er sich nicht, dass Gespräch auf das Thema Abschied zu lenken.

„Sie wird dich nicht aufhalten.“, sprach Tyiasur in den Köpfen beider, um als Vermittler zu helfen. Ihre Hand wanderte zu dem Geschuppten und kraulte sein Kinn, wie sie es bei ihrem Bruder schon gesehen hatte.

„Schon gut.“, erklang leise und rau ihre Stimme. Ihr Blick war auf den Drachen gerichtet, während sie ihre Worte an Mimoun richtete. „Ich weiß nun, was es heißt zu lieben. Auch wenn ich mit deiner Wahl noch immer nicht einverstanden bin.“

Mimoun streckte sich aus und bettete seinen Kopf auf ihrem Schoß. Kraulend fuhr sie auch ihm durch die schwarzen Haare. „Ich werde da sein.“, versprach er ihr nach einigen Augenblicken Schweigens und streichelte ihren Bauch. „Und ich weiß, was ich verlange, aber… ich hätte dann gerne Dhaôma hier. Nur für den Notfall. Ich möchte nicht…“ Sie legte ihm einen Finger auf den Mund und brachte ihn so zum Schweigen. Ihr Lächeln wirkte traurig.

„Es ist dein Wunsch, nicht wahr?“

An dem Abend sprachen die beiden kein weiteres Wort miteinander. Dennoch reiste Mimoun nicht gleich am nächsten Tag ab, sondern wartete noch zwei weitere Tage ab, damit sich das Dorf an den Gedanken gewöhnen konnte.

Bevor er abreiste, bat er Jadya noch um einen Gefallen. Zögerlich holte er die zwei Klingen hervor, den letzten Rest von der Rüstung seines Vaters. Sie erkannte sie sofort. Sie hatte die Rüstung lange genug an ihm gesehen. Er wollte sie wieder ihrer Bestimmung zuführen, etwas zurückbekommen, von dem, was er verloren hatte. Kopfschüttelnd tadelte sie ihn, dass er nicht schon früher damit zu ihr gekommen war. So hatte sie keine Zeit, es bis zu seiner Abreise fertig zu bekommen.

„So habe ich einen Grund mehr, wieder hierher zurück zu kommen.“, lächelte er reuig. Mimoun hatte nicht gewusst, wie er seine Bitte hätte vortragen sollen und sie bis zum Schluss hinausgezögert.

Für den Rückweg plante er ein wenig mehr Zeit ein, damit er nicht erschöpft zusammenbrach, wenn er bei Dhaôma angelangte. Sein Magier wäre sonst sicher böse mit ihm. Vor allem weil der Geflügelte immer darauf bedacht war, diesen zu schonen.

Am dritten Abend sah er die Insel dann schließlich vor sich auftauchen. Auch jetzt hatte er alle Dörfer umflogen, um Zeit zu sparen.
 

Wherever you go

Whatever you do

I will be right here waiting for you

Whatever it takes

Or how my heart breaks

I will be right here waiting for you
 

[right here waiting – Richard Marx]

Der Winter naht

Kapitel 49

Der Winter naht
 

Natürlich war er gesehen worden, nicht nur von Dhaôma sondern auch von den anderen, die den Neuankömmling begrüßen wollten.

Dhaômas Herz machte einen Sprung, als er sah, dass es seinem Freund gut ging. Erst jetzt, da die Erleichterung seinen Hals eng werden ließ, wusste er, wie viele Sorgen er sich wirklich gemacht hatte. Und weil er dachte, sein Gesicht könnte ihn verraten, blieb er vor der Hütte Addars sitzen, die beiden Babys im Arm und still vor sich hinlächelnd, seine ganze Selbstbeherrschung aufbringend, nicht zu weinen. Am liebsten würde er ihm entgegenlaufen und ihn umarmen, aber er wusste nicht, wie.

Ein goldenes Auge samt Kopf erschien über dem Dach und blickte auf ihn hinunter. „Willst du Himmel nicht begrüßen, Freiheit?“

Es brachte Dhaôma zu einem verschnupften Kichern. „Doch.“

„Dann solltest du das tun. Weinen kannst du danach.“

„Danke, Vilay.“

Der Drache verschwand wieder und trabte Mimoun entgegen, während der Magier gequält hinter ihm herblickte. Ja, ihm war nach weinen zumute. Und er wollte nicht, dass Mimoun das sah.
 

Lächelnd begrüßte Mimoun seinen großen Freund. „Entschuldige, dass ich so lange weg war.“ Er streckte die Hand aus und kraulte Lulanivilay an der Nase. Tyiasur schlängelte sich an dem ausgestreckten Arm entlang und platzierte sich auf dem Kopf des Größeren. Er hoffte, dort in Sicherheit zu sein, bevor die hiesigen Quälgeister auftauchten.

Viele Geflügelte erkundigten sich nach dem Befinden des Ankömmlings. Ihre Gesichter wirkten zum Teil sorgenvoll. Sie alle beruhigte er mit einem: „Es geht mir gut. Wirklich.“

Als er sich umsah, konnte er den, den er am meisten sehen wollte, nicht entdecken. Leoni kicherte bei seinen Blick und flüsterte ihm ins Ohr, wo er das Objekt seiner Begierde finden konnte, kurz bevor sie ihn aus ihrer Umarmung entließ. Mit exakt dieser Wortwahl.

„Du bist unmöglich.“, lachte Mimoun und strebte dann seinem Zielobjekt entgegen. Unsicher blieb er wenige Schritte von ihm entfernt stehen. „Ich bin zurück.“, murmelte er und kratzte sich mit einer linkischen Geste hinter dem Ohr.
 

„Ich freue m…“ Dhaôma hatte wirklich geglaubt, dass er sich beherrschen könnte, dass seine Stimme fest war und man ihm nichts anmerken könnte. Als Mimoun auf ihn zu gekommen war, war Freude in ihm aufgewallt, die all die Erleichterung und Sorge verdrängte. Und jetzt kullerten doch unaufhaltsam Tränen über seine Wangen. Einfach so. Er konnte sie weder aufhalten, noch musste er heftiger Atmen. Peinlich berührt lachte er und blickte ihn immer noch an. „Tut mir Leid. Ich freue mich. Geht es ihr gut?“
 

Nicht wissend wie er reagieren sollte, ließ Mimoun sich auf die Knie sinken und schloss seinen Freund in die Arme.

„Es geht ihr wieder besser.“, nuschelte er in die Haare. „Danke… Danke.“
 

Der Magier krümmte sich über Mimoun, barg seinen Kopf zwischen Kindern und seiner Wange und erwiderte die Umarmung. Seine Haare fielen wie ein Fächer über den Rücken seines Freundes. „Das ist gut.“, wisperte er.

Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, ihn so schnell wieder loszulassen, aber Fiamma und Seren waren absolut nicht begeistert, zwischen den beiden eingeklemmt zu sein. Während Seren protestierend „Weeeeeeg!“, knatschte, zog Fiamma an Mimouns Ohr, das einzige, das sie noch erreichen konnte.
 

Lachend gab Mimoun dem Zug nach.

„Entschuldigt bitte.“ Er nahm Fiamma an sich, nachdem er sich von ihr befreit hatte und schob ihr Hemd ein wenig hoch. Er drückte sie an sein Gesicht und pustete ihr auf den Bauch. Quietschend und lachend begann sie zu zappeln. Mit einem Lächeln setzte er sie Dhaôma wieder auf den Schoß und platzierte sich neben ihm. Anschließend wischte er ihm ein paar Tränen von der Wange und küsste ihn auf die Schläfe. Mit geschlossenen Augen ließ er seinen Kopf auf dessen Schulter ruhen. Seine Finger suchten die Dhaômas und verwoben sich mit seinen.
 

Die Ruhe war bestätigend. Genauso vertrauensvoll lehnte sich Dhaôma gegen Mimoun und legte seinen Kopf auf dessen ab. „Ich habe dich vermisst.“, übermittelte er ihm leise. Jetzt, da er wusste, dass es Silia wieder besser ging, dass sie nicht verhungern würde wie ihre Mutter, war er beruhigt.

Diesmal blieben die beiden Mädchen still, bis Addar aus dem Haus trat und die beiden jungen Männer da sitzen sah. Auch die anderen standen in einiger Entfernung und schienen sich nicht an sie heranzutrauen. Deswegen musste er warten, dass Mimoun ihn begrüßen kam. Das erklärte einiges. Offenbar war Mimoun müde und Dhaômas Gesicht sprach ebenfalls Bände.

Belustigt wechselte er einen Blick mit Karo, die hilflos mit den Schultern zuckte, bevor er die beiden sanft berührte. „Was haltet ihr von einem Becher Tee?“ Das war seine neuste Leidenschaft. Das erste Mal hatte er dem skeptisch gegenübergestanden, aber inzwischen trank er heißen Tee für sein Leben gern. Das war doch eine wunderbare Gelegenheit.
 

Etwas störte seinen dösigen Zustand. Als Mimoun aufsah und den Ältesten erblickte, schrak er auf. „Ah. Entschuldigt bitte.“ Er konnte ein Gähnen nur knapp unterdrücken. „Ich wollte nicht unhöflich sein.“

Diese Entschuldigung entlockte Addar nur ein belustigtes Lachen. „Wie steht es nun mit dem Tee?“

Sofort erhob sich der junge Geflügelte mit einem Nicken. Das war nicht seine Spezialität, aber er konnte derweil die Kleinkinder unter Aufsicht nehmen. Gerade als er nach Seren greifen wollte, hielt Dhaôma sein Handgelenk fest und zog ihn wieder zu sich herunter. Sanft küsste er die Finger, die ihn hielten, und lächelte.

„Jemand sollte ein paar Decken holen. Es ist Abend und es wird kühler. Und die Babys können ruhig schon schlafen geschickt werden. Ich bin auch gleich wieder da, versprochen.“
 

Das war der Zeitpunkt, an dem Karo und Leoni eingriffen. „Am besten, ihr gebt uns die beiden Kleinen und kommt mit hinein. Drinnen ist es schön warm.“

„Und Tee kochen können wir auch drinnen.“, lächelte Janna hinter ihnen, erklärend für Mimoun. „Dhaôma hat uns erklärt, wie das mit dem Rauchabzug ist, seitdem haben wir eine Feuerstelle im Haus.“

Es war beinahe, als hätte jemand den Bann gebrochen, der die beiden umgeben hatte. Amar begrüßte nun Mimoun mit einer herzlichen Umarmung und Yaji und Juri folgten ihm auf den Fuß. Sie alle freuten sich, dass der Schwarzhaarige wieder da war.

Wenig später saßen sie alle in der Hütte, mittig befand sich nur noch eine Feuerstelle, der Tisch war an den Rand gedrängt worden. Es gab Tee und ein reichhaltiges Abendessen, Tyiasur hatte das in seinen Augen zweifelhafte Vergnügen, Räucherfisch zu probieren. Es wurde nicht viel geredet, nur ein paar Kleinigkeiten wurden erzählt. Die meiste Zeit schwärmte Asam Mimoun und jedem, der es hören wollte, davon vor, dass Fiamma jetzt achtundzwanzig neue Wörter kannte, und Seren begann, mit den Flügeln zu schlagen.

Eine Stunde später lagen die beiden nebeneinander, Stirn an Stirn in den Fellen, und Dhaôma versuchte zu begreifen, dass Mimoun wirklich wieder da war und er es nicht wieder träumte. Seine eine Hand hatte Mimouns nicht noch einmal losgelassen, die andere kraulte das struppige Haar. Seit er mit ihm umherzog war es nicht mehr gleichmäßig kurz, sondern stand in alle möglichen und unmöglichen Richtungen ab. Wie kam es nur, dass es ihm heute zum ersten Mal aufgefallen war?
 

Eine tiefe Ruhe umfing ihn. Er war wieder bei Dhaôma. Mit geschlossenen Augen spürte er den Berührungen nach, die ihm zuteil wurden. Seine Kopfhaut kribbelte dort, wo wenige Sekunden vorher die Finger des Magiers gewesen waren.

Langsam dämmerte er weg. Und damit verlor sich auch seine Beherrschung. Leise krümmte er sich ein wenig zusammen, um dem Schmerz in seinem Inneren Widerstand zu geben, seine Lippen zitterten leicht, als sich eine einzelne Träne ihren Weg bahnte. Der Druck um die Finger des anderen wurde stärker.

Tyiasur saß daneben und sah auf seinen Reiter hinab. Und zum ersten Mal versuchte er gezielt, keine Worte sondern Bilder zu senden. Er suchte sich aus Mimouns Erinnerungen die schönsten heraus und rief sie an die Oberfläche des unruhigen Geistes. Es dauerte nicht lange, bis die Falten auf der Stirn sich lösten und sich ein Lächeln auf die Lippen schlich.

„Dhaô.“, murmelte Mimoun und zog die fremden Finger enger an sich.
 

Erst hatte er sich Sorgen gemacht, als Mimouns Träume so unruhig wurden, dass er sogar schluchzte. Leise redete er auf ihn ein, wisperte beruhigende Worte. Und irgendwie schien das zu helfen. Das Wimmern wurde leiser und verschwand schließlich ganz. Stattdessen hörte er seinen Namen.

Mitleidig strich er über die Wange. Vielleicht hatte er es nicht direkt erwartet, aber er konnte sich sehr gut vorstellen, dass Mimoun in diesem Monat keine Chance bekommen hatte, Schwäche zu zeigen. Sein Freund neigte dazu, immer stark zu sein für die, die er gern hatte. Und wenn es seiner Schwester so schlecht gegangen war, wie Aulee gesagt hatte, dann hatte er wohl alle Energie aufgebracht, um für sie stark zu sein.

„Du bist toll.“, hauchte er leise, um ihn nicht zu wecken. „Ich hoffe nur, dass du dich bei mir ein wenig fallen lässt. Irgendwann musst auch du mal schwach sein dürfen.“
 

Der nächste Morgen begann entspannt. Es war angenehm. Eine warme Berührung, die ihn einhüllte, ein vertrauter Geruch, der ihn erfüllte. Als Mimoun schläfrig die Augen öffnete und blinzelte, lächelte er glücklich. Ja. Er war wieder bei seinem Magier. Er kuschelte sich tiefer in die Umarmung und küsste die Finger, die er noch immer umschlungen hielt. Der Blick der grünen Augen wanderte von den Fingern zu dem Gesicht seines Freundes empor nahm verträumt jedes Detail in sich auf. Die Zeichen auf seinen Wangen, die braunen Strähnen, die ihm ins Gesicht hingen, die langen Wimpern, die leicht geöffneten Lippen. Seine Finger bewegten sich ohne sein Zutun darauf zu.

Mit einem erstickten Keuchen prallte Mimoun zurück. Was tat er hier? Dhaôma sollte davon doch nie etwas erfahren. Wieso fiel es ihm momentan so schwer, sich unter Kontrolle zu halten?

Er musste hier raus, dringend. Zu aufgewühlt war sein emotionaler Zustand, er konnte nicht mehr klar denken. Vorsichtig löste er sich von seinem Freund, stieß gegen Tyiasur, der hinter ihm lag, und schlich sich hinaus in die Kühle des frühen Morgen.
 

Dhaôma erwachte am nächsten Morgen mit einem verzweifelten Schrecken, als seine Hand nicht auf Widerstand stieß. Hatte er etwa wieder nur geträumt, dass Mimoun wieder zurück war? War es einer jener Träume gewesen, die ihn so oft verfolgten?

Er brauchte wie immer einen Moment, um die Enttäuschung zu überwinden, indem er die Zähne fest zusammenbiss und sich vorbetete, dass es das Beste war für Mimoun, dann stand er auf. Und sah aus den Augenwinkeln etwas Blaues. Nach dem zweiten Blick entpuppte sich dieses als Tyiasur. Er wusste sofort, was das bedeutete, und die Freude, mit der er aufgewacht war, kehrte ungebändigt zurück. Wahrscheinlich war Mimoun nur kurz bei den Gruben.

„Guten Morgen, Tyiasur.“, begrüßte er ihn. „Entschuldige bitte, dass ich gestern nichts gesagt habe, aber ich freue mich wirklich, dass du wieder da bist. Ich war nur sehr durcheinander.“
 

Die Enttäuschung und Verzweiflung waren übermächtig gewesen, beinahe körperlich schmerzhaft. Der genaue Gegensatz zu dem darauf folgenden Glück, das in dem Körper aufwallte, als der Wasserdrache entdeckt wurde. Tyiasur starrte den Flügellosen mit undefinierbarem Blick an. Wieso konnten sie nicht miteinander reden? Es war ihm unbegreiflich. Er kroch zu dem Magier hinüber und rieb seinen Kopf an seinem Arm. „Geh. Er braucht dich.“

Mimoun stand derweil an der Klippe und versuchte verzweifelt, seiner Gefühle wieder Herr zu werden. Dass seine Trauer noch so frisch war, durfte nicht bedeuten, dass auch alle anderen verschlossenen Emotionen so unkontrolliert in ihm wirbeln durften.
 

Lächelnd machte sich der Braunhaarige auf den Weg. Ja, vielleicht brauchte Mimoun ihn, aber er brauchte ihn nicht weniger. Er musste sich davon überzeugen, dass er noch da war.

Dass er wusste, wo sich Mimoun aufhielt, war mehr Intuition, aber er fand ihn auf Anhieb. Er rief nicht nach ihm. Der Hanebito sah so verloren aus, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Leise kam er näher und nahm dann sanft seine Hand. Mit dem Daumen streichelte er den Handrücken und lehnte sich gegen ihn.

„Willst du darüber reden?“, fragte er und ließ seine Augen über die dämmrige Landschaft weit unter ihnen schweifen. „Du musst mich nicht schonen oder irgendetwas beschönigen.“
 

Erschrocken zuckte der Geflügelte aufgrund der plötzlichen Berührung zusammen. Als er Dhaôma erkannte, lächelte er glücklich. So früh hatte er nicht damit gerechnet, ihn zu sehen. Er war noch nicht bereit dazu. Äußerlich konnte er seine Maskerade aufrechterhalten, aber innerlich war er noch immer zu aufgewühlt für die Nähe zu seinem Freund. Und darüber reden? Nein. Nicht darüber.

Mimoun drehte sich wortlos zu Dhaôma um und schlang seine Arme um seinen Hals.

„Der Winter steht vor der Tür.“, sprach er nach einiger Zeit in dieser Position ein anderes Thema an. „Und Silia ist allein mit ihrem Ungeborenen. Zwar steht das Dorf ihr bei, aber auch sie sind so wenige geworden. So viele vertraute Gesichter, die nicht mehr da sind.“ Der Druck verstärkte sich leicht. „Ich habe ihr versprochen, dass ich da sein werde, wenn es soweit ist. Und dass ich dich gerne für den Notfall dabei haben möchte.“ Danach schwieg er. Das war sicher ein Faustschlag für Dhaôma. Der ihm am meisten verhassten Person helfen zu müssen, weil der Geflügelte es sich so wünschte. Mimoun war sich nicht einmal sicher, ob er sich das überhaupt wünschen durfte.
 

„Mimoun, ich will gerne helfen, aber ich weiß nicht, ob ich oder die Drachen die Kälte dort oben aushalten.“ Das war tatsächlich das einzige Problem, das er sah. Wenn Silia Probleme bei der Geburt bekommen sollte, würde er ihr natürlich helfen. Genauso würde er ihr helfen, wenn sie krank wäre oder anderweitig Hilfe annehmen würde. „Aber… wäre sie denn überhaupt damit einverstanden? Sie erträgt es doch nicht einmal, mit mir im gleichen Raum zu sein.“
 

„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.“ Mimoun löste sich von Dhaôma und ging zwei Schritte weiter. „Sie war so komisch, so anders. Sie hat absolut nichts mehr von dem Mädchen, das ich kannte. Auf meine Frage hin, antwortete sie nur: Es ist dein Wunsch, nicht wahr?“ Ruckartig drehte er sich wieder zu dem Magier um. „Sie sagte, dass sie mich nun verstehen könnte, mit meiner Wahl aber immer noch nicht einverstanden sei.“ Mimouns Augen weiteten sich. Er hatte zu viel gesagt. Es war ihm so rausgerutscht. „Was soll ich davon halten? Heißt das ja?“
 

„Es heißt nicht nein.“, merkte Dhaôma an. Er konnte mit den Worten noch weniger anfangen als Mimoun, verstand er doch den Sinn dahinter nicht. Silia konnte er einfach nicht verstehen. „Und es löst das Problem mit der Kälte nicht. Auch nicht das mit Lulanivilay oder Tyiasur. Willst du sie den Winter über in Kältestarre verbringen lassen?“ Schwach senkte er den Kopf. „Wie lange dauert es denn noch bei ihr?“
 

„Nein, will ich nicht. Ich möchte für die beiden und auch für dich einen angenehmen Platz für den Winter finden. Ihr sollt nicht frieren müssen und euch dennoch frei bewegen können.“ Er schnaubte belustigt. „Aber das ist wohl nur auf der Insel der Drachen möglich.“

Und Silia? „Ich weiß es nicht genau. Ich bin kein Heiler. Sie hat noch lange nicht den Bauch, den Leoni damals hatte. Aber ich schätze so gegen Ende des Winters müsste es soweit sein.“
 

Er sollte den ganzen Winter über allein auf der Insel der Drachen verbringen? Nur mit Lesley? Nun, zugegeben, würde es ihm gefallen, sich den Büchern widmen zu können, aber dennoch wäre er über mehr als vier Monate von Mimoun getrennt! Allein dieser eine war doch schon eine Tortur gewesen.

„Ich werde einen Ort finden, der nicht so weit weg ist.“, sagte Dhaôma leise. Vielleicht in dem Dschungel zwischen der Kargen Zone und den Wolfsbergen. Oder ganz woanders, weiter in der Richtung, in der die Sonne am höchsten stand. „Dann weiß ich nur noch immer nicht, wann ich da sein muss, um zu helfen. Selbst die Telepathie der Drachen reicht nicht über eine Strecke, die weiter ist als du einen Tag lang fliegen kannst.“
 

„Wenn... es nicht geht, dann geht es nun einmal nicht. Das lässt sich nicht ändern. Wir tragen die Verantwortung für das Leben und die Sicherheit unserer Drachen.“ Vorsichtig lehnte er seine Stirn gegen Dhaômas und kraulte ihm mit einer Hand den Nacken. „Aber allein, dass du es tun würdest, macht mich unglaublich glücklich.“
 

„Und wenn du sie überredest, mitzukommen?“, fragte Dhaôma mit einer verzweifelten Hoffnung, die er nicht aus seiner Stimme verbannen konnte. „Dann wäre doch wenigstens das Kälteproblem gelöst, oder nicht?“
 

Einem Impuls folgend, zog er Dhaôma wieder in seine Arme. Dieser war bereit, den ganzen Winter mit ihr zu verbringen, nur damit Mimoun sich nicht mehr zerreißen musste.

„Zum Ende des Winters, bevor es ihr unmöglich zu reisen wird.“, erwiderte Mimoun. „Ich werde sie fragen, ob sie dazu bereit wäre.“ Alles andere war von vornherein zum Scheitern verurteilt. So gut kannte er sein Schwesterherzchen durchaus. Blieb nur die Frage, wo sie sich den Winter über einnisten würden. Es musste warm genug sein, für die Drachen.
 

Nickend schmiegte sich Dhaôma an ihn. Die Antwort ließ seine Hoffnung zerfließen wie Eis in der Sonne. Das einzige, das ihm jetzt noch blieb, war die restliche Zeit mit Mimoun so gut es ging zu verbringen. Recht viel länger als zwei Wochen war das nicht. Es war jetzt schon kaum auszuhalten draußen. Und Lulanivilay war trotz der Decke träge geworden.

„Ich will, dass du mir versprichst, dass du sie nicht alleine lässt. Sollte sie Hilfe brauchen oder der Termin feststehen, schick jemand anderen. Ja?“
 

Das war genau das, wovor Mimoun Angst hatte. Dhaôma tat genau das, was er nicht sollte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht führte er die Finger des Freundes an seine Lippen. Der Magier nahm sich wieder zurück, schickte den Geflügelten bewusst fort von sich. Dabei wollte Mimoun das nicht. Er wollte bei ihm sein, seine Nähe spüren, Geborgenheit finden. Aber mit diesem Wunsch war er anscheinend allein, denn sonst würde Dhaôma nicht so etwas von ihm verlangen. Der Geflügelte konnte nicht verhindern, dass wieder Tränen flossen. Diese Gefühle durften nie wieder nach oben kommen. Ab nun mussten sie für immer sicher verschlossen bleiben. Es musste ihm ab jetzt gleichgültig werden. Schmerzvoll krampfte sich in ihm etwas zusammen, dennoch lächelte er seinen Freund an. „Natürlich. Wenn du es wünschst.“
 

Tat er nicht, aber das würde er nicht sagen. Stattdessen nickte er.

Und wechselte das Thema. „Ich war beim Hohen Rat.“, sagte er. „Habe Lulanivilay vorgestellt und ein wenig über den Krieg gesprochen.“ Tief atmete er ein, dann hob er den Kopf von Mimouns Schulter, um ihn anzusehen. „Sie haben viel erzählt, dass es gefährlicher wird, gegen die Magier zu kämpfen, weil sie sich organisieren, dass sie eine riesige Schleuder bauen wollen, mit der man brennendes Zeug auf sie hinunterwerfen kann. Sie sagen, sie sind auf unserer Seite, aber sie geben uns nicht mehr viel Zeit.“ Er presste die Lippen zusammen. „Natürlich haben wir alle Zeit der Welt, aber wenn sie diese Waffe erst einmal gebrauchen, dann wird es sehr viel schwerer, die Magier zu überzeugen.“ Wieder holte er Luft. „Ich habe auch nachgesehen, wie es mit den Städten der Magier aussieht, bin darüber geflogen und habe mir angesehen, wie es ihnen geht. Sie scheinen noch schlechter dran zu sein als die Hanebito. Sie schicken Kinder in den Krieg. Ich konnte kaum Menschen zwischen zehn und fünfzig Jahren sehen. Sag mir, ob ich diesen Winter schon etwas tun soll. Sag mir, ob ich versuchen soll, mit ihnen zu reden, während du nicht da bist.“
 

Gleichgültigkeit, mahnte er sich, um seine aufkommende Furcht nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. „Es ist gefährlich. Du weißt, dass die Möglichkeit besteht, dass sie dich nicht mehr weg lassen. Ich wäre nicht da, um dir beizustehen, und weder für Lulanivilay noch für Tyiasur ist es eine angenehme Jahreszeit.“ Der Knoten in seinem Inneren verhärtete sich und ihm wurde schlecht, aber er schluckte die Galle runter. „Wenn du es nicht mehr erträgst, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann geh. Aber bitte, geh nicht in die Städte und Dörfer. Versuche sie abseits der Siedlungen einzeln oder in kleinen Gruppen zu erwischen. Setz dich bitte keinen unnötigen Risiken aus.“
 

Abseits in kleinen Gruppen oder einzeln? Der Gedanke war nicht schlecht. Ein erleichterter Gesichtsausdruck machte sich bei ihm breit, denn er hatte Angst gehabt, zu seiner Familie oder den hohen Magiern zu gehen. „Ist gut.“, nickte er und lächelte weich. Sanft strich er durch die schwarzen Haare. „Und du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde nicht fehlen, wenn Silia niederkommt. Ich werde es rechtzeitig schaffen, falls ich wirklich gehen sollte.“ Was noch lange nicht feststand. Wenn, kämen wirklich nur die südlichsten Magier in Frage, denn sie wohnten in wärmeren Gebieten.
 

„Glaubst du Dummkopf wirklich allen Ernstes, dass das meine Sorge sein wird, wenn du dich allein dort herumtreibst?“ Seufzend schüttelte er den Kopf. Diesem Magier war wirklich nicht zu helfen.

Mimoun nahm die Hand seines Freundes und wandte sich Richtung Hütten. Das Dorf erwachte langsam und sie konnten höflicherweise schon einmal das Frühstück für ihre Gastgeber vorbereiten. Nach wenigen Schritten löste er seine Finger wieder von ihm, schritt aber weiter aus.
 

„Es war anders gemeint.“, sagte Dhaôma und blieb stehen, sobald er nicht mehr gezogen wurde. „Ich meinte, dass ich bestimmt zu dir zurückkommen werde.“
 

Die Füße stoppten ihren Lauf und drehten sich so, dass er zurückblickte. Wieder stieg diese Wärme in ihm auf und er konnte nicht verhindern, dass er wieder zu lächeln begann.

„Ich hoffe, du bist dir im Klaren darüber, dass ich dir ewig böse sein werde, wenn du es nicht tust.“ So ernst sich die Worte auch anhören mochten, so scherzhaft war der Tonfall. Als wenn er ihm je ernsthaft würde böse sein können.
 

„Ja.“, war die einfache Antwort. Natürlich wusste er es. Wie oft hatte Mimoun schon mit ihm geschimpft, wenn er sich in Gefahr gebracht hatte. „Ich würde mir selbst auf ewig böse sein.“, murmelte er noch, viel zu leise, um gehört zu werden, bevor er sich wieder in Bewegung setzte.

Den Tag verbrachten sie einträchtig damit zu fliegen und ein wenig mit den Babys zu spielen. Sie machten Pläne, was sie in den nächsten zwei Wochen tun wollten, doch der nächste Tag wartete mit einer bösen Überraschung auf. Es fror. Auf dem See lag eine dünne Eisschicht und die Pflanzen waren mit Reif bedeckt. Als Dhaôma hinaustrat, bildete sein Atem helle Wolken in der Luft. Es hatte begonnen.

Besorgt rannte er zu Lulanivilay, der sich kaum bewegen konnte. Bis der Frost kam, war es für ihn immer schwerer geworden, aber nun kamen selbst seine Gedanken viel zu langsam, als wären sie eingefroren.
 

Sorge um den Freund ergriff den jungen Geflügelten. Auch wenn es sinnlos war, rieb er seine Hände fest an dem Hals, um ein wenig Wärme zu erzeugen. Der Wasserdrache hatte in der Hütte an ihn gekuschelt geschlafen. Aber er traute sich nicht nach draußen. Er blieb zwischen den noch angewärmten Fellen liegen.

Noch nicht, dachte Mimoun und ließ seine Hände ruhen, die kribbelten. Er wusste, was diese Situation bedeutete und alles in ihm wehrte sich gegen den Gedanken.

„Ich hole Fiamma. Dann geht es dir schnell besser.“, schlug er vor und eilte bereits wieder in die Hütte.
 

Das Kind wärmte Lulanivilay tatsächlich wieder auf, aber es wurde dadurch nicht einfacher für ihn, noch länger zu bleiben. Jeder sah das ein, auch wenn weder Mimoun noch Dhaôma davon begeistert waren.

„Wir müssen gehen. Zunächst mal hinunter, dort ist es noch nicht so kalt. Und dann immer Richtung Mittag. Je schneller wir fliegen, desto besser.“, murmelte Dhaôma und kratzte seinen Freund am Flügelansatz. „Mimoun, willst du noch ein wenig mitkommen?“
 

Den Schmerz verstärken und das Unausweichliche hinauszögern? Oder sich nun schon trennen und der verlorenen Zeit hinterher trauern? „Ich muss doch wissen, wo in etwa ich euch finden kann.“, erwiderte er statt einer direkten Antwort.
 

„Das weiß ich selbst noch nicht.“ Aber er freute sich, dass Mimoun ihn begleiten wollte, wenn auch nur ein Stück. Weich ergriff er seine Hand. „Zur Dracheninsel kann ich nicht. Es wäre zu weit entfernt und Lesley meinte doch, wir würden uns erst in ein, zwei Jahren sehen. Vermutlich könnte ich ihn nicht erreichen. Wer weiß schon, wie weit draußen die Insel inzwischen über dem Großen Wasser schwebt.“

Und dann war plötzlich Amar da. „Ist es wahr? Ihr werdet heute gehen?“
 

„Wir müssen.“, erwiderte Mimoun und entzog seinem Freund die Hand. Er hockte sich vor das Kind. „Schau mal. Lulanivilay und Tyiasur vertragen die Kälte noch weniger als Dhaôma.“ Kurz wuschelte er dem Kleinen durch die Haare. „Glaub mir. Wir würden liebend gerne länger bleiben, aber wir dürfen unsere Freunde nicht gefährden. Es ist absolut nicht angenehm, sich nicht mehr bewegen zu können.“
 

Amars Blick wurde wütend. „Und dann gehst du zu deiner Schwester und Dhaôma ist ganz alleine!“

„Hey, hey.“, schritt besagter ein. „Ich kann sehr gut auf mich aufpassen und immerhin ist Lulanivilay ebenfalls da, nicht wahr?“

„Na und?“ Störrisch schoss Amar Blickpfeile zu Dhaôma und Mimoun. „Das ist nicht dasselbe! Lulanivilay ist zu groß, um mit ihm in einem Bett zu schlafen. Und er isst ganz andere Dinge und geht oft auf die Jagd und verschläft die Hälfte des Tages.“ Wo er wahre Fakten ansprach. Lulanivilay war wirklich ein verschlafener Geselle. „Außerdem kann man nicht immer mit nur einem Freund zusammen sein!“

„Mit Mimoun hat das wunderbar geklappt. Warum sollte es mit Lulanivilay nicht klappen?“

„Weil er nicht Mimoun ist!“, fauchte das Kind.

„Er hat Recht, Freiheit.“, mischte sich der Drache ein.

„Aber so ist es nun einmal. Man muss Prioritäten setzen und ein Baby ist eine Priorität, die vor allem anderen kommt. Gerade, weil so viele gestorben sind, ist es wichtig, dass man sich um neues Leben besonders intensiv kümmert. Damit man wieder das Schöne im Leben sieht.“

„Dann komme ich eben mit dir!“

„Das wird Karo nie erlauben.“

„Dann komme ich heimlich mit!“

Hilfe suchend sah Dhaôma zu Mimoun. Was sollte er jetzt machen?
 

„Dann wird deine Mutter sehr traurig.“, wandte Mimoun ein und erhob sich. Dieses Kind war noch zu unerfahren, um zu verstehen, was es gerade auslöste, welchen Schmerz es bei ihm verursachte. „Und es gibt niemand sonst, dem ich es zutraue, auf unsere Winzlinge aufzupassen. Was soll denn aus ihnen werden, wenn du nicht mehr da bist? Du wolltest sie doch beschützen. Oder ist das nicht mehr wichtig?“
 

Das junge Gesicht wurde unsicher. „Sie haben so viele, die sie in den Arm nehmen.“ Amar stand kurz vorm Weinen. „Asam und Leoni, Mama und Janna und Großvater und Yaji und Juri und…“ Die ersten Tränen rollten über seine Wangen. Ja, er hatte das gesagt. Er hatte es großspurig herausposaunt, dass er Fiamma immer beschützen würde, aber jetzt standen die Dinge anders. Ganz anders. Er wusste doch, dass Dhaôma Mimoun liebte. So wie er seine Mama liebte. Wenn er daran dachte, dass er seine Mama so lange nicht sehen oder umarmen konnte, dann hatte er das Gefühl zu ersticken. Und Dhaôma…

Mit einem Aufschluchzen warf sich der Junge in die beschützenden Arme des Magiers. Mitleid und Trauer lösten ihn völlig auf, so dass Dhaôma ihn einfach hochhob und mit einer Entschuldigung an Lulanivilay ins Haus trug. Als er der besorgten Familie erklärte, was passiert war, sahen sie betroffen bis Mitleidig aus. Jeder verstand, was in Amar vorging, jeder verstand, warum Mimoun und Dhaôma so handelten.

Natürlich war Karo dagegen, dass Amar mitging, da konnte er betteln wie er wollte. Dafür packte sie den beiden Gästen je eine Tasche mit Proviant zusammen und zog auf Bitte Leonis Mimoun für einige Zeit von Dhaôma weg.

Die blonde Mutter sah Dhaôma nur an, aber er wusste genau, was sie sagen wollte, und begann traurig zu lächeln. „Weißt du, Leoni. Ich kann nicht seine Familie werden, egal wie sehr ich es mir wünsche. Er hat bereits eine und die akzeptiert mich nicht.“

Sie nahm ihn in den Arm, durchschaute sie seine Maske aus Akzeptanz doch zur Gänze. „Du kannst jederzeit hierher kommen, wenn du einsam bist.“, flüsterte sie. „Fiamma ist begabt darin, jemandes Herz aufzuwärmen.“

Er nickte und sie spürte ihn beben, aber als er sich von ihr löste, waren seine Augen trocken. „Vielen Dank für alles. Wir sehen uns im nächsten Jahr.

„Viel Glück bis dahin.“

Als er zu Mimoun zurückkehrte, lächelte er. Genau wie Leoni lächelte. Sie machte Mimoun keine Vorwürfe. Er verhielt sich nicht falsch. Es war eher so, dass er, egal wie er sich entschied, keine andere Wahl hatte. Er stand zwischen den Fronten. So wie Dhaôma es bei zwei ganzen Völkern versuchte, scheiterte Mimoun bei zwei einzelnen Personen.

„Ich wünsche dir mehr Erfolg.“, wisperte sie in Dhaôma Ohr, als sie ihn zum Abschied umarmte.

Er verstand nicht, was sie meinte, bedankte sich aber trotzdem.
 

Als Dhaôma den weinenden Jungen in die Hütte gebracht hatte, hatte Mimoun sich mit der Stirn gegen den Drachen gelehnt. Warum fiel es ihm so schwer sich zu beherrschen? Seinetwegen heulte der Junge. Müde und kraftlos ließ er sich auf die Erde sinken. Dort war er später auch noch zu finden und es war nicht schwer für Karo, ihn von seinem Freund zu trennen.

Wo war sie hin? Wo war die unbeschwerte Zeit geblieben, in der nichts zählte außer Dhaôma und ihm? Wo keine Verpflichtungen und Zwänge auf ihn warteten. Wo er sein durfte, wer er war, ohne sich verbiegen zu müssen. Ohne sich entscheiden zu müssen. Wo?

Mit einem Seufzen entwich alle Luft aus ihm und er sackte ein Stück in sich zusammen. Karo, die bei ihm geblieben war, lehnte sich wortlos gegen ihn. Wie hätte sie ihm auch helfen sollen?

Als der Magier zurückkehrte, war von seiner gedrückten Stimmung kaum noch etwas zu merken. Der Geflügelte erwiderte das Lächeln des anderen. Auch er verabschiedete sich von dem Dorf und entschuldigte sich noch bei Amar. Er hatte ihn wirklich nicht zu Weinen bringen wollen.

„Ich wünsche mir für dich, dass du es irgendwann schaffst, dir deine Wünsche zu verwirklichen.“, flüsterte ihm Leoni ins Ohr, als sie ihn umarmte.

Asam verabschiedete ihn mit einem freundschaftlichen Hieb gegen die Brust, was Mimoun tatsächlich zum Lachen brachte. „Übe, bis ich zurückkomme.“, verlangte er und nahm Tyiasur an sich, der bis eben die Hütte nicht hatte verlassen wollen.

„Bis bald.“, verabschiedete sich Mimoun und schwang sich in die Luft, strebte den unteren Ebenen zu. Dhaôma hatte Recht damit, dass es dort noch ein wenig wärmer war.
 

Selbst Addar bemühte sich nach draußen, um die beiden zu verabschieden. Seine Augen wirkten seltsam auf Dhaôma, aber er nickte nur. Ja, sie hatten ein langes Gespräch geführt. Nachdem er bei den Hanebito im Rat vorgesprochen hatte. Addar und Asam würden alles tun, um eine kriegerische Aktion ihrerseits zu verhindern, solange es ging. Wenn sie sich verteidigen mussten, würden sie es allerdings tun. Und sie hatten versprochen, herauszufinden, wer der Zirkel der Geteilten Geister war. Mehr als dreißig Leute waren dabei, die Bücher zu durchforsten, die die Inseln aufbewahrten, um einen Hinweis zu finden, denn egal, wie lange sie diskutiert hatten, waren sich alle einig, dass die Antwort darauf einen weiteren Schritt auf den Frieden zu bedeuten könnte.

„Wir sehen uns im nächsten Jahr.“, rief er noch, bevor er auf Lulanivilays Rücken seinem schwarzhaarigen Freund folgte.
 

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die beiden können derartig perfekt aneinander vorbeireden, dass einem davon schlecht werden könnte, oder?

ich möchte sie watschen. rechts und links.

Aussprache

Kapitel 50

Aussprache
 

Sie folgten der Ebene ein ganzes Stück gen Süden, bevor sie gegen Nachmittag an einem großen See landeten. Hier unten war es zwar nicht warm, aber es fror noch nicht. Kaum berührten seine Füße den Boden, kam Dhaôma zu Mimoun kuscheln. Er war müde und ausgelaugt wegen dem Gefühlschaos in seiner Brust und den kreisenden Gedanken in seinem Kopf.
 

Kurz versteifte sich der Geflügelte. Seine Hände hoben sich, um die Umarmung zu erwidern, senkten sich ein Stückchen, bevor sie sich zusammenballten und auf Dhaômas Rücken zur Ruhe kamen. Mit geschlossenen Augen spürte er der Wärme seines Freundes nach und nahm den Geruch bewusst in sich auf.

Vielleicht würde ihm der Winter helfen, vielleicht schaffte er es in der Zeit der Trennung, mit seinen Gefühlen ins Reine zu kommen.

Nach einigen Augenblicken löste sich der Geflügelte wieder und zog seinen Freund ans Ufer des Sees. Er ließ sich auf der kalten Erde nieder und zog Dhaôma zu sich herunter, dirigierte ihn auf seinen Schoß und drückte sein Gesicht gegen die Brust des Freundes.
 

Es war das erste Mal, dass sie wirklich Zeit für sich hatten, dass niemand kommen konnte, um zu stören. Vielleicht war jetzt ein guter Zeitpunkt, es noch einmal anzusprechen. Er würde es einfach versuchen.

„Es will mir nicht gefallen, dass du so niedergeschlagen bist.“, begann Dhaôma leise. „Weißt du, du musst nicht stark sein. Erzähl mir einfach, was dich beschäftigt. Was sind deine Gedanken? Geht es um deine Mutter?“ Er lächelte weich. „Du hattest nicht wirklich Zeit, um Trauer zuzulassen, oder?“
 

Zögerlich sah er zu Dhaôma auf. Die Sonne an diesem klaren Nachmittag stand in einem günstigen Winkel und ließ die haselnussbraunen Haare seines Magiers leuchten. Dieses Bild und das sanfte Lächeln versetzten ihm einen scharfen Stich.

Seine Hand wanderte hoch und ließ seine Finger durch die Haare gleiten. Sanft zog er den Kopf zu sich herunter und berührte mit seinen Lippen Dhaômas Stirn. Seine Gedanken offenbaren? Erzählen, was ihn beschäftigte?

„Ich will nicht von dir getrennt sein.“, hauchte er beinahe zu leise, als dass man es verstehen konnte. Es war zu viel. Wenigstens das musste er ihm noch sagen, bevor der Winter sie trennte. „Aber es ist dein Wunsch, dass ich bei ihr bleibe.“
 

„Es ist mein Wunsch, dass du glücklich bist.“, widersprach er Mimoun. „Und ich weiß, wie viel dir deine Familie bedeutet. Du würdest es immer bereuen, wenn sie ebenfalls sterben würde, nicht wahr?“
 

Darauf erwiderte er nichts mehr. Er lehnte nur wieder seinen Kopf an Dhaômas Brust. Wieso entschieden andere, wann er wie glücklich zu sein hatte? Ja, er liebte seine Schwester. Und er war froh darüber, wenn er bei ihr sein konnte. Genauso war er glücklich, wenn er mit Dhaôma durch die Gegend reiste.

Seine Schwester war erwachsen geworden. Sie stand nun auf eigenen Beinen, auch wenn sie eine schwere Zeit durchmachte. Und Dhaôma fand nun spielend Freunde. Er war nicht mehr auf die Gesellschaft des Geflügelten angewiesen. Das war wohl der Grund dafür, dass der Magier ihn mit einem Lächeln fortschicken konnte. Und hatte Mimoun es ihm nicht vor langer Zeit einmal gesagt? Ich bleibe bei dir, solange du mich brauchst. Er wurde nicht mehr gebraucht. Von keinem von beiden. Nun musste er nur noch die Zeit nutzen, die der Magier ihm an seiner Seite gewährte. Und wenn er diesen Winter nicht haben durfte, dann war es nun einmal so. Er konnte und durfte es nicht ändern.

Klatschend fuhr seine Hand auf Dhaômas Oberschenkel. „Los komm. Hör auf mit Trübsal blasen. Es ist ein schöner Tag.“
 

Er nickte. Seine Oberschenkel kribbelten und sein Bauch auch.

„Du hast mal gesagt, dass ich fragen soll, wenn ich wegen einer Entscheidung nicht weiter weiß.“ Nervös rieb er seine Hände zwischen ihren Bäuchen. „Dass ich dir Vorschläge machen kann und du sagst, ob es dir gefällt oder nicht.“ Langsam aber sicher stieg ihm die Röte ins Gesicht.
 

Aufmerksam sah Mimoun ihn an und wartete darauf, dass Dhaôma fortfuhr.
 

„Du hast mich doch geküsst.“, murmelte er leise und wurde noch ein wenig röter. „Darf… darf ich das auch machen?“
 

Sämtliche Muskeln seines Gesichtes taten nicht das, was sie sollten. Unglaube, Verwirrung, Entsetzen spiegelten sich darin. Warum? Warum fragte er es? Warum gerade jetzt? Jetzt, wo er versuchte, diese Gefühle zu versiegeln.

Mit einem leisen Schnauben wurde sein Gesicht weicher. „Wenn ich das getan habe, wieso sollte ich dir dieses Recht verweigern?“, erwiderte er statt einer Antwort.
 

„Also darf ich.“ Auf die vorher so unsicheren Züge stahl sich ein Lächeln. Zuerst hatte er sich ja erschrocken, weil Mimoun so entsetzt gewesen war, aber nun hob er die Hände und legte sie auf Mimouns Schultern. Unendlich vorsichtig näherte er sich ihm, beobachtete ihn genau, um notfalls abbrechen zu können, bevor er seine Lippen sanft auf Mimouns presste. So richtig viel Erfahrung hatte er damit nicht, deswegen wagte er sich nicht weiter vor.
 

Der Geflügelte schloss die Augen und ließ seinen Magier gewähren. Er musste sich beherrschen, nicht zurückzuzucken, als er die weichen Lippen spürte. Diese Schwerelosigkeit, die die Berührung auslöste, traf auf Widerstand, löschte diesen beinahe aus. Mit verzweifelter Kraft hielt er an dem Klumpen in seinen Eingeweiden fest. Doch je länger es dauerte, desto unsicherer wurde der Geflügelte. War es nicht das, was er wollte? Hatte er nicht vorgehabt, das, was ihm der Magier bereit war zu geben, vorbehaltlos zu nehmen und zu genießen?

Mimoun spürte nicht, wie ihm wieder die Tränen die Wangen hinab liefen. Warum spielte das Schicksal solch grausames Spiel mit ihm?
 

Als Dhaôma die Tränen bemerkte, zog er sich zurück. Er war regelrecht erschrocken, dass seine lieb gemeinte Geste so eine Reaktion auslöste. Geknickt ließ er den Kopf hängen. „Es tut mir Leid.“, flüsterte er. Jetzt hatte er ihn verletzt. Dabei hatte der Kuss ihn aufmuntern sollen.
 

Verständnislos sahen grüne Augen zu Dhaôma auf. Erst jetzt bemerkte er die Nässe auf seinen Wangen. Unsicher glitten seine Fingerspitzen zu seinem Gesicht und wischten die Spuren weg.

„Warum tut es dir Leid?“, fragte Mimoun mit einem sanften Lächeln. Sein Blick war leicht resigniert. „Du hast gesagt, dass ich nicht stark sein muss. Und doch kann ich in deiner Nähe nicht schwach sein, weil du es falsch verstehen könntest.“ Energisch wischte er sich über das Gesicht.
 

Was? „Nein! Natürlich kannst du Schwäche zeigen, aber ich hatte den Eindruck, dich damit zu verletzen.“, versuchte er aufgeregt sich zu erklären. „Obwohl ich dir helfen will, scheine ich momentan alles nur schlimmer zu machen. Und jetzt weinst du meinetwegen…“
 

„Dann tu nichts.“, verlangte Mimoun und zog seinen Magier in einen weiteren kurzen Kuss. „Bleib einfach nur hier. Deine Nähe hilft mir am meisten. Einfach nur das Wissen, dass du da bist.“ Ja. Das war das Beste. So konnte am wenigsten schief gehen. So würden seine Gefühle nicht mehr verrückt spielen können. „Sei einfach nur du selbst, hörst du? Verbiege dich nicht mit Sachen, von denen du nur glaubst, sie könnten mich glücklich machen. Probiere es lieber mit Dingen, von denen du es weißt.“ Mit einem Zwinkern zog er einen Kern hervor.
 

Erdbeeren. Er hätte es wissen müssen.

Liebevoll wuschelte er durch die schwarzen Zotteln, nahm den Kern aus Mimouns Hand und ließ ihn auf den Boden fallen. Die Zeichen auf seinen Armen erleuchteten sie beide, während unter seinen Händen die Pflanze Gestalt annahm, Blüten trieb, Früchte trug. Noch immer saß er auf Mimouns Schoß und hielt sich an seiner Schulter fest. Momentan leitete er die Magie nur durch seine linke Hand.
 

Die Arme fest um Dhaôma geschlungen, drückte Mimoun seine Nase in die Seite seines Freundes.

„So. Und nun musst du mich füttern. Schließlich kann ich dich ja nicht loslassen, da du sonst runter fällst.“ Was offensichtlich nicht der Fall wäre, aber das stand auf einem anderen Blatt. „Und wir wollen ja nicht, dass du dich bei dem tiefen Sturz verletzt.“
 

Lächelnd ging Dhaôma darauf ein, griff mit der Hand in die Beere und rupfte ein Stück heraus. Klebriger Saft lief über seine Hand und seinen Ellbogen herab, als er den Beerenmus unter Mimouns Nase hielt.

Aber innerlich war er verzweifelt. Was hatte dieser Stimmungswechsel zu bedeuten? Glaubte er, ihn trösten zu müssen, und machte deshalb diese Späße? Oder half es ihm selbst, der Situation und der Tränen Herr zu werden?
 

Unangerührt blieb der Matsch auf Dhaômas Hand. Mit gerunzelter Stirn sah er seinen Freund an. Er löste eine Hand und strich mit dem Daumen über die fremden und doch mittlerweile vertrauten Lippen.

„Dieses falsche Lächeln steht dir nicht.“, stellte der Geflügelte ernüchtert fest. Wann hatte es angefangen, dass alles aus den Fugen lief? Er nahm sich ein wenig von dem dargebotenen Erdbeerenüberbleibsel und schob es sich in den Mund. Erstaunt stellte er fest, dass sie ihm nicht schmeckte. Sie war perfekt. Genau so, wie er sie liebte. Und doch war etwas anders. War ihm die ganze Situation auf den Magen geschlagen? Lustlos kaute er darauf herum.
 

Dhaôma sah ihn an. Sein Lächeln zerfiel, übrig blieb nichts als ein bestürztes Gesicht und das Bedürfnis, heulen zu wollen.

„Du bist voller Widersprüche. Ich soll fröhlich sein, aber wenn ich es versuche, sagst du, es ist falsch. Ich soll bei dir bleiben, aber das geht nicht, weil ich nicht mit Silia zusammen sein kann. Du sagst, ich darf dich küssen, bist aber entsetzt und weinst, wenn ich es tue. Ich soll mich nicht verbiegen, aber ich muss es tun, weil ich dich sonst unglücklich mache. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, Mimoun! Ich habe das schreckliche Gefühl, dass du mir entgleitest, dass du dich von mir entfernst, dass… dass…“ Zitternd holte er Luft. Er war in Panik geraten und hatte alles auf einmal gesagt und vergessen, zu atmen. „Ich will dich nicht verlieren. Ich wollte dich doch niemals wieder verlieren…“
 

„Es tut mir Leid.“ Leise und mit einem resignierten Unterton hingen diese Worte in der Luft. „Es geht momentan zu viel schief. Zu viel von dem was ich kannte, ist innerhalb dieses Jahres verloren gegangen.“ Er lehnte seinen Kopf gegen Dhaôma, um ihn nicht mehr ansehen zu müssen. „Du schickst mich fort. Du fragst nicht einmal, ob ich damit einverstanden bin. Ich weiß, dass du nicht willst, dass ich mich wegen euch beiden zerreißen muss, aber warum kann ich nicht entscheiden, was ich will? Und dann noch dieses Chaos. Trauer, Glück, zu viele Gefühle, die keinen Platz und keine Klarheit besitzen. Deine Bitte, die mich völlig überrumpelt hat, gerade als ich versuchte, diese Gefühle wieder zu ordnen. Und wenn ich mich recht entsinne, hattest du auch geweint, als ich wiedergekommen bin. Tränen bedeuten nicht immer Trauer.“ Er hob die Hände und rieb sich mit den Handballen über die Schläfen. Mimoun wollte nicht reden und doch ließ er die Worte ungehindert weiter fließen. „Es ist alles durcheinander. Nichts ist mehr klar. Ich weiß weder, was ich denken, noch was ich fühlen soll. Sag mir, was ich tun soll? Sag mir, was ich jetzt machen soll? Ich kann nicht mehr. Ich will irgendwohin, wo niemand sonst ist. Nur du und ich, so wie früher. Verflucht.“ Wütend drückte er seine Hände gegen die Augen, um zu verhindern, dass er nun erneut losheulte.
 

„Was meinst du damit, ich schicke dich fort?“ Vorsichtig hob er die Hand, ließ seine Fingerspitzen gegen Mimouns Handgelenk tippen und zog sie doch wieder fort. Er war zittrig. „Du hast doch gesagt, du willst bei Silia sein. Du hast gesagt, du willst für uns – für Lulanivilay, Tyiasur und mich einen Ort für den Winter finden, wo wir sicher sind. Du hast dich ausgeschlossen, als wolltest du nicht bei uns bleiben. Weißt du, wie schwer es mir fällt, dich überhaupt gehen zu lassen? Ich wollte, dass du bei mir bleibst, dass wir zusammen irgendetwas machen, das nichts mit Training zu tun hat. Vielleicht reisen, vielleicht hinter der Kargen Zone nach etwas Neuem suchen. Ich hatte es mir so schön vorgestellt, wenn du wieder da bist, aber du warst so verzweifelt, als du gesagt hast, du wolltest bei Silia bleiben. Ich kann es nicht ertragen, wenn ich deine Familie zerstöre. Ich habe bereits eine zerstört, auch wenn es damals nicht viel bedeutet hat, aber wenn du dein Zuhause verlierst, dann… Du bist schon einmal daran zerbrochen! Ich könnte das nicht noch einmal ertragen!“
 

„Du Dummkopf.“ Mimoun schüttelte den Kopf und kicherte. „Du verdammter Dummkopf. Natürlich hab ich nur euch drei aufgezählt. Ich bin an ein Leben oben auf den Inseln im Winter gewöhnt. Natürlich brauch ich mir um mich diesbezüglich keine Sorgen machen. Was zählt war allein die Tatsache, dass ihr es angenehm habt. Wo auch immer ihr euch entschließt zu überwintern, kann auch ich bleiben. Von meiner Seite gibt es doch absolut keine Einschränkung. Wann hab ich erwähnt, dass ich nicht mit euch kommen würde?“
 

„Aber ich… Du…“ Braune Augen weiteten sich, als er verstand, worauf Mimoun hinauswollte. „Hab ich es missverstanden?“, fragte er, auch wenn seine Worte nur ein Krächzen waren, weil er sich so stark bemühte, seine aufwallenden Tränen zu unterdrücken.
 

Hilflos zuckte er mit den Achseln. „Scheint so. Und dann führte wohl eines zum anderen. Du hast verlangt – nein, schlimmer - du hast den Wunsch geäußert, dass ich bei Silia bleiben soll, ohne zu sagen, was du denkst und fühlst. Und ich kann dir nun einmal keinen Wunsch abschlagen.“
 

„Also bleibst du bei mir? Bei uns?“ Wieder senkte er den Kopf. „Ich entbinde dich auch aller Versprechen, die du mir gegeben hast.“ Dann wurden seine Worte immer leiser. „Ich dachte nur, dass wenn ich dich schon entbehren muss, dass es ihr dann auch was bringen muss. Dass sie nicht das Gefühl haben muss, dass du sie wegen mir verlässt, wenn sie dich braucht.“
 

„Hey. Es ist ja nicht so als würde ich heute noch so lange wie früher für die Strecke brauchen.“, schmunzelte er. „Ich kann sie ja häufig besuchen fliegen und trotzdem viel bei dir sein. Schadet der Ausdauer nicht. Und Lesley dürfte sich freuen, dass ich fleißig weiter trainiere.“

Eine tiefe Ruhe ergriff Mimoun. Er durfte bleiben. Er war nicht an die Wünsche anderer gekettet und konnte selbst entscheiden. Und er wusste genau, was er wollte. Sanft nahm er Dhaômas Gesicht in seine Hände.

„Ich liebe dich dafür, dass du dich für Silia zurücknehmen würdest, obwohl sie dir so viel Kummer bereitet hat.“
 

Wo sie schon mal dabei waren, Missverständnisse aufzuklären, konnte er dieses auch gleich klarstellen. „Es ist nicht so, dass ich sie nicht mag, weil sie mir Kummer bereitet. Sie verhält sich nur dir gegenüber genau wie meine Mutter gegenüber meinem Bruder und mir. Das gefällt mir nicht.“ Dhaôma zuckte mit den Achseln. „Weißt du, ich will immer noch, dass sie mich anerkennt. Ich will doch so gerne noch einmal in dein Dorf.“
 

„Ich sagte doch, sie bereitet dir Kummer.“ Mimoun seufzte. „Und du musst wirklich dringend vorbeisehen. Die kleinen Plagen sind furchtbar am Quengeln. Vor allen diejenigen, die nicht das Glück hatten, dich in Addars Dorf zu treffen. Schließlich ist es schon Jahre her, dass du es ihnen versprochen hast. Wenn ich mich nicht verzählt habe, wird das jetzt der dritte Winter.“
 

„Ich weiß.“ Das war noch so eine Sache. Er hatte es versprochen, er würde es halten.

„Mimoun, was meintest du damit, dass du ein Chaos mit Gefühlen hast? Dass ich dich… überrumpelt habe mit einer Bitte. Habe ich da auch etwas missverstanden? Du hast gesagt, dass du nicht mehr weißt, was du denken sollst. Ist das auch meine Schuld? Weil ich dich mit meinen falschen Rückschlüssen in die Ecke getrieben habe?“
 

Der ohnehin dunkle Hautton verdunkelte sich noch um einige Nuancen. Mist.

„Ich kann mich nicht erinnern.“ Kurz stockte er und wandte den Kopf ab. Aber er zwang sich weiter zu reden. „Ich weiß nicht mehr, wann ich meiner Mutter das letzte Mal gesagt habe, dass ich sie lieb habe. Nicht in einem Brief geschrieben, sondern gesagt. Und das letzte Treffen war bei Fiammas Adoption. Ich habe sie gehen lassen. Ich habe nichts gesagt, sie nicht umarmt, überhaupt nicht reagiert. Und ich bereue es zutiefst. Ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Ich kann ihr nicht mehr sagen wie viel sie mir bedeutet. Ich bin zu spät gekommen. Nur wenige Tage. Es haben nur wenige Tage gefehlt. Wenn Lesley uns früher hätte gehen lassen, wenn ich sofort in mein Dorf geeilt wäre, vielleicht hätte ich sie noch einmal sehen können. Und dann dieses Missverständnis wegen der Überwinterung. Ich wollte bei dir bleiben. Du bist mir so unglaublich wichtig und weder will ich dich allein lassen, noch will ich jemals von dir getrennt sein. Und doch hast du mich weggeschickt. Als würdest du mich nicht mehr brauchen. Du hast dabei sogar gelächelt. Die Wunden waren noch nicht verheilt und schon hast du neue geschlagen. Ich weiß, dass du das nicht wolltest. Du wolltest das Beste für mich. Aber es war das genaue Gegenteil. Ich brauche dich, mehr als du vielleicht ahnen magst.“
 

Mitleidig legte Dhaôma die Arme wieder um Mimoun und streichelte seinen Kopf. Er konnte sich gut vorstellen, wie diese Last auf ihm ruhte, wie er sich dafür schämte, seine Mutter nicht mit lieben Worten bedacht zu haben, bevor sie gestorben war.

Aber der Rest. „Ich freue mich, dass du das gleiche denkst wie ich.“, flüsterte er.
 

Verzweifelt presste der Geflügelte die Lippen zusammen. Nein. Das taten sie nicht. Er hatte Dhaôma ja nicht alles erzählt. Ihm nichts von der tiefen Zuneigung zu ihm verraten. Wie sehr er sich diesen Kuss ersehnt und Angst vor der darauf folgenden Einsamkeit gehabt hatte.

Vielleicht brauchte Dhaôma ihn ja noch. Aber wie Leoni befürchtet hatte, würde Mimoun diese Tatsache vielleicht bald nicht mehr genügen. Er spürte es. Wie die Liebe zu seinem Magier aufblühte mit jedem Lächeln, dass ihm dieser schenkte, wie er jede noch so flüchtige Berührung suchte und genoss.

Damit er Dhaôma nicht ganz alleine ließ mit dessen Satz, brachte er ein abgehaktes Nicken zustande.
 

Dieser schob das Nicken und die schmale Lippenlinie auf die Trauer um seine Mutter und umarmte ihn erneut. Er war irgendwie glücklich. Jetzt hatte er nicht mehr das Gefühl, von Mimoun verdrängt zu werden, nur zweite Wahl zu sein. Wie früher fühlte er sich von ihm anerkannt und das freute ihn wie toll.

„Jetzt müssen wir nur noch einen Ort finden, an dem wir bleiben können. Oder wir leisten tatsächlich Überzeugungsarbeit bei den Magiern in Richtung Mittag, wo es wärmer ist. Falls es dort welche gibt.“
 

„Huh?“ Völlig aus dem Konzept gerissen, sah er wieder auf. „Du willst also tatsächlich mitten im Winter bei denen antanzen?“ Erschöpft rieb er sich über die Stirn. „Wenn es sein muss. Aber nur solange ich in der Nähe bin, verstanden? Ich dulde keine Alleingänge. Ich werde mich nicht zeigen, aber ich will ein Auge darauf haben.“
 

„Aber es wäre doch hilfreich, wenn du dich zeigen würdest. Mit Lulanivilays Hilfe können sie dir auch nichts tun, also kann ich auf dich aufpassen, aber du bist der beste Beweis dafür, dass Hanebito nett sein können und nicht alle kriegerisch sein wollen.“ Er streckte beide Arme seitlich in die Höhe. „Und wenn wir das machen, was du vorgeschlagen hast, dann sind es auch nicht genug, um uns was anzutun, sondern einzelne, die die Kunde weiter tragen können. Wenn wir es machen wie bei den Hanebito, die nach und nach begreifen konnten, dass ich nicht böse bin, dann haben wir vielleicht eine Chance, alle zu überzeugen, ohne dass wir uns in Gefahr begeben.“
 

„Und wenn sie Lulanivilay angreifen? Du hast gesagt, dass Magier Drachen gejagt haben. Wenn er oder ich gleich von Anfang an dabei sind, endet das nur in einer ähnlichen Situation wie in Fiammas Dorf.“, wandte er ein. „Die Ehrlichkeit ihrer Absichten brauchen wir nicht in Frage zu stellen. Es gäbe dafür niemand Besseren als Tyiasur, um uns vor Schaden zu bewahren.“ Er hörte ein sanftes Grollen in seinen Gedanken und lächelte. Sein Blick glitt über die Umgebung auf der Suche nach seinem kleinen Freund. Er konnte ihn nicht sehen, aber er wusste einfach, dass er sich in dem See befand.
 

„Was hat Tyiasur damit zu tun?“, fragte Dhaôma aus der Bahn geworfen. Ihm wollte sich nicht recht erschließen, wie der kleine Blaue sie vor Schaden bewahren sollte, wo er doch nur sprechen konnte. „Aber das mit den Magiern ist einfach. Drachenjäger waren die Spezies, die am schnellsten gestorben ist. Sie waren hoch spezialisierte Kräfte, die nichts anderes getan haben. Solche gibt es jetzt nicht mehr. Das ist schon mehr als zweihundert Jahre her. Und wenn es nur wenige Magier sind, die wir besuchen, dann haben sie einfach keine Chance.“ Seine Stimme wurde ein wenig unsicher. „Oder meinst du nicht?“
 

„Öhm.“, war seine Reaktion auf diesen Redeschwall. Und schließlich behalf er sich mit einem ungelenken Fingerzeig Richtung See und einer Rückkehr zu dem Anfangsthema. „Tyiasur kann Gedanken lesen. Hab ich das nie erwähnt? Wenn er in den Gedanken der Magier irgendwelche Anzeichen für Hinterhalte entdeckt, kann er es uns mitteilen.“
 

„Ai.“ Deswegen also hatte er manchmal das Gefühl, Tyiasur könne ihn komplett durchleuchten. „Nein, hast du nicht erwähnt. Ich freue mich aber, dass Lesleys Vorwürfe damit nichtig sind. Das ist eine wundervolle Fähigkeit. Und uns sehr nützlich, wenn er bereit ist, uns damit zu helfen.“ Er seufzte. Damit wurde es um so vieles einfacher, Mimoun sicher durch diese Begegnungen zu führen. „Ich habe doch erzählt, dass ich schon damit angefangen habe, den Jagmarr die Tatsache näher zu bringen, dass es wieder Drachen gibt.“ Er lachte. „Sie haben uns angegriffen, aber ihre Angriffe waren kaum der Rede wert im Vergleich zu denen der anderen Drachen. Und wenn wir behutsam sind, dann sollte es uns möglich sein.“

Schwach legte er seine Stirn gegen Mimouns Schulter. Er fühlte sich so richtig ausgepowert.
 

Dunkel erinnerte er sich an den Nebensatz, in dem dieses Thema erwähnt wurde. Und irgendwie fühlte er sich verraten. Dhaôma war bei den Magiern gewesen, war, wie er nun erfuhr, von ihnen angegriffen worden. Und Mimoun war nicht da gewesen, um ihm beizustehen.

Energisch schlang er seine Arme um seinen Freund und ließ sich rücklings ins verdorrte Gras fallen, zog ihn mit sich. Anschließend rollte sich der Geflügelte auf die Seite, einen Flügel als Schutz für Dhaôma gegen den kalten Boden unter ihm, den anderen zur Abschirmung gegen äußere Einwirkungen über ihnen ausgebreitet.

Er wollte nicht schon wieder Wut in sich zulassen. Es war für den Magier sicher nicht einfach, von seinen eigenen Leuten angegriffen worden zu sein. So etwas war nie leicht. Das wusste er aus eigener Erfahrung.

Müde schloss er die Augen. Zu viel war heute geschehen. Zu viele Emotionen, die ihm seine Kraft raubten. Seine Nase gegen Dhaômas Brust gedrückt, stieß er die Luft mit einem tiefen Seufzen aus.
 

Erschrocken hatte Dhaôma aufgekeucht, jetzt aber lachte er leise. Manchmal war Mimoun wie ein Kind so stürmisch. Liebevoll streichelte er ihm durch die Haare. „Schlaf ruhig.“, flüsterte er. „Ich bin da und pass auf dich auf.“
 

„Mhm.“, nuschelte der Geflügelte und döste weg. Er schlief nicht. Er befand sich in einer Art schwebendem Zustand, umgeben von Wärme und Wohlsein. Entspannt und im Halbschlaf strich er seinem Magier an der Seite entlang.

Und dann war er schlagartig wach.

„Ka…kalt.“, wimmerte eine zittrige Stimme in ihren Köpfen. Tyiasur hatte sich wieder aus dem See getraut, nachdem sich der Sturm der Gefühle bei seinen Freunden endlich wieder gelegt hatte. Zwar war es auch im Wasser nicht sonderlich warm gewesen, doch die kühle Umgebungsluft entzog dem kleinen Körper auch noch den letzten Rest Wärme. So schnell er konnte, hatte er sich zwischen die Warmblüter gedrängt.

Erschrocken hatte sich Mimoun weggewälzt. Seine instinktive Flucht nach oben war durch das Gewicht auf seinem Flügel vereitelt worden. Nun drehte er sich wieder zurück und presste den Wasserdrachen fest an sich.

„Meine Frostbeulen.“, lachte er sanft, nachdem sich der Schreck gelegt hatte.
 

Auch Dhaôma hatte sich erschreckt, aber er hatte wesentlich schneller reagieren können als der schläfrige Mimoun. Jetzt lachte auch er, selbst wenn die Gänsehaut über seinen Rücken kroch. „Na, na, Tyiasur. Ist doch kein Wunder, wenn du so lange im Wasser bleibst, das demnächst frieren wird.“ Das war etwas, was er selbst schmerzhaft lernen musste, als er den ersten Winter draußen geblieben war. „Vilay, kommst du auch kuscheln?“

Die Erde unter ihnen bebte leicht, als der große Drache sich erhob, herübertapste, sich zusammenrollte und weiterschlief. Er befand diese Frage einer verbalen Antwort wie so oft für unwürdig. Immerhin nahm er dem Wind die Kraft und sorgte so auf seine Weise für Wärme.
 

Am nächsten Tag flogen sie weiter. In der Ferne zogen die letzten Inseln vorbei, unter sich sahen sie die großen Städte der Magier. Wie zum Schutz vor Gefahren aus der Luft waren sie immer in dichten Wäldern erbaut oder in Tälern. Warum, wenn der Krieg zuvor nicht bestanden hatte? Jedes Mal, wenn sie über eine der Städte flogen, ging Lulanivilay tiefer, weil Dhaôma der Meinung war, dass die Magier sich an den Gedanken besser früher als später gewöhnen sollten. Und offenbar hatte sich im letzten Monat die Kunde über die Rückkehr der Drachen schon verbreitet, denn nicht ein einziger Flammenstrahl oder Eisschauer wurde auf ihn geworfen. Die Leute jubelten sogar und kamen aus den Häusern, wenn der große, rotgrüne Leib darüber glitt. Es war, als wäre die Stimmung gekippt. Niemals hatte Dhaôma erlebt, dass Magier nicht angriffen, wenn etwas aus der Luft kam. Dennoch landete er nicht und machte auch keine Anstalten, ihnen zu winken oder sie zu begrüßen. Er würde sich an die Absprache mit Mimoun halten und erst einzelne Gruppen ansprechen.
 

Weiter oben beobachteten grüne Augen immer die Situation. Er blieb in höheren Luftschichten, um nicht entdeckt oder nur für einen Vogel gehalten zu werden. Auch wenn Mimoun wusste, dass er aus der Höhe nichts ausrichten konnte, sollten sie es tatsächlich wagen anzugreifen, war seine volle Aufmerksamkeit auf die Menschen in den Städten gerichtet. Und immer stupste ihm ein völlig träger Wasserdrache an die Wange. Der Kleine musste ihn mit der Zeit immer weniger beruhigen. Es geschah ihnen nichts und das ließ ihn immer entspannter mit der Situation umgehen.

Je weiter sie nach Süden kamen, desto mehr veränderte sich die Landschaft. Die Wälder wurden lichter und weniger zahlreich. Desto wärmer wurde es aber auch und die Drachen begannen sich wieder wohler zu fühlen.

Die Nacht verbrachten sie auf freier Fläche im Schatten eines Waldes unter sternenklarem Himmel. Nun, da die Tage so kurz geworden waren, konnten sie auch nicht mehr so weit reisen, bevor die Nacht sie wieder einholte, was ihnen im Gegenzug aber mehr Zeit für einander schenkte.
 

Aber sie wollten noch ein wenig weiter nach Süden. Keiner wusste, wie weit der Winter vordringen würde, und sie wollten sicher sein, dass sie nicht gezwungen waren, ihre Basis zu verlegen.

Und dann hörten sie das leise Sirren von Flügeln. Selbst Lulanivilay hob seinen Kopf, um zu sehen, wer sich da zu nähern wagte. Es waren Hanebito. Fünfzehn und allesamt in Rüstung.

Dhaôma stand auf, ließ Mimouns Hand los und stellte sich zu seinem Drachen, um mögliche Angriffe abzuwehren. Wurden sie angegriffen?
 

Auch der Geflügelte erhob sich. Er fühlte sich nicht bedroht. Warum auch? Die meisten wirkten noch recht jung. Und so übermütig die Jungen auch waren, selbst sie würden nicht so verrückt sein, einen Drachen anzugreifen.

Ein Blick zu Tyiasur bestätigte seinen Verdacht. Niemand von ihnen hatte negative Gedanken. Vielleicht Verwirrung und Misstrauen, aber nichts, was eine Bedrohung für sie darstellte.

Also widmete er sich wieder der Betrachtung der Neuankömmlinge. In Begleitung der ganzen Jungspunde befanden sich zwei ältere. Einer kam ihm wage bekannt vor. Woher nur? Es fiel ihm wieder ein, kurz bevor sie landeten. Diese Narben, der ernste Blick. Er hatte sich nicht verändert.

„Himmel. Na, das kann ja was werden.“, seufzte er. Mit Kekaras war nicht gut Kirschen essen. Der hatte so viel Humor wie eine Zitrone.

Dafür hatte er aber auch die besten Schüler abbekommen. Für irgendetwas musste er wohl ernsthaft bestraft worden sein, dachte er feixend.

„Aylen.“, begrüßte er fröhlich das Mädchen, das inmitten der Jungentruppe landete.
 

Die Hanebito hielten gebührenden Abstand zu Lulanivilay und Dhaôma, der sie mit einem Winken und einem beruhigenden Lächeln begrüßte. Aylen kannte er. Und Rai und Thatos kannte er ebenfalls. Sie schienen auch keine wirkliche Angst zu verspüren. Aylen fiel Mimoun sogar um den Hals und ignorierte den kleinen schlangenhaften Drachen einfach, der sich im letzten Moment in die Luft über seinen Schultern rettete.

Dann hob einer der älteren Männer zu sprechen an. „Ich sehe, ihr seid ziemlich weit gekommen. Mimoun, wolltest du nicht zur Insel Addar Marals, um deinen Freund abzuholen? Wie kommt es, dass er schon hier ist? Gab es Änderungen der Pläne?“ Das Misstrauen stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.

Der andere rollte mit den Augen. Es war ein stämmiger, kleiner Mann mit schmalen Gesichtszügen und gut ausgebildeten Muskeln. „Du hast die Gerüchte doch gehört, Kekaras. Er fliegt wie der Wind und wir haben jetzt drei Stunden gebraucht, bis wir den Drachen und seinen Reiter eingeholt haben.“

Der Mann namens Kekaras schnaubte unwillig, da näherte sich Dhaôma Thatos, Rai und Aylen. „Es tut gut, euch wieder zu sehen. Ich habe mir Sorgen gemacht.“

„Kaum zu glauben, nachdem du jetzt fast zweieinhalb Jahre nicht bei uns warst, aber ich sehe, das hatte seine Gründe.“ Rai nickte anerkennend in Richtung Lulanivilay, was Dhaôma strahlen ließ.

„Darf ich vorstellen? Lulanivilay. Er ist seit einem Jahr mein Freund. Hey, Vilay, komm her und begrüße sie.“

Schwerfällig erhob sich der Drache, was einige der Krieger zurückweichen ließ. Dicht hinter Dhaôma blieb er stehen, senkte den Kopf und betrachtete sie auf Augenhöhe. „Sie sehen verängstigt aus.“, stellte er fest.

„Das ist nicht das, was eine Begrüßung ist.“

„Richtig.“ Der Drache betrachtete sie ein weiteres Mal, dann legte er sich nieder. „Willkommen an unserem Lagerplatz. Setzt euch, esst, es gibt Hirsch.“

Bei den entgeisterten Gesichtern, angesichts der neutral klingenden, nicht gerade freundlich hervorgebrachten Worte, hätte Dhaôma beinahe gelacht. „Er hat Recht.“, lud er mit einer Geste ein, sich dazuzugesellen.
 

Er hatte sich wirklich kein Stück verändert, seufzte Mimoun innerlich. Auch er machte eine einladende Geste und hob dann den Arm leicht, damit Tyiasur wieder auf seiner Schulter Platz nehmen konnte. Mimoun wandte sich um und kehrte zu ihrem Lagerplatz zurück.

„Nein, es ist nicht leichtsinnig. Ich brauche die Rüstung nicht, wenn ich unter Freunden bin.“, antwortete er auf die von Tyiasur übermittelten Gedanken Kekaras. Der junge Geflügelte wandte sich halb um und funkelte Kekaras an. Dunkel erinnerte er sich an die Anweisungen von damals, aber er war auch nicht mehr der Grünschnabel von einst. Mit einem spöttischen Lächeln kraulte er Tyiasur am Kinn.

„Hat er auch einen Namen?“, fragte Aylen, die an seine Seite geeilt war, und machte ihn wieder auf sich und damit auch auf seinen Fehltritt aufmerksam.

„Ah. Entschuldigt. Das ist Tyiasur. Tyiasur, du kennst ja ihre Namen bereits.“ Diese Bemerkung gab so wunderbare verwirrte Blicke. Aber er erklärte es nicht. Das Spiel konnte sicher noch lustig werden.

„Er ist hübsch.“, befand das Mädchen und streichelte den blauen Drachen ohne Scheu – oder vorher zu fragen.
 

Die Freunde von damals gesellten sich tatsächlich ohne Probleme ans Lagerfeuer, aber die anderen hatten durchaus Bedenken. Seltsamerweise der kleinere der älteren nicht. Er trat einfach neben Dhaôma und bedachte ihn mit nachdenklichen Blicken.

„Du bist also der Junge – junge Mann, der versucht, unseren Kampf zu beenden.“, stellte er schließlich fest. „Ich frage mich ernsthaft, wie du auf diesen seltsamen Gedanken gekommen bist.“

„Ist es so seltsam, Frieden zu wünschen?“, fragte Dhaôma, während er sich zurück vor das Feuer setzte.

„Nicht unbedingt. Ich finde es eher seltsam, dass du dich unter so vielen von uns so frei und ungezwungen bewegen kannst und auch noch erfreut bist, einige davon zu sehen. Nimm das nicht persönlich, aber ich bin das nicht so richtig gewöhnt.“

„Das ist schon in Ordnung.“ Der Magier wandte sich an seinen Hanebito und fragte ihn, ob er vielleicht das Fleisch zerteilen wolle, da er das nicht mehr konnte, seit sein Messer verschollen war. Dann erfragte er die Namen derjenigen, die er nicht kannte. Lulanivilay hatte wieder die Augen zugemacht. Er hatte Schlaf nachzuholen.

„Mein Name ist Nihan.“, sagte der Krieger und stellte dann nach und nach alle vierzehn Hanebito vor, die sich langsam aber sicher vorwagten. Aylens Mut überzeugte sie, dass sie nicht solche Hasenfüße sein sollten. „Und eigentlich sind wir gekommen, um euch auf unsere Trainingsinsel einzuladen. Kaley ist der Meinung, Mimouns Training wäre überfällig und ein echter Drache könnte unsere Truppe auch ein wenig fordern.“

In sich spürte Dhaôma einen Stich. Dass Kaley sich an das Versprechen erinnerte, Mimoun zu trainieren, aber seines vergessen hatte, dass er sich nicht auf eine Seite der Kämpfe stellen würde, kränkte ihn. „Was meinst du, Mimoun? Gehen wir? Ich will aber von vornherein klarstellen, dass ich Lulanivilay nicht dazu zwingen werde, etwas zu tun, was ihm widerstrebt, also müsst ihr ihn selbst fragen, ob er gegen euch fliegen möchte.“
 

Dessen grüne leuchtende Augen waren Antwort genug. Sich gegenüber den anderen zu beweisen, ihnen zu zeigen, wozu er nun fähig war? Was war denn das bitte für eine Frage? Das verstand sich doch von selbst.

Was ihn aber zu einer Frage brachte? Oder zu mehreren. „Warum kommt ihr mit einer kompletten Armee, um eine einfache Einladung zu überbringen?“, wollte der junge Geflügelte wissen.

„Es gab ein paar Freiwillige und es ist ein gutes Ausdauertraining.“, kam die knurrige Antwort des Vernarbten. „Und bei Bestien weiß man nie.“

Mimouns Blick wanderte bezeichnend zwischen dem schlafenden großen Drachen und dem mit Aylen schäkernden kleinen Drachen hin und her. „Oh ja. Gefährliche Bestien. Es ist Tag für Tag ein neuer Kampf, sich gegen sie durchzusetzen.“ Seine Stimme troff vor Sarkasmus.

Tyiasurs Kopf zuckte herum und er fauchte, während er sich optisch größer machte. Er blähte sich nicht auf, sondern stellte alle Stacheln senkrecht und spannte die Häute dazwischen. Sein Reiter blieb völlig gelassen. „Und Vorsicht. Tyiasur hat ein feines Gespür für die Leute. Wie du bereits festgestellt hast. Eine gefährliche Bestie.“, zog er das vorletzte Wort übertrieben in die Länge und fing sich einen schmerzhaften Ellenbogenstoß des Mädchens ein.
 

Dhaôma lachte. Mimoun war in seinem Element, verstand er es doch fabelhaft, mit seinen ironischen Sprüchen alle gegen sich aufzubringen. Inzwischen aßen einige schon von Lulanivilays Beute und nicht wenige wunderten sich über die zerschmetterten Knochen. Als Dhaôma ihnen die Jagdmethode erklärte, starrten sie den Drachen mit anderen Augen an. Wie unlogisch, wenn man solche Klauen hatte.

Irgendwie war die Stimmung angespannt bis schläfrig. Die Rekruten waren erschöpft von dem langen Flug, die einzigen, die redeten, waren Aylen und Nihan. Während die eine sich mit Tyiasur beschäftigte und Mimoun über seine Schwester ausfragte, interessierte sich Nihan mehr für diesen seltsamen Magier, über den er schon so viel gehört hatte. Er fand die Gerüchte bestätigt, als Dhaôma als Beilage die Erdbeeren für Mimoun wachsen ließ, vor allem, da er genug hochzog, um alle damit zu versorgen. Sein Umgang mit dem jungen Geflügelten, der einer der vielversprechendsten Rekruten gewesen war in seinem Jahrgang, war gelinde gesagt überfreundschaftlich. Und er ging auf die Späße Aylens und Thatos’ ein, die ihn neckten, weil er sich so lange um die Insel herumgedrückt hatte. Und am Ende des Tages, als die meisten von ihnen schon schliefen, legte er sich wie selbstverständlich zu Mimoun und schlief an diesen und den Drachen gekuschelt, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres auf der Welt. Seufzend schüttelte er den Kopf.

Und wurde am nächsten Morgen von eben jenem Magier geweckt. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, aber er war der einzige, der schon auf den Beinen war. Und fragte, wann sie zu der Insel fliegen sollten und ob etwas zu essen gebraucht wurde. Was für ein Schreck am Morgen, einen Menschen ohne Flügel gleich als erstes zu sehen.

Stöhnend wegen der unbequemen Nacht richtete er sich auf und kratzte sich am Kopf. „Sag mal, findest du es nicht seltsam, direkt in die Höhle des Löwen zu fliegen? Direkt zu den Kriegern der Geflügelten. Das ist in deiner Position doch sicher nicht so einfach.“

„Wieso? Ich glaube nicht, dass mir jemand etwas tut. Der Hohe Rat hätte mir sonst sicher verboten, dorthin zu gehen.“

„Ich verstehe es nur nicht. Ich würde nie ins Kriegslager der Magier gehen.“

„Da haben wir was gemeinsam. Ich auch nicht mehr.“ Der junge Mann ging zu Rai und Aylen, um auch sie zu wecken. „Also, was darf es zum Frühstück sein?“

Also durfte er diese unheimliche Macht ein weiteres Mal bewundern. „Trauben? Pflaumen?“

„Gerne.“ Und schon wühlte er in einem kleinen Lederbeutel, während um ihn herum nun nach und nach alle wach wurden. Warum waren die Wachen bloß so unvorsichtig in seiner Nähe? Spürten sie etwa auch keine Gefahr von ihm ausgehen?
 

„Wurde der See bei der Insel auch besiedelt?“, fragte Mimoun in das morgendliche geschäftige Treiben hinein. Missmutig verzog er das Gesicht. In Gedanken ging er ihre Position, ihren Weg und den ungefähren Standpunkt der Insel durch und kratzte sich dann am Hinterkopf.

„Bevorzugt sonst noch jemand Fisch zum Frühstück?“, fragte er in die Runde. „Ich geh kurz welchen organisieren.“ Als sich ihm zwei anschließen wollten, winkte er ab. „Das würde zu lange dauern. Aber ich bring was mit. Bis gleich.“

Er verabschiedete sich von Lulanivilay mit einem leichten Klopfen gegen den Hals und einem letzten versichernden Blick zu Dhaôma. Er glaubte nicht, dass irgendjemand ihm schaden würde. Dennoch. Ein Rest Unsicherheit blieb.

Schon nach wenigen Augenblicken war er hinter den Baumwipfeln verschwunden, aber schon jetzt hatten die Geflügelten die Geschwindigkeit bewundern dürfen, zu der er fähig war.

Eine halbe Stunde später war er dann auch schon zurück mit seinem Teil des Frühstücks.
 

Sie kriegten sich nicht mehr ein. Das Gerede ging solange, bis Mimoun wieder da war, dann bestürmten sie ihn, wie er das mache und warum er das könne. Sie waren begeistert und wollten wissen, ob sie das auch lernen könnten, doch da musste Mimoun sie enttäuschen. Das lerne man nicht einfach so, dazu bräuchte es das Talent, seinem Traum nach Frieden zu folgen. Womit er nicht ganz Unrecht hatte, denn einen Drachen und damit Magie bekam ein Hanebito nur, wenn er ehrlich an Frieden interessiert war.

Auch während des Frühstücks redeten sie alle noch durcheinander und fragten Mimoun, was er noch alles könne. „Lasst euch überraschen.“, beruhigte sie Dhaôma eher schlecht als recht und warf seinem Begleiter einen verschmitzten Blick zu. Ja, er würde das gleiche Spiel mit ihnen treiben wie mit Asam. Und ja, er würde wieder gewinnen, wenn es nur ein einzelner war, der ihn herausforderte.

Nach dem Essen flogen sie los und Lulanivilay hatte Schwierigkeiten, die Geschwindigkeit der Geflügelten beizubehalten. Es war einfach zu langsam, deswegen stieg er höher, um auf den Winden zu gleiten. Damit sparte er nicht nur Kraft, er würde auch nicht schneller werden als sie.
 

I want to love you but I better not touch (don't touch)

I want to hold you but my senses tell me to stop

I want to kiss you but I want it too much (too much)

I want to taste you but your lips are venomous
 

[tarja turunen – poison]
 

_____________--
 

"Hey, Vilay, komm her und begrüße sie.“

„Sie sehen verängstigt aus.“, stellte er fest.

„Das ist nicht das, was eine Begrüßung ist.“

„Richtig.“ Der Drache betrachtete sie ein weiteres Mal, dann legte er sich nieder. „Willkommen an unserem Lagerplatz. Setzt euch, esst, es gibt Hirsch.“
 

ich liebe vilay... *ihn durchknuddelt*

er ist so herrlich unbedarft

Kekaras

Kapitel 51

Kekaras
 

Es war eine der größten Inseln, die Dhaôma bei den Hanebito gesehen hatte. Die Häuser waren noch größer als Lulanivilay und länglich und er bekam das Gefühl, dass man für den Drachen solch einen Unterstand hatte bauen wollen. Dann waren auf der Insel seltsame Gerätschaften, die er nicht verstand. Grünzeug wuchs dort bis auf ein paar Moose und Flechten keines. Die Insel wirkte tot, wenn man von den wuselnden Massen an Hanebito absah. Wie ernährte sich diese Insel?
 

Himmel, war das lange her. Wann war er hier das letzte Mal gewesen? Kurz bevor er Dhaôma zum ersten Mal getroffen hatte. Das war jetzt etwas über drei Jahre her. Und es hatte sich absolut nichts geändert. Noch immer diese strenge Ansammlung von Hütten, die jeden Anflug von Humor im Keim zu ersticken versuchte. Hier herrschte Disziplin vor und das spürte man.

Jeder sich hier auf der Insel befindliche Geflügelte strömte herbei, um den Drachen zu bewundern. Auch die auf kleinen Nachbarinseln Trainierenden unterbrachen ihre Tätigkeiten.

Als offensichtlich wurde, dass sie auf dem zentralen Platz zu landen gedachten, wurde ihnen eilig Platz gemacht. Es schien niemand das Bedürfnis zu haben, unter den Drachen zu geraten. Suchend glitt sein Blick über die Menge. Es hieß, Kaley wäre hier, und es wäre angemessen, das Ratsmitglied als einen der ersten zu begrüßen. Es war nicht schwierig, den alle um mindestens einen Kopf überragenden Geflügelten auszumachen, der sich breitschultrig durch die unsichere und neugierige Schar Grünschnäbel schob.

„Wieso hat das so lange gedauert?“, begrüßte er den jungen Drachenreiter, bevor dieser etwas sagen konnte.

„Ich freue mich auch, dass Ihr euch bester Gesundheit erfreut.“, erwiderte Mimoun mit einer leichten Neigung des Kopfes. „Und sämtliche Angaben verweigere ich zugunsten der Prüfung zukünftiger Drachenreiter.“
 

Langsam glitt Dhaôma von seinem Freund herunter und stellte sich neben ihn. Von da oben hatte er einen guten Überblick bekommen, aber er wollte sich nicht über die anderen erheben, indem er sitzen blieb. Dafür stellte er jetzt fest, dass hier eine ganz andere Atmosphäre herrschte als sonst auf den Inseln. Hier stank es nach Angst, Schmerz und Sehnsucht. Widerwärtig. Er zog sich zurück, bis er mit dem Rücken gegen Lulanivilay stieß. Dieser Druck war ihm unangenehm und nahm ihm die Luft zum Atmen. Es war fast wie die Lager seines Bruders am Rande der Stadt, die er heimlich beobachtet und doch nie betreten hatte.

„Hast du Angst?“, fragte Aylen neben ihm und er sah sie an. „Brauchst du nicht zu haben. Am Anfang hatte ich auch Angst, aber das hat sich gelegt. Sie werden dir nichts tun, wenn du dich zu wehren weißt.“

„Ich weiß mich nicht zu wehren.“

„Aber du hast Mimoun.“

Ob der gegen alle auf einmal ankam? Er bezweifelte es. „Ich habe keine Angst.“, sagte er schließlich verspätet. „Aber es gefällt mir hier nicht. Das ist kein Ort für mich.“

„Wahr. Es ist ein kriegerischer Ort, da wirkst du auch ziemlich fehl am Platz.“

Gequält lächelte er und straffte dann die Schultern, als Mimoun den Mann ansprach, den er schon einmal gesehen hatte. Das war also Kaley, Mitglied des Hohen Rates und zukünftiger Lehrer Mimouns. Aber irgendwie sah er nicht so aus, als könne er Mimoun noch viel beibringen. Oder schätzte er das nur falsch ein? Warum war Kaley so gealtert?
 

Es vergingen einige Augenblicke in Schweigen, in denen sich die beiden schweigend musterten. Als Kaley sich dann wieder rührte, war seine einzige Bewegung ein bezeichnender Wink mit der Hand. Er forderte Mimoun zu einem Tänzchen. Dieser wollte Tyiasur an Dhaôma abgeben, als sich ihm Kekaras in den Weg stellte.

„Du hast die Schlange…“ Ein wütendes Fauchen kam prompt als Reaktion. „…sicher nicht ohne Grund.“, fuhr der Krieger ungerührt fort und ging in Position. Kurz warf er einen versichernden Blick zu Kaley, doch dieser sagte nichts Gegenteiliges. Der Mann versicherte sich noch einmal, dass sämtliche Riemen seiner Rüstung saßen und dass die Klingen stabil waren, und stürmte auf Mimoun zu. Als dieser leichtfüßig auswich, war Kaley auch schon neben ihm und holte zum Hieb aus.

Tyiasur brauchte ihm dieses Wissen gar nicht erst zu vermitteln. Er sah es an ihrer Haltung. Diese beiden würden ernst machen. Das war nicht der Kuschelkurs, den er mit Asam immer betrieb.

Auch der Hieb des Ratsmitglieds ging ins Leere, als Mimoun mit einem Sprung mehrere Meter zwischen sich und die Gegner brachte. Den Platz dafür hatte er, denn schon bei der ersten Attacke Kekaras waren die Rekruten zurückgewichen. Abschätzig musterte der junge Drachenreiter seine Kontrahenten. Ein Blick, eine kurze geistige Verständigung mit seinem Drachen und Mimouns ganze Haltung änderte sich. Auch er würde seine Gegner nicht schonen.

„Lasst uns tanzen.“, forderte er und erwartete die nächsten Attacken.
 

„Jetzt wird es spannend!“, freute sich Aylen und stützte sich auf Rai, um besser sehen zu können. Oh, es hatte tolle Gerüchte gegeben und sie hatten ja schon gesehen, wie schnell Mimoun jetzt fliegen konnte. Und jetzt käme vielleicht sogar heraus, was er noch gelernt hatte.

„Du spinnst.“, maulte Rai.

„Nicht eifersüchtig sein. Mimoun ist doch Jadyas Schwarm, nicht meiner.“

Sie wuschelte ihm durch die Haare, während sich Dhaôma mit zusammengezogenen Augenbrauen gegen Lulanivilay lehnte. Diese beiden Männer waren unfair und das wussten sie auch. Sie wollten unbedingt wissen, wie viel Mimoun aushielt. Und auch wenn Mimoun gerne bereit war, seine Kräfte zu messen, es gefiel Dhaôma nicht. Wäre es nur das Spielen von Asam und Mimoun, hätte er nichts dagegen, aber das hier sah ernster aus. Dieses ewige Kämpfen ging ihm auf den Geist. Er wollte es doch beenden! Stattdessen stand er jetzt hier und sah untätig zu, weil er Mimoun nicht vorschreiben wollte, was er zu tun hätte. Wütend verschränkte er die Arme vor der Brust.
 

Die erste Zeit war Mimoun nur am Ausweichen. Tyiasurs Fähigkeit, Gedanken zu lesen, erleichterte ihm das enorm. Aber er durfte nicht immer nur fliehen. Das war nicht das, was er gelernt hatte.

Seine scharfen Augen beobachteten jede ihrer Bewegungen. Kaley war groß und breit, aber dennoch nicht wirklich schwerfällig. An sein Bewegungsmuster erinnerte sich Mimoun noch aus den drei Tagen Training während des Schneesturms. Kekaras dagegen war wendig und verließ sich zu sehr auf seine Rüstung. Bei ihm zählte Brutalität und einen Kampf in wenigen Sekunden zu beenden. Darüber hinaus bildeten sie ein gutes Team. Sie ergänzten sich wunderbar, deckten Lücken des anderen und ließen dem jungen Drachenreiter kaum Zeit zum Luftholen. Bald war der Junge mit dutzenden kleineren Schnitten bedeckt. Sie ließen ihm nicht viel Platz zum Ausweichen, da er sonst in die Attacken des anderen hineingesprungen wäre.

Als sich endlich eine Lücke zeigte, sprang Tyiasur Kaley mit Krallen und Zähnen voran ins Gesicht und schlang ihm den mit aufgestellten Stacheln bewährten Schwanz um den Hals. Mimoun sprang derweil gezielt in Kekaras nächsten Angriff hinein. Mit einem wütenden Knurren quittierte er die Krallen, die sich tief in seine Seite bohrten, und prallte mit seinem gesamten Körpergewicht gegen den erfahrenen Kämpfer. Das brachte diesen kaum ins Wanken. Mit einem halben Schritt nach hinten im richtigen Moment nahm Kekaras dem Anprall die Wucht. Aber Mimoun war nun zu dicht. Blitzschnell schoben sich seine Finger unter den Kragen der Rüstung und fuhren in den nun ungeschützten Hals, nur knapp an Halsschlagadern und Luftröhre vorbei. Keuchend zuckte er zusammen, als glühend eine Klinge über seine Brust fuhr. Mit dem Knie in der Magengrube des anderen brachte er sich wieder auf Abstand, packte die Hand, die ihn verletzt hatte, und renkte den Arm mit einem harten Ruck aus.

Schlitternd kam neben Mimoun ein blauer Leib zum Stillstand. An seiner Seite zog sich eine lange rote Spur entlang. Schreck und Sorge behinderten die Aufmerksamkeit des jungen Geflügelten und schon im nächsten Moment fand er sich am Boden wieder. Und Kaley ließ sich nicht so einfach hochstemmen. Er wog ein wenig mehr als Asam. Das Knie zwischen die Flügel des unter ihm Liegenden gestemmt, ergriff er ihn wie ein junges Fanras im Nacken und presste ihn auf den Boden.

„Du hast dich länger gehalten als erwartet.“ Ob das ein Lob war, wusste Mimoun nicht zu sagen, denn das Gewicht auf seinem Rücken blieb länger als nötig. Als Kaley endlich von ihm abließ und er sich schon auf Hände und Knie hochgestemmt hatte, traf ein Fußtritt Kekaras seine Rippen und schickte ihn wieder zu Boden.

„Genug.“, herrschte das Ratsmitglied den Krieger an, der eindeutig aufs Töten aus schien.
 

Die Rekruten waren still geworden. Das war einerseits dieser Demonstration von Gnadenlosigkeit zuzuschreiben, andererseits dem Drachen, der sich aufgerichtet hatte und nun in seiner vollen Größe mit ausgebreiteten Flügeln und mit vor Wut funkelnden goldenen Augen auf dem Platz stand. Aylen und ihr Geliebter waren ausgewichen, denn Dhaôma sah nicht so aus, als würde er Lulanivilay zurückrufen. Der Körper war angespannt und über das Kinn lief Blut aus einer Wunde an der Lippe, die er sich höchstwahrscheinlich selbst zugefügt hatte. Selbst das Wetter war umgeschlagen und zeigte sich nun stürmisch.

Dhaôma war nicht klar, was er da tat. Sein Wunsch, sich um Mimouns Willen zusammenzureißen, hatte ihn derartig in der Gewalt, dass seine Magie unterschwellig rumorte. Er hatte die Kontrolle nicht verloren, aber Lulanivilay verstärkte sie dennoch, so dass sie sichtbar wurde.

Bei dem Wort von Kaley, das den Kampf beendete, brauchte Dhaôma fast zehn Sekunden, bevor er sich bewegen konnte, so verkrampft war er inzwischen. Wie in Zeitlupe verlagerte er das Gewicht auf einen Fuß, begann zu laufen, während er sich zwang, seine Arme herunterzunehmen. Es war nicht weit. Mimoun war keine zwanzig Schritt vor ihm zu Boden gegangen, aber es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis er ihn erreichte.

Neben ihm stand Kekaras, aus dessen Augen Hass sprühte. Die Flügel weit aufgespannt, die Schultern gestrafft, die Hände zu Fäusten geballt schien er zu überlegen, ob er auf das hören sollte, was Kaley gesagt hatte.

„Hör auf.“ Dhaômas Stimme war ruhig und kalt und selbst in seinen eigenen Ohren klang sie fremd. „Ich warne dich nur jetzt. Mach weiter und ich zerstöre deinen ganzen Stolz.“

Die schwarzen Augen flackerten zu ihm hinüber und für einen Moment erwiderte Dhaôma den Blick, bevor er sich abwandte, um sich zu bücken. Tyiasur sah schlimmer aus als Mimoun, war die Wunde doch beinahe so lang wie sein Körper und recht tief. Er hatte einen Passierschlag eingesteckt, als er einen weiteren Angriff gestartet hatte. Gerade streckte er die Hand aus, um ihn zu berühren, da traf ihn ein Schlag ins Genick, der ihm beinahe die Sinne raubte. Im nächsten Moment hörte er ein tiefes, markerschütterndes Grollen, das die Worte Kekaras’ fast übertönte, der zornentbrannt forderte, er solle ihm keine Befehle geben. Noch bevor er sich fangen konnte, klebte Kekaras am Boden, über ihm ein acht Meter langer, grüner Drachen, dessen Augen rot waren vor Wut und der die Zähne fletschte, als wolle er ihn fressen. Eine einzige Pranke hielt den starken Hanebito zu Boden gepresst, die dolchartigen Krallen gerade so weit gebogen, dass er ihn nicht verletzte, aber dennoch so effektiv, dass der Mann weder die Arme noch die Beine wirklich bewegen konnte. Unruhig schlugen Flügel und Schwanz.

„Wie kannst du es wagen, Wurm, ihn mit deinen Händen auch nur zu berühren?!“, donnerte Lulanivilays mentale Stimme in allen anwesenden Köpfen. Es war das erste Mal, dass sie anders klang als neutral und desinteressiert. Die Krallen bogen sich weiter, dellten den Panzer ein, als Dhaôma sich fasste.

„Stopp, Vilay. Bitte.“ Er hielt sich den Kopf, weil ihn schwindelte. Es war lange her, dass er so geschlagen worden war. Kurz flackerten die Zeichen in seinem Gesicht, bevor es besser wurde und er wieder vernünftig sehen konnte. „Halte ihn einfach kurz fest.“

„Sicher.“ Lulanivilays Stimme war noch immer zornig, aber bei weitem nicht mehr so laut. Der Drache ließ Kekaras nicht aus den Augen, während Dhaôma sich nun um Tyiasur kümmerte. Der kleine Blaue wand sich unter den Schmerzen, bis er sie linderte. Die Wunde schloss sich zusehends.

„Was wirst du mit ihm machen? Ihn umbringen?“

„Ich töte nicht.“ Dhaôma sah zu Kaley auf, der sich nicht vom Fleck bewegt hatte. Offenbar hatte auch er Angst vor dem Drachen. „Aber ich halte meine Versprechen.“

Seine Finger legten sich auf Mimoun und wieder leuchteten die Zeichen in seinem Gesicht. Er war froh darum, dass ihm sein Drache half, denn er war sich nicht sicher, ob er Mimoun sonst so schnell wieder auf die Beine bekommen hätte. Zwei Rippen waren gebrochen, die Mittelhandknochen auf der linken Seite ebenfalls, von den Schnittwunden und einer durchstochenen Niere ganz zu schweigen. Es entflammte seine Wut erneut. War das hier nicht ein Übungskampf gewesen?

„Mimoun, geht es dir besser?“, fragte er, als die gröbsten Verletzungen verheilt waren.
 

Ein Seufzen entrang sich seinen Lippen, als er sich auf den Rücken wälzte. Ja, er fühlte sich besser, nun, da der tobende Schmerz vorbei war.

„Tyiasur.“ Keuchend schnellte der junge Geflügelte in die Senkrechte. Kaum war der Name ausgesprochen, war genannter auf seinem Schoß. „Alles in…“ Ein Nicken unterbrach seinen Satz und Mimoun entspannte sich mit einem sanften Lächeln. „Gut gemacht.“ Seine Finger blieben auf dem Kopf des Wasserdrachens liegen, als er sich Dhaôma zuwandte. Erschrocken registrierte er die Blutreste am Kinn des Magiers und Zorn wallte in ihm auf. Durch die Mauer aus Schmerz hatte er mitbekommen, dass Kekaras es gewagt hatte, ihn zu schlagen. Mimoun hob die Hand und wischte über das Rinnsal. Seine Miene verfinsterte sich noch weiter. Niemand durfte seinen Magier schlagen. Niemand durfte auch nur daran denken!

„Du bist noch immer zu weich.“

Der junge Geflügelte wandte seine Aufmerksamkeit Kaley zu, der den Blick aber nicht von dem wütenden Drachen löste. „Weil ich ihn nicht getötet habe, als ich die Gelegenheit dazu hatte?“ Mimoun schüttelte den Kopf und erhob sich. Missmutig betrachtete er den langen Schnitt im Hemd. „Ich bin ein Drachenreiter. Ich töte, wenn es sein muss. Grenzen testen und Kräfte messen ist nichts, was mit dem Tod enden sollte.“

„Dennoch hättest du ihn kampfunfähig machen müssen. Er hat den Magier verletzt, weil du ihn nicht mehr aufhalten konntest. Und du lässt dich zu leicht ablenken.“ Nun löste er doch den Blick und ließ diesen über den kleinen Drachen gleiten. „Das ist etwas, das du noch lernen musst. Die Konsequenzen deines Handelns zu erkennen. Und bewusst in Kauf zu nehmen.“

„Ich werde niemals einen Freund opfern.“ Mimoun ballte die Hände zu Fäusten. „Ebenso wie ich jeden beschützen werde, der meine Hilfe braucht.“
 

Beruhigt erhob sich Dhaôma. Er konnte an diesem Gespräch sehen, dass es Mimoun besser ging. Sanft strich er noch durch die Haare, freute sich, dass dessen Moral immer noch so stark war, dann ging er zu seinem Drachen und dessen Opfer. Kekaras funkelte ihn wild an, aber in seinen Augen stand eine Wut, die Dhaôma zeigte, dass er nicht aufgeben würde.

„Wirst du dich entschuldigen?“

„Niemals!“, fauchte der Mann.

Der rechte Arm sah verdreht aus. Offenbar war das Knacken im Kampf keine Einbildung gewesen. „Das ist auch gut, dann werde ich jetzt mein Versprechen einlösen.“

Er hockte sich neben den Kopf des Mannes, direkt unter die Schnauze seines Drachens. Seine Hände legten sich auf die Brust zwischen die Krallen, dann leuchteten die Zeichen in seinem Gesicht auf. Es gab ein widerwärtiges Knacken, als der Arm in sein Gelenk zurücksprang, und Kekaras schrie auf vor Schmerzen.

„Warum tust du das, Freiheit?“

„Weil das ihn zum Krüppel machen würde.“

Dann erloschen die Zeichen auf seinem Gesicht, aber er blieb sitzen. Unter seinen Fingern begann die Rüstung grau zu werden. Das Leder unter dem Wachs begann zu bröckeln, bekam Risse und wurde porös. Bis es schlussendlich zerfiel.

Wortlos erhob sich Dhaôma, bedachte den Mann noch mal mit einem hochmütig-abfälligen Blick und ging dann zu Mimoun zurück. Hinter ihm bewegte sich Lulanivilay und ließ sein Opfer auch endlich los. Die Augen hatten wieder ihre gewohnte goldene Farbe, als er Mimoun anstupste.

„Himmel, du solltest deine Freunde besser auswählen.“
 

„‚Ich bin entrüstet.’, sprach der Krieger und stand nackt im Wind.“, prustete Aylen los und ging zu ihren Freunden, überzeugte sich lieber selbst von ihrem Wohlergehen. Der Rest der Rekruten hielt sich mit dem Lachen zurück. Einerseits fürchteten sie die Rache Kekaras, andererseits war da diese erschreckende Fähigkeit des Magiers.

„Er war nie mein Freund und das wird er auch nie werden.“, antwortete Mimoun derweil und kraulte die geschuppte Nase. Tyiasur kehrte auf seinen Platz auf seiner Schulter zurück.

„Du weißt, wie man den Zorn der Leute auf sich zieht.“, stellte Kaley fest, konnte das Grinsen aber nur schwer verbergen.
 

Derweil nahm Dhaôma Mimouns Hand. Er bezog den Kommentar nicht auf sich. „Tut mir Leid. Die Schnitte müssen bis morgen warten, bevor ich sie heilen kann.“ Er wirkte recht zerknirscht. Dass er Mimouns Wohlergehen hinten angestellt hatte, tat ihm im Nachhinein Leid, aber es hatte ihn gejuckt, diesen Grobian zu bestrafen.

Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine schnelle Bewegung und drehte sich gerade so, dass er Kekaras sehen konnte, wie er auf ihn zuschnellte. Und mitten in der Luft von Kaley einfach auf den Boden gedonnert wurde. Der vernarbte Anführer hatte einen seiner Arme gepackt, ihn herumgedreht und drückte ihn nun mit dem Gesicht voran auf den Boden. Es war eine derart fließende Bewegung gewesen, dass kaum jemand diese nachvollziehen konnte. „Du hast verloren, Kekaras. Gib dich damit zufrieden, dein Leben zu behalten. Du kannst in diesem Fall nicht gewinnen.“

Die Worte schienen den Mann allerdings nur noch mehr aufzuwühlen. Er wehrte sich heftig, sträubte sich und fluchte. Bis Kaley dem genervt ein Ende setzte. Mit einem gezielten Schlag beruhigte er den nackten Mann. „Also wirklich.“, brummte er. „Hey, ihr drei da. Bringt ihn weg.“, winkte er drei Geflügelte heran, denen er den Bewusstlosen überließ.
 

Nachdem sein ehemaliger Mentor weggebracht worden war, wandte er sich wieder Dhaôma zu. Erneut strich er dessen Kinn entlang und sein Blick wurde reumütig. „Ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee war, hierher zu kommen.“, knirschte er mit den Zähnen.

„Willst du dein Training etwa noch weiter nach hinten schieben?“

Verdutzt erwiderte Mimoun den strengen Blick Kaleys. „Entschuldigt. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass diese Möglichkeit noch besteht.“

„Wann habe ich erwähnt, dass ich unsere Abmachung gelöst hätte?“

„Geduld ist nicht die Tugend, für die Ihr bekannt seid.“, erwiderte der junge Geflügelte ungerührt. „Ihr sagtet selbst, dass ihr nicht ewig warten würdet.“
 

„Aber wäre es nicht gut, wenn er dich trainieren würde?“, fragte Dhaôma leise. „Der Zwischenfall hat uns ja gezeigt, dass wir bei unserem Plan nicht unbedingt in Sicherheit sind. Da wäre es nicht schlecht, wenn du dich auch gegen erfahrene Kämpfer zur Wehr setzen könntest.“

„Es wäre nicht schlecht, wenn du das ebenfalls lernen würdest.“, warf Kaley ein und warf Dhaôma derart aus der Bahn, dass er ihn völlig perplex anstarrte, den Mund noch immer geöffnet. „Schau nicht so ungläubig. Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der so schwach war wie du.“

„Ich will nicht kämpfen.“

„Wirklich?“ Eine Augenbraue hob sich und die Arme wurden verschränkt. „Dafür warst du aber ganz schön aufgebracht und hast ziemlich drastische Methoden gewählt, um dich zu verteidigen. Was wäre gewesen, wenn dein Drache nicht da gewesen wäre?“

„Vermutlich wäre ich jetzt tot. Vorausgesetzt, er hätte mich töten wollen.“ Unwillig verzog der Braunhaarige den Mund. „Aber ich bin immer noch der Meinung, dass der schmerzfreie Weg der bessere ist.“

Es krachte, als ein Blitz eine der Nebeninseln traf. Im nächsten Wimpernschlag prasselte Regen herab, gemischt mit Hagelkörnern. Die Hanebito flüchteten erschrocken in Richtung Häuser.
 

„Ist das dein Werk?“, fragte Mimoun überflüssigerweise und drängte seinen Freund in den Schatten einer der Hütten. Die Reue in seinem Inneren wuchs. Wahrscheinlich musste es furchtbar für ihn gewesen sein, diesem Kampf beizuwohnen. „Verzeih.“, murmelte er und rieb seine Nase am Hals seines Freundes.

„Los, kommt.“ Aylen stand im Eingang der gegenüberliegenden Hütte und brüllte gegen den Donner an. Hektisches Winken begleitete ihre Worte.

Der junge Geflügelte sah sich nach den Drachen um. Nachdem Tyiasur von einigen der größeren Hagelkörner getroffen worden war, hatte er sich unter Lulanivilay verzogen, der sich ebenfalls klein gemacht hatte, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Den Schmerz hatte der kleinere Drache wieder vergessen. Übermütig kurvte er in der hagelfreien Zone durch den sich bildenden Schlamm. Doch die Schicht war nicht dick. Sehr schnell stieß er auf Fels. Prompt fing er zu meckern an.

„Möchtest du bei Lulanivilay bleiben?“, wollte er von seinem Magier wissen, da Aylen noch immer in ihre Richtung gestikulierte.
 

„Nein. Und ich weiß nicht! Ich habe ihn nicht gerufen.“ Dhaôma rannte los und stolperte mit Schwung bei Aylen in den Eingang. Kurz nach ihm schoss Mimoun durch die Tür und rannte ihn über den Haufen, so dass sie übereinander fielen. Sie wurde von Hanebito teilweise mit Jubel, teilweise mit Gelächter empfangen. Thatos schlug ihm vergnügt auf den Rücken.

„Ihr habt euch eine echt tolle Zeit ausgesucht, uns zu besuchen. Normalerweise regnet es hier im Winter selten. Eher gibt es Schnee.“

„Ai.“ Dhaôma rieb sich den Kopf und stemmte sich hoch, kam aber nicht sehr weit. „Mimoun, geh von mir runter. Du bist schwer.“

Dann war Einel da, zog Mimoun hoch. „Der Kampf muss dich echt geschafft haben, wenn du mit deiner Wendigkeit nicht mehr ausweichen kannst.“
 

„Durftest du dich schon mal mit beiden gleichzeitig prügeln?“, gab der Angesprochene zurück. Und an Dhaôma gewandt, fügte er an: „Und ich kann nichts dafür, dass ich so schwer bin. Das sind alles pure Muskeln. Da lässt sich nichts mehr reduzieren.“ Er begann vergnügt zu grinsen. „Außerdem war es bequem. Du gönnst mir aber auch gar nichts.“

Im nächsten Moment stolperte er weiter in den großen Raum hinein, weil sich noch einer in die Hütte schob.

„Warum steht ihr hinter der Plane? Wartet ihr auf schönes Wetter?“, fragte die tiefe Stimme Kaleys. „Das dauert noch, ihr Grünschnäbel.“
 

Auch Dhaôma war weitergeschupst worden von dem Hünen und grinste. „Was ist so schlecht daran, an Wunder zu glauben?“

Rai zog ihn weiter und drückte ihn auf den Boden in einen Kreis, in dem die anderen der Hütte schon saßen. Es gab so furchtbar wenig Licht und eigentlich hätte Dhaôma unheimlich gern Leuchtmoos oder die leuchtenden Glockenblumen wachsen lassen, aber er hatte einfach nicht mehr die Kraft dafür. Lächelnd ergab er sich dem freundlichen Angebot und hielt plötzlich einen Becher mit Wasser in der Hand. Aylen setzte sich neben ihn, zog Rai zu sich und schon wurde auch für Kaley und Mimoun Platz gemacht. Und dann wurden sie abermals dazu genötigt, ihre Geschichte zu erzählen, was diesmal schon viel einfacher ging, weil die beiden jungen Männer ganz gut auf sich abgestimmt waren, so dass sie genau wussten, wer was zu erzählen gedachte. Immer mehr kamen dazu, bis keiner mehr in die Hütte passte. Sie platzte fast aus allen Nähten.

Nie hatte Dhaôma so eine Atmosphäre gekannt. Hier waren sie sofort willkommen. Er wurde nicht gefürchtet, was nach seiner Aktion vorher seltsam genug war, nein, sie behandelten ihn wie einen von ihnen. Er spürte, dass hier keine Abneigung gegen ihn herrschte, und erfuhr später, dass es daran lag, dass er es Kekaras heimgezahlt hatte. Bis auf Aylen wagte es kaum jemand, ihm die Stirn zu bieten. Sie bewunderten ihn dafür. Und sie bewunderten Mimoun dafür, dass er es geschafft hatte, so lange gegen die zwei stärksten Krieger zu bestehen. Selbst wenn er am Ende verloren hatte, schrieb man es der Tatsache zu, dass er die anderen nicht verletzen wollte. Sie hatten nicht mitbekommen, dass der Arm ausgekugelt gewesen war.
 

Bei diesem Wetter wurde nicht zugelassen, dass die beiden wieder verschwanden, und sie wurden ohne Widerspruch zuzulassen in dieser Hütte einquartiert. Wurde halt einfach noch ein wenig zusammengerückt.
 

Der nächste Morgen begann recht früh. Auch wenn sie nun Gäste beherbergten, hieß das nicht, dass das Training vernachlässigt wurde. Und Mimoun wurde gleich integriert. Erst als Rekrut, bald diente er nur noch als Prügelpartner. Er hatte seinen Spaß daran, die Jungen ins Leere laufen zu lassen. Seine Laune sank aber schlagartig, als er wieder seinem ehemaligen Mentor gegenüber stand. Nun ohne Rüstung und als einzelner Gegner bereitete er Mimoun kaum Mühe, ihn zu Boden zu schicken. Und der junge Geflügelte hielt sich nicht zurück. Der Ältere musste noch dafür büßen, dass er den Magier geschlagen hatte.

Gegen Mittag verabschiedete er sich, um für seinen Drachen Futter zu besorgen. Diesen nahm er aber nicht mit. Mimoun schärfte Tyiasur ein, Kekaras nicht aus den Augen zu lassen. Sollte er auch nur den kleinsten gedanklichen Hinweis geben, dass er Dhaôma schaden wollte, sollte er Lulanivilay Bescheid geben. Ein letzter abschätzender Blick zu Kekaras und er demonstrierte wieder seine Schnelligkeit.
 

Dhaôma hatte mit seinem eigenen Problem zu kämpfen. Kaley setzte seinen Vorschlag in die Tat um und zitierte ihn zum Kampf. Und weil er Angst hatte, diesen völlig unerfahrenen Kämpfer mit seinen rauen Methoden zu verletzen, suggerierte er Aylen als Gegnerin.

Mit mittelmäßigem Erfolg, wie er feststellte. Sie war so vorsichtig, dass man es kaum als Angriff bezeichnen konnte. Und Dhaôma wehrte sich nicht. Er wich einfach nur zurück, bis er gegen die Wand prallte.

Also wurde ein junger Mann gerufen, der viel versprechender war. Das Ende des Liedes war, dass er sich vor Dhaômas Rache fürchtete und deshalb absichtlich daneben schlug, was der junge Mann erstaunlich schnell herausfand, so dass er auch diesmal anbot, den Kampf einfach zu lassen.

Aber noch gab Kaley nicht auf. Er rief einen anderen Rekruten und diesmal funktionierte es. Zwei Schläge lang. Den ersten bekam der Magier mit voller Breitseite ab, den zweiten fing er mit irgendeinem dubiosen Kunststück ab, danach konnte sich der Mann nur noch in Zeitlupe bewegen und lief allmählich blau an. Bis Dhaôma ihn mit vielen Entschuldigungen entließ. Dhaômas Gegner sagte, er hätte sich plötzlich einfach nicht mehr bewegen können, weil die Luft dick wie Wasser gewesen wäre. Die Erklärung des Magiers zeigte auf, dass Wind, der sich nicht mehr bewegen wollte, eine effektive Verteidigung war, wenn man davonlaufen wollte.

Thatos war Dhaômas vierter Gegner. Und eine halbe Stunde später lag er lachend am Boden, weil Dhaôma ihn darum gebeten hatte, dass, wenn er schon ernst machen musste, doch wenigstens die Krallen einziehen sollte. Als wäre er eine Katze!

Und die ganze Zeit hatte Kaley das Gefühl, der Magier tat das, um seine Gefühle nicht zu verletzen. Himmel, was sollte das denn?

Als er beim fünften Gegner reflexartig zurückgeschlagen hatte, weil er sich erschrocken hatte, war auf der staubigen Lederjacke Unkraut gewachsen.

„Schluss.“, rief er und rieb sich über sein verbleibendes Auge. „Du bist eine Katastrophe, Magier. Bleib einfach bei deinem Leben als Friedensstifter und verlass dich darauf, dass deine Aufpasser immer bei dir sind.“ Seufzend klopfte er dem Braunhaarigen auf die Schulter, wandte sich ab und suchte sich eine vernünftig zu trainierende Gruppe Hanebito.
 

Schnell kehrte der junge Geflügelte von der Jagd zurück. Das Bild, das sich ihm bot, war atemberaubend. Mimoun musste so sehr lachen, dass er schließlich keine Luft mehr bekam. Das war dann wohl der zweite Kampflehrer, den er verschlissen hatte. Und er blieb nicht der Einzige, der das Schauspiel mit Begeisterung verfolgte. Immer mehr sahen dabei zu. Darüber waren die anderen Meister absolut nicht begeistert. Dies hier war Training für den Ernstfall. Sie sollten es gefälligst genauso ernst nehmen. Heute würden nicht wenige Strafdienst schieben.

Gut gelaunt streunte Mimoun zu seinem Freund hinüber und schlang ihm einen Arm um die Schulter. „Beeindruckend. So viele Gegner und nicht einer, der dir das Wasser reichen konnte. Bist du sicher, dass du meinen Schutz brauchst?“
 

Zweifelnd sah Dhaôma seinen schwarzhaarigen Freund an. „Du spinnst. Ich habe nicht einen Kampf gewonnen. Und ich habe Kaley enttäuscht.“

„Ja, das hat so auch noch keiner geschafft.“, legte Thatos Dhaôma von der anderen Seite den Arm um die Schultern. „Ganz im Ernst. Ich bin mir sicher, du hast heute vielen Jungen die Angst vor den Magiern genommen.“

„Ja, und die vor dem Krieg.“, stimmte der Magier missmutig zu. „Das heißt, sie gehen davon aus, dass ich die Regel bin.“ Er seufzte, dann schüttelte er den Kopf. „Mimoun, gib dein Bestes, sonst wird uns der Hohe Rat wahrscheinlich gar nicht mehr vertrauen.“
 

„Du - die Regel?“ Mimoun lachte lauthals los. „Dann hätten wir ja absolut keine Probleme. Nein, glaub mir. Du bist einzigartig. Und das ist auch gut so. Wirklich.“

„Ran hier.“, donnerte Kaleys Stimme über den Platz. Unwirsch winkte er den jungen Drachenreiter heran, der sich mit einem schiefen Grinsen bei dem Magier entschuldigte.

„Jetzt hat es wohl mich erwischt.“

Und Kaley nahm ihn ins Training. Es war einfach im Vergleich zu den Kämpfen gegen die Drachen, aber auch jetzt wurde er ordentlich gefordert. Gelehrig nahm er alles auf, was ihm der alte Mann beibrachte. Kampf am Boden, Kampf in der Luft. Da war Mimoun klar überlegen. Seine Wendigkeit, seine Schnelligkeit waren etwas, was Kaley nur mit seiner Erfahrung wettmachen konnte.

Dem jungen Geflügelten kam ein hinterhältiger Gedanken und langsam lenkte er den Kampf in Richtung des Sees. Die anderen Lehrmeister hatten aufgegeben. Diese Kinder waren heute nicht mehr zur Konzentration zu bewegen. Darum bekamen die Rekruten die Aufgabe, die beiden Kämpfer genau zu beobachten und zu studieren.

Über dem See angekommen, ließ er einen von Kaleys Angriffen durch und sich getroffen fallen. Es gab einen allgemeinen Aufschrei, als der junge Geflügelte durch die Wasseroberfläche brach, selbst Kaley ging erschrocken tiefer. Es kam für alle unerwartet, als Sekundenbruchteile später der Junge nicht nur wieder auftauchte, sondern sich ohne Schwierigkeiten wieder in die Luft schwang. Mit beiden Händen spritzte er Kaley Wasser ins Gesicht und warf sich dann mit seinem ganzen Gewicht gegen ihn, brachte ihn ins Taumeln. Lachend ging er auf Abstand. Mimoun wusste, dass es unfair gewesen war, und ließ seinem Lehrmeister nun die Zeit, sich wieder zu fangen.
 

Es gab Jubel, als der erste Schreck verdaut war. Jubel und Gelächter, denn Kaley schien sich tatsächlich über diese Fähigkeit zu freuen. Danach testete er, ob Mimoun das öfter schaffte und ob er noch andere versteckte Fähigkeiten hatte.

Zwei Stunden später landete der Koloss auf dem Platz, zufrieden mit sich und Mimoun. Und mit einem Grinsen an die Rekruten ordnete er eine Jagddelegation an. Sie würden sich in vier Gruppen teilen und jede Gruppe musste genug für sich zusammensammeln, um satt zu werden. Er befahl, dass Mimoun mit ihm fliegen sollte, ließ Dhaôma allerdings die Wahl, ob er mitwollte. Dieser ließ es sich nicht nehmen, einen solchen Anblick zu genießen. Außerdem flog er so gerne.

Kaum war er aufgestiegen, erhob sich Lulanivilay glücklich in den Himmel. Der Drache erzählte ihm, dass es Spaß machte, diese Hanebito zu beobachten, weil sie sich seltendämlich anstellten. Und er sagte ihm, dass Kaley Recht hatte, dass er im Kämpfen hoffnungslos war. Manchmal fragte sich Dhaôma, was sein Drache alles mitbekam, obwohl er gar nicht dabei war.

Unter ihm starteten die Hanebito wie eine große schwarze Wolke, die sich dann in vier Richtungen verteilte. Die Luft rauschte von den Flügelschlägen und hallte von den vielen aufgeregten Stimmen wider. Schnell fand er Mimoun unter den vielen Geflügelten und folgte dessen Gruppe, viel weiter oben als sie, um ihnen nicht in die Quere zu kommen. Schon oft hatte er diesen Anblick gesehen, wenn er seinem Bruder auf das Schlachtfeld gefolgt war, aber niemals von oben. Niemals war es so friedlich gewesen.

Dann begann die Jagd. Kaley hatte sie gut eine Stunde fliegen lassen, bevor er den Angriffsbefehl gab. Unter ihnen konnte man eine Herde Wisente grasen sehen, die sich in Bewegung setzte, als sie die Angreifer bemerkten. Das Geräusch von losgelassenen, sirrenden Bogensehnen versetzte Lulanivilay in Aufregung. Er wollte dabei sein und stürzte sich hinab. Nur mit Mühe konnte ihm Dhaôma sagen, er solle das besser lassen, damit er nicht von den Pfeilen getroffen wurde. Sein Drache war beleidigt, deshalb ging er jetzt selbst auf die Jagd. Er suchte sich seine eigene Beute. Dhaôma ließ ihn machen und genoss die Aussicht, die sich ihm bot, als ein See unter ihnen auftauchte. Das Wasser glitzerte im hellen Licht der strahlenden Sonne.

Und dann ging es ganz plötzlich abwärts. Einen erschrockenen Schrei unterdrückend hielt der Magier die Luft an, bevor der Drache ins Wasser eintauchte. Er wurde festgehalten, während sein Freund davon glitt. Lulanivilay war ein sehr guter Schwimmer, wenn er genug Platz hatte.

Dhaôma kämpfte sich an die Oberfläche, um Luft zu holen. Er war mitten im Wasser und das mit den Fellen! „Lulanivilay!“, keuchte er, als er endlich oben war, dann vereiste er einfach das Wasser um sich herum, damit er nicht wieder unterging. „Das hatten wir doch schon mal!“

Ein wenig entfernt schoss der Drache mit Beute aus dem Wasser und kam sofort zu ihm zurück. „Entschuldige, Freiheit.“, erklang es in seinem Kopf, bevor Lulanivilay auf dem Eis landete und es gehörig zum Schwanken brachte. „Ich hatte es vergessen.“

„Schon gut.“ Wasser lief um seine Füße, bevor es aus seinen Fellen tropfte, als würde er das Wasser abstoßen. „Hast du wenigstens genug gefangen?“

„Sicher.“
 

Trotz des berauschenden Gefühls einer Großjagd, war ihm nicht entgangen, dass sein Freund abgedreht hatte. Kurz wandte er seine Aufmerksamkeit von den panisch fliehenden Wisenten ab und sah ihm hinterher. War alles in Ordnung mit ihm?

Ein harter Ruck zog ihn nach unten. Kaley hatte seinen Fuß gepackt. „Konzentrier dich, Junge. Wir haben zu tun.“

„Das sagt der Richtige, wenn du dein Augenmerk eher auf mir hast.“, erwiderte Mimoun gereizt. Tyiasur vermittelte ihm das Wissen, dass Lulanivilay wütend war, aus Sicherheitsgründen nicht teilhaben zu dürfen, also brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Der Geflügelte warf einen letzten Blick auf den davonfliegenden Drachen, bevor er sich wieder auf das unter ihm stattfindende Geschehen konzentrierte.

Die Jagd währte nicht mehr lange. Bei dieser Masse an Jägern hatten sie schnell genug zusammen, um die nächsten Tage satt zu werden. Einige wenige blieben als Späher in der Luft, um zu verhindern, dass die am Boden arbeitenden Männer von Feinden jeglicher Art überrascht werden konnten.

Erst am späten Nachmittag kehrten die Jäger auf die Insel zurück. Zwei Gruppen waren bereits wieder heimgekehrt, die letzte sah man als kleine Punkte am Horizont langsam näher kommen. Mimouns erster Blick, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, streifte über die Insel auf der Suche nach einem unverwechselbaren rotgrünen Riesenviech und seinem Anhängsel.
 

Lulanivilay war gerade dabei, seinen Wels zu verspeisen, was von einigen Geflügelten mit gemischten Gefühlen beobachtet wurde. Der Fisch war fast vier Meter lang und wog sicherlich eine Menge. Keiner der Hanebito hatte so ein Monster je gesehen und die Tatsache, dass es aus dem Wasser kam, ließ sie begreifen, dass es viele gefährliche Wesen gab, die sie nicht kannten.

Währenddessen beschäftigte sich Dhaôma damit, ein paar Blumen wachsen zu lassen, die er ansprechend gestaltete. Er wollte die Langeweile überbrücken, die er empfand, weil seine Bekannten alle noch weg waren. Zwar kamen immer wieder einige Hanebito dazu, um ihn etwas zu fragen, aber ihre Scheu war definitiv größer als am Vortag. Als Mimoun landete, winkte er ihn heran.

„Tyiasur, wenn du dich beeilst, kriegst du sicher auch ein wenig Fisch ab.“, rief er grinsend. Er wusste genau, der Kleine wurde auch von Lulanivilays Resten satt.
 

„Ah. Da kommen deine Vorlieben wieder durch.“ Mimoun lächelte sanft, setzte sich mit dem in blutiges Fell gewickelten Fleisch hinter Dhaôma, lehnte sich an ihn und begann es in Streifen zu schneiden, damit es schneller trocknen konnte. Ihm taten ein wenig die Pflanzen Leid. Einerseits waren hier die denkbar ungünstigsten Lebensverhältnisse für sie, andererseits wusste er zumindest einen, der dieses herzerwärmende, fröhliche Eiland bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zerstören würde.

Mimoun beobachtete seinen Drachen, der in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit über die Gräten flitzte und sich den Bauch voll schlug. Er hatte zwar zum zeitigen Mittag bereits genug gefressen, aber wenn man Nimmersatt spielen konnte, musste man es ausnutzen.

„Ist Vilay immer noch wütend, dass du ihn an der Jagd nicht teilhaben lassen wolltest?“, fragte Mimoun in die angenehme stille Zweisamkeit hinein.
 

„Ich bin nicht wütend.“, antwortete der Drache an Dhaômas statt und dieser zeigte bezeichnend auf ihn. „Ich habe Fisch bekommen.“

Leicht lehnte sich Dhaôma gegen Mimoun, legte seinen Kopf auf dessen Schulter ab und schloss die Augen. In der Nähe begann Aylen zu kichern, aber es könnte ihn nicht minder kümmern. „Wie lange dauert dein Training hier?“, fragte er leise. So leise, dass nur Mimoun es hören konnte. „Bringt es etwas, hier ein Domizil zu errichten? Ich möchte gerne bei Lulanivilay bleiben, nachts, aber dafür ist es zu kalt.“
 

Umständlich zuckten die Schultern, während seine Finger weiter ihre Aufgabe durchführten. „Ich hab nicht die leiseste Ahnung. Du weißt, wie das ist. Nur der Meister entscheidet, wann das Training beendet ist. Ich hab echt keine Ahnung, wie lange Kaley mich unter seiner Fuchtel behalten will.“ Prüfend betrachtete er das nächste Stück, wendete es hin und her, um den besten Ansatz zu finden. „Aber eine Sache verspreche ich dir. Sobald es zu kalt wird für die Drachen, sind wir hier weg. Training hin oder her. Ich habe gesagt, ich verbringe den Winter mit euch und das werde ich auch tun.“ Mimoun löste sich von seinem Freund und drehte sich zu ihm um. „Und ich will keine Einwände hören. Keine Erwiderungen, welch Vorteile mir das bringen würde oder ähnliches, hast du mich verstanden? Ich werde euch nicht allein gehen lassen.“
 

Dhaôma hatte nicht rechtzeitig reagieren können, als seine Lehne sich verabschiedet hatte, so war er in Mimouns Schoß gelandet. Jetzt lachte er, nachdem sich der Schreck verflüchtigt hatte. „Ja, sicher. Keine Einwände.“ Vergnügt grinste er zu ihm hinauf. „Ich werde auch trainieren.“ Er war sich zwar nicht sicher, was genau, aber hier konnte er mit Sicherheit einiges lernen.
 

„Sehr schön.“, erwiderte der junge Geflügelte und leckte sich über das Handgelenk, dass der rinnende Bluttropfen nicht auf seinem Freund landen konnte. Mimoun drehte sich ein wenig seitlich, so dass Dhaôma liegen bleiben und er ungestört weiter hantieren konnte.

„Und für nachts fällt uns sicher etwas ein.“ Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen. „Kuscheln, zum Beispiel. Und ein paar Decken lassen sich sicher auch entbehren. Für Lulanivilay versteht sich. Und mit unserer Körperwärme kann er es sicher länger hier aushalten. Vielleicht noch ein Feuerchen.“, zählte er alle Möglichkeiten auf, die ihm auf Anhieb einfielen.
 

Als würden ihre kleinen Körper diesen großen Körper wärmen können. Aber Mimoun war herzig genug, dass er sich darum Gedanken machte. „Ich werde trotzdem Kaley fragen, ob ich einen Windschutz errichten darf. Dann haben wir auch gleich Feuerholz, auch wenn es schade ist um die Pflanzen.“ Vertrauensvoll schloss er die Augen und seufzte.

„Ihr wisst, wie ihr gerade ausseht?“, fragte Aylen und hockte sich neben sie.

„Ja, ihr seid schlimmer als Aylen und Rai.“, stimmte Thatos zu und seufzte. „Wie kann man so öffentlich flirten, wenn man Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ist?“

„Wir flirten nicht.“ Dhaôma hatte die Augen wieder geöffnet. „Das ist normal, nicht wahr, Mimoun?“

Die beiden Freunde wechselten einen Blick. Meinte er das ernst? Auch wenn Dhaôma keine Erfahrung gesammelt hatte, als er bei den Magiern gelebt hatte, was Zwischenmensch-lichkeiten betraf, sollte er in der letzten Zeit doch einiges gelernt haben. Oder?
 

„Wir flirten nicht.“, stimmte Mimoun ebenfalls zu. „Aber man hat uns auch schon mit Asam und Leoni verglichen.“ Er runzelte die Stirn. „Ich weiß jetzt ehrlich gesagt nicht, was von beidem schlimmer ist.“

Auch wenn sie die beiden Genannten nicht kannte, ließ Aylen sich zu einem freundschaftlichen Klaps hinreißen, den Mimoun lachend über sich ergehen ließ. Ihm war klar, worauf sie hinaus wollten. Aber das musste er ihnen ja nicht auf die Nase binden. Vor allem nicht, wenn Dhaôma zuhörte.

Die Nacht verbrachten die beiden Freunde wie angekündigt bei Lulanivilay. Nur äußerst widerstrebend ließ sich Kaley dazu breitschlagen, für den Drachen einen Windschutz wachsen zu lassen. Fast bekam Mimoun den Eindruck, das Ratsmitglied würde ihr Durchsetzungsvermögen und ihre Überredungskünste testen wollen. Decken für die zwei Drachenreiter waren sowieso noch aus der vorhergehenden Nacht vorhanden und mussten nicht erst mühsam abgeschwatzt werden. Die einzige Bedingung für den Schutz war, dass er dem Training nicht im Weg sein sollte.

Der Ablauf der nächsten paar Tage lief in gleich bleibenden Bahnen. Früh raus zum Training und Nahrungsbeschaffung für die Drachen. Alle zwei bis drei Tage zur Nahrungsbeschaffung oder Weiterreichung der Felle und anderer Dinge. Mimoun war während des Trainings vormittags der Prügelpartner für die Rekruten und nachmittags im speziellen Training mit Kaley.

Und dann wurde der junge Drachenreiter von seinem Lehrmeister böse ins kalte Wasser geschubst. Sie befanden sich seit fünf Tagen auf der Insel, als der Ältere am frühen Morgen vor allen verkündete, dass Mimoun nun selbst die Rekruten unterrichten würde. Völlig überfordert mit der Situation starrte er Kaley an und sah dann zu der teils jubelnden Menge. Sie sahen ihn als einen von ihnen. Unter seiner Führung würde das Training sicher nicht so steif und ernst sein wie das der alten Männer, denen sie sonst ausgeliefert waren.

„Ich kann nicht…“, fing Mimoun an abzuwehren, als ihm Kekaras ins Wort fiel.

„Er ist ein Grünschnabel, ein Kind! Er hat keine Ahnung von Verantwortung. So lernen sie hier nie Disziplin!“, ereiferte sich der Mann. Und in Mimoun begann sich Widerstand zu regen. Schon allein um diesem Kerl eins auszuwischen, würde er diese Aufgabe annehmen.

„Ich bin mir sicher, dass er es lernen wird. Auch du musstest es einst lernen. Vergiss das nie.“, erwiderte Kaley ruhig und würgte den anderen mit einem Blick ab. Dann wandte er sich wieder dem Objekt der Diskussion zu und deutete mit einer Handbewegung auf die gespannten Rekruten.

Zögerlich trat Mimoun einen Schritt vor. Einerseits ehrte ihn das Vertrauen, das das Ratsmitglied in ihn setzte, andererseits hatte er keine Ahnung, was er nun tun sollte. Hilflos sah er sich nach Dhaôma um.
 

Der Drachenreiter beobachtete diese Entwicklung mit Stolz auf Mimoun und ein wenig Sorge, weil sein Freund damit wieder in den Krieg integriert wurde, den sie eigentlich beenden wollten. Er musterte Kaley mit wachem Blick, aber diesem konnte er keinen geheimen Hintergedanken ansehen. Entweder war er sich dessen nicht bewusst, oder – viel wahrscheinlicher – er wusste es und es war Absicht.

Er winkte Mimoun, er solle etwas sagen und grinste frech. „Du redest doch sonst so gerne vor so vielen Menschen.“, formten seine Lippen und er wusste genau, dass Tyiasur Mimoun auf Anfrage sagen würde, was er dachte.
 

Unglücklich erwiderte Mimoun das Grinsen. Na toll. Auf den Freund war auch kein Verlass.

Tief atmete er mit geschlossenen Augen ein und zwang sich innerlich zur Ruhe. Mit einem Ruck wandte er sich wieder seinen neuen Schützlingen zu und klatschte auffordernd in die Hände, versuchte so, die ihm ohnehin schon zuteil gewordene Aufmerksamkeit zu erlangen. Kekaras hatte behauptet, der junge Drachenreiter besäße weder Verantwortungsgefühl noch Disziplin. Wollten sie doch mal sehen, ob sich diese Meinung nicht ändern ließ.

„Na, dann wollen wir mal. Fangen wir an. Der Tag ist kurz und wir haben viel vor.“, begann er ernst und trocken und den Ersten schwante Übles. Und sie sollten Recht behalten. Mimoun hatte noch so ziemlich den Trainingsplan von Lesley im Kopf. Zwar ließ er den Theoriemist der ersten Tage weg und auch das Üben mit Drachen fiel irgendwie raus, aber mit leichten Änderungen ließ es sich gut bewerkstelligen. Dennoch ließ er vieles noch aus. Er wollte sich ja nicht völlig unbeliebt machen. Und gegen Nachmittag gestaltete er das Training lockerer, baute sogar spaßige Elemente mit ein, um die Jungen bei Laune zu halten. Vergessen war der Vorwurf seines alten Mentors.

„Es macht irgendwie Spaß, mal auf der anderen Seite zu stehen.“, amüsierte sich Mimoun gegen Abend, nachdem er die Rekruten entlassen und sich an Dhaômas Seite gesellt hatte.
 

Ja, das glaubte der Magier gerne. Natürlich hatte er das Trainingsprogramm nach einiger Zeit erkannt und war glücklich gewesen, dass er nur eine Stunde Training bei Kaley hatte, der ihm beibrachte, wie man mit Pfeil und Bogen schoss und wie man sich gegen einen Angreifer ohne Magie verteidigte. Das klappte soweit ganz gut, da der Mann sich arg zurückhielt, um Dhaômas Magie nicht zu triggern.

„Was wirst du ihnen beibringen? Nur Geschwindigkeit und Ausweichen?“
 

„Das werden sie am ehesten brauchen, um den Fernangriffen der Magier zu entkommen.“ Mimoun sank ein wenig in sich zusammen. „Es tut mir Leid. Ich weiß, wie gern du das alles beenden würdest. Ich weiß, dass es dir lieber wäre, müssten sie gar nicht erst an die Front. Aber wenn sich das erst einmal nicht vermeiden lässt, möchte ich ihnen die bestmöglichsten Bedingungen zum Überleben schaffen. Aylen ist dabei, Thatos, Rai, Einel. Ich kann sie nicht in den Tod rennen lassen, ohne vorher alles gegeben zu haben.“
 

Behutsam streichelte Dhaôma über Mimouns Wange und durch das schwarze, struppige Haar. „Ich weiß. Auch mir wäre es lieber, wenn sie es überleben würden. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich beende es trotzdem, denn dann können sie das und müssen es nur nicht mehr anwenden.“

Neben ihnen wankten Kaleys Schüler vorbei, die nicht mehr fliegen konnten vor Erschöpfung. Der Veteran hatte sie alles geben lassen, weil sie sich beschwert hatten, dass sie nicht bei Mimoun trainieren durften.
 

Am nächsten Tag passierte dann etwas, das im Grunde jeder erwartet und doch keiner wirklich geglaubt hatte. Dhaôma war damit beschäftigt, mit einem Bogen auf ein zwanzig Meter entferntes Ziel zu schießen, als über ihm ein Geflügelter auftauchte. Kaley, der gerade anderen Hanebito zeigte, wie sie ihre Schießkünste verbessern konnten, sah Kekaras nur aus den Augenwinkeln und konnte nicht schnell genug reagieren, die Rekruten in der Nähe waren starr vor Entsetzen. Der vernarbte Mann schoss auf sein Opfer hinunter und warf ihn zu Boden, während er ihm die Krallen in den Rücken bohrte. Blut quoll an seinen Fingern entlang und floss durch die Felle des Ponchos. Von Dhaôma erklang nur ein blubberndes Röcheln, denn Blut begann in seine Lunge zu sickern.
 

***********

*ambodenliegt*

Ich weiß, ich habe den Unsinn verzapft, aber Dhaos Training ist einfach zu geil. Wie kann man danach auch noch behaupten, man hätte jemanden enttäuscht?
 

Thihi. Ich weiß, an dieser Stelle hätte ich euch gerne schmoren lassen, Cliffhänger und so, aber dumm wie ich bin, lade ich ja immer zwei Chaps hoch. *sichselbstindenhinternbeißt*

Aber trotzdem kriegt ihr Chap 52.

Strafe für Mimoun

PS: Ich liebe Vilay! Wirklich!!! *ihn knuddel* (und sich danach verstecken geht, denn da möchte man nicht im Wege sein *zwinker*)
 

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Kapitel 52

Strafe für Mimoun
 

Über die Insel fegte ein Geräusch unnatürlicher Existenz, teils dunkel und tief am Rande der Wahrnehmung, teils grollend wie Donner, teils hell und kreischend wie eine wütende Schar Paviane. Auch Kaley brüllte auf vor Wut und war schon einen Augenblick später über dem Mann, riss ihn von dem Magier herunter und schlug ihm mit seinen Krallen ins Gesicht, dass eines der Augen platzte. Auch sein zweiter Schlag saß und das Ohr flog auf den Boden, gefolgt von einem ganzen Büschel Haare. Als nächstes gruben seine Krallen tiefe Furchen über den Oberkörper und schließlich fuhren die Klingen am Arm über den Hals Kekaras, so dass dieser gurgelnd zusammenbrach. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt, etwas dazu zu sagen.

Im nächsten Moment erklang dieses unmenschliche Geräusch erneut und Lulanivilay landete beinahe versehentlich auf Kaley, als seine Zähne Kekaras in der Mitte zerteilten. Die Augen leuchteten rot. Seine Existenz war Furcht erregend, so dass die anderen zurückwichen oder gleich die Flucht ergriffen.
 

Zu sehr hatte ihn das Training seiner Gruppe in Anspruch genommen. Zu sehr hatte er seinen Magier in Sicherheit gedacht. Als Tyiasur ihm die Warnung schickte, war er zu weit weg, war er zu spät. Sein Denken setzte aus und er konnte nicht sagen, wie er dorthin gekommen war. Größer noch als sein Bedürfnis, Kekaras in kleine Stücke zu zerfetzen, war seine Angst um Dhaôma.

„Dhaôma.“, wisperte Mimoun und ließ sich neben seinen Freund fallen. Panisch glitten seine Augen über das viele Blut und er hörte das gurgelnde Geräusch, dass die Lungen von sich gaben. Das war gut. Solange er nicht tot war, konnte er sich heilen, nicht wahr? Unruhig strichen seine Finger durch braune Haare. „Komm schon.“
 

Dhaôma hatte nur den Schmerz gefühlt und der Schreck in seinen Gliedern hatte seine Reaktionsfähigkeit lahm gelegt. Dann war ihm auch schon schwarz vor Augen geworden. Ohne dass er wusste, worum es ging, oder was passiert war, beherrschte ihn die Angst, zu ersticken. Es war anstrengend, Luft zu holen, tat bei jedem Versuch weh. Er wollte sich heilen, aber seine Konzentration war schwach und durch die Schmerzen abgelenkt. Und weil es nicht funktionierte, wuchs seine Angst, die ihm den Atem und die Konzentration nahm.

Und durch diese Panik schnitten zwei Dinge: eine Stimme, die nur Mimouns sein konnte, und eine andere Stimme, die er auch zu kennen glaubte: „Heil dich. Jetzt!“ Es war beinahe so, als verdränge sie die Angst und die Schmerzen, ließ ihn alles vergessen bis auf die Notwendigkeit, Magie zu wirken, die unter seiner Haut flackerte wie ein verlöschendes Feuer. „Heil dich!“

Sicher, er wusste, was er tun musste. Wie oft hatte er Mimoun geheilt, wie oft hatte er kleine Kratzer an seinen Händen verschwinden lassen? Die Magie begann zu fließen, gelenkt von diesem unbändigen Wunsch, den Tyiasur in seinen Kopf pflanzte.

Unter den Augen Kaleys, Mimouns und Tyiasur und mit Hilfe Lulanivilays begannen die Zeichen auf den Wangen zu leuchten, hell, selbst die Umgebung in bläuliches Licht tauchend, während die Wunden sich schlossen.
 

Ein erleichtertes Seufzen drang über Mimouns Lippen, als die Zeichen endlich zu glühen begannen. Nach einigen Minuten, als der Geflügelte davon ausging, dass die Wunden verheilt waren und seinem Magier keine Schmerzen mehr bereiten konnten, gab Mimoun seinem drängenden Wunsch nach und zog den reglosen Körper an sich. Unendlich vorsichtig drehte er Dhaôma auf den Rücken und bettete dessen Kopf an seiner Schulter, strich ihm einige Fransen aus dem Gesicht.

„Verzeih mir.“, flüsterte er so leise, dass nur der Magier ihn hören konnte. „Verzeih.“ Doch dieser hörte es nicht. Die Magie war erloschen und Dhaôma hatte das Bewusstsein verloren.

„Wie geht es ihm?“ Nur sehr zögerlich trat Aylen näher. Lulanivilays heftige Reaktion und seine erbarmungslose Brutalität sowie Kaleys Wutausbruch schienen eine Mauer um die kleine Gruppe gebildet zu haben. Jetzt hockte der Drache wie eine unglückliche Glucke neben ihnen, die Flügel gegen den Wind aufgeblattet, den Kopf besorgt neben Mimoun abgelegt.

Da Mimoun nicht antwortete, hob Kaley die Schultern. Er sah nur einen schlaffen Magier in den Armen eines nahezu am Boden zerstörten jungen Geflügelten. „Gib ihn her.“, verlangte er und hockte sich bereits neben die beiden. Doch etwas im Blick des Jüngeren ließ ihn zögern. Er wusste sofort, Mimoun würde seinen Freund niemandem überlassen. „Bring ihn rein. Dann sehen wir ihn uns mal genauer an.“ Er erhob sich und wandte sich an die Rekruten und zeigte auf Kekaras. „Schmeißt den Dreck von der Insel und zurück zum Training.“, befahl er barsch. Auch das mussten sie lernen. Der Tod existierte und das Leben ging dennoch weiter.

In der Hütte legten sie Dhaôma auf eines der hintersten Felllager und befreiten ihn vorsichtig von seinen Kleidern. Das Ausmaß war erschreckend. Die Eintrittsspuren der Krallen waren noch immer zu sehen und leicht gerötet. Aber es konnte nicht mehr bluten. Kaley untersuchte den schlaffen Körper und konnte zu ihrer beider Beruhigung feststellen, dass der Magier nicht mehr in Lebensgefahr zu schweben schien. Dennoch war dieser weit davon entfernt, als geheilt zu gelten.

Mit zusammengepressten Lippen wich Mimoun nicht von der Seite Dhaômas. Mehrfach wies Kaley ihn an, seine Pflichten als Lehrmeister nicht zu vernachlässigen. Schließlich packte er den jungen Mann wutentbrannt am Kragen und schleifte ihn ohne viel Federlesen nach draußen. Das Ratsmitglied baute sich zu seiner vollen Größe auf. „Wage es nicht, vor heute Abend da hinein zu gehen.“, knurrte er dunkel.

Dennoch gab der Jüngere nicht nach. Tyiasur wand sich an ihm empor und stieß ihn mit dem Kopf an die Wange. Wie immer wollte er seinen Freund beruhigen, ihm zeigen, dass alles in Ordnung war. „Ich bleibe.“, versprach ihm der Drache, glitt von der Schulter auf den Boden hinab und wuselte in die Hütte. Zögerlich trat Mimoun einen Schritt zurück und Kaley entspannte sich ein wenig. Er winkte noch Aylen heran, die über den Braunhaarigen wachen sollte, und machte sich daran, seine Schüler wieder einzusammeln.

Mimouns Blick ruhte lange auf dem Mädchen. Auch sie wirkte besorgt. „Gib mir bitte sofort Bescheid. Egal, was Kaley sagt.“, bat er sie leise und nach ihrem Nicken wandte er sich wieder seiner Aufgabe zu. Dennoch war er unkonzentriert. Und das spürten seine Rekruten. Zwischen den Trainingseinheiten gab es immer wieder längere Pausen, weil er in Gedanken woanders weilte. Er gab keine Ratschläge oder Verbesserungshinweise, so dass sie es vorzogen, allein zu üben.

Früher als üblich entließ er seine Rekruten von ihren Aufgaben und halb waren sie schon am Jubeln, als sie von Kaley in die Pflicht genommen wurden. Er ließ sie nachholen, was Mimoun heute bei ihnen versäumt hatte.

Aylen sah auf, als er durch die Plane trat. Als sie ihn sah, erhob sie sich fließend. Sie hielt Dhaômas Kleider in der Hand. Sie hatte die Zeit dafür genutzt, die Löcher zu schließen und nun, da Mimoun hier war, würde sie sie waschen können. Aufmunternd lächelte sie ihrem Freund zu. Der Magier war in der Zwischenzeit nicht zu sich gekommen, aber das verwunderte sie auch nicht. Das Mädchen erinnerte sich noch daran, dass Mimoun einmal erzählt hatte, dass Magie zu wirken anstrengend sei und dass er danach viel schlafen würde, wenn er sich überanstrengt hätte. Und diese Verletzungen waren definitiv nicht einfach gewesen.

Dankbar erwiderte Mimoun das Lächeln und ließ sich neben Dhaôma nieder. Tyiasur lag neben Dhaôma, zwischen Körper und Arm geklemmt, den Kopf auf der Schulter abgelegt. Er rührte sich nicht, als Mimoun näher kam. „Danke.“, flüsterte der junge Geflügelte und strich dem kleinen Schuppentier über Kopf und Rücken. „Danke, dass du auf ihn aufpasst.“ Kurz öffneten sich die blauen Augen, um ihn anzusehen, bevor sie sich wieder schlossen.

Mimoun selbst legte sich auf die andere Seite. Schon den ganzen Tag ging ihm ein Satz von Leoni nicht mehr aus dem Kopf. Wenn es zu spät dafür ist, wirst du es dein Leben lang bereuen, hatte sie ihm prophezeit. Seine Finger strichen sanft an der Wange entlang. Zögerlich näherten sich seine Lippen Dhaômas Ohr. „Du hast gesagt, du möchtest, dass ich glücklich bin.“, flüsterte Mimoun, kaum mehr als ein Hauchen und doch klar verständliche Worte. „Das bin ich nur bei dir, nur durch dich. Nirgendwo sonst werde ich solches Glück finden, wie ich es an deiner Seite erfahren durfte. Du bist mein Leben. Dir gehören mein Herz und meine Seele, hörst du? Niemand sonst hat solche Macht über mich.“ Er richtete sich leicht auf, um Dhaôma sanft zu küssen. Ein wenig kam er sich schäbig vor, das bei einem Bewusstlosen, einem Wehrlosen zu machen, aber genauso wusste Mimoun, dass er es nie gesagt und getan hätte, wäre Dhaôma wach. Nach einigen Augenblicken ließ er sich zurücksinken, legte einen Arm über den Bauch seines Freundes und schloss die Augen.

Am Abend kamen immer wieder Leute und sahen nach ihnen, doch davon bekam der friedlich schlafende Mimoun nichts mit. Tyiasur verhinderte, dass Sorgen oder böse Träumen ihm einen unruhigen Schlaf bescheren konnten. Durch zischelndes Fauchen hielt der kleine Drache überdies jeden fern, der auch nur Anzeichen machte, den Geflügelten zum Essen zu wecken oder sonst die Ruhe der beiden zu stören.
 

Der Morgen begann ziemlich ruppig für Mimoun. Einen Arm und seinen Nacken im festen Griff wurde er in die Höhe gezogen. Der Schreck ließ seinen Puls in die Höhe schnellen und er registrierte alles gleichzeitig. Kaley hielt ihn gepackt und zog ihn so von Dhaôma weg. In der Hand des Ratsmitgliedes steckten noch immer die Zähne eines blauen Schuppentieres, das mit Fauchen seine Wut über diese Situation kundtat.

„An die Arbeit.“, herrschte Kaley den Jüngeren an, als er ihn in einigem Abstand zu dem Verletzten wieder losgelassen hatte. Zischend griff er nach Tyiasur, der sich nun mit seinem ganzen Körper um den Arm geschlungen hatte und sämtliche Muskeln anspannte. Der Ruck, mit dem er den Drachen lösen wollte, blieb ohne Erfolg.

Bevor es zu weiteren schwerwiegenden Verletzungen beiderseits kommen konnte, griff Mimoun zu. Sanft schlossen sich seine Finger um den Brustkorb des Drachens und schon ließ dieser los. Missgelaunt begegnete sein Blick dem sanften Lächeln seines Freundes. „Ich komme sofort.“, wandte sich der junge Drachenreiter an seinen Lehrmeister und trug seinen Gefährten zu Dhaôma zurück. Kurz überzeugte er sich von dessen Zustand und trat dann nach draußen. Dort führte ihn sein erster Weg zu Lulanivilay, der an der Rückseite der Hütte lag und noch keinen Zentimeter von dort weggegangen war, weil er seinem Freund dort am nächsten war, nur von einer Steinmauer getrennt. Beruhigend kraulte er ihm die Nase und strich ihm über den Hals, bevor er sich seinen Schülern zuwandte. Er wollte sich nicht wieder den Unmut des Ratsmitglieds zuziehen.
 

Es war beinahe Mittag, als Dhaôma registrierte, dass irgendetwas Kühles auf seine Stirn geträufelt wurde. Er fühlte sich heiß und unwohl und das Kühle war eine Mischung aus äußerst angenehm und schrecklich unangenehm. Außerdem zog es den Schleier des Schlafes von ihm. Schwach schlug er nach der Ursache und erntete ein erfreutes Lachen, das ihm unbekannt vorkam. Sofort war er wach und schlug die Augen auf.

Da saß Aylen und im nächsten Moment fühlte er sich von ihr umarmt, was ihm einen höllischen Schmerz bereitete. Als würde jemand Dolche in seinen Rücken jagen. Stöhnend versuchte er sich zu wehren und sie ließ ihn wieder los.

„Entschuldige, hat das wehgetan? Das wollte ich nicht. Ich bin nur so froh, dass du wach bist! Himmel, schon das letzte Mal, als du Fieber hattest, waren alle in heller Aufregung. Und weißt du eigentlich, dass Mimouns Training darunter leidet? Er ist doch mit seinen Gedanken nur bei dir, auch wenn er sich Mühe gibt. Und…“

Mit einem kläglichen Lachen griff Dhaôma nach der Hand und stoppte so den Redefluss. Dieses Schnellfeuer an Informationen konnte er nicht verarbeiten.

Neben ihm bewegte sich Tyiasur und kühlte ebenfalls seine Haut. „Heil dich.“, befahl der Drache sanft und rieb seinen Kopf gegen sein Kinn, um ihn ein wenig aufzuwecken und aus seinem Dusel zu rufen.

Und Dhaôma erinnerte sich an diese Stimme, hatte er sie doch schon einmal gehört. Er war es gewesen, der ihn gerufen hatte. Irgendetwas hatte er mit ihm gemacht, dass er genug Kraft zusammenrufen konnte, um sich zu heilen. „Was ist passiert?“ Er bewegte zwar die Lippen, aber es kam kein Ton hervor.

Während Aylen ihm mitleidig etwas zu trinken gab, bekam er von Tyiasur eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse, was am Ende auch die Schmerzen im Rücken erklärte. Mit einem Seufzen lehnte sich Dhaôma zurück und rief seine Magie. Viel war nicht vorhanden. Das hatte er einmal verstanden, als Cerel ihm gesagt hatte, dass seine Wangen geflackert hatten, während er diese Erkältung hatte. Das war magische Hilfe gegen das Fieber, damit es nicht stieg. Also kam dieses schwummrige Gefühl von Fieber.

Seine Wangen begannen zu glühen, als er in sich hineinhorchte. Er fand zerrissene Muskeln, entzündetes Fleisch und gerissene Sehnen. Sogar eine Rippe war gebrochen und wuchs nun langsam zusammen. Es reichte nicht, um alles zu heilen, aber er konnte sich gleich viel besser bewegen.

„Danke, Tyiasur. Danke, Aylen.“, lächelte er, strich dem Drachen einmal über den Rücken und richtete sich dann auf. Er schob seine Beine über den Rand des Strohlagers und stellte fest, dass er nackt war. Prompt wurde er rot, aber dann lachte er, als sie ihm freundlich seine Kleider hinhielt.

„Bist du sicher, dass du aufstehen solltest? Du bist immer noch blass wie ein Grottenolm.“

„Ja, ich muss Mimoun beruhigen. Wenn ihm Kaley verboten hat, hierher zu kommen, dann gehe ich eben hinaus.“

„Woher weißt du das?“

„Tyiasur hat das gesagt.“ Ein wenig zu unvorsichtig zog er sich an und verzog das Gesicht, als er die Arme heben musste, um durch die Ärmel zu schlüpfen. „Außerdem muss ich mal wohin.“

Sie begann wieder zu lachen, dann half sie ihm mit dem Poncho. „Aber du gehst danach wieder ins Bett!“, beschloss sie für ihn.

„Musst du nicht ins Training?“

„Ich habe frei, solange du bettlägerig bist.“

„Knickst du etwa ein?“

„Nicht doch. Ich bin sowieso allen voraus.“, zwinkerte sie ihm zu. Immerhin arbeitete sie härter als jeder andere, um ihren Platz bewahren zu können.

„Er ist gleich da.“, mischte sich Tyiasur ein und Dhaôma stand auf. Sein Kreislauf war noch nicht ganz wieder da, aber mit Aylens Hilfe kam er zur Tür, während er sich zurückmeldete. Und dann stand er gerade davor, als die Tür aufflog. Das Mädchen bewahrte ihn vor Schaden, als sie sie auffing. Tadelnd sah sie Mimoun an.

„Ein bisschen Geduld würde dir echt gut zu Gesicht stehen.“

Dhaôma hob die Hand zum Gruß. „Ich bin wach, kann stehen und brauche nur noch einen Tag, damit ich gesund bin.“, überschüttete er ihn mit Informationen.
 

Kaum war das Wissen in seinem Kopf gewesen, hatte Mimoun alles stehen und liegen gelassen. Verdutzte Blicke waren ihm gefolgt, als er, ohne auf seine Umgebung zu achten, zu der Hütte geeilt war. Und seine Vernunftstimme prophezeite ihm auch ein Nachspiel wegen Verletzung der Pflichten, doch er ignorierte beides. Wichtig war nur, dass sein Freund wieder wach war.

Starke Arme schlossen sich um den schmalen Körper. Sie drückten nicht zu, waren möglichst weit von den Verletzungen entfernt. Emotional erschöpft, drückte der Geflügelte die Nase gegen Dhaômas Hals, während sich sein Wasserdrachen um den seinen schlang.

„Erinnerst du dich an die erste Begegnung mit Hondaran?“, nuschelte er leise und schob ihn etwas von sich. „Du hast mich gebeten, nicht mehr verletzt zu werden. Hätte er nur etwas besser gezielt, wärst du jetzt tot. Ich will nicht, dass das passiert. Ich werde zum Drachenfriedhof gehen. Und egal wie lange es auch dauert, den nächsten sterbenden Drachen bitte ich um seine Haut. Dann bekommst du eine Rüstung, die dich schützt, wenn ich mal nicht in der Nähe sein sollte.“ Sein ernster Blick ließ einen Widerspruch gar nicht erst zu. Und dennoch sprach auch große Sorge aus seinen Zügen.

„Schön, dass du wieder wach bist.“ Mimoun spürte den altbekannten Griff im Nacken und wie er wieder vor die Tür geschoben wurde. Warum warnte ihn Tyiasur eigentlich nicht vor solchen Aktionen?

„Weil er Recht hat. Nur sein Wecken heute war unnötig.“, bekam er prompt die Antwort. „Ich passe doch auf ihn auf.“
 

Dhaôma lächelte Kaley an und bedankte sich bei ihm, als die beiden Geflügelten einfach zur Seite geschoben wurden. Lulanivilay hatte die Stimmen gehört und kam nun nachschauen. Sein massiger Kopf passte gut durch die Tür und wegen seinem langen Hals hatte er auch keine Probleme, bis zu Dhaôma zu reichen. Er schnupperte kurz an ihm, dann blinzelte er zufrieden.

„Du riechst nicht mehr nach Tod, Freiheit. Das freut mich sehr.“

Liebevoll streichelte ihm Dhaôma über die Nase. „Ich bin erst morgen wieder gesund. Wir können erst dann fliegen.“

„Das ist schon okay, dann warte ich einfach noch ein bisschen.“

„Er wollte nicht weg von dir.“, erklärte Aylen hinter ihm. „Das heißt auch, dass er seit ein paar Tagen nichts gegessen hat.“

Besorgt musterte der Braunhaarige den Drachen und piekte ihn gegen die Nüstern. „Geh dir was zu Essen fangen, ja? Du wirst ja doch tauchen gehen und bist in ein paar Stunden wieder da.“

Kurz überlegte der Drache, dann nickte er kaum merklich. „Ich verlasse mich darauf, dass du schläfst.“ Und schon zog er sich zurück und gab den Blick auf einen sich entfernenden und Mimoun hinter sich herschleifenden Kaley frei.

Dhaôma lachte, was er dann aber sehr schnell wieder unterbrach, weil es wehtat. „Mimoun, sei fleißig, ja? Ich warte hier auf dich.“
 

„Wehe, wenn nicht.“, rief Angesprochener zurück und wand sich endlich aus dem Griff des Hünen. Mit einem kurzen Gedanken wies er Tyiasur an, weiter bei Dhaôma zu bleiben, und wandte sich ohne Umschweife wieder seinen Schülern zu. Nun, da der Magier wach war, konnte er beruhigter an die Sache herangehen. Voller Elan klatschte er in die Hände. „So. Ran an die Arbeit. Wir haben einiges von gestern nachzuholen.“ Kommentare wie ‚Wer ist denn dran Schuld.‘ und ‚Kaley hat bereits…‘ erstickte er noch im Keim. Er ließ sie zwar nicht bluten für den Mist, den er selbst verursacht hatte, doch Mimoun zog straff sein Programm durch.

Als er sie endlich entließ und sich der Hütte zuwandte, hatte ihn Kaley auch schon wieder im Griff.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst?“, bat er, aber das Ratsmitglied blieb hart. Mit einem bezeichnenden Wink deutete Kaley auf einen freien Platz und ging in Position. Mit angesäuerter Miene spulte Mimoun sein eigenes Training ab, war aber unkonzentriert und musste häufig auf Kaleys ruppige Art verbessert werden, so dass es sich mehr als nötig in die Länge zog. Mimouns Rekruten beobachteten das mit schadenfroher Genugtuung und zerstreuten sich schließlich.

„Es ist ein Graus mit dem Kerl, wenn er besorgt ist.“, wandte sich einer von ihnen am späten Nachmittag an Dhaôma. „In Gesellschaft von anderen solltest du weder verletzt noch krank sein. Das erleichtert das Leben aller.“
 

„Ich habe nicht darum gebeten.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Aber du hast schon Recht. Er tendiert dazu, dann alles nebensächlich werden zu lassen, um jede Veränderung selbst mitzuerleben.“ Wie oft hatte er die Augen aufgeschlagen und als allererstes Mimoun gesehen? „Aber mir wäre es ehrlich lieber, ich müsste nicht mehr verletzt werden.“, verlor sich sein Ernst in einem hilflosen Lachen. „Das tut immer so weh.“ Unangenehm rollte er die Schultern ein bisschen und verzog das Gesicht.

Sein Gesprächspartner legte ihm den Arm um die Schultern und lachte mit. Einige der Jungen waren bereits in der Hütte, um sich auszuruhen, und um sich von der Genesung des Inselmaskottchens zu überzeugen. Und sie trieben einfach gerne Späße mit ihm.

Aylen seufzte gespielt auf, denn die Männer pfiffen nun. Auch hier machte man sich über den Stil der Kleider und der langen Haare lustig, auch wenn Dhaôma das mit Humor nahm.

Letztlich wurde beschlossen, dass das Essen heute in der Hütte verspeist würde und dass dieses Mal die Rekruten erzählen würden. Der Patient hatte den Wunsch geäußert zu erfahren, wie es auf den anderen Inseln aussah, und diesen nostalgischen Wunsch wollte ihm keiner abschlagen.
 

Mimoun wurde derweil immer wütender. Der Tag neigte sich immer mehr dem Ende zu und Kaley wollte und wollte ihm einfach keine Ruhe lassen. Er verstand ja, dass ein wenig Strafe wegen Pflichtverletzung okay war, aber der Alte übertrieb es seiner Meinung nach. Mimoun wollte noch ein wenig von der Gesellschaft seines Freundes haben, bevor er zu Tode erschöpft in die Felle sank. Falls dieser nicht bereits wieder am Schlafen war.

Ein Schlag in die Magengrube brachte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Gegner. Hilflos nach Luft schnappend, brach er in die Knie. Nur verschwommen erkannte er Kaley, der hoch erhoben neben ihm stand, jedoch nicht dicht genug für eine Konterattacke.

„Wir können das Spiel auch die ganze Nacht hindurch treiben, wenn du dich nicht endlich konzentrierst.“, drang die Drohung mit einem dunklen Knurren an das Ohr des Drachenreiters. Mit einem Fluch rappelte dieser sich wieder auf und biss sich auf die Unterlippe, um sich von dem Schmerz in seinen Eingeweiden abzulenken. Seine nächsten Angriffe waren von seiner Wut geführt. Mimoun nutzte seine Schnelligkeit und Kraft, um seinem Lehrmeister keine Chance für Gegenangriffe zu lassen. Er deckte ihn mit Schlägen ein und trieb ihn immer weiter zurück. Mit einem wütenden Knurren durchbrach er die Deckung seines Kontrahenten und schickte ihn zu Boden. Sofort setzte er nach. Sein Knie landete mit Wucht im Magen des anderen, dessen Muskeln bis zum Zerreißen angespannt waren, und hieb mit der Faust gegen dessen Schläfe. Als dieser sich kurz orientierungslos über den Boden wälzte, schwankend versuchte auf die Füße zu kommen, wandte Mimoun sich ab.

„Schluss für heute.“, bestimmte er eisig. Er ließ normalerweise viel mit sich machen, aber genug war genug. Schnellen Schrittes eilte Mimoun zu der Hütte, in der er seinen Freund wusste, und blieb knapp hinter der Tür stehen. Diesen inmitten der scherzenden Rekruten zu sehen, zauberte ihm ein sanftes Lächeln auf die Lippen. Tyiasur, der sich neben Dhaôma zusammengerollt hatte, hob den Kopf und machte mit einem leichten Stoß den Magier auf den Neuankömmling aufmerksam, da dieser nicht gewillt schien, sich irgendwie bemerkbar zu machen.
 

„Mimoun!“ Hocherfreut wollte Dhaôma aufstehen, aber er wurde festgehalten und wieder auf sein Bett gedrückt, so dass er sitzen bleiben musste.

„Du brauchst Ruhe!“

„Genau, er wird den Weg sowieso gehen, also ist es müßig, ihm entgegenzukommen.“

Es war ihre Strafe für Mimoun und als Dhaôma aussah, als würde er gleich verzweifeln, begannen sie zu lachen. Die letzten drei Stunden hatten sie keine Gelegenheit ausgelassen, um ihn zu verhätscheln oder zu verwöhnen, was nicht ohne einen gewissen veräppelnden Unterton geschehen war.

„Hier, nimm noch ein wenig Röstfleisch. Du musst zu Kräften kommen.“

„Mimoun, wenn du es schaffst, bis hierher zu kommen, bekommst du auch etwas zu essen.“, lockte Rai und wedelte mit roher Leber. „Aber Vorsicht, sie sind gerade sehr albern.“
 

Unterschiedliche Gefühle begannen an die Oberfläche zu steigen. Dankbarkeit, weil sie dafür sorgten, dass Dhaôma sich nicht überanstrengte. Wut, weil sie seinen Magier nicht zu ihm ließen. Sorge und Liebe, als dieser aufgrund dieser Tatsache so verzweifelt aussah.

Wie zufällig waren plötzlich ein paar Halbstarke in seiner Laufrichtung. Spöttisch verzogen sich seine Lippen und er verschränkte herausfordernd die Arme. „Ihr wisst aber schon noch, wer das dann morgen auszubaden hat, wenn ihr mir hier jetzt in die Quere kommt?“, wollte er mit einer gehörigen Portion Arroganz wissen und tatsächlich wurde ihm unsicher Platz gemacht. Mit einem selbstzufriedenen breiten Grinsen machte er sich auf den Weg zu Dhaôma. Doch kaum war er in ihrer Mitte, war ihre Unsicherheit wie weggeblasen und mit Gejohle stürzten sich die Vordersten auf ihn. Es dauerte nur wenige Herzschläge und schon lag Mimoun auf dem Rücken, Arme und Beine von jeweils einem fixiert.

„Das Risiko gehen wir ein.“, erklang Thatos amüsierte Stimme über ihm. „Schlimmer als Kaleys Zusatztraining gestern kann es ja mit Sicherheit nicht werden.“ Aufmerksam drehte er sich einmal im Kreis und sah dann auf das sich windende Opfer hinab. „Also. Was machen wir nun mit dir? Essen gibt es schon mal keins, du hast es ja nicht durch geschafft. Aber das reicht noch nicht als Strafe dafür, dass wir deine Stimmungsschwankungen aushalten müssen. Hmmm.“ Nachdenklich rieb er sich das Kinn. „Wie wäre es mit...“

„Nackt auf einen Feuerameisenhügel binden.“, kam ein Vorschlag vom Eingang. Mimoun zog vorsorglich schon mal den Kopf ein, als er Kaleys Stimme erkannte. Dieser schob sich bis zu dem am Boden Liegenden durch, der auf ein Zeichen vom Ratsmitglied hin weiter festgehalten wurde.
 

„Ai?“ Sorge stieg in Dhaôma auf und zeigte sich auf seinem Gesicht, so dass ihm Aylen mit einem frechen Grinsen zu verstehen gab, dass es nicht ernst gemeint war. Stattdessen beteiligte sie sich nun an den Vorschlägen für die Strafe.

„Wie wäre es, wenn wir ihn mit Gewichten an den Flügeln fliegen ließen?“

„Nein, er muss zehn Wasserschläuche leeren!“

„Dreizehn Bienen essen!“

„Eine glühende Kohle auf dem Bauchnabel aushalten, bis sie abgekühlt ist!“

Und dann begannen Rais Augen plötzlich zu leuchten. „Er muss Dhaôma küssen!“, schlug er vor.
 

„Idiot.“ Aylen schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Bestrafen, nicht belohnen. Was soll daran bitte eine Strafe sein?“

Gerade war Mimoun am Aufatmen. Nicht, dass ihm irgendeine der Strafvarianten in irgendeiner Art zugesagt hätte, aber die letztgenannte Möglichkeit war etwas…

„Aber ich wüsste, wie man ihn bestrafen könnte.“, unheilte sie und schlang Dhaôma die Arme um den Hals, kam ihm langsam immer näher.

Mimoun spannt sich mit einem wütenden Knurren. Dieses Mädchen machte Anstalten seinen Magier zu küssen. „Aylen.“ Seine Stimme schwang frostig zu ihr herüber, nachdem seine Befreiungsversuche ohne Erfolg blieben, da Kaley nun einen Fuß auf seine Schulter stellte, den jungen Geflügelten so zusätzlich am Boden hielt.

Ausgelassen lachte sie und drückte dem Magier einen Kuss auf die Wange. „Ich habe Rai. Was denkt ihr denn bitte von mir?“
 

Erstaunt starrte Dhaôma sie an, seine Hand wanderte ohne sein Zutun zu der Stelle, wo sie ihn geküsst hatte. Außer Mimoun und Cerel hatte das noch nie jemand gewagt. Aber was sollte er darauf antworten? Und warum war es eine Strafe für Mimoun?

„Oh weh.“, jammerte einer der Rekruten und lachte laut. „Jetzt wissen wir, wie wir Dhaôma bestrafen können. Hat irgendjemand schon einmal so ein verwirrtes Gesicht gesehen, wenn ein Mädchen jemanden geküsst hat?“

Die braunen Augen wandten sich dem Sprecher zu. „Wie könnte ich nicht verwirrt sein?“, fragte er. „Sie hat jemanden, den sie gern hat. Und ich verstehe nicht, warum das eine Strafe für Mimoun ist. Und…“ Er brach ab angesichts der entgleisenden, dann hochgradig amüsierten Gesichter. Irgendetwas lief hier gehörig an ihm vorbei.
 

Ein Schnauben erklang vom Boden aus, halb belustigt, halb verzweifelt. Natürlich würde dieses naive Kind niemals so etwas verstehen. Es war doch schon eine nahezu unüberwindliche Herausforderung gewesen, ihm den Begriff und das Verständnis für Freundschaft begreiflich zu machen. Liebe oder gar Verlangen waren da ein heikleres Thema, das noch schwerer zu erklären war.

„Lass dich nicht verwirren.“, rief er seinem Magier zu. „Das sind dumme Kinder, die nicht wissen, was sie tun. Ich prügle ihnen morgen Verstand ein. Geschwindigkeit und Wendigkeit bringen ihnen nämlich wenig, wenn sie nur Stroh im Kopf haben.“ Und um ihnen nicht die Genugtuung zu geben, ihn wirklich verletzt oder bestraft zu haben, fügte er hinzu: „Und Aylen. Da Dhaôma keinen Aufpasser mehr braucht, bist du morgen besonders gefordert. Schließlich hättest du dich gar nicht beschweren dürfen. Du hattest die letzten anderthalb Tage frei.“

„Frei?“, erwiderte sie und hing sich wieder an Dhaômas Schultern. „Ich war an den Süßen hier gekettet. Das war auch Arbeit.“
 

„Sie hat sogar meine Kleider geflickt.“, stimmte Dhaôma ihr zu und fiel Mimoun damit unwissentlich in den Rücken. Im Grunde war er mit der Gesamtsituation überfordert, aber er beschloss, mit der Melodie zu treiben. Später würde er Mimoun fragen, was die ganze Zeit gemeint gewesen war.

Seine Antwort löste wieder Gelächter aus und letztlich entließ Kaley sein Opfer. „Ich denke, mit ihm bist du mehr als genug bestraft.“, meinte er noch, bevor er sich etwas zu essen holte und sich dann auf eines der Betten fallen ließ, um zu sehen, was hier geplant war. Es war schließlich nicht normal, dass so viele fremde Jungen in diesem Haus waren, obwohl sie nicht hineingehörten.
 

„Das sind nur die wenigsten Momente. Meistens ist es eine Belohnung.“, erwiderte Mimoun mit einem schiefen Grinsen. Endlich konnte er sich zumindest aufsetzen, da ihn auch die anderen unter Gelächter losließen.

Die Geflügelten waren eine grausame Spezies. Sie verstanden es ausgezeichnet, in offenen Wunden zu bohren. Warum noch mal war er als einer von ihnen geboren worden? Ach ja. Dhaôma. Er hätte ihn nie kennen lernen können, wäre er beim anderen Volk zur Welt gekommen.

Mit einem Mal müde, streunte er zu Dhaôma hinüber. Die freundschaftlichen Schläge auf die Schultern ließ er widerstandslos über sich ergehen und rollte sich um seinen Freund herum. Der Appetit war ihm ohnehin vergangen und er sehnte sich einfach nur noch nach der Anwesenheit des Magiers. Mit einem abgrundtiefen Seufzen schloss er die Augen.
 

Dieser lächelte weich und begann unbewusst durch das schwarze Haar zu streicheln. Dass Mimoun ihn nicht als Strafe sah, machte ihn glücklich.

Den Rest des Abends erzählten die Jungen von ihren Inseln und Familien. Es kamen noch einige dazu, so dass es beinahe genauso viele wurden wie an ihrem ersten Tag, und jeder wollte etwas berichten. Kaley lehnte entspannt an der ledernen Wand und hörte ihnen zu, fügte bei einem Jungen seiner Insel sogar selbst etwas hinzu, als es um einen grotesken Baum ging, der über den Boden kroch. Natürlich musste Dhaôma dorthin, wenn er einmal Zeit hatte.

Mit der Zeit jedoch wurde der Braunhaarige müde. Immer seltener warf er Fragen dazwischen oder hakte interessiert nach und irgendwann sank er gegen Mimoun gelehnt in sich zusammen. Der Hanebito schlief längst, war von dem sanften, gleichmäßigen Streicheln eingelullt worden. Aber selbst nachdem Thatos die beiden umarrangiert und Decken über sie geworfen hatte, brach das lauschige Beisammensein nicht ab, denn viel zu nostalgisch waren die Erinnerungen an daheim.
 

Und am nächsten Morgen war Dhaôma wie gewöhnlich früh wach. Aber obwohl er normalerweise gleich aufstand, kuschelte er sich lieber tiefer an seinen schwarzhaarigen Freund und genoss dessen Berührung. Damit das Licht Mimoun nicht weckte, initiierte er die Heilung erst, als sein Schopf an der Brust und unter vielen Fellen verborgen war, aber danach ging es ihm richtig gut. Er wurschtelte seinen einen Arm unter Mimoun, den anderen legte er über ihn und zog ihn dann an sich. Irgendwie war er übermütig und glücklich und hibbelig und kuschelbedürftig.
 

Dieses Gewurschtel weckte den Geflügelten dann doch. Kurz hob er schläfrig einen Arm, um nach dem Rechten zu sehen, da aber alles in Ordnung schien, ließ er den Arm wieder sinken und schloss die Augen. Seine Hand streichelte federleicht Dhaômas Seite, darauf bedacht den Rücken nicht zu berühren.

„Hast du Schmerzen?“, flüsterte er und sah seinen Freund wieder an.
 

„Wenn unter Schmerzen die Zerrissenheit zwischen Bewegungsdrang und Kuschelbedürfnis fällt, dann ja.“, kicherte der Braunhaarige und drückte seine Nase gegen weiches Leder an Mimouns Brust. „Wenn es nur ein kleines bisschen wärmer wäre, könnten wir baden gehen.“ Das war eine Entdeckung, die die beiden auf der Insel der Drachen gemacht hatten. In warmem Wasser, das keine Strömung aufwies, konnte Mimoun problemlos sitzen und sie konnten einweichen und kuscheln.
 

„Hmhm.“, kam dösig die Antwort. Zumindest körperlich hatte sein Magier keine Schmerzen mehr. Das war gut. „Kuscheln und bewegen... wie könnte man das zusammentun? Ah, ich weiß. Du könntest mich wieder kraulen. Dann bewegen sich deine Finger.“ Seine Lippen fanden den braunen Haarschopf, blieben dort länger als nötig.
 

Wieder kicherte Dhaôma angesichts dieser Absurdität, tat Mimoun aber den Gefallen. Ihm gefiel das Gefühl der seltsam festen Haare unter den Fingern, die man ordnen und wieder ordnen konnte, ohne dass sie je ordentlich waren. „Und was sagt dein Magen dazu? Du hast ihn schon seit gestern ziemlich vernachlässigt, oder?“
 

Mit geschlossenen Augen lauschte er in sich hinein. Ja. Eigentlich sollte er was essen. „Das halte ich schon noch aus.“ Der Geflügelte kuschelte sich noch ein wenig tiefer in die Berührung, soweit das überhaupt noch möglich war.
 

Lachend ergab sich Dhaôma, gönnte dem Geflügelten noch ein wenig Ruhe. Aber dann wurde er lästig, weil er die Stellen, an denen Mimoun kitzlig war, sachte streichelte. Er wollte aufstehen und das möglichst nicht alleine. Er wollte mit Mimoun fliegen oder essen oder jagen oder sonst was machen. Aber er wollte aufstehen. Wieder flatterten seine Finger über die Stelle am Nacken, die unter Garantie Gänsehaut auslöste.
 

Mit einem Knurren erhob sich Mimoun halb, wälzte sich über seinen Freund. Flink fing er die frechen Finger ein und hielt die schmalen Handgelenke nur mit einer Hand oberhalb von Dhaômas Kopf fest, fixierte die Beine des Magiers mit seinen eigenen. Die andere Hand ließ er über Dhaômas Flanke tanzen.

„Hatten wir das Thema nicht schon einmal? Du bist mir auf dieser Distanz nicht gewachsen.“ Bevor er selbst wusste was er tat, hatte er sich schon dichter über seinen Freund gebeugt und biss ihm leicht in den Hals, nicht schmerzhaft, nur eine leichte Berührung mit den Zähnen, während sich seine Finger unablässig bewegten.
 

Dhaôma bemühte sich, sein Lachen zu unterdrücken, indem er seine Nase und seinen Mund gegen Mimouns Hals drückte. Er wollte ja niemanden wecken. Aber die Frage hatte eine Antwort verdient. Also versuchte er sich zu beherrschen.

Ohne Erfolg. Mimoun war einfach viel zu zielsicher und er selbst viel zu kitzlig. Gerade als er den Mund aufmachte, um zu antworten, traf er eine besonders empfindliche Stelle und lachte laut los. Mit dem Erfolg, dass diejenigen, die am gestrigen Abend erst spät ins Bett gekommen waren, erwachten.

Danach ging alles plötzlich ganz schnell. Irgendjemand griff Mimoun an den Armen und zerrte ihn von Dhaôma herunter, jemand anderes packte Dhaôma mitsamt Decken und schon standen sie draußen vor dem Haus im schneidenden Wind. Der Kommentar, sie sollen ihre Liebesspielchen woanders ausleben, war komplett an ihnen vorbeigegangen.
 

**************
 

Äh, ja. Hätte ich auch gemacht. Sie rausgeschmissen, meine ich.

Kopfkino für Magier

Kapitel 53

Kopfkino für Magier
 

Mimoun lachte los, nachdem er seine Verblüffung überwunden hatte. Da hatten sie es wohl ein wenig übertrieben. Um seinen Freund vor dem Wind zu beschützen, legte er seine Schwingen um ihn, zog Dhaôma wieder in seine Arme. Aber schon kam ihm ein hinterhältiger Gedanke.

„Also wir haben nun zwei Möglichkeiten, uns für gestern Abend zu rächen. Entweder wir schleifen sie jetzt schon zum Training, wo ja nun alle wach sind, oder ich leihe mir nachher Vilay aus. Wenn er bei meiner Ansage, was heute auf dem Programm steht, hinter mir ist, hoch erhoben und mit ausgebreiteten Schwingen, dürfte einigen das Herz in die Hose rutschen. Der Vorteil bei Möglichkeit zwei ist, dass wir noch ein wenig Zeit für uns hätten, was uns bei erstens nicht vergönnt wäre.“
 

„Du kannst ihn ja fragen.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Aber vorher… Gehen wir fliegen? Ich möchte gerne baden und das Blut komplett abwaschen. Und im Grunde hätte ich dich schon ganz gerne noch mal für mich. Wir waren doch gerade erst endlich wieder für uns, bevor diese Rabauken gekommen sind, um uns zu stören.“

Fröstelnd zog er die Decke etwas höher und kicherte dann. „Sie haben mir eh nur die Decke gegeben, alle anderen wärmenden Kleider sind noch drin und nass, weil Aylen sie ja waschen musste.“
 

Also Möglichkeit zwei.

„Dann hättest du sie jetzt gewaschen. Das würde nichts ändern.“ Tyiasur kam angeschossen und wickelte sich um den Hals seines Reiters. Er hatte dessen Vorhaben gelesen und kein Interesse daran, alleine oben zu bleiben. Mimoun griff einmal um und schwang sich mit seinem Freund im Arm in die Luft, ganz wie früher. „Vilay, komm mit.“, rief er dem trägen Drachen zu. „Wir gehen auf die unteren Ebenen.“

Es war ein beruhigendes Gefühl wieder so durch die Luft zu gleiten. Wie hatte er es vermisst, den warmen Körper Dhaômas dicht bei sich zu haben, das Vertrauen zu spüren, das ihm dieser entgegen brachte, nur durch die Tatsache, dass er sich tragen ließ.
 

Reflexartig hielt Dhaôma sich fest. Seit Tyiasur mit Mimoun flog, hatte er nicht mehr den Hals und musste auf die Schultern zurückgreifen. Aber es fühlte sich großartig an. Es war so zwar nicht so frei, aber trotzdem viel schöner.

Glücklich kuschelte er sich in die starken Arme. „Du bist der Größte!“, versicherte er seinem Freund. Unter ihnen floss ein großer Fluss entlang, aber sie suchten einen See. Mit ein bisschen Glück hatte dieser noch ein wenig von der Wärme des Sommers, aber es war dennoch unwahrscheinlich. „Was glaubst du, wie lange wir noch bleiben können? Und wird uns Kaley wirklich noch weglassen? Er scheint dich wirklich gern zu haben und große Stücke auf dich zu halten.“
 

Nachdenklich ließ sich der Geflügelte vom Wind tragen. Die Flügel bewegte er kaum, als er gedankenverloren dem Fluss folgte. „Er wird uns gehen lassen müssen. Auch hier wird früher oder später die Kälte hereinbrechen. Es wäre allein schon wegen der Drachen unverantwortlich zu bleiben. Und Verantwortungslosigkeit ist ein Wesenszug, den er nicht akzeptieren kann.“ Tyiasur löste sich und fiel in das Wasser unter ihnen, folgte dort weiter ihrer Bahn. „Ich kann nur nicht sagen, wie lange es noch dauert. Ich würde gerne noch länger bleiben, damit sie viel mitbekommen, bevor sie gehen müssen.“
 

„Sie sollen gar nicht gehen.“, ereiferte sich Dhaôma heftig. „Verdammt! Ich will, dass das endlich aufhört! Können sie denn nicht sehen, dass das, was sie tun, falsch ist? Sie sind alle so jung! Sie haben Spaß am Leben und sind offen für Neues! Warum müssen sie kämpfen?“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Ich will es endlich beenden…“ Sein Kopf fiel gegen Mimouns Schulter und blieb dort liegen, sein Blick ins Leere gerichtet. „Ich habe das Gefühl, dass die Mauer, die zwischen mir und meinem Traum liegt, unendlich höher ist als die Insel der Drachen.“
 

„Das ist sie auch.“, stimmte Mimoun leise zu. „Sie sind blind. Sie sehen nicht ein, den ersten Schritt zu tun. Warum auch, wenn von den Magiern nichts Vergleichbares kommt? Bisher waren wir nur unter meinesgleichen, aber von deinem Volk haben wir bisher nicht einen einzigen überzeugt. Fiamma ist zu klein, um es zu verstehen. Bei dem Mann in ihrem Dorf hab ich es dummerweise versaut. Und Lesley ist eine andere Geschichte. Solange wir bei den Magiern nichts erreichen, keine Fortschritte zu verzeichnen haben, wird der Rat uns nicht genug Vertrauen entgegen bringen. Wir sind zwei kleine Lichter im Sturm, schon vergessen?“
 

„Nein.“, murmelte Dhaôma. In ihm brannte das Verlangen zu weinen, angesichts seiner Ohnmacht. „Vielleicht sollten wir beim nächsten Dorf Tyiasur fragen, ob er uns nicht helfen will, sie zu fragen, ob sie genug vom Krieg haben und etwas dagegen unternehmen wollen.“ Und dann hellte sich seine Miene sichtlich auf. „Ai, die Idee ist phantastisch! Lass uns das wirklich machen! Und wir sagen ihnen, dass alle, die den Krieg beendet sehen wollen, zum Waldrand kommen sollen. Ist das eine Idee?“
 

„Oh ja. Gute Idee. Eine Stimme in ihren Köpfen bittet die Kriegsmüden zum Waldrand. Mal sehen wie viele dann aus reiner Neugierde kommen. Und wie viele es sein lassen aus Furcht und Misstrauen.“ Mimoun rieb seinen Kopf an Dhaôma. Er wollte ihm nicht die Stimmung vermiesen oder seine Ideen madig machen. „Aber ja. Wir können bei dem nächsten kleineren Dorf anfangen. Nur die Vorgehensweise werden wir noch besprechen müssen.“ Aber das war ein Thema, das auch später noch geklärt werden konnte. Im Sturzflug ging es tiefer, bis knapp über das Wasser. Mit einem Ruck ließ er Dhaôma los und ergriff dessen Hände. Lachend arrangierte er das Ganze ein wenig um und ging noch ein Stück tiefer, so dass der Magier nun in Flugrichtung sah und die Füße das Wasser berührten. Der kleine Wasserdrache sprang ausgelassen um ihn herum.
 

Vor Schreck lachend zog Dhaôma die Beine an, denn das Wasser war eiskalt. Beinahe zu kalt, um sich wirklich zu überwinden, aber leider musste es sein. Also war er mutig und streckte die Beine wieder aus. Natürlich spritzte es und brachte ihn in die Lage, das Gesicht dem Wasser zugewendet recht schräg zu stehen. Vermutlich behinderte es auch Mimoun beim Fliegen.

„Hey mein Freund, wie wäre es, wenn wir in seichtere Teile fliegen würden?“

Über ihnen zog der Schatten Lulanivilays vorbei, der beschloss, Futter zu suchen. Selbst dieses kalte Wasser lähmte ihn nur ein klein wenig, sodass er noch immer Beute machen konnte.
 

Nur wenige Meter ließ er seinen Freund so hängen, bevor er wieder höher flog und Dhaôma mit einem Ruck zurück in seine Arme beförderte. Jetzt lachte der Magier wieder. Schön. Die trüben Gedanken waren fürs erste beseitigt. Und dafür hatte Mimoun nicht einmal viel tun müssen.

Endlich an einem See angekommen, landete der Geflügelte in einer natürlichen kleinen Bucht, die von hohen Gräsern umsäumt war. Die Erde war feucht und kühl. Aber sie bildete keinen Schlamm wie Tyiasur nach einem missglückten Rutschversuch missgelaunt fauchend feststellte.

Lachend kommentierte Mimoun diese Aktion und stellte seine Last endlich ab. Ja. Hier war eine gute Stelle. Hier waren sie ungestört.

Mimoun buddelte eine Kuhle für seinen Drachen, die er mit Schlamm füllte. Belustigt sah er seinem Schlammwürmchen beim Suhlen zu.

Als der Geflügelte aufsah, war die gute Laune, die beim Anblick von Tyiasurs Spiel gekommen war, dahin. Nur noch wenige Spuren auf dem blassen Rücken deuteten darauf hin, wie knapp der Magier mit dem Leben davon gekommen war. Wieder sah Mimoun die roten Male, die von dem Angriff übrig geblieben waren, das frische Blut, das noch an der Haut geklebt hatte, die Zeichnungen teilweise unkenntlich machend.

Stocksteif erhob er sich und trat hinter seinen Freund. Federleicht fuhren seine Finger über die für andere nicht mehr sichtbaren Stellen und schlang ihm anschließend einen Arm um den Bauch und einen quer über die Brust, zog ihn an sich.
 

Den Umschwung in der Stimmung hatte Dhaôma nicht mitbekommen, da er damit beschäftigt war, sich auch die Hose auszuziehen, damit sie nicht noch nasser werden konnte. Aber Mimouns Arme verhinderten das recht effektiv, sodass sie nun auf Höhe der Knie hing. Etwas schien dem Schwarzhaarigen an die Nieren zu gehen und so, wie er sich verhielt, war das wohl Verlustangst oder Trauer. Fast wütend presste Dhaôma die Lippen zusammen. Seitdem sie von der Insel der Drachen zurück waren, kam Mimoun kaum noch aus dieser Stimmung heraus. Es passierte zu viel, ständig musste er Angst haben. Es wurde wirklich Zeit, dass das aufhörte.

Sachte legte er seinen Kopf gegen Mimouns und entspannte sich. „Hey, es war nicht deine Schuld. Und ich habe es überlebt.“, murmelte er beruhigend und streichelte die rauen Hände.
 

„Ja.“, erwiderte Mimoun leise. „Aber es war zu knapp. Und es war ein Fehler, den ich von ihm nicht gewohnt bin. Er ist besser gewesen.“ Es war beruhigend zu wissen, dass Dhaôma nun einen Feind weniger zu fürchten hatte. „Und nur damit das klar ist: Auch wenn wir nicht mehr auf der Trainingsinsel sind, wirst du trainieren. Ausweichen, Reflexe und immer ein Ohr und ein Auge auf die Umgebung gerichtet. Und ich werde dir eine Rüstung aus Drachenhaut verpassen und sie dir notfalls selbst an den Körper nähen.“
 

„Wenn es dich beruhigt, werde ich das tun.“, versprach Dhaôma, selbst wenn er noch so wenig Interesse daran hatte. Aber wahrscheinlich hatte er sich für ein wirklich friedliches Leben einfach den falschen Weg ausgesucht. „Bist du dann mein Lehrer? Und viel wichtiger: Wirst du auch so eine Rüstung tragen? Wenn du doch sowieso einen Drachen um diesen Gefallen bittest…“
 

„Ja, es würde mich beruhigen. Und ja, wenn der Drache groß genug wäre, würde ich für mich auch eine fertigen lassen.“ Mimoun hauchte seinem Freund einen Kuss auf die Schulter und löste sich endlich von ihm. Der Geflügelte begann sich seiner Kleider zu entledigen. „Schließlich bist du genauso wenig von der Tatsache begeistert, wenn ich verletzt werde, wie es umgedreht der Fall ist. Also muss ich diese Zwischenfälle irgendwie vermeiden, nicht wahr?“
 

„Und wann wirst du gehen?“, fragte Dhaôma fröstelnd und hockte sich hin, um die Beinlinge endlich abzustreifen. „Du hast versprochen, mit mir den Winter zu verbringen und Silia bei der Geburt zu begleiten. Wir wollten zu den Magiern gehen, wenn der Frühling kommt, nicht wahr?“
 

Ergeben seufzte der junge Geflügelte. „Ich weiß. Aber da mein Leben seit der Begegnung mit dir nicht mehr nach Plan läuft, macht es sowieso wenig Sinn zu sagen, dann und dann geh ich. Ich schau einfach mal, wann sich dieser Teil meines Lebens ergibt.“ Er zuckte amüsiert mit den Schultern. „Aber ich beschwer mich auch gar nicht. Schließlich habe ich Dank dir noch ein Leben.“
 

So war das also. Mimoun folgte ihm und richtete sich nach ihm aus. Aber offenbar störte es ihn wirklich nicht.

Dhaôma hakte diesen Teil der Diskussion ab. „Mal sehen, wie lange ich drin bleiben kann.“, rief er und sprang kopfüber ins klare Wasser. Unter Wasser schrie er, weil es eiskalt war, aber als er heraufkam, um Luft zu schnappen, lachte er. Es war wirklich toll, wieder schwimmen zu gehen. Vor wenigen Monaten mit Hondaran hatte er gelernt, dass es Spaß machen konnte, Magie zu wirken, während man im Wasser war. Gerade jetzt ließ er die Strömung direkt um sich herum stärker werden, damit er schneller schwimmen konnte.
 

Im Gegensatz zu seinem eindeutig übermütigen Freund blieb Mimoun in Ufernähe. Kopfschüttelnd sah er ihm nach. Wann hatte er das letzte Mal so ausgelassen getobt? Auf der Insel der Drachen war ihre Zeit hauptsächlich mit Training gefüllt gewesen. Die Zeit danach... Unwirsch schüttelte er den Kopf. Er wollte nicht daran denken. Und nun waren sie auf dieser Insel unter Kaleys Fuchtel. Erneut schüttelte der junge Geflügelte den Kopf. Es wurde wirklich Zeit, dass sie wieder unter sich waren.

Langsam schlenderte er ein wenig am Ufer entlang, die Füße durch die leichten Wogen schiebend. Seine Finger fuhren über die langen, faserigen Gräser. Mit einem kurzen Schmunzeln setzte er sich ins Wasser und begann, einzelne Halme abzureißen und miteinander zu verweben. Auch wenn sie nicht lange halten würden. Die Kette, die entstand, würde Dhaôma wieder zu seinem Blumenkind machen.
 

Dhaôma hielt wirklich nicht lange durch. Egal, was er tat, das Wasser wurde durch seine Magie nicht wärmer und der Winter stand kurz bevor. Nach nur einigen Minuten hechtete er atemlos aus dem Wasser und begann an Land zu rennen, um wieder warm zu werden. Die Zeichen auf seinem Rücken leuchteten, während all das Wasser aus seinen Haaren und von seiner Haut rann und ungesehen winzige Tröpfchen in der Luft bildete, die beinahe Nebel hervorriefen. Kaum fünfhundert Meter weiter drehte er auf dem Absatz um, spurtete zurück und zog sich in Windeseile an. Seine Haut brannte von der Kälte.

„Du bist rot wie ein Krebs, Freiheit.“, erklärte ihm Lulanivilay, der mit einer kleinen Erschütterung des Bodens hinter ihm landete.

„Das ist mir klar.“ Lachend sah sich Dhaôma nach seinem schwarzhaarigen Hanebito um. „Mimoun? Was machst du da? Wenn wir zu spät kommen, kriegst du wieder Ärger.“
 

Begleitet von leisem Summen fand auch der letzte Halm seinen Platz in dem Kranz. Noch einmal prüfte Mimoun die Ausrichtung der feinen, weichen Büschel und erhob sich schließlich ebenfalls aus dem Wasser.

„Jaja.“, kommentierte er den Hinweis seines Freundes und hing ihm die Graskette um. Vorsichtig korrigierte er einige falsch liegende Halme, so dass alle nun nach außen und unten zeigten. „Bin gleich fertig.“ Kurz schüttelte er sich. Er war nicht komplett unter Wasser gewesen, darum half ihm das nicht viel bei der Entfernung überschüssigen Wassers. Flink fuhren seine Hände an seiner Haut entlang, um es abzustreifen.
 

Dhaomas Wangen waren rot geworden vor Freude über das Geschenk, jetzt kicherte er. „Soll ich?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er seine Magie fließen. Das Wasser schien magisch von ihm angezogen zu werden und sammelte sich in einer kleinen Blase über seiner Hand. Es war ganz dunkel von Schmutz und Staub. „So ist das weit effektiver, meinst du nicht?“
 

„Ja. Und auffälliger.“, lachte der Geflügelte, während er in seine Kleider schlüpfte. „So kann ja jeder sehen, dass ich ein kleiner Schmutzfink bin. Und dabei häng ich doch so an meiner Schmutzschutzschicht.“

Dhaômas Freude ließ sein Herz höher schlagen. Dabei wollte Mimoun so was gar nicht. Und trotzdem tat er es immer wieder. Selbstfolter schien ihm wohl zu gefallen.

Bevor sein Freund auch nur auf die Idee kommen konnte, auf Lulanivilays Rücken zu klettern, hielt der Geflügelte seine Hüften umschlungen. „Und? Sind wir brav und machen uns auf den Rückweg oder rebellieren wir noch ein wenig gegen die Obrigkeit?“
 

„Wir fliegen zurück.“, lächelte Dhaôma weich und schmiegte sich an ihn. „Auch wenn du warm bist, ist das hier auf Dauer einfach keine Lösung. Es ist einfach zu kalt.“

Der Rückflug war genauso lässig wie der Hinflug. Mimoun schwebte mehr und ließ sich von Winden treiben, während sie sich über die Richtung unterhielten, in der ihr Ziel liegen könnte. Und kurz bevor sie die Insel erreichten, begann es zu schneien. Kleine weiße Flocken rieselten auf sie herab und ließen Dhaôma betroffen aussehen. War es wirklich schon so kalt? Hatte er sich an die Kälte etwa gewöhnt, so dass er es gar nicht mehr mitbekam, wenn es fror? Genug Training hatte er ja.

„Wir müssen weiter.“, teilte er Mimoun mit, was ein paar der Rekruten hörten, die ihnen entgegengekommen waren. „Wird wohl nichts mit Pflichterfüllung. Wir wissen schließlich nicht, wie kalt es nachts wird, und ob Lulanivilay sich morgen früh noch bewegen kann.“

Natürlich gab das Protest, aber den ließ Dhaôma nicht gelten. Er schickte ihnen derartig böse Blicke, als vorgeschlagen wurde, die Drachen alleine loszuschicken, dass sie allesamt verstummten. Als sie landeten, war Kaley da und sah die beiden jungen Männer und ihre Haustiere mit dunklen Augen an. Letztlich seufzte er und zuckte ergeben mit den Schultern.

„Das war’s dann wohl mit dem Training.“ Seine Stimme klang dunkel und unterschwellig drohend. „Aber das wird kaum für einen Kampf reichen. Ihr werdet wiederkommen müssen. Und üben, während ihr euch in den lauen Gefilden vor der Realität versteckt.“
 

Eindeutig genervt rieb sich Mimoun mit den Fingern an der Nasenwurzel. „Wir wollen keinen Kampf, sondern ihn beenden.“, erklärte er zum x-ten Mal. „Außerdem verstecken wir uns nicht. Ich habe Euch schon einmal erklärt, dass ich es nicht mag, wenn meine Freunde in ihrer Freiheit eingeschränkt werden.“ Um dem Ganzen ein wenig die Schärfe zu nehmen, lächelte er und deutete auf Dhaôma. „Und keine Sorge. Weiter üben habe ich ihm schon angedroht.“ Damit wandte er sich ab und suchte ihre Sachen zusammen.
 

Dhaôma hatte es nicht so einfach, denn die Rekruten bedrängten ihn, ihnen Mimoun zu überlassen, was er nicht wollte. Irgendwann wurden sie anzüglich, warum er ihn denn unbedingt brauchte, wo er doch mit Lulanivilay einen hervorragenden Beschützer hatte, dass er nicht so selbstsüchtig sein sollte, einen der Ihren so in Beschlag zu nehmen. Und gerade wollte er wütend werden und ihnen sagen, dass es Mimouns Wunsch war, dass er selbstsüchtig war, da mischten sich seine Freunde aus Mimouns Heimat ein. Rai stellte sich mit verschränkten Armen vor ihn hin und wirkte sehr wütend, der schweigsame Einel legte ihm eine Hand auf die Schulter und brachte mit einem tiefdunklen „Genug!“ alle zum Schweigen. Dann bauten sich Aylen und Thatos wie zwei Racheengel mit weit gespreizten Flügeln vor ihnen auf.

„Ihr habt sie ja nicht mehr alle!“, fauchte die junge Frau leidenschaftlich wütend. „Er ist es immerhin, der dafür sorgen wird, dass ihr alle unversehrt zu euren Familien zurückkehren könnt, weil er den Krieg beenden wird!“ Sie stellte es als unumstößliche Tatsache hin, was Dhaôma zum Schmunzeln brachte. „Und wenn Mimoun nicht auf ihn aufpassen würde, würde dieser Tollpatsch doch im nächsten Canyon ersaufen oder von einem wilden Tier gefressen werden!“

Der Magier wollte wieder protestieren, da schaltete sich Thatos ein, nicht minder erregt. „Ja, Mimoun mag für euch ein geschätzter Lehrer sein, aber für die Zukunft ist es unerlässlich, dass er mit Dhaôma reist, lernt und seiner Berufung als Drachenreiter folgt! Jemand mit Wind in der Seele wird euch eh niemals lange erhalten bleiben, da es ihn immer weiterzieht.“

„Und wenn ihr bereit seid, jemanden – und seien es nur die Drachen – zu opfern, um euren angenehmen Trainingsalltag nicht zu verlieren, bin ich der Meinung, dass ihr alle eine Strafrunde verdient habt!“, ereiferte sich Aylen. „Es bedeutet nämlich, dass ihr das alles hier überhaupt nicht ernst nehmt!“ Sie sah versichernd zu Kaley, der zustimmend nickte und sich ein leicht vorfreudiges Grinsen nicht verkneifen konnte. „Also seid brav und lasst die Drachenreiter gehen, damit sie euch Frieden bringen können, wie sie es versprochen haben!“

Kleinlaut nickten ein paar, andere wirkten verunsichert, wieder andere direkt wütend. Und Dhaôma lachte leise, weil er es lustig fand, wie sie sich für ihn einsetzten. Ob Mimoun das mitbekommen hatte? Wenn ja, würde er sich sicherlich auch freuen.
 

Es war nicht schwer, ihre wenige Habe zusammenzuklauben, doch gerade als Mimoun wieder ins Freie treten wollte, wurde es draußen laut. Misstrauisch runzelte er die Stirn, aber als er die Lederplane beiseite schob und lauschte, wurde sein Gesichtsausdruck weicher. Bei Aylens flammender Rede und ihren Androhungen entfuhr ihm ab und zu ein Kichern. In ihm wuchs der Wunsch, seine Freunde zu beschützen. Sie durften nicht sterben. Nicht in einem Krieg ohne Sinn.

„Ich glaube, ich verfasse einen straffen Trainingsplan für euch Pfeifen und auf meinem Rückweg teste ich euch dann.“, drohte der junge Geflügelte, als er schließlich nach draußen trat. „Meine Flughöhe erreichen, einen anderen über Stunden tragen. Und das wäre nur der Anfang. Wir wollen ja keine Langeweile aufkommen lassen.“ Langsam war er an Dhaômas Seite getreten und reichte ihm mit einem Lächeln seine Habseligkeiten. Ein Stöhnen der Umstehenden erreichte sein Ohr, als er sich dem Ratsmitglied zuwandte. „Beschützt sie bitte, solange ich nicht da bin.“ Das Stöhnen erklang erneut. Jeder ahnte, dass diese Bitte in exzessivem Training enden würde.
 

Dhaôma nahm alles und schnallte Lulanivilay den Haltegurt um, während einige ihnen Proviant besorgten. Dann zog er seine Pelze an und schnallte die Taschen fest. Geduldig hielt der Drache still. Wenig später drückte ihm Kaley Bogen und Köcher in die Hände.

„Üben!“, war sein Kommentar, der wohl freundlichste Abschied, den er erwarten konnte.

„Danke.“ Respektvoll neigte der Magier den Kopf. „Passt auf Euch auf. Asam wird Euch brauchen, wenn es darum geht, den geschaffenen Frieden zu bewahren.“

Der Blick, der ihn traf, war eisig. „Wir werden sehen, was die Zukunft bringt.“

„Natürlich.“

Als Dhaôma aufsteigen wollte, fiel ihm Aylen um den Hals. „Pass auf dich auf, du Träumer. Und unterstütze Silia, wenn sie dich lässt.“

„Sicher.“ Er umarmte das Mädchen und dann wurden er und Lulanivilay von Abschiedsgrüßen überschüttet.
 

Auch die anderen zwei blieben davon nicht verschont und dem jungen Drachenreiter fiel der Abschied diesmal schwer. Dies hier waren noch halbe Kinder, die dazu ausgebildet wurden, im Krieg zu sterben. Lieb gewonnene Freunde, fernab der schützenden Heimat.

Sie mussten etwas tun! Diesen Winter noch! Sie durften keine weitere Zeit verlieren, wenn das Sterben enden sollte.

Er wurde aus seiner depressiven Stimmung gerissen, als hartes Leder schmerzhaft seine Brust traf. Keuchend entwich sämtliche Luft seinen Lungen und verständnislos sah er zwischen der Rekrutenrüstung und Kaley hin und her. Dieser streckte auch ihm Pfeil und Bogen entgegen. „Wir können dich schlecht nackt ziehen lassen.“

Völlig überfordert wusste Mimoun nicht, was er sagen sollte. Sein Blick glitt über den Brustharnisch. Er war bei weitem nicht so stabil und ausgereift wie der seines Vaters, außerdem fehlten Schulter- und Lendenschutz. Sie war generell zu leicht.

Es war, als hätte Kaley seine Gedanken gelesen. „Widerspruch wird nicht geduldet. Deine Aufgabe ist gefährlich genug.“

„Ich kann sie nicht annehmen. Es gibt genug, die sie dringender brauchen.“

„Auf ihn!“, brüllte Aylen und schon folgte eine Handvoll Jungen ihrem Ruf und zwangen den jungen Mann in die Rüstung. „Keine Widerrede!“, wiederholte das Mädchen dunkel knurrend und tippte Mimoun auf die Brust. „Wenn du Dhaôma beschützen willst, nutze gefälligst alle Möglichkeiten, du Narr!“

Mit einem resignierenden Lächeln gab Mimoun klein bei. „Danke.“ Er ergriff die Hände seiner Kindheitsfreundin und drückte sie. „Passt gut auf euch auf. Wir sehen uns im Frühling.“

Sie nickte nur, als er sich zu Kaley umwandte, den Bogen annahm und ihn noch einmal um Schutz für die Kinder bat. Dann schwang er sich in die Luft. Sie wollten nicht zu lange hier verharren, damit Lulanivilay durch die fehlende Bewegung nicht auskühlte.

Beinahe die Hälfte der Rekruten erhob sich ebenfalls, um sich noch ein Stück des Weges zu begleiten.
 

Selbst Lulanivilay hielt sich zurück, um die Gesellschaft der Freunde noch ein wenig zu genießen, doch als der Wind schärfer wurde und die Flocken dichter fielen, ließ er sich tragen. Er liebte es, auf dem Wind zu reiten, da nahm er doch keine Rücksicht auf jemand so langsames. Die Hanebito blieben schnell hinter ihnen.

Dhaôma blickte nach vorne, sobald Lulanivilay die Geschwindigkeit anzog. Vorfreude kribbelte in ihm. Sie würden wieder Land finden, das er noch nicht kannte. Was würden sie dort finden? Ob es neue Pflanzen gab? Ob Mimoun etwas fand, das ihnen helfen konnte?

„Eine Stadt.“, machte sein Drachenfreund ihn am Nachmittag auf die von Bäumen umgebene Siedlung aufmerksam und drehte schon bei.

Winkend teilte Dhaôma das Mimoun mit. Sie würden das gleiche tun wie immer: darüber hinweg fliegen und ihnen zeigen, dass es sie gab.
 

Unruhig streiften grüne Augen über die unter ihnen auftauchenden Gebäude. Zwar war es sein Vorsatz, den Frieden auch bei den Magiern in Bewegung zu setzen, aber doch nicht so schnell. Seufzend ging er diesmal ebenfalls tiefer und seine Gedanken arbeiteten auf Hochtouren. Wenn er hinter oder über Dhaôma flog, konnte es von den Magiern als Bedrohung für den Drachenreiter aufgefasst werden. Wenn er vor ihm flog, konnten sie auf die Idee kommen, der Drachenreiter bekämpfe gerade einen Geflügelten. So hielt sich Mimoun direkt neben seinen Freunden. Seite an Seite glitten sie gut sichtbar über die Stadt.

Der anfangs aufbrandende Jubel erstarb innerhalb von Sekundenbruchteilen, als sie seiner gewahr wurden. Tyiasur übermittelte ihnen unterschiedliche Gedanken. Verwirrung und Sorge um den Friedensbringer. Sogar die Möglichkeit einer Zähmung des wilden Feindes wurde in Betracht gezogen.

Das war die Möglichkeit, dachte Mimoun. Wenn dieser Gedanke vorherrschte, würden sie ihn nicht so leicht als Bedrohung einstufen und ihn angreifen. Auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach. Dieses Missverständnis konnten sie später aus dem Weg räumen, wenn keine Gefahr mehr für den Geflügelten drohte.

„Lass uns landen. Lass uns mit ihnen reden.“, rief Mimoun zu seinem Freund hinüber.
 

Erschrocken fuhr Dhaôma herum. „Was?“, keuchte er. „Mimoun! Keiner von uns kann einen magischen Angriff wirklich abwehren! Wenn sie angreifen, bist du tot!“
 

„Aber sie denken zum Teil, dass du mich gezähmt hast. Wenn wir sie in dem Glauben lassen, werden sie in mir keine Bedrohung sehen.“, widersprach Mimoun.

Und Tyiasur setzte dem noch hinzu: „Ich lasse nicht zu, dass sie ihm schaden.“ Der Geflügelte schob diese Aussage auf die Fähigkeit seines Drachens, Gedanken zu lesen, und kraulte ihm dankbar das Kinn. Dieser entzog sich der Berührung und schüttelte träge den Kopf. „Sie werden nicht angreifen können.“
 

„Was meinst du damit?“, rief Dhaôma, vergessend, dass seine Stimme Tyiasur auch ohne Worte erreichen würde. Gleichzeitig gab er Lulanivilay das Signal, ein wenig hinauf zu fliegen, damit möglicherweise scharfe Ohren sie nicht hören konnten. Außerdem waren sie gerade viel zu abgelenkt, um auf mögliche Angriffe zu reagieren.

„Ah, das ist einfach.“, antwortete ihm Lulanivilay im üblichen neutralen Ton. „Er kann den Bach verstopfen und verhindert damit, dass der See ausläuft.“

Sprachlos stand Dhaôma der Mund offen. Was konnte er? Bach? See? Das waren die Metaphern gewesen, die er Lulanivilay gegeben hatte, um seine Magie zu kontrollieren. Also konnte er… die Magie versiegen lassen? Blitzschnell folgten Bilder, in denen er plötzlich nicht mehr hatte zaubern können und einen schrecklich unangenehmen Druck auf der Haut gespürt hatte, in denen selbst Lulanivilay Probleme hatte und der Wind um die Insel verstummte oder Wasserfontänen versiegten. Das ungelöste Mysterium. „Das bist du gewesen, Tyiasur?“ Was für eine erschreckende Macht.
 

„Ja.“, war die einfache Antwort des kleinen Drachens, ohne Freude oder Begeisterung gesagt. Eine einfache Feststellung. Dann erklärte er es seinem Reiter erneut, da dieser dem Ganzen nicht ganz hatte folgen können. Mimoun war begeisterter von dieser Tatsache.

„Ehrlich?“, hakte der junge Geflügelte noch einmal nach. „Du bist der Wahnsinn. Absolut der Größte!“ Verlegen drückte der Wasserdrache seinen Kopf gegen den Hals seines Reiters. „Gibt es noch ein paar Geheimnisse, die du uns nicht sagst?“

Einige Zeit herrschte Schweigen und Mimoun freute sich schon auf neue, beeindruckende Fähigkeiten seines Freundes. „Leoni wäre böse. Sie möchte, dass ihr das Hindernis alleine bewältigt.“

Auch wenn er nicht wusste, was sein Drache meinte, bohrte der junge Reiter auch nicht weiter. „Das meine ich nicht. Ob du noch andere Fähigkeiten hast, wollte ich wissen.“

„Nein.“

Das war nicht schlimm, befand Mimoun und wandte sich dem Magier zu. „Also was ist? Jetzt haben wir den besten Schutz, den man sich wünschen kann. Niemand kann uns noch Gewalt antun.“
 

Wenn das so war… „In Ordnung.“ Ein breites, liebevolles Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Seine Familie war einfach die beste! Allein, dass Mimoun bereit war, das Risiko einzugehen, war schon heldenhaft und mutig, aber dass das Risiko durch Tyiasur minimiert wurde, machte seinen Wunsch auf ein Gespräch durchführbar. Den Magiern blieb überhaupt nichts anderes übrig, als sie anzuhören! „Vilay, landest du bitte auf dem großen Platz da unten? Sie können mit Pfeil und Bogen nicht wirklich umgehen, das heißt, aus der Entfernung können sie nicht angreifen ohne ihre Magie. Wenn sie sich auf dich stürzen, kannst du wegfliegen, ja?“

„Sicher.“

„Mimoun? Bleib dicht bei mir, ja?“
 

„Natürlich.“, antwortete dieser. Sanft glitten seine Finger wieder über den schlanken Leib um seinen Hals. „Und du schone deine Kräfte. Versuchen wir es erst, ohne zu drastischen Mitteln zu greifen. Sobald sie Anstalten machen, uns anzugreifen, kannst du sie blockieren.“ Dieses Wissen übermittelte Tyiasur an Dhaôma, damit dieser auf diese Tatsache vorbereitet war und sich nicht wundern musste.

Und dann gingen sie tiefer. Mimoun hielt sich dicht bei Lulanivilay, blieb an seiner Seite, als sie den großen Platz ansteuerten, was niemandem dort unten verborgen blieb. Die wuselnde Menge unter ihnen strömte ebenfalls in diese Richtung, während sie den Platz hastig räumten.
 

Lulanivilay landete nicht so weich wie sonst. Die Erde bebte leicht, als er die Flügel ein paar Meter über dem Boden einfach einklappte und sich fallen ließ. Schlitternd, die Krallen in den Boden gerammt, bremste er ab und blieb hoch aufgerichtet und angespannt stehen. Er hatte nicht vergessen, dass die Jagmarr dafür bekannt waren, Drachen zu jagen, da wollte er besonders stark aussehen, um sie zu entmutigen.

Dhaôma kam das nicht ganz so gelegen, dass die Gesichter der Menschen um sie herum furchtvoll zu ihnen blickten. Er seufzte, konnte seinem Freund daraus aber keinen Vorwurf machen. Liebevoll klopfte er ihm auf die Schulter, bevor er von dem großen Rücken herunter glitt und darauf wartete, dass Mimoun neben ihm landete.

„Seht mal.“

„Der Drachenreiter!“

„Ein Heiler.“ Ehrfürchtig wehten die Stimmen durch das einsetzende Gemurmel.

„Ein Heiler, der mit einem Hanebito unterwegs ist.“

„Und er landet hier! Er muss gezähmt sein, sonst würde er sich das doch nicht trauen!“

„Er hat ihn gezähmt wie den Drachen.“

„Aber der Hanebito hat auch einen Drachen.“

„Das sieht mehr nach einer Schlange aus.“

„Aber so blaue Schlangen gibt es doch nicht!“

„Ist er auch ein Drachenreiter?“

„Aber das würde doch bedeuten…“

Sanft griff Dhaôma nach Mimouns Hand und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu, bevor er die Stimme erhob. „Friede sei mit euch zwischen Himmel und Wasser. Dieser junge Mann ist ein Freund von mir, keinesfalls ein Haustier. Das gilt auch für die beiden Drachen. Und wir sind nicht hier, um jemandem zu schaden. Wir möchten nur mit euch reden.“
 

Der Druck um die Hand wurde verstärkt, als Mimoun seinen Freund anlächelte.

„Es ist schon in Ordnung. Es macht mir nichts mehr aus.“ Vor allem, weil er den Magiern irgendwie beipflichten konnte. Dieser Junge hier hatte ihn wirklich ganz schön gezähmt. Er ließ eine ganze Menge über sich ergehen, nur damit Dhaôma glücklich war.
 

Eine Frau trat aus dem Kreis. Sie war sehr gut gekleidet und schon älter. Ihre Haltung verriet Dhaôma, dass sie wie er zu den höher gestellten Magiern gehörte. „Was hat das hier zu bedeuten? Niemals ist der Drachenreiter in einer Stadt gelandet. Und von einem Hanebito hat auch noch niemand erzählt.“

„Das liegt daran, dass er bisher nicht bereit war, mit jemandem zu sprechen.“

„Also bist in Wahrheit du derjenige, der gezähmt wurde?“

„Mich musste niemand zähmen, Mylady. Ich war von Anfang an gegen den Krieg.“

„Wer bist du?“

Der junge Mann wandte sich ihr vollständig zu und nahm Haltung an, wie es seiner Stellung gebot. „Ich bin Dhaôma en Finochinu en Regelin und ich komme aus Helgen, einer Stadt an der Steppe zum Nordwald.“

Ihre Augen weiteten sich und auch einige der anderen wirkten verwirrt und erstaunt, andere wirkten verängstigt. „Dhaôma en Finochinu en Regelin? Etwa der Bruder von Radarr en Finochinu en Regelin, dem Kriegshelden?“

Davon hörte Dhaôma zum ersten Mal. Sein Bruder war ein Kriegsheld? Er war wirklich zu lange fort gewesen.

„Bist du etwa eben jener Heiler, der zusammen mit den Hanebito das Dorf im Norden zerstört hat?“

„Ai?“ Irritiert schüttelte der Braunhaarige seine Mähne. „Ich sagte doch, ich bin gegen den Krieg. Warum sollte ich also ein Dorf zerstören?“

Ein rothaariger Magier trat neben sie. Er sah ihr ähnlich, vielleicht war er ihr Sohn. „Es wurde vor einem streunenden Magier namens Dhaôma gewarnt, weil dieser gemeinsame Sache mit den Hanebito macht. Aber wir wussten nicht, dass du der Bruder eines unserer Generäle bist.“

Er fing einen strafenden Blick von seiner Mutter auf, die sich dann wieder der seltsamen Gruppe zuwandte. „Es ist nicht bekannt, dass Radarr en Finochinu en Regelin einen noch lebenden Bruder hat. Bis auf seine Mutter fiel seine ganze Familie im Krieg.“

„Also ist Finochinu noch am Leben.“, stellte Dhaôma fest und lächelte schwach. „Es ist mir eigentlich egal, ob ihr mir glaubt, wer ich bin, aber ich habe kein Dorf zerstört.“
 

„Es wundert mich gar nicht, dass sie es glauben. Es ist schön zu hören, dass der Mann ebenfalls überlebt hat, aber ich fürchte, er hat das berichtet, was er für die Wahrheit hielt.“, wies Mimoun seinen Freund darauf hin, dass in dem genannten Dorf einiges schief gegangen war. „Und das beinhaltet nun mal die Tatsache, dass ich ihn angegriffen hatte. Die Umstände spielten für niemanden eine Rolle.“
 

Ja, das stimmte. Da war ein Mann gewesen, den er gerettet und den sie nicht hatten überzeugen können. „Wenn ich das richtig stellen darf: Das Dorf war bereits zerstört, als wir dort ankamen. Es war auch nur Zufall, dass wir den Mann retten konnten, aber er wollte uns nicht glauben, dass wir vom Wind dorthin getragen wurden und helfen wollten.“

„Und das sollen wir glauben?“, fuhr der junge Mann auf. „Mit den Drachen könntet ihr jederzeit eine Stadt in Schutt und Asche legen!“

„Tamai, sei still.“, sagte seine Mutter mit einem zornigen Blick und er senkte demütig das Haupt. Zufrieden wandte sie sich an Dhaôma zurück. „Also, Dhaôma en Finochinu en Regelin. Der Ruf der Drachenreiter erfolgte erst vor kurzem, weit nach dem Niedergang des Dorfes im Norden. Ich gehe also davon aus, dass Ihr erst zu dieser Zeit berufen wurdet.“

„Das ist richtig.“

„Dann werde ich Euch glauben, dass Ihr das Dorf nicht zerstört habt. Drachen akzeptieren der Legende nach nur jene, die friedlichen Herzens sind. Wie ist der Name Eures Begleiters?“

„Dies ist Mimoun en Cerel en Rahol. Der große hier ist Lulanivilay und dies ist Tyiasur.“

Sie sah aus, als würde sie Mimoun am liebsten zerquetschen, aber nur kurz, bevor sie ihren Hass auf die Hanebito unterdrückte. Danach nickte sie ihm zu. „Ich bin erfreut zu sehen, dass sich mehr als ein Drachenreiter für den Frieden stark machen.“

Um sie herum wurde es laut. Die Leute hatten noch viele Fragen, die alle nicht beantwortet worden waren. Zweifel, Freude, Neugierde und andere Gefühle brachen sich in einem ohrenbetäubenden Summen Bahn, zumal nicht alle verstanden hatten, worüber geredet wurde, weil die beiden Stimmen zu leise waren.
 

Es war nicht leicht, die kurzzeitig offensichtliche Abneigung zu übergehen, dennoch lächelte der Geflügelte offen und drehte seine Handflächen in ihre Richtung, um zu zeigen, dass er nichts Böses wollte. Leicht verneigte er sich vor der Frau.

„Ich bin froh, dass ich hier sein darf.“, versuchte er gegen den entstehenden Lärm anzureden. Missmutig runzelte der junge Drachenreiter die Stirn, als sein Blick über die drängelnde und wogende Menge glitt. Ihre Neugier würde dazu führen, dass früher oder später jemand zu Schaden kam.

„Wenn Ihr gestattet, könnte Tyiasur das Gesagte in die Köpfe jedes Anwesenden weiter tragen, damit sich Eure Leute nicht gegenseitig niedertrampeln.“
 

Erstaunt nickte sie. „Tut es ihnen weh?“

Den Kopf schüttelnd lächelte Dhaôma. „Nein. Das tut nicht weh.“ Es freute ihn, dass sie es in Erwägung zog, ihnen zu vertrauen. „Aber vielleicht solltet Ihr sie fragen, ob sie das wollen, damit sie nicht in Panik ausbrechen.“

Sie nickte erneut, dann wandte sie sich an ihren Sohn. „Tamai, schick ihnen die Nachricht, dass sie Informationen von den Drachen erhalten.“

Der Rotschopf nickte und sprach, während seine Hände sich bewegten, verwob seine Worte mit dem Wind, die er kurz darauf über die Köpfe aller Anwesenden schweben ließ.

„Ihr habt Glück gehabt, hier zu landen. Hier ist gleich das Rathaus.“

„Das war kein Glück. Ich bin ein Magier und man hat mir beigebracht, dass die Städte alle so aufgebaut sind.“

Anerkennend wippte ihr Kopf auf und ab, dann sah sie sich einen Moment um, bevor sich ihre Schultern spannten. „Ist es in Ordnung, wenn ich näher komme, damit wir nicht so schreien brauchen?“

„Wir haben damit kein Problem.“, antwortete Dhaôma freundlich und beobachtete, wie sie, ihr Sohn und drei weitere Frauen zu ihnen kamen. Sie alle sahen deutlich verschüchtert aus, aber er bewunderte ihren Mut. Obwohl er gesellschaftlich über ihnen gestanden hatte, als er noch ein isolierter Magier gewesen war, verbeugte er sich vor ihnen.

Eine der Frauen lächelte ihn schüchtern an. „Würde es Euch etwas ausmachen, die Ärmel hochzuschieben und uns Eure Unterarme zu zeigen? Ich habe von einer meiner Dienerinnen gehört, dass ein ungewollter Sohn im Hause Finochinus lebte, der nichts als Pflanzen wachsen lassen konnte.“

Wortlos tat der Braunhaare, worum sie bat. Ihre Augen weiteten sich. Selten hatte sie so viele pflanzenbezogenen Linien an einem Menschen gesehen. „Natürlich habe ich seit damals dazugelernt. Ich war lange unterwegs.“

Sie nickte mit offenem Mund. Sie alle wussten jetzt, was der Hanebito damit gemeint hatte, dass der Drache die Worte weiter trug. Sie hörte ein Echo ihrer eigenen Worte in einer fremden Stimme in ihrem Kopf.
 

Durch Tyiasurs Einsatz wurde es wieder ruhiger um sie herum, da nun jeder der Unterhaltung lauschen konnte. Gedränge herrschte nun nur noch, weil alle einen Blick erhaschen wollten.

„Verzeiht meine Neugierde, aber wenn behauptet wird, dass bis auf zwei Personen alle aus seiner Familie gestorben sind, was ist dann aus…“ Kurz stockte der Geflügelte. Ihm fiel es schwer dieses Wort in Zusammenhang mit seinem Freund zu gebrauchen. „…dem ungewollten Kind geworden. Wie haben sie sein Verschwinden erklärt, hat es sie überhaupt interessiert?“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass eine Mutter so ohne Gefühlsregung über das Verschwinden ihres Kindes hinwegsah.
 

„Sie sagte, er sei verschwunden.“, gab die Frau schüchtern zurück und starrte den Geflügelten mit großen Augen an. „Das Mädchen ist danach entlassen worden, weil man ihn für tot erklärt hat. Sie wurde nicht mehr gebraucht und der Stadt verwiesen.“

„Lian ist hier? Hier, in dieser Stadt?“ Plötzlich war Dhaôma aufgeregt wie selten. Lian war sein Kindermädchen gewesen und später seine Dienerin. Sie hatte immer auf ihn aufgepasst und ihn heimlich aufgemuntert, wenn man ihn wieder mal gescholten hatte. Sie hatte ihm Rückendeckung bei seiner Familie gegeben und ihm sogar Proviant gemacht, wenn er mal wieder vorgehabt hatte, länger wegzubleiben. Woher sie es immer gewusst hatte, konnte er allerdings nicht sagen.

Die blonde Frau war völlig hilflos angesichts der Situation. Erst sprach sie ein Hanebito an, jetzt überfuhr sie dieser junge Magier aus heiterem Himmel. Unsicher nickte sie. „Soll ich sie holen lassen? Ihr scheint sie zu kennen.“

„Also ist ihr Name wirklich Lian? Das bedeutet wohl, dass er der echte Sohn ist. Das geheime Kind Regelins.“ Die Frau, die als erste gesprochen hatte, lächelte und ihre Haltung wirkte plötzlich entspannter. „Mein Name ist Marilyn en Mayu en Trohino. Ich bin hier die Vorsitzende.“ Sie stellte die anderen ebenfalls vor und Dhaôma bemerkte auch bei ihnen eine Entspannung. Offenbar hatten sie Glück gehabt und waren auf jemanden gestoßen, der ihnen Glauben schenken würde.

„Jetzt, wo meine Identität geklärt ist, möchte ich gerne auf den Grund unserer Anwesenheit kommen.“

„Wir werden gerne helfen, wenn wir können.“

„Ihr könnt.“, nickte der Braunhaarige und lächelte. „Wir suchen Menschen, die die Kämpfe Leid sind. Wir suchen andere, die gelernt haben, dass es die Toten nicht wieder zurückbringt, wenn man dafür andere tötet. Wir wollen, dass die Menschen verstehen, dass ein Krieg, der ohne einen Grund geführt wird, kein Ende haben kann, denn es wird kein Ziel erreicht, selbst wenn die Kämpfe enden würden. Also rufen wir die Menschen auf, sich zu überlegen, ob es nicht besser wäre, wenn endlich Frieden einkehren würde. Ich habe einen ganzen Sommer in einem Dorf verbracht, in dem Hanebito leben. Der Anführer der Hanebito hat ein Magierkind aufgenommen, das von dem Mann verstoßen wurde, den wir in dem Dorf im Norden gerettet haben.“

„Der Mann erzählte, ihr hättet das Baby getötet.“, warf Tamai misstrauisch ein.

„Fiamma erfreut sich bester Gesundheit und ist bereits jetzt ein vollwertiges Mitglied dieses Dorfes.“, beruhigte ihn Dhaôma. „Sie hält alle in Atem und sie hat eine liebevolle Familie. Ich möchte damit nur sagen, dass es möglich ist, dass Magier und Hanebito zusammen leben. Mimoun und ich sind das beste Beispiel, nicht wahr? Wir sind seit mehr als drei Jahren auf Reisen und der eine würde ohne den anderen sicherlich nicht mehr leben. Gemeinsam haben wir es geschafft, dass die Hanebito den Frieden als Möglichkeit ansehen.“

„Sie wollen Frieden?“

„Ihr seid nicht die einzigen, die traurig sind, wenn ihre Angehörigen sterben. Es wäre doch wundervoll, wenn die Völker Handel treiben könnten, wenn sie nebeneinander leben könnten, sich gegenseitig unterstützen und helfen würden.“

„Junger Herr?“

Der junge Mann sah auf, als er gerufen wurde. Sein Blick fiel auf eine junge Frau, die er kannte. Es war sein Kindermädchen von früher. Sie hatte sich kaum verändert, war nur etwas älter geworden und trug jetzt eine andere Uniform. Und ihr Gesicht lächelte warm und freundlich wie früher auch, wenn sie ihm mal wieder wortlos geholfen hatte, hatte nur einige Falten mehr, die von großer Sorge sprachen. War das seine Schuld? „Lian.“

Sie trat auf die kleine Gruppe zu, verbeugte sich vor ihrer derzeitigen Herrschaft, bevor sie sich auch vor Dhaôma verneigte. „Ich freue mich, Euch bei guter Gesundheit wieder zu treffen.“

„Dir scheint es auch gut zu gehen.“

Sie nickte. „Und du hast dir deinen Traum tatsächlich erfüllt.“ Ihr Blick fiel auf die Drachen und schließlich auf Mimoun, bevor sie verschmitzt kicherte. „Wusstet Ihr, dass er als Kind immer mit euch fliegen wollte?“
 

Völlig überfahren starrte Mimoun die Frau an. Er war bisher nicht wirklich ignoriert worden, hatte sich dennoch zurück und aus dem Gespräch herausgehalten, um die Magier nicht zu verunsichern, und nun sprach ihn die junge Frau einfach so an.

Mimoun lachte leise. Vom Verhalten erinnerte sie ein wenig an eine Mischung aus Leoni und Aylen. Resolutes Auftreten und offenes, freundliches Wesen. „Ja. So etwas hat er verlauten lassen. Als ich ihn dann das erste Mal durch die Luft getragen habe, hat er gelacht und gequietscht, wie ein kleines Kind.“
 

„Das hätte ich gerne gesehen.“ Auch sie kicherte.

Dhaôma wurde rot, als er die beiden so über sich reden hörte. Sie taten ja gerade so, als würden sie sich schon seit Jahren kennen! „Lian, woher weißt du denn das?“, fragte er, um vom Thema abzulenken.

„Wer, glaubt Ihr, hat Euer Zimmer jeden Tag aufgeräumt? Ich habe natürlich Eure Bilder und Briefe gefunden.“

Er starrte sie an, dann lachte er. „Vielen Dank, dass du mich nicht verraten hast.“ Oh ja, er hatte alles, das seine Träume beinhaltete, versteckt, nachdem ihn sein Vater einmal richtig verdroschen hatte, als er davon erfahren hatte.

„Das lag nicht in meinem Aufgabenbereich.“, zwinkerte sie ihm zu. „Ihr seid erwachsen geworden. Ich bin mir sicher, heute würden Eure Eltern Euch nicht mehr verleugnen.“

„Ich denke, das werden sie sicher immer noch tun, wenn sie erfahren, dass ich nicht daran interessiert bin, meinen Vater zu rächen, oder die Familientradition fortzuführen.“

Hilflos musste sie ihm zustimmen.

„Dhaôma. Ihr erwähntet, dass man Handel treiben könnte oder sich gegenseitig helfen könnte. Was für Güter hätten die Hanebito denn anzubieten?“

„Sie machen das weichste Leder, das man sich vorstellen kann, aber im Grunde müsstet Ihr das Mimoun fragen. Er kennt sich da besser aus.“
 

„Wir sind ausgezeichnete Jäger und verwehrten so gut wie alles von der Beute. Pelze und Leder werden von ihnen gewonnen und verarbeitet.“ Zur Demonstration zog er eines seiner Ersatzhemden heraus und hielt es auffordernd in ihre Richtung. „Knochen, Zähne und Horn werden zu Schmuck oder Teil der Waffen. Sehnen werden für unsere Bögen verwendet oder als Fäden für die Kleider oder unsere Häuser. Früchte können wir bedauerlicherweise nicht sonderlich gut anbauen auf den Inseln. Die Bedingungen sind nicht die besten, aber das wenige können wir für sehr lange Zeit haltbar machen.“ Nachdenklich kratzte sich der junge Geflügelte am Kopf und überlegte. „Wir haben nur wenige Bienenvölker und was wir von ihnen ernten können, reicht nicht für alle. Dann gibt es noch mehrere Inseln, in denen wir blau und grün schillernde Steine finden können, die ebenfalls Teil von Schmuck werden.“ Ihm fiel so auf die Schnelle nicht mehr ein und Tyiasur sendete ihm ein Bild in den Kopf. Ein katzengroßes Pelztierchen mit Horn. Der kleine Wasserdrache hatte einmal das Wissen aufgeschnappt, dass die Fanras Handelsware gewesen waren. „Ach ja. Die Fanras. Die könnt ihr gerne haben.“
 

Beinahe hätte Dhaôma gelacht, als er die Frauen beobachtete, die ungläubig die Nasen rümpften. „Glaubt mir, dass das, was sie machen, Qualität hat. Aber genau wie bei euch Magiern sind sie einfach wenige geworden und alte Traditionen sind verschwunden. Wertvolles Wissen ging verloren und kann vielleicht wiedererlangt werden, wenn sie nicht mehr kämpfen müssen. Ich habe den Zustand der Magierstädte gesehen, über die ich geflogen bin. Es sind so wenig Menschen, die Häuser und Straßen schreien förmlich nach Wiederaufbau und keiner weiß mehr wie, denn die Menschen, die es wussten, sind längst gestorben. Als ich noch zu Hause war, habe ich immer wieder mal mitbekommen, dass bestimmte Güter rar wurden. Fleisch, denn die Tierpfleger werden in den Krieg eingezogen. Glas, weil Feuermagier an der Front gebraucht werden. Heiler, die ein Privileg für Soldaten sind. Bei den Hanebito ist das Leben einfach, aber sie leiden unter der Knappheit nicht ganz so schlimm wie ihr Magier, weil sie sich nicht auf ihre Magie verlassen.“

„Sie haben ja nicht mal welche.“

„So ist es. Deswegen lernen sie, ihre Hände vortrefflich zu gebrauchen. Und ihre Kinder sind sehr gelehrig.“ Er lachte bei dem Gedanken an Elin und ihre Freunde, wie sie den Lehmofen gebraut hatten. „Es sind herzensgute Menschen und haben nicht weniger Spaß als die Magier.“

„Warum sprecht Ihr von uns Magiern und bezieht Euch da nie ein?“, wollte Marilyn wissen und wischte damit das Lachen von Dhaômas Gesicht.

„Weil mein Leben schöner ist als eures. Ich lebe fernab vom Krieg und bin frei. Ich bin viel freier, als ihr Magier es je sein könntet, weil ich mich nicht mehr in dieses Klassensystem pressen lasse. Mit Hilfe von Lulanivilay kann ich jeden beliebigen Ort aufsuchen, kann mir Freunde dort suchen, wo sie keiner erwartet, kann meinen Träumen folgen, ohne dass mich dafür jemand scheltet.“

„Und trotzdem seid Ihr hergekommen, um Frieden zu verbreiten?“

„Ich wünsche mir, dass alle Menschen so frei sein können. Aber dafür muss der Krieg vorbei sein, denn vorher können sie nicht gehen, wohin sie wollen. Sie werden engstirnig an ihren alten Traditionen festhalten, ohne je zu erfahren, wie weit die Welt außerhalb des Kampfes ist, wie bunt und vielfältig das Leben sein kann.“

Stille breitete sich aus, weil Tyiasur Dhaômas Worte mit Bildern untermalte, die in dessen Kopf aufblitzten. Sie sahen den braunhaarigen Magier inmitten von Kindern liegen, wie sie sich gegenseitig mit Schlamm bewarfen, die Jagd auf Lachse, bei der Lulanivilay nicht sehr hilfreich im Wege stand. Gelächter folgte auf Dhaômas und Mimouns ersten gemeinsamen Flug, bei dem sie beinahe ins Wasser gefallen waren – nicht wenige erröteten, denn immerhin hatte Dhaôma dabei nichts angehabt. Der Anblick Fiammas, die zusammen mit einem Hanebitobaby in einem Körbchen schlief, und die Freude ihres Adoptivpapas, als er sie wie frischverliebt hochhob, löste Erstaunen aus, welches abgelöst wurde von bewundernden Ausrufen, als die Landschaft aus der Luft gezeigt wurde und sich die unendliche Weite des Meeres vor ihren inneren Augen ausbreitete.

„Also wäre es schön, wenn Ihr verbreiten könntet, was ich gesagt habe, damit auch andere verstehen, dass es ein gemeinsamer Wunsch werden muss, dass der Krieg beendet wird. Je mehr es werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass keiner mehr geliebte Menschen verlieren muss.“

„Dauert das noch lange, Freiheit? Mir gefallen zwar deine Erinnerungen, aber es wird kalt.“

Braune Augen blickten ihn desorientiert an. Erinnerungen? Wovon sprach er? „Nein, ich denke, wir sind hier bald fertig. Hab noch ein wenig Geduld.“

„Ihr wollt nicht bleiben?“

„Das können wir nicht.“, antwortete Dhaôma freundlich. „Die Kälte ist etwas, das den Drachen stark zusetzt. Es sind Wechselwarme und hier bricht der Winter herein.“

„Wann werdet Ihr wiederkommen?“

„Sobald es warm genug ist.“

„Und was habt Ihr vor?“

„Unseren Traum verfolgen, damit Fiamma und Seren in Frieden aufwachsen können.“ Wieder untermalte Tyiasur diese Worte mit Bildern der kleinen blonden Mädchen, wie sie furchtlos den Drachen begegnet waren, und wie Mimoun sie auf den Armen hatte, während Fiamma auf Dhaômas Haaren herumkaute.

„Sie sind wirklich süß.“, merkte Lian an und erntete wieder einen irritierten Blick von Dhaôma.

„Ja, das sind sie.“, nickte er und strahlte.

Inzwischen wechselten die Damen um die Vorsteherin Blicke miteinander, bevor Marilyn entschieden nickte. „Da es sowieso jeder mitbekommen hat, wird sich Euer Besuch hier schnell verbreiten, aber wir werden auch Briefe an die anderen Städte schicken und mit anderen Vorstehern sprechen. Eine Antwort können wir Euch geben, wenn Ihr zurückkehrt.“

„Das hilft uns schon. Sprecht einfach mit so vielen Menschen darüber, wie es möglich ist.“, stimmte Dhaôma zu und wandte sich an Lian. „Es ist schön zu sehen, dass es dir gut geht. Es tut mir auch schrecklich Leid, dass sie dich wegen meiner Abwesenheit des Hauses verwiesen haben, aber ich denke, dass es zu deinem Besten war, diesem Haus den Rücken kehren zu können.“

„Junger Herr, ich wünsche Euch alles Gute.“ Sie verbeugte sich vor ihm und lächelte.

„Möchtest du ihnen noch etwas mitteilen, Mimoun? Ansonsten würde ich vorschlagen, dass wir jetzt weiterfliegen.“
 

Mit einem Fingerzeig deutete er an, dass er gleich soweit war und machte zögerlich einen Schritt auf die junge Frau zu und trat dann völlig an sie heran, als sie nicht zurückwich. Tyiasur verstummte, da diese Worte nur für sie bestimmt waren.

„Ich danke dir, dass du ihm eine gute Freundin bist. Es tut gut zu wissen, dass Dhaôma nicht völlig allein gewesen ist.“ Mit einem sanften Lächeln trat er einen Schritt zurück und drehte sich um, ging zu Dhaôma und Lulanivilay zurück. Nun war er bereit zum Abflug.
 

Neugierig fragten Dhaômas Augen, was er gesagt habe, aber Mimoun ignorierte die Frage, also verabschiedete sich Dhaôma mit einer Verbeugung und kletterte auf den ungeduldig wartenden Drachen.

„Mimoun en Cerel en Rahol, ich danke Euch ebenfalls!“ Und mit einer tiefen Verbeugung verabschiedete sich Lian auch von ihnen. Dhaôma winkte, dann hob Lulanivilay mit heftigem Flügelschlagen ab, das die Frisuren der hohen Damen völlig zerstörte. Erst jetzt wurde das Ausmaß seiner Landung für alle deutlich sichtbar. Das feine Mosaik einer Sonne war durch mehrere Furchen aufgeworfen und zerstört. Als sie sich entfernten, winkten und riefen ihnen nicht wenige Abschiedsgrüße hinterher. Viele von ihnen waren wirklich erstaunt, dass sie soeben ihre erste Begegnung mit einem Hanebito und obendrein mit zwei echten Drachen lebend hinter sich gebracht hatten.
 

„Mimoun reicht völlig.“, hatte der junge Drachenreiter lachend zurückgerufen und dann abgehoben. Als sie außer Sichtweite waren, hing er sich an Lulanivilays Bauch.

„Nur kurz.“, lachte er leise. „Ich bin ein wenig zittrig.“ Erst jetzt begann er die Auswirkungen seiner Nervosität zu spüren. „Ich hab’s tatsächlich überlebt.“
 

„Du warst ja auch tapfer, Himmel.“, kommentierte das Lulanivilay und griff mit seinen Pranken zu, damit der Geflügelte nicht abstürzte.

„Ich bin schrecklich stolz auf dich, Mimoun.“ Dhaôma hangelte sich so weit über den Hals, dass er gerade nicht abstürzte, damit er seinen Freund sehen konnte. „Ich habe gar nicht bemerkt, dass du Angst hattest. Du warst so ruhig.“
 

Erneut schwang Lachen zu dem Magier empor. „Man zeigt einem Gegner auch nicht, dass man Angst hat. Und deine Angst hatte man dir bei deiner ersten Begegnung mit dem Rat auch nicht angemerkt. Ich konnte es nur erahnen, da auch ich einmal dort gestanden hatte und du es vorher in einem Nebensatz erwähnt hattest. Für dich musste diese Begegnung damals doppelt so schlimm gewesen sein.“

Der Geflügelte löste seinen Griff von dem Drachen und vertraute sich völlig seinem Halt an. Mit geschlossenen Augen und einem Lächeln hing er in den Klauen.
 

Auch Dhaôma lachte befreit. In ihm loderte das Hochgefühl, etwas geschafft zu haben. Jetzt hing wirklich alles daran, was die Magier wollten. Würden sie beim nächsten Mal mit offenen Armen empfangen, waren sie wohl auf ihrer Seite, griffen sie an, würden sie einfach noch einmal auf andere Weise anfangen müssen.

Gewählter Tod

Kapitel 54

Gewählter Tod
 

In den nächsten Tagen besuchten sie noch vier weitere Magiersiedlungen, nur eine davon war nennenswert größer als die erste, aber in ausnahmslos jeder wurden sie misstrauischer begrüßt, da Lians Anwesenheit als Beweis für Dhaômas Identität fehlte. Aber immer war es Tyiasur, der den entscheidenden Unterschied machte, indem er Bilder aus den Erinnerungen der beiden Drachenreiter an alle weiterschickte, und damit ihr Misstrauen überwand. Die meisten Magier verabschiedeten sie mit einem Winken.

Dann ließen sie die bewaldeten Zonen hinter sich und überflogen ein Gebirge. Es gab kaum Pflanzen, geschweige denn Schnee und es war einigermaßen warm, dennoch flogen sie noch ein wenig weiter, um am Tage länger Sonne genießen zu können, die aus den Tälern ausgesperrt war. Auf einer Art Steppe mit sehr seltsamen Tieren beschlossen sie schließlich, dass es weit genug war. Zwei Wochen waren sie geflogen und Mimoun würde auch so schon lange genug brauchen, um nach Hause zu kommen. Es gab einen großen See, es gab einige Bäume, es gab Sanddünen und weite Grasflächen, dazu genügend Beute und viel Fläche, auf der man laufen oder über die man fliegen konnte, wenn man unternehmungslustig war.
 

Sie schlugen ihr Lager am Rande des Sees auf. Während sich Dhaôma in der näheren Umgebung umsah, suchte Mimoun in einem größeren Radius nach potenzieller Bedrohung.

Die Tierwelt hier war faszinierend. So völlig unbekannt. Ganze Herden großer grauer Ungetüme stampften über die Ebene. Ein wenig erinnerten sie den Geflügelten an die Erddrachen auf der Grasebene der Dracheninsel. Sie waren genauso massig, aber nicht ganz so gutmütig, wie er feststellen musste. Mit hohem Kreischen und tiefem Donnern zeigten diese Tiere ihren Unmut über seine Gegenwart und schnell drehte er wieder bei. In weiter Entfernung sah er eine feine Linie aus unterschiedlichsten Brauntönen über die Ebene ziehen. Neugierde trieb ihn dorthin. Es war unglaublich. Eine schier unzählbare Masse an Klauenträgern schritt unter ihm entlang. Einige beschleunigten, als sein Schatten auf sie fiel, einige brachen flink zur Seite aus.

Als der Geflügelte schließlich zu seinen Freunden zurückkehrte, berichtete er voller Begeisterung von diesem Erlebnis und der Tatsache, dass bei dieser Masse an Tieren niemand mehr Hunger zu leiden hatte. Es war so unvorstellbar für Dhaôma, dass Tyiasur ihm einfach das Bild aus Mimouns Erinnerung zeigte.
 

Eine weitere Tierart dieser Gegend konnten sie bewundern, als Lulanivilay von seiner Jagd zurückkam. Es war weiß und schwarz gestreift und sah ansonsten fast so aus wie die Esel in Dhaômas Stadt.
 

Die nächsten Tage hielt sie überhaupt nichts an Ort und Stelle. Sie zogen zu Fuß über die Ebene und wieder einmal bestimmte Dhaôma das Tempo, während Tyiasurs Wasserbedürfnis den Weg entlang eines ungewöhnlich geraden Wasserlaufes vorschrieb.

Einige Tage später fing es an. Mimoun fühlte sich beobachtet. Das Gefühl war nur kurz und gleich wieder verschwunden und er dachte zunächst, es sei Einbildung, aber als es mit der Zeit immer wiederkam, vertraute er sich doch seinen Freunden an. Daraufhin witterten die Drachen und Tyiasur suchte die nähere Umgebung geistig nach Menschengedanken ab, aber er wurde nicht fündig. Dennoch ließ sich Mimouns Gefühl nicht beruhigen. Schon am nächsten Tag war es wieder da.

Da das nicht normal war, wies er seine Freunde mit einem Wink an, weiter zu gehen und sonderte sich ab. Sein Weg führte ihn nicht direkt in die Richtung, die ihm sein Instinkt riet. In weitem Bogen schlenderte er zu der Stelle, an der er ihren Beobachter vermutete. Dort angekommen, war niemand da. Wie zu erwarten.

Misstrauisch und neugierig hockte er sich hin und suchte am Boden nach Spuren. Das Gras war ein wenig zur Seite gedrückt, kaum wahrzunehmen. Vorsichtig strichen seine Finger über die Stelle und der junge Geflügelte richtete sich wieder auf. Sein Blick glitt über die Umgebung, seine Ohren registrierten jedes Geräusch. Doch da war nichts Auffälliges. Seinen Blick gen Boden gerichtet, schlich er weiter. Spuren waren kaum zu entdecken. Wer auch immer hier gewesen war, wusste, wie er sich zu verbergen hatte.

Da es keinen Sinn hatte, wahllos in der Gegend herumzustreunen, kehrte er zu seinen Freunden zurück. Kurz klärte er sie über seine Eindrücke auf. Irgendwie mussten sie es schaffen, ihren Verfolger dazu zu bewegen, sich zu zeigen.
 

Auch in den nächsten Tagen wurde es nicht besser. Das Gefühl blieb, aber jetzt ließen sich keine Spuren mehr finden. Wer auch immer sie verfolgte, war vorsichtiger geworden. Es blieb aber auch nur bei dem Gefühl. Da war niemand, der sie angriff, es gab keine aggressive Handlung. Warum also folgte man ihnen?

Eines Morgens wurden die Freunde von einem Schrei aus dem Schlaf gerissen. Alarmiert schoss Mimoun hoch und lauschte. Ein wenig flussabwärts waren heftige Bewegungen zu vernehmen und er hastete dorthin, als Fauchen anzeigte, dass Tyiasur sich dort befand.

Was er sah, ließ ihn stocken. Dort stand geduckt eine Person und belauerte den blauen Wasserdrachen, der mit aufgestellten Stacheln dicht über der Wassergrenze schwebte. Als der Geflügelte durch das Gebüsch trat, fuhr der Kopf herum und die dunkelbraunen, fast schwarzen Augen starrten ihn mit einer Mischung aus Angst und Misstrauen an. Man hätte die Frau für eine Geflügelte halten können, denn es ragte aus ihrem Rücken ein einzelner, unförmig wirkender Flügel, für diesen Körper zu klein. Etwas störte diese Vermutung jedoch: Ihre Haut wirkte heller, die Ohren nicht so spitz wie es für Geflügelte üblich war. Sie hatte sich ein aus unterschiedlichen Brauntönen bestehendes Tuch kompliziert um den Körper geschlungen, in der Mitte durch ein einfaches Band gehalten. Die ebenfalls braunen Locken waren in einem einfachen Knoten gebändigt. Sie fiel in dieser Umgebung wirklich kaum auf.

Noch während er sie anstarrte, schnellte ihre Hand, die bisher ins Gras gestützt gewesen war, in seine Richtung und etwas Flirrendes entwickelte sich in Mimouns Richtung. Nur durch Tyiasurs bildliche Warnung war es ihm möglich, rechtzeitig den Arm zu heben, bevor ihm das Ende des aus mehreren Riemen geflochtenen Stricks ins Gesicht knallen konnte. Dafür wickelte es sich nun schmerzhaft um sein Handgelenk. Reflexartig griff er zu und hielt den Riemen mit der Hand fest. Bevor er seine Verblüffung völlig überwunden hatte, hatte sie sich auch schon umgedreht und war zwischen den Sträuchern am Ufer des Flusses verschwunden. Fassungslos starrte er auf das Leder in seiner Hand und dann auf die Stelle, an der sie verschwunden war. Was war das denn jetzt gewesen?
 

Dhaoma wurde von Tyiasur gerufen, als längst alles vorbei war. Der Drache wusste jetzt, wo sie waren, hatte sie mit seiner Gabe verfolgen können und Bilder ihres Verstecks sandte er an seine drei Freunde. Es kostete Lulanivilay nur Minuten, um aufzuwachen, Dhaôma einzusammeln und einige Dutzend Meter weiter direkt neben Mimoun zu landen. Seine Nüstern blähten sich witternd, während der Magier zu seinem Freund eilte, um zu erfahren, was passiert sei. Die Verwirrung seines Freundes war beinahe greifbar.

„Hier sind wirklich Menschen? Etwa Magier?“
 

„Ja. Nein. Ich weiß nicht.“, murmelte Mimoun und schüttelte dann entschieden den Kopf. Er löste den Riemen von seiner Hand und band ihn sich um die Hüfte. Sollte er ihr noch einmal begegnen, würde er ihn ihr zurückgeben. „Sie sah nicht aus wie ein Magier. Aber auch wenn sie einen Flügel besaß… ich weiß nicht. Sie tut mir Leid. Sie konnte nicht fliegen. Nicht damit.“ Gedankenverloren rieb er sich das Handgelenk und sah in die Richtung, in der sie verschwunden war. „Und sie schien Angst vor mir zu haben. Ich hatte keine Zeit, mich zu erklären. Sie hat mich sofort angegriffen. Anscheinend war es nicht Neugier, die sie in unserer Nähe gehalten hat.“
 

Also eine Hanebito. Aber wieso sollte sie einen ihresgleichen angreifen? Ob sie wohl schlechte Erfahrungen gemacht hatte? Musste wohl so sein. Aber warum hatte Mimoun dann auf seine Frage nicht eindeutig verneint, wenn es ein Hanebito war?

„Gehen wir sie suchen.“, sagte er leise. „Tyiasur weiß, wohin, und ich möchte wissen, was wir verbrochen haben, dass man uns beschattet und dass man dich angreift. Wenn wir mit ihnen reden, dann klärt sich vielleicht ein Missverständnis auf und vielleicht können wir bei ihnen den Winter beginnen, eine positive Strömung zu schaffen.“ Hauchzart fuhr seine Hand über Mimouns Rücken, aber er war sich dieser Geste nicht bewusst. Besorgt sah er in die Richtung, in die auch Mimoun gestarrt hatte.

„Vilay? Was ist mit dir?“

„Es riecht nach Rauch und verbranntem Fleisch.“

Unwohl sah Dhaôma Mimoun an. „Gehen wir?“
 

„Dann kann ich ihr ja das hier wiedergeben.“, lächelte der Geflügelte. Er fühlte sich unwohl dabei. Nicht wie bei den Magiern. Die hatten ihn gehasst. Das war ein anderes Gefühl als die Angst, die er in ihren Augen gesehen hatte. Damit konnte er mittlerweile gut umgehen. „Wir müssen vorsichtig sein. Am besten bereiten wir für den Notfall alles für eine schnelle Flucht vor.“ Und schon machte er sich auf den Weg, um ihre Sachen zusammenzuschnüren.
 

Wortlos half der Braunhaarige, während seine Gedanken rasten. Hier waren Hanebito, die nicht flogen. Wenn sie fliegen würden, hätten sie sie sehen können. Es gab hier auch weit und breit keine fliegenden Inseln oder die geduckten Häuser aus Stein und Leder. Aber egal, wer das war, sie hätten sie bemerken müssen! Wie oft war Lulanivilay auf der Jagd gewesen? Oder hatten sie ihretwegen nicht gejagt?

Seine Hände verharrten in der Arbeit und sein Blick wurde von dem Gebüsch wie magisch angezogen. Sein Kopf war voller Sorge, dass ihre Anwesenheit diese Leute vielleicht hungern ließ. Oder dass Mimoun angegriffen worden war, weil diese Leute ihn für einen Verräter an den Hanebito hielten.
 

Auch das zweite Paar Hände kam zur Ruhe und ein unglücklicher Blick aus grünen Augen ruhte auf dem Magier. Lautlos trat der Geflügelte an ihn heran und strich mit den Fingern einige Fransen aus der Stirn.

„Es ist okay. Wir gehen kein Risiko ein. Sollten sie uns nicht zuhören wollen, werden wir uns umgehend zurückziehen. Niemandem wird etwas geschehen, ich verspreche es dir.“
 

Vielleicht war schon zu viel geschehen, aber Dhaôma nickte und fuhr dann fort, Lulanivilay sein Geschirr anzulegen.

Wenig später waren sie abflugbereit und sie erhoben sich in die Lüfte. Tyiasur gab ihnen die Richtung vor und es dauerte nicht lange, da landeten sie auf einem baumlosen Platz inmitten von Arbeitsgeräten wie Webrahmen oder Gerberpötte. Menschen waren nicht zu sehen, aber ihre Blicke waren überdeutlich zu spüren.

„Friede sei mit euch zwischen Himmel und Wasser. Wir sind hier, um zu reden!“, rief der Magier.

Es kam keine Antwort.

„Egal, wie gruselig wir auch aussehen mögen, wir tun niemandem etwas! Wir sind hier, um über Frieden zu reden!“
 

Mit vorsichtigen Bewegungen löste Mimoun den Riemen. Er wollte niemanden durch hastige Bewegungen provozieren. „Hier. Das hat eine der euren bei uns vergessen.“, erhob auch er seine Stimme und legte den zusammengerollten Riemen einige Schritte entfernt von ihnen ab.

Langsam trat er wieder an die Seite des großen Drachens.

Als er sich wieder zu dem zurückgebrachten Fundstück umwandte, war die Frau plötzlich da. Wie aus dem Nichts war sie dort aufgetaucht und bückte sich langsam nach dem geflochtenen Leder. Dabei behielt sie die Gruppe der Eindringlinge fest im Blick. Kaum stand sie wieder, schnellte ihr Arm nach vorn und der Riemen erreichte mit einem lauten Knall knapp vor Mimouns Gesicht seine volle Länge. Es fiel dem Geflügelten nicht schwer, stillzuhalten. Tyiasur hätte ihn gewarnt, hätte sie vorgehabt, ihn zu treffen.

„Geht. Ihr seid hier nicht willkommen.“
 

„Warum nicht?“ Dhaôma war erschrocken bei dem Knall, jetzt war er nahezu wütend. Sie hatte es gewagt, Mimoun ein zweites Mal anzugreifen! Dagegen war ihr seltsames Aussehen für ihn kaum bemerkenswert. „Was haben wir euch getan? Wir wussten bis heute nicht einmal, dass ihr hier lebt, warum werden wir so unfreundlich behandelt?“ Ja, es war fast so wie bei den Magiern, wie bei seiner Familie. Die hatte ungebetene Besucher auch so brüsk abgewiesen.
 

Die Frau schwieg. Dafür sprach Tyiasur in den Köpfen seiner Freunde. „Sie haben Angst. Angst, dorthin zurück zu müssen, von wo sie geflohen sind. Sie verstecken sich und jeder Fremde wird als Gefahr für ihren zerbrechlichen Frieden angesehen. Ich habe ihr bereits gesagt, dass ihr ihnen nichts Böses wollt.“

Mimoun tätschelte den Hals seines Drachens und lächelte sanft. „Manche finden es erschreckend, wenn plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf spricht.“, wies er ihn darauf hin.

„Ich werde ihnen beim nächsten Mal vorher Bescheid geben.“, versprach Tyiasur und Mimoun lachte leise, als er sich wieder der Frau zuwandte.

„Entschuldige bitte meinen Freund. Er hatte nicht vor, dich zu erschrecken.“ Nacheinander stellte er sich und seine Freunde vor. „Wir werden euch nichts tun.“

Wieder knallte es dicht vor seinem Gesicht. „Geht!“
 

Dhaôma starrte auf die Frau vor ihm. Zum ersten Mal sah er sie genauer an und wusste nun, was Mimoun meinte, als er sich nicht sicher war, ob Magierin oder Hanebito. Sie hatte von beiden etwas.

Tyiasurs Hinweis, sie hätte Angst vor ihnen, drückte auf seine Brust, und seine Hände begannen zu zittern. Während er sich noch weigerte, die Konsequenz aus alldem zu ziehen, wusste er unterbewusst bereits Bescheid.

„Du bist wütend, Freiheit.“, stellte Lulanivilay fest und stupste ihn an, was ihn aus seiner Starre riss. Die Bewegung war holzig, als er nach dem Geschirr griff und aufstieg. Er brauchte dringend Zeit zum Nachdenken, musste das alles erstmal verstehen!

„Mimoun?“ Ein weiterer Blick zu der Frau trieb ihm die Tränen in die Augen und hastig wandte er sich ab, damit sie es nicht sah. „Bitte, Vilay...“

Und der Drache startete mit einem liebevollen Gurren, ein Geräusch, das man von ihm kaum je gehört hatte.
 

Kurz wechselte sein Blick zwischen ihr und seinem Freund, bevor ein trauriges Lächeln seine Lippen umspielte. „Tut mir Leid, dass wir euch Kummer bereitet haben. Es war wirklich nicht unsere Absicht. Wenn ihr es wünscht, werden wir versuchen, euch nicht mehr zu belästigen.“

Und ohne eine Antwort abzuwarten, folgte er seinen Freunden. Es brauchte nicht viel, den Drachen und seinen Reiter einzuholen. Er ließ sich vom Wind knapp oberhalb des Schuppentieres tragen, seine Flügelschläge denen des Drachens angepasst, und fuhr Dhaôma sacht durch die Haare. „Alles okay?“, wollte er wissen. „Angst ist vielleicht schwerer zu überwinden als Hass.“
 

Ob alles okay war? Nichts war okay. Der Magier holte tief Luft und wischte sich über die Augen. „Hast du ihre Kleider gesehen? Das sind Magierkleider! Die einfachste Sorte. Von armen Schichten! Aber sie trägt es wie jemand, der höher gestellt ist. Und…“ Verzweifelt runzelte sich die Stirn. „Mimoun, das war ein Halbling, nicht wahr? Ein Mischwesen aus Hanebito und Jagmarr. Hast du von so etwas schon einmal gehört?“ Seine Hände krallten sich in das Leder. „Vielleicht leben hier Hanebito und Magier friedlich zusammen. Wie bei den Drachen! Tyiasur hat doch was von Frieden gesagt!“

Aber so hatte sie nicht gewirkt. Wenn hier Magier und Hanebito leben würden, dann hätte sie sich einem Fremden, der sie vielleicht ablehnt, nicht zeigen müssen, dann hätte sie ein anderer abwimmeln können. Aber es war kein anderer zu sehen gewesen. Bedeutete das nicht, dass hier noch mehr Halblinge lebten? War das die Angst, die sie hegten? Waren sie geflohen vor der Ablehnung der Magier und hatten Angst, dass sie ihnen hierher folgten, um sie zu verhöhnen oder Schlimmeres? Dhaôma konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es auch nur einen Magier gab, der nicht zumindest entsetzt war. Wie er sein Volk einschätzte, waren diese Wesen durch die Hölle gegangen.
 

„Zerbrechlichem Frieden.“, korrigierte Mimoun leise. „Jede noch so kleine Störung könnte ihn zerbrechen lassen.“ Immer wieder strichen seine Finger über den braunen Haarschopf. „Und wenn die beiden Völker hier wirklich zusammenleben sollten, hätten sie keinen Grund gehabt, uns fort zu schicken.“ Mitfühlend ruhte der Blick des Geflügelten auf seinem Magier. „Aber dessen bist du dir durchaus selbst bewusst geworden, nicht wahr?“
 

„Sie wollen nichts Böses. Sie hat dich nicht getroffen, obwohl sie es konnte, nicht wahr? Sie hat absichtlich danebengehauen. Wenn sie uns schaden wollten, würden ein paar Pfeile reichen, wir hätten es nicht einmal bemerkt, bevor wir gestorben wären.“
 

„Sie hätte mich nicht treffen können. Die Reichweite war zu gering.“, korrigierte Mimoun. „Es war eine Warnung, dass ich keinen Schritt näher kommen sollte. Aber du hast Recht. Auch sie hoffen auf Frieden und sie klammern sich an jedes bisschen, das sie kriegen können.“ Der Geflügelte ging wieder ein wenig auf Abstand, um bequem fliegen zu können. „Na komm. Suchen wir uns einen ruhigen Ort, an dem wir unser Frühstück bekommen. Der Tag hat ein wenig turbulent begonnen, fürchte ich.“ Und schon begann er tiefer zu segeln.
 

Dhaôma gab Lulanivilay das leise Zeichen, dass er Mimoun folgen sollte, und als sie landeten, hatte er einen Entschluss gefasst. „Mimoun, es tut mir Leid, wenn sie dich für einen Lügner halten, aber ich will noch nicht gehen. Ich möchte versuchen, mit ihnen zu reden. Sie sollen verstehen, dass wir ihnen nichts Böses wollen, egal wie lang es dauert. Bis zum Frühling haben wir doch ohnehin nichts Besseres zu tun, oder?“

„Du machst es schon wieder, Freiheit.“

„Was?“, verwirrt sah Dhaôma zu seinem Drachenfreund.

„Du versuchst wieder jemanden zu retten, obwohl es deinem Traum nicht hilft.“

„Du hast selbst gesagt, dass es nicht unmöglich ist.“

„Sicher. Kann ich diesmal helfen?“

„Wenn du willst, gerne. Mimoun?“
 

Der rechte Fuß zog Kreise in den Boden, während der Besitzer mit verschränkten Armen dastand und nachdenklich auf die sich bildenden Formen starrte. Sie hatten wirklich nichts Besseres zu tun. Aber ihr Gegenüber hatte es diesmal friedlich probiert. Vielleicht würde es beim nächsten Mal nicht so harmlos ablaufen, da sie sich endgültig bedroht sahen.

Mit einem abgrundtiefen Seufzen streunte er zu Dhaôma hinüber und lehnte schließlich seine Stirn an die des Freundes. Ein sanftes Lächeln huschte über seine Züge. „Du wärst nicht mein naiver Magier, wenn du etwas anderes vorgeschlagen hättest.“ Ruckartig wandte er sich ab und begann aufzuzählen. „Wir brauchen einen festen Rastplatz. Von allen Seiten einsehbar, damit sie, wenn sie auf die Idee kommen, uns beobachten zu wollen, alles sehen. So merken sie, dass wir friedlich sind und nichts vor ihnen zu verbergen haben. Wasser muss in der Nähe sein. Jagdgründe nicht zu weit entfernt. Ich glaub, das war es erst einmal. Ach nein. Nicht zu dicht an ihrem Lager. Wir wollen ja keine Bedrohung darstellen.“
 

„Ich dachte, wir könnten ihnen helfen. Du sagtest doch, sie können nicht fliegen. Aber Jagen ist nicht so einfach, wenn man nicht fliegen kann. Wir könnten ihnen doch beim Jagen helfen. Oder ich lasse essbare Pflanzen wachsen. Oder wir versuchen, Handel mit ihnen zu treiben.“ Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe herum, dann lächelte er. „Aber da wir wirklich viel Zeit haben, wäre es vielleicht besser, wenn ich meine Magie nicht zu offensichtlich einsetze, nicht wahr? Schließlich sind sie vor Magiern geflohen. Vielleicht haben sie Angst davor, magisch angegriffen zu werden.“
 

„Und wenn wir überfallartig bestimmen, dass wir sie bei der Jagd unterstützen oder Handel treiben wollen, wäre das auch die falsche Vorgehensweise. Wir sollten ihnen Zeit lassen, sich an unsere Gegenwart zu gewöhnen. Deshalb ein frei überschaubarer Rastplatz. Dort kannst du auch Magie wirken. Schließlich war Pflanzen wachsen zu lassen auch das Erste, das in meinem Dorf für Aufsehen gesorgt hatte. Und sie beruhigte, schließlich ist das harmlos.“
 

Dhaôma seufzte, dann nickte er. „Also ein Rastplatz innerhalb eines halben Tagesmarsches von ihnen entfernt. Vilay, kennst du da einen Platz?“

„Sicher.“ Der Drache flatterte mit den Flügeln und wirbelte eine Menge Staub auf, sanft griff er Dhaôma mit der einen Klaue und Mimoun mit der anderen und flog los, den stolzen Blauen auf seinem Kopf tragend. Wenige Minuten später landete er auf einer Anhöhe, an deren Fuß ein See lag. Das einzige, das die Sicht ein wenig störte, war eine große Rubinie, deren Duft die gesamte Luft erfüllte und schwer machte. Glücklich setzte er seine beiden Freunde ab, rollte sich zusammen und blinzelte sie an. „Schön hier, nicht?“
 

Es war immer wieder ein Erlebnis von einem Drachen getragen zu werden. Vor allem, da es jedes Mal unterschiedliche Varianten waren. Am Hosenbund gepackt, auf dem Rücken getragen, unter den Bauch geklemmt und nun das. Wie eine Puppe unter den Arm geklemmt. Mimoun konnte nicht anders, als zu lachen.

„Du bist echt einzigartig.“ Sachte klopfte der Geflügelte gegen den Hals des großen Freundes. Dann nahm er sich die Zeit, die Umgebung ein wenig näher in Augenschein zu nehmen. Zufrieden nickte er. Sie entsprach fast völlig seinen Bedingungen. Zwar war er sich nicht sicher, ob die Entfernung nicht doch noch zu gering war, aber das blieb abzuwarten.

Voller Elan schlug er die Hände zusammen. „Dann wird jetzt gefrühstückt.“, beschloss er und begann Lulanivilay von seiner Last zu befreien.
 

Sie aßen Wurzeln, Früchte und die Reste ihrer letzten Jagd. Danach machte sich Mimoun daran, die Gegend abzusichern, und Dhaôma ließ Moose und Gräser wachsen, die ihnen eine weiche Unterlage sein würden. Später hoben sie gemeinsam ein Loch aus, in dem sie Feuer machen würden, das Holz müsste Dhaôma später wachsen lassen. Mit Lulanivilays Hilfe war das jedoch kein Problem. Ein zweites Loch wurde ihre Vorratskammer, da gegartes Fleisch Raubtiere genauso anzog wie frisches. Die beiden Drachen waren schließlich auch nicht ständig da, um ihr Lager zu beschützen.

Es dauerte gerade mal einen Tag, da meldete ihnen Tyiasur, dass die Beobachter zurück waren. Dhaôma wurde kribbelig und wollte mit ihnen reden, aber seine Freunde rieten davon ab, so dass der junge Mann sich schließlich frustriert in Mimouns Arme kuschelte, um den Drang zu unterdrücken. Dort dauerte es nicht lange, bis er einschlief.
 

Ein amüsiertes Schmunzeln huschte über die Züge des Geflügelten und seine Finger glitten durch die braunen Strähnen. „Hab noch ein wenig Geduld.“, flüsterte er dem Schlafenden zu. „Du weißt doch, dass Vertrauen Zeit braucht. Und wir haben einen ganzen Winter über Zeit.“ Anschließend übergab auch er sich dem Schlaf. An das Gefühl, beobachtet zu werden, gewöhnte er sich sicher mit der Zeit.

Am nächsten Morgen verhinderte sein unnachgiebiger Griff, dass Dhaôma sich ihm entziehen konnte. Sie hatten nicht vor, weiterzuwandern, da konnte man ruhig noch ein wenig länger liegen bleiben.
 

Lange konnte Mimoun Dhaôma nicht halten. Auch wenn er nicht wandern oder mit den anderen reden konnte, ihm blieben andere Dinge, denn endlich hatte er einmal Zeit, seine Samen zu sortieren. Von Aylen hatte er ein paar gegerbte Häute bekommen, die er nun in kleine Beutelchen zerschnitt, in die die unterschiedlichen Häufchen kamen. Essbare in einen, Heilende in einen anderen, Giftige in den nächsten, Bäume wieder in einen anderen und so weiter. Der Tag verflog unter dieser Tätigkeit für ihn förmlich. Mimoun musste ihn ernsthaft daran erinnern, dass er essen sollte.

In den nächsten Tagen legte Dhaôma einen Garten an. Mimoun musste schaufeln, damit Wasser auch die hinteren Beete erreichen konnte, für die Pflanzen sorgte er selbst. Und während Mimoun und Lulanivilay sich um die Jagd und Erforschung der Gegend kümmerten, verbesserte er hier und da seinen Garten, ließ einiges zur Reife kommen oder verdorren, um zu düngen. Er langweilte sich und lenkte sich mit dieser Tätigkeit ab, bis er auf den Gedanken kam, dass er probieren könnte, ob die Pflanzen dieser Gegend nahrhaft waren.
 

Dann begann die Monsunzeit und das Gießen oder Regenrufen wurde überflüssig. Gleichzeitig erschwerten die Wassermassen auch die Erkundungsgänge der Jäger, da man kaum zehn Meter weit sehen konnte durch die dichten Schleier aus Wasser. In einer eigens für diese Wetterlage entworfenen Baumhöhle harrten sie auf besseres Wetter und stellten nach einigen Tagen fest, dass der Garten völlig verwüstet und der Fluss meilenweit über die Ufer getreten war. Die Erhöhung, auf der ihr Lager sich befand, war eine Insel geworden und der einzige, der das ausgiebig genoss, war Tyiasur.

Irgendwie kamen sie auf den Gedanken, dass die Behausungen der Halblinge diesen Wasserpegel kaum überragten, was Sorge aufkommen ließ. Sie diskutierten ein wenig, ob es immer noch ratsam war, sie machen zu lassen und zu ignorieren, aber diesmal setzte Dhaôma sich durch. Sie würden nicht landen, wenn es nicht notwendig war, aber sie würden wenigstens nachsehen, ob etwas passiert war, um notfalls zu helfen.

Schon von oben konnten sie sehen, dass die Lichtung vor den Felsen überschwemmt war. Aus dem Wasser ragten noch einige Stämme, aber von den Halblingen war nichts zu sehen. Schließlich war es Tyiasur, der ihnen den Aufenthaltsort preisgab. Und diesmal konnten sie erkennen, dass es sich um eine große Siedlung handelte. Es waren mehr als vierzig Personen auf den Felsenplateaus, die unterschiedlicher nicht aussehen konnten. Einige hatten Flügel, andere nicht, einige waren klein, andere hatten sehr kurze Arme oder grünliche Haut oder verkrüppelte Ohren. Irgendwie konnte Dhaôma verstehen, dass sie sich versteckt hielten.
 

Es war beruhigend zu wissen, dass sie sich in Sicherheit hatten bringen können. Aber sie sahen auch nicht so aus, als wären sie mit ihrer Gegenwart einverstanden. Mimoun konnte es nachvollziehen. Hier hatten sie weniger Schutz als auf der Lichtung unterhalb der Felsen.

Tyiasur löste sich von ihm und tauchte in die Fluten hinab. Es hätte den Geflügelten nicht weniger kümmern können. Sein Drache kannte den Weg zu ihrem Lager. Und er wusste, dass er diese Menschen in Frieden lassen sollte. Der kleine Blaue würde also nichts Unüberlegtes tun.

Schon wollte der Geflügelte abdrehen, als sein Begleiter wieder auftauchte und in Richtung der Halblinge schwebte. Eindeutig verstimmt rief Mimoun seinen Freund, doch unbeirrt landete das Schuppentier direkt an der Kante, legte etwas ab und sprang zurück in die Fluten. Erst jetzt kehrte er auf Mimouns Schulter zurück. Bevor Tyiasur jedoch die unausgesprochene Frage beantwortete, wandte er sich dem Magier zu.

„Eine Frau war alt und alle sind traurig, weil sie zum Sterben zurückgeblieben ist. Ihre Kammer hat sich aber nicht mit Wasser gefüllt. Sie hockt dort unten und wartet. Entweder, dass das Wasser zurückgeht oder auf den Tod. Sie kämpft nicht und gab ihr Schicksal in die Hand der Zeit.“
 

„Sie ist noch immer da unten?“, fragte Dhaôma entsetzt. „Will sie etwa ertrinken?“ Sein Blick huschte zu den Höhlen hinüber, die unter dem schlammigen Wasser nicht zu sehen waren. „Wie lange ist sie schon da unten? Hat sie Lebensmittel? Genug Luft? Wie lange dauert es, bis das Wasser wieder zurückgeht?“ Er meinte mit dem Fragenschnellfeuer Tyiasur, aber seine Aufmerksamkeit ruhte auf dem Wasser. „Kannst du mir den Weg beschreiben? Dann kann ich hinuntergehen. Ich könnte ihr doch helfen wie Addar.“
 

„Komm, viel Zeit bleibt nicht mehr.“, war dessen einzige Antwort und schon sprang er zurück in die Fluten.
 

Dhaôma folgte auf den Fuß, allerdings platschte es bei ihm viel lauter. Unter Wasser aktivierte er seine Magie, so dass Mimoun den leichten bläulichen Schimmer noch sehen konnte, bis er unter den Felsen verschwand. Der Weg war verschlungen, aber Dank Tyiasur tauchte der Braunhaarige wenig später in einer stockfinsteren Höhle wieder auf. Den einzigen Lichtschein verbreitete er selbst, aber auch dieser ging, nachdem die Magie versiegte.

„Wer bist du?“, erklang eine raue Stimme. In Dhaômas Ohren klang sie schwach.

„Ich bin Dhaôma. Ich komme, um dir zu helfen.“
 

„Ich brauche keine Hilfe mehr.“, kam zögerlich die Antwort. „Meine Zeit ist gekommen.“
 

„Sag das nicht. Man darf das Leben nicht so leicht beenden. Es gibt immer diejenigen, die sich grämen, weil jemand Geliebtes stirbt. Und wenn derjenige auch noch von sich aus beschließt zu sterben, ist es für die Zurückgebliebenen doppelt schwer. Außerdem gibt es bestimmt schönere Arten zu sterben, als zu ersticken oder zu ertrinken, meinst du nicht?“
 

Stoff raschelte, als die Frau sich näherte. Kühle Finger rau wie Sandpapier strichen über die Haut des Magiers.

„Du bist noch jung. Als ich jung war, habe auch ich viele gehen sehen, die ich nicht gehen sehen wollte. Aber für jeden kommt irgendwann die Zeit. Und nicht jeder kann entscheiden, wie er geht. Das ist eine große Gnade, auch wenn es sich für jemanden in deinem Alter grausam anhören mag.“
 

„Willst du nicht mehr leben? Ich könnte dir wirklich helfen. Addar habe ich auch geholfen, damit er wieder laufen und atmen konnte.“
 

Lange Zeit herrschte Schweigen. „Ich würde gerne noch bleiben. Aber auch wenn sie nie das Gefühl aufkommen lassen würden, ich spüre selbst, wie ich meiner Familie Tag für Tag mehr zur Last werde. Deshalb habe ich diesen Weg gewählt. Es ist besser, es nicht noch länger hinauszuzögern.“
 

„Willst du es versuchen? Wenn du nach der Heilung am Körper immer noch sterben willst, werde ich dir nicht mehr im Wege stehen, aber ich denke, solange es eine Hoffnung gibt, sollte man diese nicht einfach aufgeben. Du siehst es nicht, aber ich habe heilende Magie. Damit kann man zwar nicht jedes Altersgebrechen verschwinden lassen, aber wenigstens einiges verbessern, was durch das Alter schwach wird.“ Dhaôma griff nach der Hand und drückte sie sachte. „Tyiasur sagt, sie seien traurig. Er hat nicht davon gesprochen, dass sie froh wären, wenn du stirbst.“
 

Kehliges Lachen klang durch die dunkle Höhle. „Sie sind meine Familie, meine Freunde. Warum sollte ich auf die Idee kommen, dass sie mein Tod glücklich machen sollte?“ Der Druck der Hand wurde stärker. „Wenn ich es zulasse… wie viel Zeit bliebe mir dann noch?“
 

„Das weiß ich nicht. Das kommt auf deinen Lebenswillen an, auf die Umstände, in denen du lebst, und welchen Gefahren du dich aussetzt. Ich weiß auch nicht, was ich bewirken kann, ohne es auszuprobieren. Zusätzlich müsstest du mir weit genug vertrauen, um durch das Wasser mit mir zu gehen, und zurück zu deiner Familie laufen, denn wenn du hier bleibst, kann ich gar nichts für dich tun, weil die Luft schon jetzt knapp ist. Es sieht nicht so aus, als würde das Wasser bald verschwinden.“
 

„Deine Stimme ist angenehm. Ich spüre keine bösen Absichten.“ Vorsichtig löste sie ihre Finger aus seiner Hand und legte sie, nachdem sie seinen Arm als Führung genutzt hatte, über seine Augen. „Du bist ein gutes Kind.“
 

„Du kannst so etwas fühlen?“ Bewunderung überspielte die Freude über das Kompliment. „Kommst du mit? Sie warten doch alle. Ich bin mir sicher, meine Freunde werden dir helfen, auf das Plateau zu kommen, damit du den Weg nicht selbst laufen musst.“
 

„Ja.“, war die simple Antwort auf alle gestellten Fragen. „Ich weiß nur nicht, ob es so einfach wird, wie du es dir wünscht.“ Dennoch tastete sie sich zu dem Gang vor, den sie jahrelang immer wieder beschritten hatte.
 

„Warte. Ich werde dir schon hier helfen, damit du es einfacher hast, okay?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, initiierte er die Magie, sobald er sie wieder berührte. Das sanfte, bläuliche Licht legte sich über seine Wangen und enthüllte eine wirklich runzelige alte Frau, die beinahe aussah wie eine Magierin, wären die spitzen Ohren und die mandelförmigen Augen nicht.

Aber ihr Aussehen tat nichts zur Sache. Der Braunhaarige schloss die Augen und begab sich auf die Reise in ihren Körper. Wie schon bei Addar stellte er fest, dass ihre Leber nicht mehr die Stärkste war und ihr Herz Kräftigung nötig hatte. Überall fand er Abweichungen von den Körpern, die er bisher kannte, Anomalien, die ihm seltsam unnütz vorkamen, aber über all diesen Strukturen stand ein funktionstüchtiger Organismus. Er konnte ihr helfen, aber hier unten spürte er Lulanivilays Hilfe nur schwach, deswegen beschränkte er sich darauf, ihre Muskeln zu stärken und die Blockade im Kreuz zu lösen, die immense Schmerzen verursachen musste.
 

„Unglaublich.“, murmelte sie. Langsam löste sie sich von dem Magier vor ihr und tastete über ihre Brust. „Das fühlte sich schön an. Es passt so wunderbar zu deiner Stimme.“
 

„Ich bin noch nicht fertig, aber es wird mir helfen, wenn Lulanivilay in der Nähe ist.“ Dhaôma lächelte breit. Ihre Freude war greifbar und das wiederum machte ihn froh. „Tyiasur, kannst du uns hinausführen? Ich werde meine Magie dafür brauchen, das Wasser von ihr fernzuhalten, aber dafür muss ich wissen, wo es ist und wie es fließt.“

Der kleine, blaue Drache erwies sich als geschickt darin, die Verhältnisse genauso zu beschreiben, wie es Dhaôma nützlich war, so dass sie wenig später von Lulanivilay am Grunde des Wassers abgeholt werden konnten. Damit sich die Alte nicht erschreckte, erklärte ihr Dhaôma zuvor, wer Lulanivilay war, aber als der Drache seine Klauen unendlich sanft um den zerbrechlichen Körper legte, und Dhaôma das Wasser zurückkehren ließ, bis nur noch ihr Kopf trocken war, sah man doch ein wenig Unruhe zwischen den Falten.

Und dann waren sie draußen. Dhaôma winkte Mimoun zu, um ihm zu sagen, dass alles gut war, bevor sich der Drache auf den Weg zu dem Plateau machte.

Halblinge

Kapitel 55

Halblinge
 

Zwar hatte Tyiasur ihn auf dem Laufenden gehalten, dennoch war er unruhig einige Kreise über der Stelle geflogen, in der seine Freunde verschwunden waren. Niemand konnte vorhersagen, ob die Stimmung nicht doch kippen würde.

Auf dem Plateau wurde es immer unruhiger. Die Puppe, die der Wasserdrache ihnen gebracht hatte, blieb unangerührt an der Klippe liegen, und man spürte ihr Unwohlsein über die Gegenwart von Drache und Geflügelten. Was der Magier dort unter der Wasseroberfläche trieb, konnte auch niemand bestimmen. Aber er trieb sich in ihrem Dorf herum.

Als Lulanivilay die alte Frau und den Magier aus dem Wasser zog, gab es Geschrei. Sie waren nun eindeutig wütend und doch wandelte es sich schnell in Unglauben. Sie bewegte sich. Ihre Todgeglaubte lebte noch. Wie war das möglich?

Als der Drache endlich landete und seine Last vorsichtig absetzte, war die dunkel gelockte Frau mit der Peitsche die erste, die zur Stelle war. Auch wenn sie wusste, dass sie nie eine Chance gegen dieses Wesen haben würde, drängte sie sich zwischen die Alte und ihre Gegner, die halb aufgerollte Peitsche drohend erhoben.

„Er ist ein gutes Kind, Xaira. Lass ihn.“ Sanft legte sich eine vom Alter gezeichnete Hand auf die Schulter der jungen Frau. Der entschlossene Blick der Angesprochenen wurde unsicher. „Er wird mir helfen.“ Die Hand wanderte hinab und legte sich auf den Stiel der Peitsche. „Es ist gut.“ Mit einem trockenen Schluchzen zerbrach ihre Fassade und die junge Frau nahm die Alte in den Arm, die Tränen liefen ungehindert. Es traten noch mehr hinzu und berührten die Alte.

Nach einigem Zögern entschloss sich Mimoun abseits davon zu landen und zu seinen Freunden zu gehen. „Gut gemacht.“, lobte er seinen Magier.
 

„Noch bin ich nicht fertig. Ohne Vilays Hilfe ist das wirklich schwierig.“, schüttelte Dhaôma den Kopf. Vorsichtig nahm er Mimouns Hand und wartete einfach ab. „Aber ich glaube, jetzt haben wir bessere Chancen auf ein Gespräch.“ Schließlich war das bei den Hanebito auch so gewesen, dass sie mit ihm geredet hatten, weil er Mimoun geholfen hatte. Nur dass die Freundschaften, die er hier schloss, niemals so eng werden würde, wie die mit Mimoun. Das hier war etwas Besonderes und war niemals zu wiederholen. Was sie beide verband, das war viel mehr. „Nicht wahr?“, fragte er und strahlte ihn an.
 

„Ja.“ Sanft strich er ihm ein paar nasse Fransen aus der Stirn und nickte lächelnd. Dann glitt sein Blick wieder über die Gruppe der Halblinge. Unbemerkt von allen schlich sich ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen zum Rand der Klippe und griff sich die Puppe. Allein ihre schneeweißen Haare und die hellen kleinen Flügel waren schon ein faszinierender Anblick, doch als sie sich zu ihnen umdrehte und mit einem strahlenden Lächeln ihre Puppe an sich drückte, war er von ihren Augen gefangen, die in einem intensiven Rot leuchteten. Kurz darauf war sie wieder zwischen den Erwachsenen verschwunden.

„Was meinst du? Während sie sich freuen, organisieren wir noch etwas Essbares, was hältst du davon?“
 

„Sähe das nicht nach Flucht aus?“, fragte Dhaôma vorsichtig. „Wenn wir einfach so verschwinden und dann wiederkommen, könnten sie es als Bedrohung ansehen.“ Dann fiel sein Blick auf die alte Frau, die äußerlich einem Winterapfel ähnelte. Sie war klein und runzelig und gebeugt. Unglücklich warf seine Stirn Falten. „Außerdem bin ich noch nicht fertig.“
 

Lachend stimmte Mimoun zu. „Einverstanden. Ich hole deine Samen, organisiere noch ein wenig Fleisch und du kümmerst dich um unsere neuen Freunde. Tyiasur wird dir dabei helfen, ist das okay? Er wird dir sagen, wenn du besser gehen solltest.“

„Vielleicht sollte er euch auch sagen, dass es nicht nett ist, in anderer Menschen Köpfe herumzustreunen.“ Mimoun wirbelte herum und schaute das weißhaarige Mädchen verblüfft an, die sich unauffällig genähert hatte. „Es sind schließlich unsere Gedanken und es ist entblößend zu wissen, dass sie jemand ohne unsere Zustimmung liest.“

„Entschuldige.“, murmelte Mimoun betreten. Sie hatte ja Recht. Dennoch vereinfachte es die Sache ungemein, da der Wasserdrache schneller und gefilterter die wahren Gefühle und Absichten eines Gegners wiedergeben konnte. „Tyiasur mag zwar in den Gedanken lesen, aber er nimmt auf die Gefühle der Person Rücksicht. Geheimnisse behält er für sich und er gibt nur das an uns weiter, das sich für uns sonst als nachteilig erweisen würde.“

„So wie das hier?“ Sie drückte die Puppe fest gegen ihre Brust.

„Er hat uns nichts davon gesagt. Er hat selbst darauf reagiert.“
 

Das Mädchen schien diese Puppe wirklich zu lieben, denn obwohl sie nass war, hielt sie sie an ihrem Herzen. Ihre Brust war ganz nass. Und eines der Beine der Puppe tropfte noch.

Dhaôma sah das Kind zum ersten Mal. Sie war noch jünger. Jünger als er, bevor er gegangen war, aber sie schien sie nicht so misstrauisch zu beäugen, wie es die anderen taten. Weich lächelte er. „Und wer bist du?“, wollte er wissen.
 

„Keithlyn.“ Sie erwiderte das Lächeln. „Aber ist es nicht höflicher sich selbst vorzustellen, bevor man fragt?“
 

„Ich dachte, dass hätten wir bereits. Vor ein paar Wochen. Ich bin Dhaôma und das ist Mimoun. Und dann haben wir da noch Lulanivilay und Tyiasur.“ Letzterer betrachtete das weißhaarige Mädchen aufmerksam, ersterer ließ sich gerade zur Seite fallen und legte den Kopf auf die Pfoten, die Flügel weit aufgespannt, um sich vom Wind trocknen zu lassen. Die Schwüle machte ihn schläfrig und träge.

Ihm fielen ein paar Leute auf, die sie mit einer Mischung aus Vorsicht und Neugier und Misstrauen beäugten. Es war wirklich immer das gleiche. Die Kinder waren mutig, die Erwachsenen nicht. Aber eines war seltsam. „Bist du das einzige Kind hier?“, fragte er und runzelte erneut die Stirn.
 

„Ich bin die Jüngste hier, wenn du das wissen wolltest. Und ja, ihr habt euch vorgestellt, aber glaubt ihr wirklich, man lässt uns in die Nähe von Fremden? Man hat es nicht leicht, wenn man so ist wie wir. Nicht jeder hat eure Namen gehört unten in den Höhlen, schließlich habt ihr mit Xaira geredet.“

„Und das sollte auch so bleiben.“ Gleichzeit beschützend wie auch drohend legte die Frau einen Arm um die Schulter des Mädchens, die ihr nur ein Lächeln zuwarf. Lange betrachtete sie die beiden jungen Männer vor sich. „Je länger wir euch beobachten, umso seltsamer finde ich euch.“ Kurz schüttelte sie den Kopf und lächelte dann zögerlich. „Danke, dass du Thenra geholfen hast. Und bitte hilf ihr auch weiter.“
 

„Ich finde uns eigentlich nicht seltsam.“, bemerkte Dhaôma, aber er erwiderte das Lächeln trotzdem. „Aber wenn du meinst. Und ich halte meine Versprechen. Ich habe gesagt, ich helfe ihr, dann tue ich das auch.“ Er wollte einen Schritt in die besagte Richtung tun, da hielt er inne und drehte sich zu Mimoun um. „Meinst du, es ist die richtige Zeit?“ Noch immer konnte er Situationen, in die viele Menschen verwickelt waren, nicht richtig einschätzen, da war es besser, auf Mimoun zu vertrauen.
 

Himmel, manchmal war der Magier unglaublich niedlich und unbedarft. Wie zu der Zeit, als er ihn kennen lernte. „Ich hab nicht ganz zugehört. Hat sie dich gerade um deine Hilfe gebeten?“
 

„Ai? Hast du doch gehört.“

Rote Augen weiteten sich, dann begann Keithlyn zu lachen. „Gefürchteter Magier. Alles klar!“ Den Rest ihrer Worte konnte man unter dem Lachen nicht mehr verstehen. Selbst der bitterböse Blick Xairas änderte nichts mehr daran.

Dhaôma war gekränkt. Man fürchtete ihn? Mit welchem Grund? Aber wahrscheinlich hatten sie schlechte Erfahrungen gemacht. „Darf ich jetzt zu ihr gehen oder nicht?“

„Geh schon. Thenra wartet doch.“

Nickend machte Dhaôma einen Schritt in die Richtung der alten Frau, verharrte dann aber noch einen Moment. „Sie ist toll. Sie erkennt an meiner Stimme, wer ich bin.“, teilte er Mimoun mit. „Sie ist fast wie Addar. Ich wette, sie würde ihn mögen.“

Dann eilte er die paar Meter zu ihr hinüber. Die beiden Halblinge, die an ihrer Seite waren, machten Anstalten, zu ihren Waffen zu greifen, aber Dhaôma ignorierte sie, als er vor ihr stehen blieb. „Ich bin wieder da. Lulanivilay ist auch in der Nähe, deshalb würde ich gerne fortsetzen, was ich angefangen habe.“

Sie gab mit einem Nicken ihr Einverständnis und Dhaôma legte ihr die Hände auf die Stelle über ihrem Herzen und unterhalb ihres Halses. Es gab Empörungsrufe über diese Unsittlichkeit, aber weder die Alte noch Dhaôma reagierten darauf. Der Braunhaarige schloss die Augen und tauchte abermals in das Gefühl ein, das ihr Körper ihm vermittelte. Seine Finger bewegten sich noch einmal, dann erglühten die Zeichen in seinem Gesicht und auf seinem Rücken. Es fügten sich zerrissene Muskeln zusammen, Sehnen und Knorpel wurden von Feuchtigkeit durchdrungen, die Lunge regenerierte sich so, dass das Rasseln beim Atmen erstarb.

„Deine Augen kann ich nicht mehr heilen.“, sagte Dhaôma schließlich leise, als das Leuchten erlosch. „Ich dachte, es ginge, aber diese Verletzung ist schon zu alt, als dass ich noch etwas dagegen tun könnte.“
 

„Das ist schon in Ordnung. Ich habe mich daran gewöhnt. Man lernt viel, wenn man nicht mehr auf seine Augen angewiesen ist.“

Mimoun war dort stehen geblieben, wo er war. „Ich bitte dich, ihn nicht mehr auszulachen. Auch er hat sehr gelitten und er versteht vieles nicht. Solche Fragen resultieren aus seiner Unsicherheit, seiner Befürchtung jemanden zu verletzten oder zu verärgern. Er weiß nicht, wie weit er gehen kann, und er scheut sich auch davor, Grenzen auszutesten. Und seine Unbedarftheit lässt ihn vieles falsch verstehen. Sei also bitte nachsichtig mit ihm.“

Das Mädchen sah ihn nur verständnislos an und nickte schließlich zum Zeichen ihres Einverständnisses.

„Warum seid ihr hier?“, mischte sich wieder Xaira ein und der Geflügelte wandte sich ihr zu.

„Unser Lager hat sich in eine Insel verwandelt und wir wollten sichergehen, dass euch nichts passiert ist.“

Keithlyn prustete los, bevor sie hastig ihre Faust gegen ihren Mund presste. „Und der Magier ist unbedarft? Na dann Mahlzeit.“

„Warum seid ihr in diesem Land?“, wurde die Frage präzisiert, ohne auf den unqualifizierten Kommentar des Mädchens einzugehen.

„Ah.“, gab Mimoun von sich. Nun verstand er. „Dort, wo wir herkommen, liegt Schnee und unsere Freunde vertragen die Kälte noch schlechter als Dhaôma. Wir haben einen Ort gesucht, wo sie es angenehm haben, und durch Zufall euch gefunden. Mein Magier hat einen ausgeprägten Helferdrang. Er wünscht sich Frieden zwischen allen und jedem.“
 

„Dann ist er hier genau richtig. Wir leben in Frieden.“, freute sich Keithlyn, doch Xaira war nicht so einfach zufrieden zu stellen.

„Und was ist mit dir? Bist du sein Herrchen, das ihn gezähmt hat?“ Ihre Stimme klang so bissig, dass man glauben mochte, sie würde Mimoun gleich an die Kehle gehen.
 

„Weder bin ich sein Herr, noch er der meine. Ich verdanke ihm mein Leben und das mehr als einmal und umgekehrt. Wir sind Freunde und er bedeutet mir alles.“ Er wandte sich völlig der Frau zu und sah ihr offen ins Gesicht. „Tyiasur kann nicht nur Gedanken lesen. Er kann auch in Erinnerungen blicken. Mit seiner Hilfe wird es dir möglich sein, meine gesamten Erinnerungen zu durchsuchen. Suche nach etwas, das euch schadet. Wenn du etwas findest, kannst du uns für immer von hier verjagen.“
 

„In Erinnerungen kann man so etwas nicht finden, schließlich kann man sich nicht darauf verlassen. Wenn in deiner Vergangenheit etwas Schreckliches passiert ist, du dich davon aber gelöst hast, wirst du uns nichts tun, wenn du dich allerdings jetzt entschließt, uns anzugreifen, obwohl du vorher niemals daran gedacht hast, wirst du uns vernichten. Beruht darauf dein Frieden? Auf Gewissheit und Absicherung? Verlässt du dich deswegen auf diesen blauen Wurm?“
 

„Ja.“, antwortete Mimoun und seine Hand schnellte gerade noch rechtzeitig vor, um Tyiasur am Schwanz zu packen, als dieser sich auf die Frau stürzen wollte. Die wütend aufgestellten Stacheln drangen durch die Haut, was ein leises Zischen bei seinem Reiter auslöste. „Ich verlasse mich auf ihn. Nicht weil ich ein Drachenreiter bin und es seine Aufgabe als mein Drache…“, betonte er das Wort. „… ist, mich zu unterstützen, sondern weil er mein Freund ist. Ich kann ihm bedenkenlos mein Leben anvertrauen.“ Leicht neigte sich der Kopf des Geflügelten, als er die Frau sich gegenüber musterte. „Aber wenn ich es recht bedenke, stützt sich euer Frieden auch darauf. Bevor ihr uns auch nur ansatzweise Vertrauen entgegen bringt, werdet ihr euch doch auch erst Gewissheit verschaffen, nicht wahr? Deshalb habt ihr uns beobachtet. Um euch abzusichern.“ Er ließ seinen Drachen wieder auf seiner Schulter Platz nehmen und reuig glitt die Zunge des Schuppentieres über die kleinen Wunden.
 

In dem Moment kam Dhaôma auf Mimoun zu und flog ihm um den Hals. „Wir können zum Essen bleiben! Wir können mit ihnen reden!“ Zum Glück für den Magier hatte Tyiasur das Vorhaben vorausgesehen und sich in Sicherheit gebracht.

„Was?“, fuhr Xaira auf. „Das ist doch nicht wahr! Wir haben nicht mal genug für uns selbst, wie…“

„Kein Problem!“, fiel ihr Dhaôma ins Wort. „Wir holen schon was, dann werden alle satt.“ Und schon wirbelte er zu Lulanivilay und klopfte ihm hinter dem stacheligen Kopf auf den glatten Hals. „Los, wir gehen jagen. Und heute musst du sie packen, nicht einfach drauflegen, sonst können wir es nicht mehr essen, ja?“

„Du bist übermütig, Freiheit.“, kam eine verschlafene Antwort. „Man kann es schon essen, wenn ich mich drauflege. Dann ist es nicht so schwer, sie zu jagen, wenn sie Haken schlagen.“

Dhaôma lachte. „Bist du nicht eigentlich ein sehr gewandter Flieger?“

„Das ändert nichts an der Tatsache, dass es einfacher ist.“

„Was ist denn los?“ Irgendetwas stimmte mit dem grünen Drachen nicht. „Bist du krank?“

„Da ist so viel Wasser, aber es gibt rein gar keine Fische da drin, die groß genug sind, dass ich sie mit meinen Krallen packen kann.“, kam die Antwort, während der massige Leib sich erhob. „Mir gefällt dieses Land nicht.“
 

„Wenigsten ist es warm genug. Stell dir vor, du müsstest jetzt im Schnee auf Addars oder meiner Insel ausharren.“, stand Mimoun dem Magier bei. Schon breiteten sich seine Schwingen zum Start aus. „Soll ich deine Samen holen?“
 

„Mach das. Und wenn du findest, Holz. Oder esst ihr euer Fleisch auch roh?“

„Wir sind doch keine Barbaren!“, knurrte Xaira.

Keithlyn schüttelte den Kopf. „Du bist so engstirnig. Das hat doch damit nichts zu tun.“ Den wütenden Blick der Frau beantwortete sie mit einer gebleckten Zunge. Sie grinste und wandte sich an den Drachen. „Nimmst du mich mit zum Fliegen? Ich wollte das schon immer mal machen, aber diese Stummel hier taugen nicht dafür.“ Und sie wackelte ein wenig mit den weißen Flügelchen.

„Keithlyn, das kommt überhaupt nicht in Fra…“

„Sicher. Du wiegst nicht mal halb so viel wie Freiheit.“

Dhaôma lachte über den entgeisterten Blick Xairas, als das Albinomädchen furchtlos auf den Rücken des Drachen kletterte. „Soll ich jetzt hier bleiben?“

„Du bist bei der Jagd sowieso keine Hilfe.“, kam die gewohnt unverblümte Antwort und kichernd gab ihm Dhaôma Recht. Nicht mal mit dem Bogen konnte er von dem Drachenrücken aus treffen.

„Dann viel Spaß.“

Lulanivilay startete und jauchzend streckte das Kind die Arme in die Luft, die krallenbewehrten Füße in den Haltegurt geklemmt. Xairas Gezeter wurde von allen ignoriert. Bis sie Dhaôma am Kragen packte und ihn ganz nah zu sich heranzog. „Sollte ihr irgendwas passieren, gnade dir das Schicksal!“
 

Eine Hand schloss sich um ihren Hals. „Und solltest du Dhaôma noch einmal so angreifen…“ Mimoun lächelte böse und ließ den Satz unbeendet. Nur Sekundenbruchteile später ließ er sie wieder los und befreite Dhaôma aus ihrem Griff. „Sieht so aus, als würdest du mal wieder mit mir fliegen.“, lächelte er seinen Freund an. Nichts war von der kurzzeitig aggressiven Grundstimmung seinerseits übrig.
 

„Ich würde lieber hier bleiben.“ Dhaôma hatte nicht einmal Zeit gehabt, einzugreifen, aber diesmal hatte Mimoun sich wenigstens besser unter Kontrolle. Er lächelte sanft und strich ihm beruhigend über die Wange. „Mach dir keine Sorgen um mich. Das gerade war doch nur aus Sorge um das Kind.“
 

Also wirklich. Als wenn ihm das nicht bewusst gewesen wäre. Wie nebenbei legte sich ein Arm um Dhaômas Bauch und er schob seine Nase kurz durch die braunen Haare. Dann schickte er der Frau einen drohenden Blick, vom Magier ungesehen. „Jeder hat etwas, dass er beschützen will.“ Und schon hob er ab und strebte ihrem Lager zu.

Tyiasur hatte in der letzten Zeit nichts mehr gesagt, nun brach er sein Schweigen. „Er mag es nicht, wenn du Verletzungen vor ihm verbirgst.“

Mimouns Blick glitt über die kleinen Schrammen und er lächelte sanft. „Du brauchst dich nicht entschuldigen. Ich kann dich verstehen und du hattest ein Recht darauf böse zu werden.“ Der Kopf des kleinen Schuppentieres drückte sich an seinen Hals.
 

Während Dhaôma Mimoun nachblickte, beobachtete Xaira ihn. Sie fand es seltsam, dass er sich nach diesem Angriff von ihr so schutzlos an sie auslieferte. War das ausgleichende Gerechtigkeit, weil sein Drache Keithlyn mitgenommen hatte oder war er einfach dumm?

„Sag mal, Magier, seid ihr euch etwa ‚so’ zugetan?“, fragte sie, denn die Stimmung zwischen den beiden war einfach zu offensichtlich. „Lasst das lieber bleiben. Daraus entsteht nichts Gutes.“ Ihr Blick war schmerzerfüllt und Dhaôma konnte es sehen.

„Warum ist es so schlimm, wenn Hanebito und Jagmarr einander mögen? Freundschaft kann es doch zwischen allen geben.“

„Ja, das was ihr da nach außen tragt, geht aber über einfache Freundschaft längst hinaus. Liebe zwischen den Völkern ist etwas, das es besser nicht geben sollte. Sieh dich um und du weißt, was daraus entsteht.“

„Ist es so schlimm, ein Mischling zu sein?“

„Du hast ja keine Ahnung!“, fauchte sie. „Ein Kind, das einer solchen Verbindung entspringt, kann niemals glücklich sein! Es wird niemals geliebt werden, denn alle sehen es als grotesk an, jeder betrachtet es mit Abscheu, selbst die eigene Mutter!“

„Ich nicht.“

„Du bist ja auch ein Idiot! Du wünscht dir Frieden und wartest hier mit unbezwingbarer Magie auf, die jeden einschüchtern muss!“

„Ich meine, ich werde keine Kinder von ihm kriegen. Erstens bin ich keine Frau und zweitens ist es bei ihm anders. Diese Zuneigung ist bei den Hanebito normal. Es ist einseitig. Aber selbst wenn ich ein Kind von ihm bekäme, wäre es ein Teil von ihm und ich würde es lieben.“

Sie starrte ihn an, ihre schwarzbraunen Augen funkelten, bevor sie tief seufzte. „Du bist ein Idiot.“, sagte sie und wandte sich ab. Hinter ihr stand eine streng schauende Thenra.

„Sprich nicht so zu ihm.“, tadelte sie sanft. „Du kannst Menschen nicht nach einem einzigen Tag beurteilen. Und du solltest anderen auch nicht deine Ansichten aufzwingen. Dhaôma hat sicher seine Gründe, wenn er einen solchen Traum hegt, und er beweist eine Menge Mut, wenn er versucht, die Konventionen zu beugen.“

„Das ändert nichts daran, dass er ein Idiot ist.“, knurrte sie und wandte sich ab, um den anderen dabei zu helfen, Feuer zu entzünden. Sie würdigte ihn keines Blickes mehr.

„Verzeih ihr bitte.“

„Da gibt es keinen Grund für. Sie hat offensichtlich Schlimmes erlebt. Und sie kann ja nichts dafür.“

Sie lachte leise, keckernd. „Bist du nicht ein wenig zu weich?“

„Meinst du, das ist schlimm?“

Sie schüttelte den Kopf. „Aber sei nicht zu vertrauensselig. Es gibt immer solche und solche.“

„Wie Kekaras. Aber für den Frieden bin ich bereit, viel zu riskieren.“

„Komm mit, Dhaôma Jagmarr. Ich stell dir unsere Anführer vor.“ Sie deutete auf ein Paar mittleren Alters, die unterschiedlicher gar nicht aussehen könnten. „Und dann erzählst du uns, was es Neues gibt aus dem Volk der Magier.“

Als Mimoun zurückkam, saß Dhaôma bereits am Feuer und hatte ihnen erklärt, dass er von den Magiern nichts wusste. Auch von den Hanebito hatte er wenig erfahren, also konnte er lediglich erzählen, was er mitbekommen hatte, dass sich die Lage zuspitzte, weil irgendjemand eine Entscheidung erzwingen und diese offenbar mit der Auslöschung des anderen Volkes besiegeln wollte. Er erzählte auch, was er und seine Freunde bereits erreicht hatten, was offenes Erstaunen und massiven Unglauben auslöste.
 

Da er nicht einschätzen konnte, wie sie reagieren würden, wenn er direkt in ihrer Mitte landete, berührte er den Boden ein wenig außerhalb und streunte umgehend zu seinem Freund, den Beutel freudig in der Hand baumeln lassend. Es nahm einen ungeheuren Druck von ihm, dass der Magier mitten unter ihnen am Feuer saß und ohne Zwang mit ihnen reden konnte.

„Am besten etwas, das sich hier lange hält.“, schlug der Geflügelte seinem Freund vor.
 

„Was denn, keine Erdbeeren?“, fragte er erstaunt zurück.
 

Missmutig verzog sich das dunkle Gesicht. „Du warst vorhin im Wasser. Du hast sie geheilt. Wie ich dich kenne, wirst du wieder einen halben Garten anlegen. Vilay ist doch nicht hier.“
 

„Dann dauert das eben noch ein wenig.“

Von der Seite mischte sich Mihara, die weibliche Anführerin, ein: „Kannst du ohne den Drachen nicht zaubern?“

„Doch.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Aber er erleichtert es mir.“

„Aha.“ Sie wandte sich an Mimoun. „Du bist also Mimoun Hanebito. Es tut mir Leid, dass ich den Rest deines Namens vergessen habe, aber hier legt sowieso keiner großen Wert auf Anreden.“ Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern.

„Setz dich zu uns.“, schlug Jii vor, der männliche Anführer. „Du kannst uns aus deiner Perspektive von eurer Welt und dem Krieg berichten. Wenn ich ehrlich bin, kennen wir die Lebensweise der Hanebito kaum, und es interessiert uns.“
 

Zögerlich ließ er sich nieder. „Ich lege auch keinen Wert auf Anreden. Der da…“ Ein bezeichnender Wink zu Dhaôma begleitete seine Worte. „… hat mir das eingebrockt, weil er damit anfing, als wir die ersten Magier besucht haben. So etwas existiert bei uns nicht. Eine bestimmte Person lässt sich leicht durch die Position seiner Insel finden. Ich wäre euch also durchaus dankbar, wenn ihr bei Mimoun bleiben könntet.“
 

„Kein Problem.“, wurde ihm zugesagt, dann ging das Gespräch weiter, bis Lulanivilay rücksichtslos mitten auf dem Platz landete und mit seinen Flügeln so viel Wind machte, dass einige dabei von den Füßen gefegt wurden. Von seinem Rücken sprang jauchzend und ganz Glück trunken Keithlyn und fiel einem Mann um den Hals. Die nächsten Minuten bewegte sich ihr Mund ununterbrochen, während alle mit anpackten, die drei Gnus auseinander zu nehmen. Als sie dem Drachen einen Teil der Beute anboten, schlief dieser wieder und das Mädchen erzählte ganz glücklich, dass er die erste geschlagene Beute beinahe im Ganzen geschluckt hatte. Und diese hatte er mit einem Bauchklatscher gefangen.

Fachgerecht wurde das Fleisch in Streifen geschnitten und über das Feuer gehängt. Dhaôma erbat für Mimoun Leber und Herz, da er wusste, wie dieser zu gegrillter Nahrung stand. Teilweise fasziniert, teilweise angewidert beobachteten sie das blutige Schauspiel, obwohl der Geflügelte es meisterhaft beherrschte, nicht zu kleckern.
 

Ein wenig geknickt begegnete der Geflügelte diesen Blicken. Also hieß es wieder zu gesittetem Verhalten überzugehen. Egal. Vielleicht bekam er heute doch noch Erdbeeren. Obwohl man den großen Grünen erst dafür wecken musste. Mit einem Lächeln verschob er das auf den nächsten Tag. Es war nicht wichtig. Er hatte heute mehr Freude daran, den Menschen hier bei der Arbeit zu helfen und gemütlich um das Feuer herumzusitzen und Geschichten zu erzählen. Da sie auch Wissen über sein Volk erbeten hatten, versuchte er ausschweifend ihr Leben auf den Inseln zu beschreiben. Tyiasur unterstützte ihn dabei, nachdem sie die offizielle Erlaubnis eingeholt hatten.
 

Als es dunkel wurde, verabschiedeten sich die vier Reisenden. Zwar wurde ihnen angeboten, bei den Halblingen zu bleiben, aber auch wenn Keithlyn keine Bedenken zu haben schien, es gab durchaus auch solche, die dem Frieden nicht recht trauen konnten. Und diese wollte Dhaôma nicht beunruhigen.

„Wir haben genug Zeit, dass sich alle an den Gedanken gewöhnen können.“, erklärte Dhaôma Thenra, als sie nachfragte, und sie ließ ihn mit einem knittrigen Lächeln gewähren.

„Danke noch einmal für deine sanften Hände. Sie haben mir tatsächlich neuen Lebensmut gegeben.“

„Das freut mich.“ Enthusiastisch ergriff Dhaôma ihre Hand und grinste. „Weißt du, eine Großmutter wie dich hätte ich gerne gehabt. Es ist wirklich schade, dass ich nicht in deiner Nähe geboren wurde.“

„Ich freue mich über deine Zuneigung.“, meinte sie und ihr Lächeln wurde schwächer. „Aber ich kann keine Kinder bekommen, also kann ich auch keine Großmutter werden.“

„Ich habe es gespürt.“, gab Dhaôma zu. „Aber das macht nichts. Ich und Mimoun sind Väter einer Magierin, die gleichzeitig die Tochter zweier Hanebito ist. Wir haben sie adoptiert.“

Ihre blinden Augen schlossen sich, dann nickte sie. „Erzähl mir beim nächsten Mal davon.“, bat sie. „Von einer solchen Geste habe ich noch nie gehört.“

Wieder nickte der Braunhaarige, dann stieg er auf den Drachen, der sich schwerfällig erhob und genauso schwerfällig mit den Flügeln schlug, um abzuheben. Noch bevor sie im Lager waren, begann es wieder zu regnen.
 

Es war beides: angenehm und störend. Es erschwerte das Fliegen und gleichzeitig wusch es ihm den Schweiß vom Körper. Mimoun hatte versucht, es sich nicht anmerken zu lassen, aber die Schwüle des Tages machte auch ihm zu schaffen. Aber er wollte nicht, dass sein Freund sich Vorwürfe machte. Schließlich hatten sie ja nun einen Platz gefunden, an dem die Drachen bleiben konnten. Aber solange dieses Wetter anhielt, würde sich der Geflügelte hier nicht wohl fühlen können.

Kaum war er gelandet, zog er sich in die Baumhöhle zurück. Dort war es angenehmer als davor und er streckte sich lang aus. Seine Gedanken begannen zu kreisen. Um die Halblinge und die derzeitige Situation. Auch wenn das Zusammentreffen nun doch etwas überstürzt war, hatte man ihnen dennoch die Möglichkeit gegeben, ihre Friedfertigkeit unter Beweis zu stellen.

„Und? Bist du glücklich, dass sie jetzt mit sich reden lassen?“, wollte er von Dhaôma wissen und breitete einladend einen Arm aus. Auch wenn es beinahe zu warm war, verspürte er derzeit dennoch ein dringendes Bedürfnis nach Nähe.
 

„Bin ich.“, nickte Dhaôma. „Du hast dich heldenhaft verhalten.“, kicherte er dann. „Hast mich beschützt und ihr nicht wehgetan. Und du hast mir vertraut. Das hat mir gefallen.“ Schmusig lehnte er seinen Kopf gegen Mimouns Arm und kuschelte sich dann an ihn. Sein ganzer Körper schrie förmlich nach Schlaf. Er hatte definitiv zu viel Magie gewirkt an diesem Tag und auch wenn er inzwischen reichlich Übung darin hatte, irgendwann war es einfach genug, selbst mit Lulanivilays Hilfe. Leicht zog er die Beine an und rollte sich zusammen.
 

Sanft spielten die Finger mit den Strähnen des Magiers. „Natürlich vertraue ich dir. Und du hast mich noch nie enttäuscht. Dafür danke ich dir.“ Umständlich drehte sich der Geflügelte auf die Seite und schlang nicht nur den zweiten Arm sondern auch seinen Flügel um seinen Freund. Und weil er gerade dabei war… „Ich danke für alles. Du bist das Beste, was mir je passiert ist.“
 

Vor lauter Glück wusste Dhaôma gar nicht, was er sagen oder tun sollte. Er hatte das dringende Bedürfnis, Mimoun zu küssen, aber das letzte Mal hatte ihm das nicht gefallen, also drückte er die Hand, die er erreichen konnte und strich mit der Wange darüber. „Ich bin auch froh, dass es so gekommen ist.“, teilte er ihm leise mit.
 

Mimoun fing die streichelnde Hand ein und drückte seine Lippen gegen die Innenfläche. Leises Kichern schwang durch die Höhle. „Gib es zu. Das war eiskalte Berechnung von Anfang an.“ Die Stimmlage war zu amüsiert um anklagend zu klingen.
 

„Wie kann das sein?“ Ein Gähnen ließ all seine Muskeln sich anspannen. „Am Anfang wollte ich mich mit dir anfreunden, aber dann hatte ich nur noch Angst, dass du mich tötest, wenn ich dich nach Hause gebracht habe. Du oder deine Familie. Du warst total gruselig und hast immer böse geguckt.“
 

Etwas krampfte sich in ihm zusammen. Einerseits war es gut zu wissen, dass er Furcht verbreiten konnte, sollte es notwendig sein. Andererseits hatte Dhaôma Angst vor ihm gehabt. Das wollte Mimoun nicht. Niemals sollte Dhaôma ihn fürchten. Niemals würde er seinem Magier etwas antun können. Der Tag, an dem das geschah, war der Tag, an dem er sich umbrachte.

„Verzeih mir.“, nuschelte er in die braunen Strähnen des Magiers.
 

Wieder gähnte Dhaôma herzhaft, dann seufzte er. „Schon geschehen.“ Der Schlaf holte ihn ein. Mimouns Wärme, die Aufregung des Tages und tiefe Zufriedenheit forderten ihren Tribut. Seine Hand ließ Mimouns aber auch dann nicht los. Viel zu sehr hatte er sich daran gewöhnt, sie zu halten.
 

Minuten vergingen in Bewegungslosigkeit und Schweigen. Als der Geflügelte sich sicher war, dass Dhaôma schlief, hauchte er ihm einen federleichten Kuss auf die Lippen. „Du bist viel zu gut zu mir.“, flüsterte er, bevor er sich zurücksinken ließ und den Geräuschen um sie herum lauschte. Dem Rauschen des Regens, dem Rauschen der Blätter, dem Rauschen des sie umgebenden Flusses. Kurz schnaubte Mimoun belustigt. Sehr einseitige Geräuschkulisse. Schließlich schlief auch er ein, eingelullt vom stetig gleichen Geräusch.
 

Am nächsten Tag regnete es immer noch und wegen der schwülen Luft war Lulanivilay nicht gewillt, das Wasser zu verlassen. Wie eine gigantische Leiche lag er in der braunen Brühe und kühlte sich ab. Auch der Gedanke, jetzt zu den Halblingen zu fliegen, passte ihm nicht, also bat Dhaôma Mimoun, sie überzusetzen. Er wollte Thenra erzählen, wie das mit Fiamma war.

Wie erwartet, wurden sie von Keithlyn begrüßt, die zwischen drei Wachen stand und als einzige winkte. Sie war mächtig enttäuscht, dass Lulanivilay nicht dabei war, aber sie verstand natürlich, dass ihm zu warm war. Das kannte sie auch. Dabei erfuhren die Freunde auch, dass es wahrscheinlich noch schlimmer wurde. Besorgt blickte Dhaôma zu dem schwarzhaarigen Hanebito. Wenn es noch mehr Wärme gab, mussten sie weiterziehen und das, obwohl sie endlich Freunde gefunden hatten, die ihm vielleicht helfen konnten. Auch wenn sie am Vortag wenig von sich erzählt hatten, er hatte es im Gefühl, dass sie etwas wussten. Sie kamen von den Magiern, dabei hatte er noch nie etwas von ihnen gehört.

Xaira kam zu ihnen. „Heute ohne Leibwache?“, murrte sie zur Begrüßung. „Ihr seid ja ganz schön mutig.“

Nachdenklich sah Dhaôma sie an, dann lächelte er. „Ich habe fast das Gefühl, dich schon zu kennen.“, sagte er und kicherte amüsiert.

„Was soll das heißen?“, fragte sie misstrauisch mit zusammengekniffenen Augen.

„Ich kenne ein Mädchen, das mich auch nicht leiden kann. Sie sagt auch immer so abfällige Dinge über mich.“

Xaira sperrte Mund und Nase auf. Wie konnte jemand so etwas ohne die geringste Regung von Enttäuschung, Wut oder Hass sagen, wo er doch schon festgestellt hatte, dass er nicht gemocht wurde? Machte es ihm denn gar nichts aus, wenn man ihn so behandelte? „Das heißt nicht, dass du mich kennst!“, fauchte sie wütend, ohne eigentlich zu wissen, warum. War es, weil es diesen Magier nicht kümmerte, dass sie ihn nicht mochte, oder weil er sie als unleidlich abstempelte, ohne ihr eine zweite Chance zu geben? Nein! Das war, weil er einfach ein absoluter Idiot war! Wer sagte denn jemandem ins Gesicht, dass man durchschaut hatte, nicht gemocht zu werden?

„Ich weiß. Ich sagte ja auch ‚fast’.“ Seine Aufmerksamkeit glitt von ihr wie ein Wassertropfen von ihren Flügeln abperlte. „Thenra! Wir sind wieder da!“ Und schon lief er winkend auf sie zu.

Keithlyn griff Mimouns Hand und zog ihn mit sich. Sie erzählte, dass sie sich gerne ansehen würde, wie seine Flügel gebaut waren, und drückte ihn auf einen Stein. Kurz darauf klappte sie die olivfarbenen Schwingen auf und zu, tastete über die Knochen und die weiche Haut und nahm ein halbes Dutzend Mal Maß mit einem kleinen Stöckchen, um die Zahlen dann in einem kleinen Buch zu vermerken.

Währenddessen berichtete Dhaôma von Fiamma und Seren und Addars Familie. Er schwärmte so sehr, dass die Alte immer wieder breit und fast zahnlos grinste. Sie sah diese Hanebito vor sich, als wären sie bei ihr. Dhaôma schien sie wirklich zu schätzen.

Dann kamen Rufe, dass der Drache sich nähere, und wirklich landete Lulanivilay kurz darauf direkt neben Dhaôma, nachdem er zwei gestreifte Esel abgeworfen hatte. Ganz dicht hinter ihm rollte er sich zusammen und schloss wieder die Augen.

„Vilay?“, fragte Dhaôma besorgt, weil sich der große Grüne so seltsam verhielt.

Die Antwort war ein Bauch erschüttendes Seufzen. „Ich will nicht mehr alleine sein.“

Weich lehnte sich Dhaôma zurück und während er weitererzählte, kraulte er seinen Freund am Hals. Keithlyns Enttäuschung, als sie feststellte, dass der Drache nicht mit ihr fliegen würde, weil er schlief, endete darin, dass sie Mimoun anbettelte, mit ihr zu fliegen.
 

Widerstandslos und lachend hatte der Geflügelte die ganze Prozedur über sich ergehen lassen. Kurz wies er sie an, nicht allzu grob zu sein und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Gespräche um sich herum. Als das Mädchen mit ihrem Anliegen kam, wurde Mimouns Gesichtsausdruck unglücklich.

„Du hättest niemals mit Vilay fliegen dürfen. Ich kenne beide Gefühle. Das berauschende, wenn die Winde unter deinen Schwingen dich über das Land tragen. Und auch das bedrückende, wenn verletzte Flügel dich an den Boden fesseln.“ Sanft strich er eine weiße Strähne hinter ihr Ohr. „Ich musste eine lange Zeit auf meine Flügel verzichten und es war quälend, denn ich hatte keine Hoffnung, jemals wieder fliegen zu können. Wir werden nicht hier bleiben können. Du weißt, was wir uns wünschen und woran wir arbeiten. Wenn wir gehen, wird dir die Möglichkeit genommen, den Wind zu spüren. Ich sehe deine Begeisterung und ich teile sie, aber umso größer wird der Schmerz, wenn wir weg sein werden. Bitte nicht mehr darum. Ich mag dich und möchte nicht, dass du dich quälst.“
 

„Aber ich habe bereits davon erfahren! Und ich will auch nicht missen, was ich jetzt kenne! Bitte!“ Sie zog an seinem Hemd und Tränen traten in ihre roten Augen. „Bitte. Ich weiß doch, dass ich irgendwann darauf verzichten muss, aber bis dahin… Und vielleicht kann ich es lernen, wenn ich mir ein Gerät baue, das so aussieht, wie deine Flügel. Aber dafür brauche ich doch Erfahrung!“
 

Grüne Augen folgten den krallenbewehrten Fingern, die erneut die weiße Haut streichelten und von Haaren befreiten. Wenn es ihr tatsächlich gelang, sollte sie den Wind kennen lernen. Aber wenn es nicht funktionierte…

„Bete darum, dass es funktioniert, sonst werde ich mir auf ewig Vorwürfe machen.“, seufzte der Geflügelte ergeben. Unnachgiebig sah er ihr in die Augen. „Ich bin ein strenger Lehrer. Und wir haben nicht viel Zeit, also streng dich an.“
 

„Natürlich!“ Sie strahlte ihn an, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und lief wieder zu dem Mann, der als ihr Ersatzvater fungierte. Sie redete mit Engelszungen auf ihn ein, bis er nachgab. Er würde ihr helfen, einen weiteren Versuch mit dem Gleiter zu machen. Der erste war vor einigen Monaten abgestürzt und sie hatte es nur knapp überlebt. Diesmal war sie in der Luft nicht alleine. Es war jemand da, der sie leiten konnte und sie notfalls rettete.
 

Ein leises Gefühl von Entsetzen beschlich Mimoun. Sie war ohne Kenntnisse und vernünftige Voraussetzungen in der Luft gewesen. Und sie hätte es wahrscheinlich erneut alleine getan, hätte er ihrem Drängen nicht zugestimmt.

„Regel Nummer eins.“, knurrte er dunkel, als er an ihre Seite trat. „Keine Alleingänge. Niemals. Und sei es noch so verlockend.“

Und schon wandte er sich ihren Plänen und dem Rohbau zu. Es dauerte ein wenig, bis er dahinter gestiegen war, wie die Zeichnungen zu deuten waren, und sie war eifrig dabei, ihm alles zu erklären. Es gab viele Macken in ihren Vorlagen, die es auszubügeln galt. Das Holz war zu schwer, die künstlichen Schwingen nicht auf ihre Größe angepasst und es war fraglich, ob es ausbalanciert sein würde, würde es bespannt werden. Doch das waren Dinge, die sich im Laufe der nächsten Tage herausstellen würden und die es dann zu beheben galt. Den ganzen Tag arbeiteten sie daran. Nichts konnte sie daran hindern.

Als es gegen Abend kühler wurde und es dem Geflügelten leichter fiel, sich zu bewegen, trat er hinter das Kind und umfasste ihre Hüften. „Schließ die Augen. Ich will, dass du dem Wind lauscht, ihn auf deiner Haut spürst. Verlass dich nicht auf deine Sehkräfte, denn sie können dir dort oben nicht helfen. Du musst lernen, den Wind mit allen Sinnen zu lesen.“

Und schon stieß er sich ab und strebte dem Himmel entgegen. Er zog Kreise über dem Lager der Halblinge, damit sich diese keine allzu großen Sorgen um die Kleine machen mussten.
 

Aber die meisten beobachteten das nur mit einem stillen Neid. Sie hatten langsam begriffen, dass von diesen beiden keine Gefahr drohte. Natürlich konnten sie immer noch vorspielen, nett zu sein, aber den Eindruck hatte kaum jemand. Und warum sollten sie ihnen helfen, wenn sie sie nur zurückbringen wollten? Und wer würde glauben, dass ein Magier eine solche Begeisterung an den Tag legen würde, wie es Dhaôma tat, wenn er etwas Neues fand. Dazu noch die Drachen. Von den Drachenreitern hatten auch sie schon gehört und sie hatten die Glocke aus den Legenden gehört, die sie ankündigten. Und Drachenreiter, das waren Friedensboten und sie hofften darauf, dass es stimmte.
 

Die nächsten Tage beobachteten die Halblinge Mimouns und Keithlyns Bemühungen, den Holzdrachen zu basteln. Manche erklärten sich bereit, die Häute von Lulanivilays Beute zu gerben, um die Flügel damit zu bespannen.

Lulanivilays Laune besserte sich ein paar Tage später um einiges, weil er Drachenartige gefunden hatte, wie er stolz berichtete. Er nahm Dhaôma mit, um sie ihm zu zeigen, und verstrickte sich mit einem von ihnen in einen Kampf. Der vier Meter lange Alligator endete als blutig zerfleischte Beute. Sie seien dümmer als die magielosen Drachen und es nicht wert, so auszusehen als wären sie Drachen, war die Begründung dafür, dass Lulanivilay sie fraß.

Dhaôma begriff in dieser Zeit, dass die Hitze Lulanivilay vor allem wegen der stechenden Insekten zu schaffen machte, die in dieser Zeit besonders aktiv waren, weshalb er begann, ihn jeden Morgen und Abend mit Schlamm einzureiben, der verhinderte, dass sie unter die Schuppen krauchen konnten. Leider wurden seine Bemühungen durch Lulanivilays Faible für schnelle oder auch ausgiebige Bäder boykotiert.

Noch immer schliefen die Drachenreiter auf ihrer eigenen Insel, was vor allem der Tatsache geschuldet war, dass Lulanivilay wenigstens nachts seine Ruhe haben wollte, denn Keithlyn war ein wenig klettig, sofern sie nicht bastelte.
 

Und dann war der große Tag gekommen. Der Jungfernflug sollte zwar schon einen Tag früher stattfinden, doch ein Regenschauer kam ihnen dazwischen. Für Wesen wie Mimoun und Lulanivilay wäre es noch zu bewerkstelligen gewesen, für das starre Gestell aber, das Keithlyn das Fliegen ermöglichen sollte, war es nicht zu schaffen gewesen.

Schon früh am Morgen war klar, dass an diesem Tag ein besserer Tag werden würde für erste Flugübungen. Die Vorfreude und Nervosität standen dem Kind deutlich ins Gesicht geschrieben, als sich ihre Finger erwartungsvoll um die Griffe klammerten.

„Wenn du Angst hast, verschieben wir es besser.“, riet Mimoun. Beinahe entsetzt ruckte ihr Kopf zu dem Geflügelten herum und ihre in einem Zopf gebändigten weißen Haare peitschten durch die Luft. „Wenn du Angst hast, wirst du schnell Fehler machen.“, erklärte er ihr, bevor sie Einwände erheben konnte.

Fast sofort wandelte sich ihr Blick, ließ nur noch pure Entschlossenheit erahnen. Sie atmete einmal tief durch und gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass sie bereit war. Kritisch beäugte Mimoun das Mädchen und lächelte zufrieden.

„Gut. Dann los.“

Ein letzter Blick aus roten Augen glitt zu ihrer erwartungsvollen und bangen Großfamilie, die im Hintergrund stand, und stieß sich über die Klippe ab. Zeitgleich erhoben sich auch Mimoun und Lulanivilay in die Lüfte, um notfalls eingreifen zu können.

Anfangs ging alles gut. Die schlammiggelben Fluten des trägen Flusses blieben hinter ihnen zurück und begeistert jauchzte der kleine Halbling auf. Bevor Mimoun irgendetwas sagen konnte, riss sie das Gestell nach oben, um in höhere Luftströmungen zu gelangen.

„Du Dummkopf!“, rief Mimoun ungehalten. Schon im nächsten Augenblick kippte der Drache weg. Das Gerät war für solche abrupten Kursänderungen, vor allem nach oben, nicht gemacht. Und dann zwang das Ungleichgewicht der verschieden dicken Häute, das sie bisher mit eisernem Willen und Gewalt hatte ausgleichen können, Keithlyn gen Erdboden.

Wunsch

Kapitel 56

Wunsch
 

Mimoun ergriff die Kanten direkt über ihr und versuchte sie in eine waagerechte Position zurückzumanövrieren, doch Keithlyns eigene Anstrengungen machten seine eigenen zunichte.

„Lass los! Ich fang dich auf!“, wies er an, aber sie krallte sich nur noch heftiger an ihrem Fluggerät fest.

„Nein.“, keuchte das Mädchen vor Anstrengung. Der Erdboden kam immer näher und sie musste ihre Arbeit doch retten.

Mit einem wütenden Fauchen fuhren die Krallen des Geflügelten durch die Häute, rissen sie in Fetzen von dem Holzgestell. Ihren Verzweiflungsschrei ignorierte er gekonnt. Auch dass der Drache über ihm schwebte und das Mädchen und ihr Hilfsmittel hätte fangen können. Der Geflügelte ergriff das weinende Mädchen durch das Gestell hindurch und zog sie an sich. Diesmal löste sie ihren Griff und schlug die Hände vor ihr Gesicht. Der zerstörte Flugdrache krachte ohne Kontrolle auf die mit jungem Gras überwucherte Steppe. Nicht weit entfernt davon setzte Mimoun Keithlyn ab. Lulanivilay landete dicht bei ihnen und besah sich das gesplitterte Holz.

„Warum?“, kreischte das weißhaarige Kind und wirbelte zu dem jungen Drachenreiter herum. Ihre auf seine Brust trommelnden Fäuste fing er schnell ein. Die schmalen, weißen Handgelenke hielt er mit nur einer Hand fixiert. Mit der anderen verpasste er ihr eine schallende Ohrfeige, damit sie aufhörte dieses Wort immer und immer wieder zu wiederholen. Tief durchatmend löste Mimoun seine Finger von ihr und trat einen Schritt zurück. Das Kind tobte nicht mehr. Sie starrte ihn mit einer Mischung aus Wut und Verständnislosigkeit an. Ihre Finger hoben sich langsam zu ihrer Wange.

„Ich habe dir gesagt, dass du auf mich hören sollst! Ich habe laut und deutlich ‚Lass los’ gesagt!“

„Aber ich konnte doch meinen Gleiter…“, begann sie aufgebracht, aber eine wütende Handbewegung Mimouns schnitt ihr das Wort ab.

„Warum wohl, glaubst du, war Vilay dabei? Als Zuschauer?“ Er schüttelte den Kopf. „Das hätte repariert oder verbessert werden können. Ein gebrochenes Genick nicht! Hör auf, dein Leben deswegen wegschmeißen zu wollen. Ich habe auch nicht aufgegeben, als ich nie mehr würde fliegen können, als keine Hoffnung mehr bestand!“

„Aber du kannst wieder fliegen!“

„Ja. Weil Dhaôma meinen völlig zerstörten Flügel geheilt hat. Dennoch hatte ich nicht aufgegeben, denn zu dieser Zeit besaß er noch keine Heilkräfte!“

Das Mädchen starrte ihn wortlos und mit undeutbarem Blick an.

„Lulanivilay, bring sie bitte zu den anderen zurück.“ Und als sie Anstalten machte auf seinen Rücken zu klettern, fügte er mit einem eisigen Blick und frostiger Stimme hinzu: „Nicht so.“

Der große Grüne spürte den Zorn des kleinen Wesens, eine Frage seinerseits wurde jedoch von Tyiasur unterbunden, der erklärte, dass Mimoun kurz allein sein wollte, um sich zu beruhigen. Der Wasserdrache hatte die ganze Zeit die Gedanken und Gefühle der Fliegenden im Blick behalten. Sanft umschlangen kräftige, messerscharfe Klauen das Mädchen und mächtige Schwingen brachten die beiden Körper in die Luft.

Seelisch und emotional erschöpft ließ sich Mimoun ins frische Gras sinken und starrte in den Himmel. „Mist.“, murmelte er. Wahrscheinlich – nein, definitiv musste er sich nachher bei ihr entschuldigen. Dieser Fehlschlag war für Keithlyn garantiert nicht einfach zu verkraften. Der Geflügelte setzte sich auf und besah sich die Überreste des Flugdrachens. Da war nichts mehr zu machen. Es gab keine Rettung dafür. Erneut entrang sich ihm ein „Mist.“ Frustriert schwang er sich ebenfalls in die Luft und folgte, wenn auch langsamer.
 

Wie alle anderen hatte Dhaôma zugesehen und er war erschrocken gewesen, als Keithlyn fiel. Um ihn herum war Panik ausgebrochen, während er mit geballten Fäusten dagestanden und Daumen gedrückt hatte. Es kam für ihn nicht überraschend, dass Mimoun alle Register zog, um die Kleine zu retten. Auch ihre Reaktion auf den zerstörten Gleiter kam erwartungsgemäß.

„Er hat sie gefangen, aber der Gleiter ist kaputt.“, erklärte Xaira der Ältesten, die zittrig zu erfahren hoffte, was die Aufregung bedeutete. „Und er hat sie geschlagen, wenn ich das richtig gesehen habe.“

Das knittrige Gesicht verzog sich zu einem erleichterten Lächeln und Thenra drückte die weiche Hand ihrer Blindenfrau. „Es ist gut, dass sie ihm so wichtig ist.“

Einige Menschen in ihrer Nähe sahen ungläubig aus ob der Interpretation, aber als der Drache mit ihrer Jüngsten landete und diese tränenüberströmt einfach liegen blieb, war sie wichtiger und alle umringten sie. Lulanivilay trabte zu Dhaôma, um sich Lob abzuholen. Neugierig fragte dieser nach, was denn passiert sei, während er die grüne Nase kraulte. Zufrieden schloss der Große die Augen und antwortete lapidar und gleichgültig, dass Übermut und Starrsinn Mimoun nicht geschmeckt hatten und er sich deswegen schlecht fühle. Beinahe musste Dhaôma lachen. Schon früher war ihm vergönnt gewesen zu beobachten, dass Mimoun zwar streng sein konnte, aber dass er dann jedes Mal ein schlechtes Gewissen niederringen musste.

„Und der Gleiter?“

„Holzstäbchen und Lederfetzen.“ Die Antwort wurde von einem tiefen, zufriedenen Seufzen begleitet, als Dhaôma die Stelle hinter den Ohrlöchern mit den Fingernägeln traktierte. Es war seine Lieblingsstelle.

Als Mimoun landete, winkte Dhaôma ihn heran. Irgendwie beschlich ihn die Vermutung, dass er Trost brauchte.
 

Diese Geste kam dem Geflügelten wie eine Vorstufe zu einer Belohnung vor. Dhaôma sah nicht wütend aus, aber eigentlich sollte er es sein. Mimoun hatte seine Hand erhoben. Und dann noch gegen ein Kind. Das war nichts, was man belohnen sollte.

Er wandte sich von Dhaôma ab und schlich zu der Gruppe um das Mädchen. Xaira löste sich daraus, als sie ihn bemerkte und trat ihm in den Weg. „Wie kannst du es wagen, sie zu schlagen?“ Ihr Finger bohrte sich mit Wucht in seine Brust. „Wer glaubst du eigentlich, wer du bist, dass du das Recht dazu hast?“
 

Keithlyns Vater Korkkan trat dazwischen und fixierte Mimoun mit eisigem, strengem Blick. Eine einzige Geste und seine Adoptivtochter stand neben ihm. „Erzählt mir, was passiert ist. Der Reihe nach.“ Er wirkte wirklich wütend, so dass Keithlyn nur noch mehr weinte, ohne etwas sagen zu können. Ohne sie wirklich zu beachten, richtete der Mann die Aufmerksamkeit auf Mimoun. Musste eben dieser berichten und er würde anhand der Reaktionen des Albinomädchens erkennen, was Wahrheit war.
 

„Ohne auf den Wind zu hören, ohne ihre Fähigkeiten richtig zu erkennen und einschätzen zu können, hat sie versucht, die Luft zu beherrschen.“, begann Mimoun leise. Seine ganze Haltung zeugte von seinem schlechten Gewissen. „Ihr Übermut hat zum Absturz geführt. Es tut mir Leid. Es war zu früh. Ich hätte wissen müssen, dass sie noch nicht bereit dazu war.“ Er sah auf die Hand, die die Wange des Mädchens verletzt hatte. „Sie versuchte, ihren Drachen wieder in den Griff zu bekommen, verweigerte mir den Gehorsam, als ich sie aufforderte, es zu unterlassen. Ich habe noch in der Luft die Lederhaut zerfetzt. Und kaum gelandet, habe ich ihr eine Ohrfeige verpasst.“ Seine Finger schlossen sich zur Faust, drückten sich gegen seine Brust. „Ich hätte sie zurechtweisen dürfen, sie auf ihre Fehler aufmerksam machen können, aber niemals hatte ich das Recht, sie zu schlagen. Es tut mir Leid.“
 

Vielfaches, grimmiges Nicken folgte der Aussage, aber Korkkan wandte sich einfach der Jüngsten zu. „Jetzt du.“

Sie starrte ihn an, dann versuchte sie, sich zusammenzureißen, um eine vernünftige Geschichte hervorbringen zu können. Dennoch wurde sie häufig von Schluchzern unterbrochen, als sie berichtete, dass sie das Gefühl gehabt hatte, endlich frei zu sein und die Welt unter sich zu wissen. Dass sie den Gleiter gewiss hätte retten können und dass Mimouns Aktion, ihn zu zerstören, überflüssig gewesen wäre. Jetzt wäre er nicht mehr zu retten und das alles nur, weil man ihr nicht zutraute…

Sie bekam eine zweite Ohrfeige. Sie war bei weitem nicht so stark wie Mimouns, aber ihr Vater bebte vor Zorn. Wie alle anderen hatte er die Szene von weitem beobachtet und sich gefragt, warum der Geflügelte erst so spät eingegriffen hatte, aber jetzt war es ihm klar. Sie hatte ihm verweigert, die Hilfe anzunehmen.

Rote Augen blinzelten, dann flossen die Tränen wieder, diesmal still. Keithlyn kauerte sich zu Boden und schlang die Arme um die Knie, um ihr Gesicht zu verstecken. So schrecklich hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit ihre Adoptivmutter gestorben war.

Ein warmer Arm legte sich um sie. „Bist du denn wirklich in Ordnung?“, fragte Korkkan sanft und als sie nickte, seufzte er erleichtert und hob sie hoch. Bevor er sie davon trug, neigte er vor Mimoun ehrerbietig den Kopf. „Vielen Dank, dass du sie mir zurückgebracht hast. Und du…“, wandte er sich an seine Tochter, „… versprich mir, dass du dich nie wieder in solche Gefahr gibst. Wenn ich dich verloren hätte, wüsste ich doch gar nicht, was ich tun sollte. Du bist noch ein Kind, also verhalte dich ruhig noch eine Weile so, aber von den Erfahrungen anderer zu profitieren, ist keine Schande.“

Die anderen Halblinge blieben zurück. Sie fanden sich mit dem Urteil des Vaters ab. Selbst Xaira wandte sich abrupt ab, während sie schnaubte, als wäre ihr der Hanebito definitiv zu glimpflich davon gekommen.
 

Als der zweite Schlag erfolgte, als sie sich klein machte, tat Mimoun einen Schritt nach vorn und stoppte wieder. So leid ihm das Kind gerade tat, hier durfte er sich nicht einmischen. Und es erleichterte ihn ein wenig zu hören, dass es Keithlyn gut ging und man ihm nicht mehr böse war. Nun beruhigt ging er zu Dhaôma hinüber.

„Tut mir Leid, dass ich mich nicht beherrschen konnte.“, murmelte der junge Geflügelte geknickt und sah zu Boden.
 

Das brachte Dhaôma dazu, durch die schwarzen Zotteln zu wuscheln. „Mach dich nicht so fertig. Sie lebt noch. Wegen dir. Sie wird es dir nachsehen und dann seid ihr wieder Freunde.“

Er nahm ihn in den Arm.

Doch Keithlyn war nicht so einsichtig, wie es Hanebito-Kinder waren. Sie schmollte. Es dauerte fast drei Tage, ehe sie sich für ihren Ungehorsam entschuldigen kam.
 

Es wurden drei unerträgliche Tage. Mimoun saß wie auf glühenden Kohlen. Er hatte die Kleine wirklich gern und es tat ihm gar nicht gut, dass sie nicht mit ihm sprechen wollte. Als sie schließlich kam, fand sie sich beinahe sofort in seiner Umarmung wieder. Er beteuerte ihr mehrfach, dass er sie wirklich mochte und ihr nicht hatte wehtun wollen. Anschließend schleifte der Geflügelte Keithlyn am Handgelenk hinter sich her und zog sie abseits. Ein wenig versteckt hatte er mit der Erschaffung eines neuen Gleiters angefangen. Er hatte bereits einige Änderung in der Planung. Das Gewicht durch Holz wurde bereits auf ein Minimum reduziert. Mehr ließ sich da nicht machen. Fehlten nur noch Häute. Aber er war ja so intelligent gewesen, die letzten unbrauchbar zu zerstören. Und nun fehlte Nachschub. Aber das war nicht das einzige Problem, wie er ihr kleinlaut gestand. Er musste für längere Zeit weg. Mimoun erklärte ihr die Umstände, in denen sich seine Schwester befand. Erzählte ihr davon, dass er nach ihr sehen musste, dass er es ihr versprochen hatte. Aber er gab ihr auch im gleichen Atemzug zwei Anweisungen. Erstens sollte sie die Finger von dem Gleiter lassen. Solange er nicht da war, durfte sie nicht daran herumwerkeln. Nur äußerst widerwillig und nach mehrfachem Nachhaken seinerseits willigte sie schließlich ein.

Die zweite Aufgabe sagte ihr da sofort mehr zu. Keithlyn sollte ein Gefühl für den Wind kriegen. Wenn Lulanivilay es zuließ, sollte sie auf seinem Rücken den Wind spüren. Der kleine Halbling sollte Vorschläge zu Flugrichtung und möglichen Manövern geben und der Drache sollte sie korrigieren.

Am Abend druckste Mimoun eine Weile bei Dhaôma herum, bevor er zur Sprache brachte, dass er seine Schwester besuchen gehen wollte. Sein Widerwillen so lange von seinem Magier getrennt zu sein, sprach deutlich aus seinem Blick.
 

Aber Dhaôma hatte damit bereits gerechnet. Zusätzlich wurde es immer wärmer und bald schon würde Mimoun auch außerhalb der Mittagszeit Probleme bekommen, sich zu bewegen. Es war besser für ihn, zu gehen. Er würde ihm nicht im Weg stehen. Außerdem hatte der Hanebito einige Versprechen zu erfüllen.

„Pass auf dich auf, ja? Damit du zurückkehren kannst.“
 

„Ich werde immer zu dir zurückkehren.“, versprach der Geflügelte beinahe feierlich. „Es geht nicht anders. Mein Platz ist an deiner Seite.“ Obwohl ihm warm war, zog er seinen Magier in eine Umarmung. „Aber du musst auf Tyiasur aufpassen. Ich kann ihn nicht mitnehmen.“
 

Lachend nickte der Braunhaarige und drückte seinen Freund. „Wahrscheinlich passt er auf mich auf, wie ich ihn kenne, nicht wahr, Tyiasur?“
 

„Da Vilay nur schläft, bleibt mir ja nichts anderes übrig.“ Der kleine Drache verstand nicht ganz, wie diese erneute Zuneigungsbekundung seines Reiters so fast völlig unbeachtet bleiben konnte. Und dass dieser so gar nichts tat und es einfach so hinnahm. Stattdessen strichen die warmen Finger über seinen Kopf und kraulten sein Kinn.

„Dann werde ich mich jetzt schlafen legen, damit ich zeitig aufbrechen kann.“, bestimmte Mimoun für sich und löste sich von dem Magier, zog sich bereits jetzt zur Nachtruhe zurück. Zusammenpacken verschob er auch auf den nächsten Morgen.
 

Es dauerte nicht lange, da zog auch Dhaôma sich zurück. Leise landeten er und sein Drache auf der kleinen Insel und still setzte sich der Braunhaarige neben seinen Freund. Sie berührten sich nur an einer winzigen Stelle. Sein Finger lag direkt neben Mimouns. Aber es reichte, um Dhaôma das Gefühl zu geben, verbunden zu sein. Es fiel ihm nicht einmal schwer, wach zu bleiben, denn er wollte seinen Freund möglichst lange betrachten, um es im Voraus für die lange Trennung zu kompensieren.

Als der Morgen graute, strich er Mimoun sanft über die Wange, bis dieser wach wurde. Die letzten Momente, danach wären sie lange Zeit nicht in der Lage, auch nur einen Blick zu wechseln. Er würde fleißig sein müssen, um das zu verkraften.
 

Es war angenehm, auf diese Weise geweckt zu werden. Ein sanftes Lächeln schlich sich auf die Lippen des Geflügelten, bevor er irritiert die Stirn runzelte. Hatte es ihn eigentlich nicht immer genervt, wenn seine Mutter das gemacht hatte? Lag es daran, dass es Dhaôma war, dem er sich nun gegenüber sah?

Noch etwas ging ihm auf. Er hatte schon lange nicht mehr an sie gedacht. Mit aufgerissenen Augen, in denen sich stummes Entsetzen spiegelte, entzog sich Mimoun seinem Freund und setzte sich auf. Warum war das so? Er fühlte sich schäbig, als würde er sie verraten. Und das hatte sie nicht verdient.

Seufzend ließ er sich nur Augenblicke später zur Seite kippen, so dass sein Kopf auf der Brust des Magiers zur Ruhe kam. Mit geschlossenen Augen spürte er dem gleichmäßigen Pulsieren unter sich nach.
 

Zuerst hatte ihn das Entsetzen über seine Berührung erschreckt, wusste er doch nicht, was er falsch gemacht haben könnte, aber die darauf folgende Intimität verwirrte ihn endgültig. Außerdem war Mimoun schwer. Und es war noch schwerer, ihn in der sitzenden Position zu halten. Es dauerte nicht lange, bis Dhaômas Kraft nachließ und er ihn herab gleiten lassen musste.

„Was ist los mit dir? Fühlst du dich nicht gut?“, fragte er besorgt.
 

„Ich habe sie vergessen.“, murmelte Mimoun. Die Positionsänderung hatte er willenlos und ohne eigene Muskelbewegung über sich ergehen lassen. Wie ein unsicheres Kind hielt er sich mit zwei Fingern am Stoff von Dhaômas Hose fest. „Warum habe ich sie vergessen?“

Bevor Dhaôma etwas erwidern konnte, löste er sich wieder von seinem Freund und strich ihm durch die Haare. Es brachte nichts, wenn er sich jetzt selbst quälte. Es wurde nämlich Zeit, dass er von hier verschwand. Noch war es kühl. Noch konnte er eine gute Strecke schaffen. Schnell, aber nicht überhastet, packte sich der Geflügelte Proviant und Wasserschlauch ein. Er würde mit leichtem Gepäck reisen. So kam er schneller vorwärts. So könnte er vielleicht Zeit sparen und schneller wieder zurück sein. Alles in dem Drachenreiter sträubte sich zu gehen.

„Er ist hier gut aufgehoben.“, versprach Tyiasur. „Er ist nicht mehr alleine.“

Ja, dachte Mimoun und verspürte einen schmerzhaften Stich, aber er selbst würde es für lange Zeit sein. Als hätte sich der Blaue wieder in den Gedanken des Geflügelten herumgetrieben, rieb er seinen Kopf an dem seines Reiters.

Sein Magier überreichte ihm vor seiner Abreise einen Brief für Addars Familie und einige vitaminreiche Samen, die Silia helfen sollten.

„Du bist der Beste.“, beteuerte Mimoun wie so häufig und verabschiedete sich mit einer Umarmung von seinem Freund. Auch den Halblingen sagte er für einige Wochen Lebewohl.
 

Die erste Zeit flog er weit oben in kühleren Luftschichten, doch je länger seine Reise dauerte, je weiter er gen Norden flog, umso geringer wurde seine Flughöhe, denn die immer deutlicher zu spürende Winterkälte schnitt ihm bei seinen hohen Geschwindigkeiten in die nackte Haut auf Gesicht und Armen.

Sein Weg führte ihn rückwärts. Zwar umging Mimoun die Städte der Magier, die sie besucht hatten, aber er besuchte die Trainingsinsel, auf der sie einige Wochen geblieben waren. Natürlich war an diesem Tag mal wieder kaum an die Ausbildung der Jungen zu denken. Ein wirklich undisziplinierter Haufen, der ungeduldig den Abend erwartete, um Neuigkeiten zu erfahren. Mit Verwunderung und Unglauben nahm man die Existenz der Halblinge zur Kenntnis. Da der junge Drachenreiter wusste, wie wichtig es ihnen war, unentdeckt zu bleiben, ließ er nicht ein Wort über ihren Aufenthaltsort fallen.

Aber auch Mimoun wurde mit interessanten Änderungen konfrontiert. Kaley schien besondere Aufmerksamkeit auf Aylens Ausbildung zu legen - oder er hatte Gefallen daran gefunden, sie zu triezen. So genau ließ sich das nicht bestimmen. Das Ratsmitglied drängte den jungen Geflügelten noch ein oder zwei Tage zu bleiben und wieder ein wenig zu trainieren. Einen Widerspruch ließ er gar nicht erst zu. Zwar ließ sich Mimoun zu einem kleinen Wettstreit am Abend breitschlagen, doch noch bevor der erste Sonnenstrahl die Insel erhellte, hatte er sich schon davongeschlichen. Kaley würde nicht mit sich reden lassen. Dass eben jener in der Tür stand und Mimoun mit verschränkten Armen hinterher sah, bemerkte dieser nicht.

Eine schmale Hand klopfte auf die breite Schulter. „Er wird nie rasten oder sich ausruhen. Das kann er gar nicht.“, merkte Aylen an und gähnte herzhaft. „Erst Recht nicht, wenn Ihr es so unverständlich ausdrückt.“ Erneut klopfte sie dem deutlich Größeren auf die Schulter, gähnte noch einmal herzhaft und machte sich auf den Weg zu den Gruben.
 

„Dhaôma!“

„Ja?“ Der Braunhaarige drehte sich um und sah sie an. Zwei Wochen waren vergangen, seit Mimoun gegangen war.

„Dhaôma, bitte. Bitte, bitte!“ Ihre flehenden Kinderaugen bohrten sich in seine und lösten in ihm pure Verzweiflung aus. Der Wunsch, ihre Sehnsucht und ihre Hoffnung, endlich aus eigener Kraft fliegen zu können, endlich frei zu sein, überschwemmten seinen Körper und sein Herz. Er wollte ihr ja helfen, aber ob er konnte? Ob es ging? Konnte seine Heilmagie etwas so Großes schaffen?

Vor ein paar Tagen war sie auf die Idee gekommen. Stundenlang hatte sie vor dem Gleiter ausgeharrt, den sie nicht anfassen durfte, solange Mimoun nicht da war. Sie langweilte sich und Lulanivilay mied sie inzwischen, weil sie vom Fliegen nicht genug bekam. Zwar hatte er Spaß daran, aber ihr Betteln, wenn er keine Lust hatte, störte ihn beim Schlafen. So war sie auf den Gedanken gekommen, Dhaôma könnte den Gleiter fertig machen, da er ja Bäume wachsen lassen und sogar in beliebige Form zwingen konnte. Als er antwortete, dass er gar nicht wusste, wie so etwas auszusehen hatte, weil das Fliegen Mimouns Fachgebiet war und er sich besser auf die Heilkunst und Verpflegung verstand, hatten ihre Augen zu leuchten begonnen. Seitdem war sie von dem Gedanken, er könne ihr funktionstüchtige Flügel verschaffen, nicht mehr abzubringen.

„Was sagt Korkkan dazu?“

„Er hat sicher nichts dagegen! Er kennt doch das Gefühl auch, an den Boden gefesselt zu sein.“

Dhaôma blickte zu dem Mann, der unsicher aussah. Offenbar hatte er eine Menge Einwände, wollte ihr aber nicht im Weg stehen. „Versuche es.“, sagte er ruhig. „Sie ist alt genug, um selbst zu entscheiden.“

„Siehst du? Bitte!“ Sie hatte einen unglaublich intensiven Welpenblick. „Dhaôma. Bitte!“ Und jetzt auch noch mit Tränen in den Augen.

„Was, wenn es schief geht?“

„Warum sollte es?“, fragte sie zuversichtlich. „Du kannst gebrochene Knochen heilen, Fieber besiegen und Zähne anwachsen lassen. Mimoun hat sogar erzählt, dass du seinen zerrissenen Flügel geheilt hast.“

Ja, aber daran erinnerte er sich nicht. „Komm her. Ich will sehen, was dir überhaupt fehlt.“

„Ja!“, jauchzte sie glücklich und setzte sich vor ihn.

Vorsichtig tastend ließ Dhaôma seine Magie durch sie hindurchfließen. Sie hatte alle Anlagen eines Hanebito, aber auch sie konnte niemals Kinder kriegen. Ihr fehlten viele Muskeln und ihre Knochen waren teilweise verkrüppelt. Die Flügel waren zu klein, die Haut viel zu dünn. Außerdem fehlten ihr am rechten Flügel zwei Speichen, am linken eine. „Da gibt es nichts zu heilen.“, teilte er ihr schließlich leise mit. „Ich müsste das Gewebe umstrukturieren und wachsen lassen, damit du diese Flügel jemals benutzen kannst.“

„Dann mach das doch!“ Begeistert strahlte sie ihn an. „Ist doch nichts dabei.“

Wie sollte er das machen? Er hatte so etwas noch nie gemacht. Er wusste doch nicht mal, ob das funktionieren konnte. Das war doch nur so dahingesagt, um sie von dem Gedanken abzubringen. „Willst du wirklich dein Leben riskieren, um fliegen zu können?“

Sie überlegte ernsthaft, bevor sie nickte, was den braunhaarigen Magier von ihrer Entschlossenheit überzeugte. Hätte sie nicht gezögert, hätte er gleich nein gesagt.

Was sollte er tun?

Letztlich stand er auf und ging. Er rieb sich über die Augen, um Tränen zu verstecken. Er wünschte, Mimoun wäre da, der könnte ihm sicherlich sagen, was er tun sollte.

Keithlyn wurde von den anderen aufgehalten, als sie ihm nachlaufen wollte. Sie verstanden ihn, wie sie sie verstanden.

Dhaôma bat Lulanivilay um einen Flug, aber auch das half nicht. Es lenkte ihn nicht einmal von dem Problem ab. Stattdessen hielt er nach seinem geflügelten Freund Ausschau, den er frühestens in zwei Wochen zurückerwartete.

Am Abend kam Thenra auf ihn zu. Zusammen setzten sie sich in den Schatten einer großen Akazie. „Weißt du, es tut meiner Seele gut, dass du Skrupel hast, sie zu verändern. Auch wenn wir unsere Gestalt verfluchen, so hat sie doch auch ihren Sinn auf der Welt.“

„Das sagst du.“ Der Braunhaarige ließ sich zurückfallen und sah zum geröteten Abendhimmel hinauf. „Aber eine Existenz, in der man sich seinen größten Traum nicht erfüllen kann, ist traurig.“

„Viele leben so.“

„Ich weiß.“, seufzte er. Er kannte so viele. „Aber bei ihr müsste es nicht so sein. Vielleicht könnte ich ihr helfen. Aber ich weiß es nicht genau. Bisher habe ich Zerstörtes einfach repariert, aber bei ihr wäre es neu entstehen lassen. Bei Pflanzen ist es so einfach, aber bei einem menschlichen Wesen… Ich weiß nicht, ob es geht.“

„Du möchtest ihr helfen, nicht wahr? Du möchtest dich erproben, ob es geht.“

„Das versteht sich von selbst. Wozu habe ich diese Macht, wenn ich sie nicht nutze?“

Die Alte kicherte. „Das klingt sehr nach einem Magier. Aber ich weiß, dass du sie nicht für dich nutzt.“

„Doch. Ich lasse Essbares wachsen und schwimme schneller damit.“

Weich schüttelte sie den Kopf. Das war kaum Egoismus, wie sie ihn von den Magiern sonst kannte. „Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte?“

„Ich weiß es nicht. Es klappt nicht? Sie sieht schlimmer aus als vorher? Meine Kraft reicht nur für die Hälfte?“ Dann ließ er den Kopf hängen. „Ihr hättet Angst vor mir.“

Wieder kicherte sie und es klang, als würde Papier rascheln. Seine Sorgen waren wie immer falsch gepolt. „Sie wird dir böse sein, wenn du es nicht probierst.“

„Ich weiß. Sie wird erst aufhören zu bitten, wenn sie Erfolg hat.“

„Oder wenn sie gehörig auf die Nase fällt.“

Sie schwiegen und irgendwann schlief Dhaôma ein. Thenra blieb bei ihm und lauschte seinem Atmen. Er schlief unruhig, seit er und die beiden Drachen aus Einsamkeit zu ihnen gezogen waren, aber heute war es besonders schlimm. Er sagte zwar nichts, aber er hatte gewiss schlechte Träume. Als Lulanivilay mit Tyiasur auf dem Kopf angetrottet kam, bat sie die Drachen, über ihn zu wachen, und ging. Sie beriet sich mit dem Dorf. Im Grunde hatte keiner etwas dagegen einzuwenden, dass er versuchte, ihre Jüngste flugtauglich zu gestalten. Im Gegenteil, sie sahen eine Chance darin und auch wenn es keiner aussprach, so wusste Thenra, dass viele die Kleine vorschickten, um zu testen, ob es gefahrlos funktionierte.

Unbemerkt von allen schlich sich Xaira davon. Sie setzte sich neben die Drachen und ihren Behüteten und dachte nach. Sie hatte alles versucht, ihn zu hassen, angefangen bei ihren Vorurteilen, bis hin zu bösartigen Unterstellungen. Sie hatte Fehler gesucht, eine Lücke in perfekter Schauspielkunst, einen Hinweis auf einen bösen Gedanken. Sie hatte sogar ernsthaft versucht, ihn dazu zu bringen, sie zu hassen, aber sie hatte es nicht geschafft. Die letzten Wochen waren für ihr Dorf gut gewesen, seine Magie für viele ein Segen. Und jetzt machte er sich wegen Keithlyn solche Gedanken. Er war wirklich nicht so, wie sie gedacht hatte. Er war so seltsam. Eher wie einer von ihnen. Hilfsbereit, nicht auf den eigenen Vorteil bedacht, nicht von Macht besessen. Und wie alle anderen konnte sie sich dieser Berieselung von Freundlichkeit nicht entziehen. Sein Sanftmut hatte sich in ihr Herz geschlichen. Sie hatte das unerwünschte Bedürfnis, ihm zu helfen, ihn zu unterstützen. Ihn und seine seltsamen Freunde.

„Verdammt seiest du!“, flüsterte sie und starrte mit brennenden Augen in die Dunkelheit. „Wenn du wenigstens frei wärst, dann würde sich dieser elende Kampf wenigstens lohnen.“ Auch wenn er wahrscheinlich zehn Jahre jünger war als sie.

Goldene Augen blinzelten. „Du kannst es versuchen. Diese beiden sind viel zu blind, um irgendetwas zu verstehen, also hast du eine Chance.“ Tyiasur hatte Lulanivilay von ihren Gedanken berichtet, denn seine Beunruhigung und Wut wegen ihrer Worte hätten ein unschönes Zwischenspiel verursacht.

„Toller Hinweis.“, murrte sie. „Ist aber gelogen. Mimoun wird das nie zulassen. Ich wette, er wird ihn für immer an sich binden und für immer auf Abstand halten.“

„Kann sein.“

Sie schickte ihm einen scheelen Blick, aber er hatte die Augen schon wieder geschlossen.

„Von wegen ‚kann sein’.“, sprach der kleine Blaue in Lulanivilays Gedanken. „Er würde sie sehr wohl hindern. Aber vielleicht bringt es die beiden dazu, es einzusehen.“
 

Am nächsten Tag kam Thenra, um Dhaôma die Entscheidung des Dorfes mitzuteilen. Und noch etwas hatten sie entschieden: nämlich die Offenbarung ihres bestgehütetsten Geheimnisses. Sie ließ Dhaôma bei sich Platz nehmen und lauschte dem angenehmen Geräusch des Zittergrases, das er der wohlschmeckenden Samen wegen wachsen ließ. Schließlich begann sie zu berichten.

„Wir waren einmal bei den Magiern. Vor längerer Zeit als du von ihnen fort bist.“ Ihre blinden Augen waren starr in die Ferne gerichtet, als sähe sie eine lange vergangene Zeit. „Wir wurden dort geboren. Als Kinder von Kriegsgefangenen und in Schande gefallenen Magiern.“

Ungläubig unterbrach sich der Braunhaarige in seiner Tätigkeit. „Es gibt wirklich so viele gefallene Magier? Und sie haben sich in Hanebito verliebt?“

„Mit Liebe hatte das nichts zu tun. Es waren Vergewaltigungen. Meistens waren es Magierfrauen, denn nur selten bekamen sie weibliche Geflügelte in die Finger. Manchmal, wenn eine Jagd in den Steppen erfolgreich war.“

„Vergewal…“ Entsetzt verstummte Dhaôma, seine Hände zitterten.

Sie nickte. „Glaub es ruhig.“

„Wie konnten sie sich darauf einlassen?!“, fuhr er auf, doch sie schüttelte traurig den Kopf.

„Drogen oder Drohungen. Viele Gefangene haben einen gebrochenen Geist und tun alles, was sie ihnen befehlen.“ Sie sah wieder in die Ferne. „Jeder von uns ist das Ergebnis einer solchen Verbindung. Schon allein aus diesem Grund wurden wir von unseren Müttern gehasst. Manche Babys wurden noch in der ersten Nacht getötet, weil die Jagmarr die Schande, eine Missgeburt zur Welt gebracht zu haben, nicht ertrugen. Bekamen sie es rechtzeitig mit, nahmen sie die Babys fort und brachten sie nur noch zum Stillen zu den Müttern, natürlich mit strenger Bewachung, damit sie nicht doch noch die Gelegenheit bekamen, ihr Kind aus der Welt zu schaffen. Trotzdem haben viele Mütter sich selbst getötet. Aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, denn sie selbst können keine Kinder bekommen.“ Sie machte eine Pause und lächelte wehmütig, bevor sie zu ihm sah. „Dhaôma, weinst du?“

Der junge Mann konnte nichts sagen. Ihr Gesichtsausdruck, die schwere, kratzige Stimme, die tiefe Schwermut, die sie empfand, drückten ihm die Luft ab.

„Wir hatten kein schlechtes Leben dort. Es gab genug zu essen, eine ordentliche Bildung und keine Einschränkungen. Wir waren frei, uns im Schloss oder in den Gärten zu bewegen, denn wir gehörten zu ihnen. Zu jenen, die über jene Zucht wachen, die das Schloss beherrschen. Doch uns wurde klar, dass wir die Grausamkeit nicht ertrugen. Wir wollten nicht in die Fußstapfen treten, die für uns vorgesehen waren. Wir wollten keinen Krieg. Wir wollten keine weiteren Mischlingskinder, die unter der Abneigung litten, die man ihnen entgegen brachte. Wir wollten nicht weitermachen. Es gab einen Aufstand und viele sind dabei gestorben. Am Ende siegten sie. Wir verloren. Dank eines Halblings, der die Gabe des Gedankenlesens rudimentär beherrscht, fanden sich diejenigen zusammen, die gegen den Krieg und die grausame Führung waren, die ihn lieber beendet sehen wollten, und wir flohen zusammen an diesen Ort hier. Seitdem fürchten wir, dass sie uns aufspüren und zurückholen, denn wir sind es, die ihr größtes Geheimnis kennen.“

Noch immer wusste Dhaôma nicht, was er sagen sollte, aber er bekam das Gefühl, dass er jetzt Fragen stellen musste. Irgendwo tief in ihm schwelte die Antwort, aber er musste Fragen stellen! Jetzt! Unbedingt! „Ich…“ Wie war das doch gleich gewesen? Es gab Menschen, die Hanebito und Jagmarr zwangen, miteinander Kinder zu kriegen? Die Halblinge züchteten? Wer war zu so etwas Schrecklichem in der Lage? Liebe und Kinder kriegen musste etwas Schönes sein! Beides waren Werte der Harmonie!

Er rieb sich mit den Händen über die Wangen, um die Tränen zu beseitigen. Er musste klarer denken! Was hatte sie ihm mitgeteilt?

Menschen, die Halblinge züchteten. Die Halblinge, die im Schloss frei waren, die zu denen gehörten, die sie aufzogen, die sie ihren Eltern wegnahmen. Waren diese Menschen auch Halblinge? Konnte das sein? Er musste Fragen stellen, um Gewissheit zu bekommen!

Aber von was für Grausamkeiten hatte sie gesprochen? Nur diese unmenschliche Zucht oder war da noch etwas anderes? Krieg? Er spürte, dass er richtig lag. Sie waren geflohen, weil sie gegen den Krieg waren. Meinte sie etwa den Krieg zwischen Hanebito und Jagmarr? Und was war mit grausamer Führung gemeint? Im Zusammenhang mit dem Krieg? Kamen die Befehle für die Kriegsmagier nicht aus dem Schloss? Führten sie etwa den Krieg an? Wer waren diese Menschen? Und hatte er nicht schon einmal von ihnen gehört? Von jenen, die den Waffenstillstand bedrohen, weil sie ungeduldig wurden?

„Thenra, seid ihr etwa auf der Flucht vor dem Zirkel der Geteilten Geister? Sind die Geteilten Geister Halblinge wie ihr?“ Es wäre so logisch. Ein gespaltener Geist, geteilt zwischen Jagmarr und Hanebito, die unterschiedlicher nicht sein konnten!

„Du hast von ihnen gehört? Das erstaunt mich. Ich hätte nicht gedacht, dass sie bei den Magiern bekannt wären.“ Sie war angespannt. Ihr sechster Sinn hatte sein Gefühlschaos beobachtet, hatte seine Unsicherheit verfolgt. Dass er diesen Namen kannte, weckte in ihr Ängste.

Verzweiflung drohte Dhaôma zu überwältigen und er spürte kaum die kühle Berührung, als sich Tyiasur gegen ihn drückte, um ihn zu trösten. „Lesley Han hat sie erwähnt. Er sagte, sie wären ungeduldig.“ Seine Stimme zitterte, beinahe versagte sie ihm und er fasste sich an den Hals, als dieser eng wurde, während er begriff. Während sein Verstand sich weigerte, das zu akzeptieren, was sich langsam in seinem Kopf zusammenfügte. Wenn dieser Zirkel wirklich aus Halblingen bestand, wenn sie, unbemerkt von den Magiern, Halblinge zeugen ließen, sie aufzogen, obwohl sie ihre Existenz hassten, wenn sie diejenigen waren, die die Magier in den Krieg schickten, dann…

„Sie möchten wissen, welche ihrer Seiten stärker ist. Hanebito oder Jagmarr.“, half ihm Thenra auf die Sprünge und ließ damit den Knoten in ihm platzen. Sein Kopf schoss hoch, er starrte sie an.

„Soll das heißen, dieser ganze Krieg ist nichts weiter als ein… ein… Spiel? Ein Wettkampf, um herauszufinden, nach welcher Seite sie leben wollen?“ Zorn wallte in ihm auf, trieb ihm Farbe ins Gesicht und schließlich Tränen einer verzweifelten Wut. „Wie können sie das Leben Tausender wegen einer solchen Kinderei vergeuden? Was haben sie davon?“

„Gar nichts.“ Thenras raue Stimme klang traurig. „Deshalb sind wir gegangen. Keiner hier denkt, dass diese Frage wirklich eine Antwort benötigt. Die meisten hier haben für sich entschieden. So wie ich mich wie eine Magierin gebe und Keithlyn das Fliegen liebt. Aber für jene, die noch dort sind, ist diese Frage ein Hoffnungsschimmer, den sie sich bewahren, um ihre verfluchte Existenz besser ertragen zu können.“

„Aber wenn sie doch alle auf einem Haufen leben, dann könnten sie doch einfach für sich eine Rasse bilden. Sie müssten sich doch nicht entscheiden. Sie könnten doch einfach sein, wie sie sein wollen!“

„Keiner kann Kinder kriegen.“, erinnerte sie ihn. „Wir sind keine Rasse. Wir sind eine Sackgasse der Evolution. Die Frage, warum wir dennoch existieren, bohrt sich schon allein aus diesem Grund in unsere Köpfe. Aber der Grund, warum dieses Hirngespinst, eine Antwort zu ersehnen, nicht ausstirbt, ist der, dass sie uns von klein auf darauf vorbereiten. Die Alten lehren die Jungen die Fragen, die für sie wichtig sind. Sie zeigen ihnen auf, wie sehr uns beide Völker verachten, dass wir nur mit Abscheu zu rechnen haben. Sie bringen den Kindern bei, wie sie jemandem Gehorsam beibringen, wie man welche Substanzen zur Kontrolle einsetzt, wie man ein Land führt und wie jemanden manipuliert. Es wird gelehrt, welche Verbindungen sich durchsetzen, welche Merkmale stärker bei Halblingen hervortreten, wenn die Mutter eine Magierin ist. Sie philosophieren über den Ausgang des Krieges und werten Kämpfe aus, als ob es nichts weiter wäre, als das letzte Schachspiel zu erläutern. Es ist ihnen egal, wie viele dabei sterben, solange sie ihr Ziel erreichen.“

„Was ist das Ziel?“, fragte Dhaôma tonlos, obwohl er es schon ahnte.

„Die Vernichtung eines der beiden Völker.“
 

Stunden waren vergangen. Dhaôma hatte nichts mehr gesagt. Sein Kopf lag auf seinen Händen, er war zusammengekrümmt und hatte den Trost der beiden Drachen, die dennoch nichts sagten. Thenra wagte nicht, sich zu rühren. Sie hatte ihn nicht in Verzweiflung stürzen wollen. Aber er musste es wissen, wenn er Keithlyn helfen wollte. Es beruhigte sie, dass er wirklich nicht vom Zirkel gesandt war. Es beruhigte sie, dass er die Tragweite zu begreifen schien. Sie hatte ihm einen wertvollen Hinweis gegeben, nun lag es an ihm, etwas daraus zu machen.

Als er sich zu rühren begann, spürte sie die Anwesenheit Xairas bei sich. Vielleicht war sie auch der Grund für seine Reaktion. Die junge Frau trat an ihr vorbei und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„War es so schlimm für dich?“, fragte sie leise und zuckte zurück, als er sich aufrichtete. Nie zuvor hatte sie einen solchen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen. Finsternis. Das war es, was sie dort sah. Als würde diese Finsternis alle Emotionen unterdrücken.

„Ich habe verstanden, dass ich mir zuviel Zeit gelassen habe.“, antwortete er. „Sobald Mimoun zurück ist, werden wir gehen. Diese… Frechheit muss ein Ende haben.“ Er wandte sich an Thenra. „Könntest du sie alle zusammenrufen? Ich möchte, dass sie mir alles sagen, woran sie sich erinnern. Vielleicht hilft mir das, wenn ich letztlich dort bin und etwas gegen sie unternehme.“ Und wieder an Xaira gewandt verbeugte er sich vor ihr. „Ich habe es nicht verstanden. Die ganze Zeit über habe ich nicht verstanden, wie tief eure Furcht vor unseresgleichen ist. Für meine Ignoranz entschuldige ich mich.“

Es ging nicht anders. Sie musste lächeln. Wie konnte man nur so rücksichtsvoll sein, angesichts solcher Nachrichten über anderer Leute Gefühle nachzudenken? „Ist schon gut.“ Sie zuckte mit den Schultern und nahm seine Hand. „Na los, wir essen jetzt. Für lange Gespräche braucht man Energie, nicht wahr?“

Ein paar Minuten später saßen sie in einem großen Kreis und aßen die Beute, die die Jäger heute gemacht hatten. Dhaôma starrte ins Feuer, sein Gesicht noch immer finster verzogen. Keithlyn hatte sich von ihm entfernt und wusste nichts damit anzufangen, andere waren irritiert. Bis er das Wort erhob.

„Wie viele Halblinge leben in diesem Schloss?“, wollte er wissen und ließ die Hand sinken, in der das unangerührte Fleisch lag.

„Über zweihundert.“, kam die Antwort von Jii. Seine Stimmung spiegelte die Dhaômas. „Sie haben jedes Alter und die meisten von ihnen sind hoch gebildet.“

Ohne jegliches Anzeichen von Erstaunen nahm Dhaôma das zur Kenntnis. „Wie viele Kriegsgefangene?“

„Das variiert. Üblicherweise sind es etwa hundert Hanebito und ungefähr doppelt so viele Jagmarr.“

Nie hätte er gedacht, dass es so viele magisch unbegabte Magier gab, aber es machte Sinn, dass er sie nie gesehen hatte. Wahrscheinlich wurden jene, die auffielen, verraten und an diese Perversen verkauft. Er hatte wirklich Glück gehabt, nicht auch dort gelandet zu sein. Aber wahrscheinlich lag es mehr daran, dass er männlich war, denn Frauen konnten sie offenbar besser gebrauchen, da sie Nachwuchs austragen konnten.

„Dhaôma, iss.“, erinnerte ihn Xaira sanft. Sie saß genau neben ihm und spürte das Beben seiner Schultern.

„Erzählt mir, wie das Schloss aufgebaut ist. Ich muss wirklich alles wissen.“

„Planst du, dort einzufallen?“

„Natürlich. Wenn sie wirklich diejenigen sind, die die Magier zum Kämpfen anstacheln, dann müssen sie aufgehalten werden.“ Er stockte, dann senkte er den Kopf. Seine Schultern bebten noch stärker und Xaira fragte sich, ob es daran lag, dass er Wut unterdrückte oder sich hilflos fühlte. „Wenn es euch widerstrebt, euresgleichen zu verraten, verstehe ich das gut. In diesem Fall werde ich euch nicht weiter behelligen.“

Mihara begann zu lachen und einige andere stimmten mit ein. „Machst du Witze? Wir sind absolut auf deiner Seite, solange du die Kinder verschonst. Sie können schließlich nichts dafür.“

„Als würde Dhaôma Kindern etwas zuleide tun.“, merkte Thenra weich an.

„Wir haben in einer der Höhlen noch Papier. Du könntest es benutzen, um einen Plan zu zeichnen. Dann wird das alles ein wenig anschaulicher, oder nicht?“, schlug die junge Frau vor, die die Jäger anführte, wenn es gegen Krokodile ging.

Verwirrt über diese Hilfsbereitschaft, schüttelte der Magier den Kopf. „Das Papier dürfte längst kaputt sein. Es ist doch im Wasser.“

„Es ist wasserdicht verpackt.“, wandte die Frau ein und kicherte. „Eigentlich wollte ich daraus Karten machen, damit wir wieder zurückfinden, aber dazu bin ich nie gekommen.“

„Also kannst du zeichnen?“, fragte Dhaôma nach und Hoffnung war nur allzu deutlich aus seiner Stimme herauszuhören. „Du solltest wissen, dass ich handwerklich wenig Begabung zeige.“

Viele kicherten. Es war ihnen schon aufgefallen. Er mochte ein mächtiger Magier sein, aber im alltäglichen Leben war er reichlich ungeschickt.

„Ich helfe dir.“, versprach sie und ihre Lebensgefährtin stimmte gleich zu, ebenfalls Hand anzulegen. Plötzlich waren alle Feuer und Flamme. Sie redeten durcheinander, als wäre ein Knoten geplatzt. Pläne, die lange Zeit verschwiegen worden waren, wurden erläutert, Träume gebeichtet und Orte beschrieben. Dhaôma hatte kaum genug Kapazität, um alles zu verarbeiten, das er hörte.
 

Mimouns nächste Anlaufstelle war Addars Dorf. Er rastete kaum, spielte aber nicht immer seine volle Geschwindigkeit aus. Es ging auch nicht. Nur in den Mittagsstunden und tiefer am Erdboden war es warm genug dafür. Aber die niedrige Flughöhe barg auch die Gefahr, dass Magier ihn entdeckten. Und ein einzelner Geflügelter konnte da schnell zu ihrer Jagdbeute werden und das wollte Mimoun nicht riskieren.

Zwar freute man sich über seinen Besuch, trotzdem verwunderte sehr die Richtung, aus der der junge Geflügelte kam. Lachend erklärte er, dass sie ein Missverständnis ausgeräumt hatten und den Winter nun, so gut es ging, zusammen verbrachten. Völlig begeistert wurde er daraufhin von Amar umarmt, der felsenfest der Überzeugung war, dass diese Aussprache nur durch sein Schimpfen am Tag der Abreise zustande gekommen war.

Und dann war es an Mimoun, wieder zu berichten. Dass sie einige Magierstädte besucht hatten und die Reaktionen der Menschen dort. Er erzählte von dem Land mit den seltsamen Tieren, den ewigen Regengüssen und den immer weiter ansteigenden Temperaturen. Unglaube und Mitleidsbekundungen folgten auf die Aussage, dass es dort momentan wärmer war als hier im Hochsommer. Ebenso weckte die Erwähnung der Halblinge Erstaunen bei den Umstehenden. Mimoun hatte sich nicht erst die Mühe gemacht, mit Addars Familie separat zu sprechen. Er hatte sofort den Vorschlag einer großen Runde gemacht und gleich war der Platz mit Planen umstellt worden, um vor Wind und Kälte zu schützen. Fiamma trug dabei zusätzlich zur Wärme bei. Die kleine Magierin saß bei Addar auf dem Schoß und der junge Reisende durfte direkt daneben sitzen, um seinem Winzling zumindest die Hand halten zu können. Und obwohl Addar zusätzlich zum Schutz in viele Felle gehüllt war, wirkte er alt und erschöpft.

Auch um ihn zu schonen, wurde es kein langes Beisammensein. Nun in gemütlicher kleiner Runde überreichte Mimoun auch Dhaômas Brief, der mit Begeisterung laut vorgelesen wurde. Aber davon bekam der Bote nichts mit, da Leoni ihn am Arm ergriff und beiseite zog. „Ihr habt euch ausgesprochen?“, wollte sie hoffnungsvoll wissen.

„Ich… habe es ihm gesagt.“, begann er zögerlich und seine Ohren begannen zu glühen. Warum auch immer, es war ihm peinlich. Sofort begann die junge Frau begeistert zu strahlen, doch schon sein nächster Satz ließ ihre Hoffnung platzen. „Er war bewusstlos, weil er schwerstverletzt und beinahe gestorben war.“ Er drehte sich weg und lugte durch einen Spalt in der Lederplane auf den Platz vor der Hütte hinaus. „Wir waren auf der Trainingsinsel, auf der sich derzeit auch Kaley befindet. Selbst die unreifen Jungspunde dort haben gesehen, wie viel er mir bedeutet und haben ihre Späße damit getrieben.“ Mimoun schnaubte. „Dhaô hat es nicht begriffen. Wie sollte er auch? Solche Gefühle sind ihm unbekannt. Und wie soll man jemandem den Begriff Liebe erklären, für den selbst Freundschaft nicht verständlich, nicht begreiflich war?“ Er spürte ihre Hände auf seinem Rücken liegen, wandte sich aber nicht um, lehnte sich eher noch an die Wand neben dem Eingang.

„Aber er hat Freundschaft nun verstanden, oder nicht? Warum versuchst du es nicht einfach? Ich bin mir sicher, wenn du es ihm erklärst, wird er auch das verstehen.“ Darauf erhielt Leoni keine Erwiderung und schließlich zog sie ihn wieder in den Kreis ihrer großen Familie.

Auch hier blieb Mimoun nicht länger als einen Tag. Und nur mit heftigem Widerspruch ließ man ihn schließlich ziehen. Aber er versprach auf seinem Rückweg wieder vorbeizukommen, um die Antwort an Dhaôma abzuholen. Zahlreich wurde er verabschiedet. Gerne hätten ihn einige noch ein Stück seines Weges begleitet, doch nun, so kurz vor seinem Ziel, holte Mimoun alles raus, was in ihm steckte, gönnte sich keine Ruhe mehr. Dennoch brauchte er mehr als die drei Tage, die bei seinem letzten Besuch dorthin nötig gewesen waren. Gerade deswegen wurde seine Landung zu Hause beinahe wieder mit einem Bauchklatscher beendet. Nur weil Nobu ihn stützte, als er stolperte, blieb er auf den Beinen.

„Müde.“, war die einsilbige Erklärung, als sich Mimoun auf den Boden hockte und erst einmal tief durchatmete. Hier ging es sogar noch schneller als auf Addars Insel, dass er von geliebten Personen umringt war. Und selbst die obligatorische Frage kam schneller als erwartet.

„Wo ist Dhaôma?“, kam es hell aus mehreren Kinderkehlen.

„Auf die Drachen aufpassen. Für sie ist es noch zu kalt hier. Aber er wird noch diesen Frühling kommen.“, erklärte er lachend. Es war wirklich erfrischend, wie sehr der Geflügelte vermisst wurde. An erster Stelle stand immer die Frage nach dem Magier.

„Versprochen?“, fragte Haru nach und als Mimoun leichtfertig nickte, hatte er die ganze Bagage am Hals, die ihn alle umarmten. Lange dauerte es nicht, bis ihr Gesamtgewicht den erschöpften Heimkehrer endgültig zu Boden zwang. Als die Erwachsenen endlich Erbarmen zeigten, pflückten sie die Kinder lachend von ihm herunter. Dann war es an ihnen, Mimoun zu begrüßen. Wenigstens nahmen sie dabei mehr Rücksicht auf seinen Zustand.

„Du solltest dich nicht immer so übernehmen.“, tadelte Jadya ihn sanft. „Sonst kommst du irgendwann nicht mehr zurück.“ Noch bevor sie eine Antwort seinerseits erhalten konnte, schob sie ihn weiter Richtung Silia. Diese zu begrüßen, erforderte geschicktes Manövrieren, denn ihr Bauch war ansehnlich gewachsen und dezent im Weg. Ihr Lachen antwortete seiner diesbezüglichen Äußerung. Sie wieder lachen zu hören, wischte seine Erschöpfung beinahe völlig beiseite. Da man ihm seine Müdigkeit dennoch ansah, ließ man ihn für diesen Tag in Ruhe.

Am nächsten kam er dann nicht mehr darum herum; er durfte alles von vorne berichten. Und auch hier waren die Reaktionen die gleichen wie zuvor in Addars Dorf oder auf der Trainingsinsel. Anschließend bekam er einen Einblick über den momentanen Zustand des Dorfes. Es waren nicht unbedingt erfreuliche Nachrichten, aber sie würden den Winter überstehen.

Bei den Gesprächen saß Silia nicht neben ihn, sondern vor ihm, so dass er seine Hände auf ihrem Bauch platzieren konnte.

„Huch.“, unterbrach Mimoun die Planung einer möglichen Jagd und hob die Hände an. „Es hat mich getreten.“

Silia lachte und streichelte ihre Wölbung. „Ja. Sie wird langsam ungeduldig.“

„Sie? Ein Mädchen?“, fragte ihr Bruder verständnislos nach. Ließ sich das denn bestimmen?

„Ich wünsche mir eines. Ein Mädchen kann dir besser auf der Nase herumtanzen.“ Ihr Lächeln wurde wehmütig, was er nicht sehen konnte, da sie ihr Gesicht abgewandt hatte. „Und ich kann sie nicht verlieren, so wie Vater und…“ Sie stockte, aber sie musste auch nicht weiter reden. Jeder wusste, von wem sie sprach.

„Wann ist es soweit?“, fragte der Drachenreiter in die aufkommende Stille hinein und um das Thema wieder in angenehmere Bahnen zulenken.

„Ich sagte doch, dass sie ungeduldig wird.“

„Dann muss ich sofort los und…“ Halb war er schon im Aufstehen begriffen, als sie den Kopf schüttelte.

„Wie lange hast du hierher gebraucht? Zwei Wochen? Drei?“

„Etwas mehr als drei.“, gestand er kleinlaut.

„Das heißt zurück und wieder hierher fliegen würde sechs bis sieben Wochen dauern. Ich fürchte, die Zeit reicht dafür nicht. Solange wird sie nicht mehr warten wollen.“

Nachdenklich kaute Mimoun auf seiner Lippe herum. „Dann bleibe ich hier. Ich habe es dir schließlich versprochen.“ Es passte ihm irgendwie gar nicht, denn er konnte seinen Freunden keine Nachricht zukommen lassen. Dhaôma würde sich Sorgen machen.

Aber damit war es beschlossene Sache und er verschob unangenehme Gedanken nach hinten.
 


 

Wise men say only fools rush in

But I cant help falling in love with you

Shall I stay

Would it be a sin

If I cant help falling in love with you
 


 

[Elvis Presley – Like a river flows]

Tränen aus Blut

Bevor wir anfangen, wollte ich noch etwas loswerden: Ich liebe es, meine Charas zu quälen *muharharharhar* *hust* *röchel*

Hrmhrm. Nachdem das geklärt ist, könnt ihr jetzt anfangen zu lesen. Viel Spaß

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Kapitel 57

Tränen aus Blut
 

Dhaôma verbrachte in den nächsten Tagen viel Zeit mit einzelnen Bewohnern der Siedlung. Ula zeichnete die Karten eines jeden Stockwerkes und erklärte ihm, wie er die Beschreibungen der anderen darin unterbrachte. Und es gab so viel zu lernen. Allein das Schloss hatte vier Stockwerke und zwei Kellergeschosse, dazu kamen der Garten und die Katakomben darunter, in denen die Toten begraben wurden. Bibliothek, Schwimmhalle, Fechtplatz, Ballsaal, Empfangshalle, Thronsaal, Turmzimmer, Dachboden, Schreibstuben, Küchen, Kindergarten, Babyräume, Brunnen, Gefängniszellen, Geheimgänge, Folterkammer und unzählige kleine und große Zimmer erwarteten sie, wenn sie das Schloss stürmten. Selbst die Einrichtung der einzelnen Zimmer versuchten die Halblinge möglichst akkurat wiederzugeben, soweit sie sich erinnerten. Besonders Thenras Erinnerungen waren lebendig. Sie konnte viele kleine Bruchstücke miteinander verbinden, so dass auch die jüngeren etwas beitragen konnten.

Die einzige, die sich nicht beteiligte, war Keithlyn. Sie war noch zu jung gewesen, als sie geflohen waren, so dass sie sich nicht erinnerte. Stattdessen tat sie es den Drachen gleich, die still zuhörten. Nur manchmal, da nahm sie all ihren Mut zusammen, um den braunhaarigen Magier zu fragen, ob er noch über ihre Frage nachdachte.

Natürlich hatte er das nicht vergessen, aber es war einfach etwas für ihn wichtigeres dazwischen gekommen. Mimoun war gerade mal drei Wochen weg, er würde noch lange brauchen, um wiederzukommen. Mindestens noch einmal so lange. Danach würden sie nicht viel Zeit haben, bevor sie sich auf den Weg machen mussten, um Silia bei ihrer Geburt beizustehen. Sie hatten außerdem versprochen, bei den Magiern vorbei zu sehen. Und bei den Hanebito wollten sie auch auf einen Besuch vorbei kommen. Addar und der Hohe Rat mussten erfahren, was der Grund für diesen Krieg war. Sie mussten Pläne schmieden, um gegen die Halblinge vorzugehen. Vielleicht sollten sie die Magier einweihen, damit sie ihnen halfen. Es stand so viel an und es war so schrecklich wenig Zeit.

„Du sollst nicht hetzen, Freiheit.“, riss ihn Lulanivilay aus seinen wirbelnden Gedanken. „Dabei kommt nichts raus. Lass dir Zeit und plane.“

Verzweifelt schüttelte Dhaôma den Kopf. „Es werden wieder Menschen sterben, dabei könnte es jetzt endlich verhindert werden!“

„Wenn du stirbst, ist niemandem geholfen.“, mischte sich Tyiasur ein. „Tu, was du jetzt tun kannst. Kümmere dich erst um den nächsten Schritt, bevor du einen Sprung planst.“

Seufzend sackte der Magier in sich zusammen und rotbraune Augen schlossen sich erschöpft. „Ihr habt Recht.“, gab er zu, aber begeistert klang er nicht. Er brauchte eine Pause von dem abstrakten Lernen, das die Erzählungen mit sich brachten. Und im Grunde kam ihm da Keithlyns Wunsch ganz Recht. Es wäre ein Schritt, um sich zu beweisen, dass er etwas Großes bewirken konnte, etwas, das zuvor noch niemandem gelungen war.

Am nächsten Tag zogen sich Dhaôma, Keithlyn und die beiden Drachen ein wenig zurück. Längst war das Wasser wieder zurückgegangen, so dass sie abseits der Höhlen und der Bewohner genug Platz fanden, damit Lulanivilay sich nicht verbiegen musste.

„Ich weiß noch immer nicht, ob ich es kann, aber ich werde es versuchen.“, versprach er und begeistert stimmte Keithlyn zu. Hätten sie gewusst, was passieren würde, hätten sie es vielleicht beide abgelehnt, so aber schloss das weißhaarige Mädchen vertrauensvoll die Augen, während sanfte Hände über ihre verkrüppelten Flügel strichen. „Zuerst einmal muss ich die fehlenden Knochen wachsen lassen und die vorhandenen strecken.“, erklärte er ihr ruhig. „Die ungeübten Muskeln werde ich stärken und die Flughaut vergrößern müssen. Wenn sie genauso werden sollen wie Mimouns, dann sollten wir auch die Enden jedes Flügels verstärken. Dann sollte es auf deine Größe angepasst sein. Ich hoffe nur, dass ich das auch gut hinkriege, damit sie in Zukunft mit dir mitwachsen. Es wäre jammerschade, wenn die ganze Arbeit umsonst wäre.“

Das Mädchen lächelte nur. „Du schaffst das schon.“, sagte sie zuversichtlich. „Du hast so lange bei Hanebito gelebt.“

Tja, wenn das stimmen würde, dann wäre es sicher einfacher, aber ihr Vertrauen rührte ihn. Letztlich schloss er die Augen und initiierte seine Magie. Er spürte sie fließen, konnte fühlen, wie sie in die Strukturen einfloss, die er vorfand, und zwang sie schließlich in die gewünschte Bahn. Das war der Zeitpunkt, an dem es schief ging. Nie zuvor hatte er seine Magie derartig gegen die vorgegebenen Bahnen gezwungen. Er spürte, wie sie ihm zu entkommen drohte, wie sie seinem Willen auswich und er sie zurückholen und zusammenpressen musste. Beinahe überstieg es seine Kraft.

Dann gab sie nach und augenblicklich entglitt Dhaôma die Kontrolle. Auf seinem Körper breiteten sich einem Lauffeuer gleich Linien aus, unkoordiniert und ungeordnet. Sie zogen blau leuchtend über seine Arme, seinen Rücken, seine Brust und seine Beine, machten selbst vor seinem Gesicht nicht halt. Sie kreuzten die Linien seiner Magie, als wären sie nicht vorhanden, flossen teilweise in sie über.

Keithlyn schrie. Unglaublicher Schmerz ließ sie sich unter Dhaômas Händen krümmen, als ihre Knochen sich streckten und neue wuchsen. Sie konnte nicht entkommen. In ihrem Kopf war kein Platz mehr für einen Gedanken an Flucht, ihre Muskeln versagten den Dienst. Einzig der Wunsch, die Hoffnung, danach frei zu sein für alle Zeiten, war eine schwache Linderung.

Hinter ein paar Büschen verborgen, beobachteten einige Halblinge entsetzt das Schauspiel. Keiner wusste, was er davon halten sollte. Sie kannten die Regelmäßigkeiten der leuchtenden Zeichen, wussten um ihre Form, aber nie hatten sie von dieser chaotischen gehört. Auch hatte nie zuvor ein Patient des Magiers Schmerzen gelitten. Sollten sie es unterbrechen?

Im nächsten Augenblick riss Dhaôma die Augen auf, sein Gesicht verzerrte sich vor namenlosem Schmerz. Blutige Tränen färbten die Augen rot, liefen wie Mahnmale über seine Wangen und tropften auf seine Brust, während gerade die dritte Speiche Form annahm.

Panik überkam die Zuschauer und Xaira stürzte vor, gefolgt von Korkkan und den anderen. Lulanivilay stöhnte markerschütternd auf und ging zu Boden, als sie die Gruppe erreichten. Zusehends streckten sich die Knochen in Keithlyns Flügeln, nahmen Form an und wurden stabiler, blutige Risse entstanden und heilten sofort wieder ab. Noch immer lief Blut aus Dhaômas Augen und für Xaira sah es nicht so aus, als wäre es für die beiden angenehm. Was war hier los? Das sollte nicht so sein! Oder?

Plötzlich schnellte Tyiasur vor. Auch er schien von innen heraus zu leuchten, doch hätte Jii ihn nicht aus Reflex gefangen, wäre er stocksteif zu Boden gefallen. Der schlangenähnliche Körper wand sich wie unter Schmerzen.

„Was sollen wir tun?“ Die junge Frau weinte fast. Ihre Hände zitterten; sie scheute sich davor, einen der beiden zu berühren.

In dem Moment gellte ein neuer Schrei Keithlyns durch die Luft. Es sah aus, als würde ihr Fleisch flüssig und löste sich von ihren Knochen. Entschlossen griff Korkkan zu, um sie von Dhaôma fortzuziehen, da überkam ihn eine seltsame Schwäche. Er konnte nicht einmal seinen Griff bewahren, rutschte einfach an ihr ab und fiel zu Boden. Erschrocken kam ihm Mhadhma zu Hilfe, doch ihr ging es genauso. Zunächst ungeduldig und schließlich äußerst schmerzhaft schien etwas aus ihr herausgerissen zu werden und sie konnte sich nicht dagegen wehren.

Und plötzlich wechselten die Linien auf Dhaômas Körper die Farbe. Von den Augen ausgehend wurden sie Rot, bis die ganze Szene in ein schauriges Leuchten getaucht war. Und es machte nicht bei ihm Halt. Auch der große Drache zeigte rötlich leuchtende Linien auf seinem Körper, die aussahen, als würde flüssiges Feuer aus seinem Körper laufen. Dann ging es auf Tyiasur über.

„Fass sie nicht an, Xaira!“, herrschte sie Mihara an, als sie sah, wie Jii zusammenbrach, der noch immer Tyiasur hielt. Erschrocken prallte die junge Frau zurück. Tränen der Hilflosigkeit standen in ihren Augen. Sie konnte sehen, wie die Flügelhaut dicker wurde und schließlich fest, wie die Muskeln anschwollen und die Speichen sich ein wenig bogen. Die Flügel waren fertig. Es fehlte doch nichts mehr! Trotzdem leuchteten die roten Linien weiter, flossen weiter Tränen aus Blut, verursachten weiterhin Schmerzen.

„Genug.“, flüsterte sie und spürte, wie Schwäche sie überkam, wie sich die Schmerzen auch in ihr ausbreiteten. Etwas wurde ihr entrissen. Etwas Wichtiges, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie es besaß! „Genug!“ Doch ihr Flehen brachte nichts, das wurde ihr bewusst, als sie das Bewusstsein verließ.
 

Jemand schüttelte sie. Sanft, unnachgiebig. Als sie die Augen aufschlug, sah sie Lewi vor sich. Der alte Heiler lächelte erfreut und wandte sich stumm wie immer an den nächsten Patienten, Korkkan. Stöhnend richtete sich Xaira auf. Sie befand sich in der größten der Höhlen und außer ihr gab es noch andere Patienten. Jii, Mihara, Mhadhma, Korkkan, Keithlyn, Can, Thrule, Tyiasur. Die meisten waren ohnmächtig, nur Keithlyn saß neben dem Bett ihres Vaters und zitterte.

Wo ist Dhaôma?, schoss es ihr durch den Kopf und sie sprang auf. Es kam einem Wunder gleich, dass sie die Wand unter ihren Fingern sofort spürte, sonst hätte ihr Kreislauf sie wohl im Stich gelassen. „Lewi, wo ist der Magier?“

Er schien zu zweifeln, ob er ihr das wirklich sagen sollte, musterte sie von oben nach unten, dann deutete er hinaus. Xaira wusste sofort, dass er das eigentliche Krankenzimmer meinte. In Bruchteilen von Sekunden war sie dort.

Und sank noch im Eingang entsetzt zu Boden. Dhaôma sah schlimm aus. Verkrustetes Blut klebte überall, seine Haut hatte ihre Farbe verloren und sah grau und leblos aus. Obwohl er nicht wach war, waren seine Augen geöffnet und noch immer sickerte Blut daraus hervor. War er etwa schon tot?

„Kind, lass mich durch.“, bat hinter ihr eine Stimme und trotzdem war sie nicht in der Lage sich zu bewegen.

„Wird er sterben?“

„Ich weiß es nicht.“, antwortete Thenra wahrheitsgemäß. „Und jetzt lass mich zu ihm. Er braucht Pflege.“

Irgendwie schaffte sie es, sich aufzurichten, dann nahm sie Thenra gegenüber Platz. „Ich möchte helfen.“

„Dann säubere seinen Körper, damit ich die Salbe auftragen kann.“

Danach arbeiteten sie. Unter den Blutkrusten kamen frische Wunden zum Vorschein, die fast wie oberflächliche Schnitte aussahen. Thenra ließ sich beschreiben, wie es aussah, und wies die junge Frau an, alles sorgfältig zu verbinden. Sie hatten kaum genug Leder zur Verfügung, um das zu schaffen. Anschließend hieß es warten. Ob er sich erholte oder diesen Verletzungen erlag.

Im Laufe des nächsten Tages erfuhr Xaira, was passiert war. Man hatte sie gefunden, nachdem im Dorf alle einer seltsamen Müdigkeit anheim gefallen waren, und hierher gebracht. Lewi hatte jeden verarztet, so gut er konnte, aber bei Dhaôma hatte er nichts ausrichten können. Hatte er die Krusten entfernt, hatte es sofort geblutet, weshalb er gewartet hatte. Bei Lulanivilay und Tyiasur war es ähnlich gewesen.

Inzwischen kümmerte man sich auch um die Drachen. Jeder machte sich Sorgen, was passieren würde, käme Mimoun zurück und sähe, was hier passiert war. Er war ein Hitzkopf und sie ahnten, dass er zuschlug, bevor er Fragen stellte.

Einen Tag später waren die Halblinge alle wieder auf den Beinen. Sie fühlten sich nicht schwach oder angegriffen. Das, was ihnen entrissen wurde, war wieder zurück. Selbst Keithlyn fühlte sich gut, auch wenn sie nicht so aussah. Sie hockte in einer Ecke und starrte auf den Boden. Egal, wer sie fragte, niemand bekam etwas aus ihr heraus, außer dass sie versicherte, keine Schmerzen zu haben.

Am dritten Tag fing es an. Dhaômas Zeichen begannen zu glimmen. Wo die Haut nicht von Tüchern bedeckt war, konnte man es sehen. Besonders auf den Wangen, doch auch an den Armen musste es leuchten, denn in der Höhle begannen Pflanzen zu wachsen. Thenra runzelte die Stirn. Es war nicht normal, dass Magier ihre Energie auf diese Weise verschwendeten, wenn sie schliefen, oder?

Tyiasur erholte sich etwa vier Tage darauf. Der schlangenähnliche Drache behielt ein paar feine Narben zurück, aber wenn man nicht genau hinsah, konnte man diese nicht erkennen. Als er begriff, was er aus den Köpfen jener las, die im Raum nebenan waren, war er sofort bei Dhaôma. Er kauerte sich an seine Seite und ab diesem Zeitpunkt versiegte das Wachstum der Pflanzen in der Höhle und auch der stetig frische Luftstrom erstarb.

Langsam kehrte bei den Halblingen wieder der gewohnte Rhythmus ein. Es war für alle eine große Erleichterung, als Lulanivilay wieder bei Bewusstsein war und auch bei ihm nur wenige feine, kaum sichtbare Narbenlinien zurückblieben. Die Unruhe des Drachen allerdings, als er begriff, dass es Dhaôma schlecht ging und er nicht zu ihm kam, machte sie schon nach wenigen Stunden verrückt.

Tyiasur verließ nur zu diesem einen Zeitpunkt Dhaômas Seite. Mit Lulanivilays Hilfe, der ihm zusätzliche, verstärkende Kraft zur Verfügung stellte, rief der blaue Drache nach Mimoun, so laut und weit er nur konnte. Sie konnten nur hoffen, dass es ihn erreichte, aber sicher sagen konnten sie es nicht.
 

Die nächste Woche band sich Mimoun wieder voll in das Dorfleben ein. Er ging auf die Jagd nach dem wenigen verbliebenem Wild, das selbst zu mager war, um wirklich als Beute zu gelten. Häufig nahm er auch die Aufgabe des Kundschafters an, da es ihm aufgrund seiner Magie einfacher fiel, ein größeres Gebiet in kürzerer Zeit abzusuchen. Viel seiner Zeit ging auch damit drauf, seine Schwester zu betüddeln und die Kinder zu bespaßen. Bei ihnen war er gerade, als er mitten in der Bewegung stoppte und sich an die Brust griff. Ein leiser Stich, eine dunkle Ahnung machte ihm für Augenblicke das Atmen schwer. Die Kinder begriffen, dass etwas nicht stimmte und unterbrachen ihre Angriffe.

„Alles in Ordnung, Kinder.“, beruhigte Mimoun sie schnell, als er ihre fragenden Gesichter sah. „Es ist nichts passiert.“ Dennoch vergeudete er noch mehrere Sekunden damit, mit gerunzelter Stirn in Richtung Süden zu sehen. Was war das gewesen?

Da er den Kindern aber Entwarnung gegeben hatte, hielten sie sich nicht mehr zurück und seine Gedanken konzentrierten sich auf sein vorrangigstes Problem.

Schnell vergaß Mimoun den Zwischenfall wieder. Er versuchte sogar, Dhaôma und die Drachen weit möglichst aus seinen Gedanken zu verbannen, um sich keine allzu großen Sorgen zu machen. Deswegen war der Ruf, der ihn wenige Tage später ereilte ein noch größerer Schock für ihn. Es war nicht einmal wirklich ein Ruf. Nur sein Name, leise, fast ein Wispern, aber mit solch einer Verzweiflung gesprochen, dass sich ihm das Herz zuschnürte vor Angst. Nun kam ihm auch wieder das mulmige Gefühl während des Spiels mit den Kindern ins Gedächtnis. Ihm entglitt der Teller und fiel klappernd zu Boden. Gerade hatte er seiner Schwester etwas zu Essen bringen wollen, nun verteilte es sich um seine Füße, blieb dort unbeachtet liegen. Silia runzelte die Stirn und betrachtete sein panisches Gesicht.

„Was ist los?“, verlangte sie zu erfahren. Zuerst reagierte er nicht. Erst als sie das zweite Mal fragte, drehte er sich zu ihr um.

„Nichts. Ich hab mich geirrt.“

So schnell konnte er gar nicht gucken, wie sie seine Ohren gepackt hatte. „Lüg mich nicht an.“, knurrte sie dunkel und steigerte langsam den Zug an den Hörorganen.

„Ich dachte, jemand hätte mich gerufen, aber das kann ja nicht sein. Sonst hättest du es ja sicher auch gehört. Und Tyiasur ist nicht in der Nähe. So weit kommt er nicht.“

Mit dieser Antwort gab sich Silia erst einmal zufrieden, aber sie blieb misstrauisch. Und ihre schlechte Vorahnung sollte sich bewahrheiten. Auch wenn ihr Bruder versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, so spürte sie doch deutlich, dass dieser Zwischenfall seine Ängste geschürt hatte. Am nächsten Tag wurde es ihr zu bunt.

„Verschwinde!“, fauchte Silia ungehalten. Diesmal stand tatsächlich etwas anderes als unterschwellige Sorge im Blick ihres Bruders. Verständnislosigkeit. „Wenn du dir solche Sorgen um ihn machst, dann schau halt, ob es ihm gut geht!“

„Das kann ich nicht. Dann wäre ich nicht hier, wenn…“ Mit einer unwirschen Handbewegung unterbrach sie ihn.

„So wie du dich aufführst, bist du keine Hilfe. Du nervst nur!“

Mimoun sah betroffen aus. „Entschuldige. Ich werde mich ab jetzt zusammenreißen.“

Wieder schnellten ihre Hände in Richtung seiner Ohren und er zuckte vorsorglich schon mal zusammen in Erwartung des kommenden Schmerzes. Doch da war nichts. Sanft legten sich ihre Finger auf seine Wangen. „Du hast noch immer nicht begriffen, was mir schon lange schmerzlich bewusst ist: Du bist hier nicht mehr Zuhause. Es gibt nichts, was dich hier hält.“

„Doch. Du…“

Silia schüttelte nur den Kopf. „Ich bin nur ein unreifes Kind inmitten einer sorgenden Familie. Also verschwinde.“

„Wirst du etwa weich?“, versuchte Mimoun die Stimmung mit einem Kichern aufzuheitern, denn sie drückte schwer auf seinen Körper. Ein Schnauben kam als Antwort.

„Vergiss es. Daran ist nur sie Schuld.“ Ein bezeichnender Fingerzeig begleitete ihre Worte. „Ich kann diesen Magier immer noch nicht leiden und mir wäre es am liebsten, er würde nie wieder hierher kommen.“ Hilflos zuckte sie mit den Schultern. „Aber damit bin ich allein.“

Sie schob ihren Bruder zum Vorratsraum, damit er sich zusammensuchte, was er brauchte. Die Armschienen hatte er gleich am Tag nach seiner Ankunft von Jadya zurückerhalten. Diese suchte ihm Silia heraus, während er sich Wasser und Nahrung zusammenpackte.

„Ich brauche sowieso Wochen, bis ich dort bin. Es macht keinen Unterschied, wenn ich noch ein oder zwei Wochen länger hier bleibe.“

Selbst diesen Einwand ließ sie nicht gelten und schob ihn vor die Tür. Die Lederplane hielt sie von innen fest, damit er nicht auf die Idee kam, wieder herein zu kommen. Ihr fiel nicht auf, wie ihre Tränen auf den Boden fielen.

Minutenlang stand Mimoun vor der Hütte und starrte fassungslos die Plane an. Irgendetwas lief hier gehörig schief. Als er spürte, dass seine Schwester ihn nicht mehr herein lassen würde, lehnte er seinen Kopf gegen die Plane.

„Ich beeil mich, hörst du? Und du wirst immer meine geliebte Schwester sein.“ Da keine Reaktion kam, wandte er sich ab.

Oldon begann zu lachen. „Hat sie wieder Stimmungsschwankungen?“, wollte er amüsiert wissen.

Müde schüttelte Mimoun den Kopf. „Es ist ihr ernst. Sie hat mich gerade rausgeschmissen.“ Einige Dorfmitglieder starrten ihn ungläubig an. Er zuckte nur hilflos mit den Schultern. „Sie will, dass ich zu Dhaôma gehe.“ Wenn es eine Steigerung zu ungläubig gab, hatte man sie nun erreicht.

„Und?“, wollte der Dorfvorsteher eine endgültige Entscheidung von dem jungen Drachenreiter. Dieser starrte jedoch nur auf den Boden zu seinen Füßen. „Ich wünsche dir eine gute Reise.“ Eine alte Hand legte sich auf den schwarzen Haarschopf, der nichts weiter als ein Nicken zustande brachte.

„Sagt den anderen bitte Lebewohl von mir.“, bat er leise. Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich herum und schwang sich in die Luft.

Mimoun spürte noch die Angst, die das Wispern in seinem Inneren hinterlassen hatte, und er hielt an dieser Angst fest. Sie war es, die ihn ohne Unterlass vorwärts trieb. Wenn seine Magie versiegte, flog er weiter bis seine Muskeln versagten. Wenn die Sonne unter ging, flog er weiter. Nicht selten musste er deswegen auf den unteren Ebenen schlafen, da die Finsternis ein Landen auf den Inseln vereitelte. Zwar stattete er auf seinem Rückweg wie versprochen Addar einen Besuch ab, doch auch dort wollte er nur wenige Minuten bleiben. Er lehnte es ab, im Haus des Ältesten zu übernachten, und Asam wollte ihn mit Gewalt überreden zu bleiben. Mimoun wehrte sich nicht einmal gegen den Griff des Freundes. Er erklärte nur, dass er ein ganz mieses Gefühl hätte. Auch, dass eine leise Stimme ihn gerufen hätte, ließ er nicht unerwähnt.

„Mach dich nicht kaputt.“, bat Leoni. „Damit hilfst du ihm nicht.“ Ihre weiche Hand zog ihn unnachgiebig in die Hütte. Seinen flehendlichen Blick überging sie dabei gekonnt. Im Vorraum setzte sie sich hin, zwang ihn sich hinzulegen und drückte ihm Seren in den Arm. Sie bettete seinen Kopf in ihren Schoss und streichelte unablässig die schwarzen Zotteln, bis der junge Drachenreiter tatsächlich nach Stunden eingeschlafen war. Man stockte während er schlief seinen Proviant auf und drückte ihm im ersten Dämmerlicht des Tages den Antwortbrief in die Hand.

Danach umging er alle Dörfer. Selbst die Trainingsinsel überflog er einfach, auch wenn er die schwarzen Schatten sah, die sich in die Luft erhoben. Mimoun wusste, dass er mächtigen Ärger kriegen würde. Nicht nur, dass er sich beim letzten Mal einfach fort geschlichen hatte, diesmal machte er hier nicht einmal mehr Pause. Wieder holte er alles aus sich heraus, gönnte sich kaum Ruhe, kaum Pausen. Mit Essen und Schlafen verbrachte er so wenig Zeit wie möglich.
 

Xaira kümmerte sich in all der Zeit um den Magier. Unter Lewis Anweisungen wechselte sie die Verbände und trug neue Salbe auf, aber es schien kaum zu wirken. Die Blutung war gestoppt, doch die Heilung ließ auf sich warten.

Sie sorgte auch dafür, dass er Suppe bekam und genügend Wasser, und Keithlyn half ihr dabei. Das Kind war schweigsam geworden. Sie sah anders aus als vorher, wie ein echter Hanebito. Selbst ihre Ohren hatten fast die Form von Mimouns.

Keiner verstand so recht, was passiert war, und einige waren der Meinung, dass es vielleicht besser war, wenn man den schwachen Magier einfach tötete, um eine Wiederholung zu unterbinden, aber sowohl Keithlyn als auch Thenra und einige andere sprachen sich dagegen aus.

Dann erwachte Dhaôma. Desorientiert sah er sich um, wischte sich dann über die Augen. „Was ist los?“ Seine Stimme klang kratzig. „Ich kann meine Magie nicht wirken.“

„Ich habe sie gestoppt.“

Stirn runzelnd sah Dhaôma den blauen Drachen an. Er erinnerte sich daran, dass so etwas gesagt worden war. Oder zumindest etwas, das darauf hinwies, dass Tyiasur Magie aufhalten konnte. „Ich würde gerne…“ In diesem Moment entließ Tyiasur den Bann und der Druck, der auf Dhaôma gelastet hatte, verschwand. Im gleichen Moment leuchteten all die Stellen an seinem Körper, an denen Wunden sich mit Magielinien kreuzten, und er spürte, wie seine Kraft aus ihm heraussickerte. „Was…?“ Seine Augen weiteten sich in Erkenntnis, als ihm klar wurde, dass sein innerer Magiespeicher beschädigt war.

„Du solltest dich heilen, bevor dir die Kraft dazu nicht mehr bleibt.“, schlug Tyiasur vor und Dhaôma nickte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die heilende Kraft. Viele der seltsamen Wunden verschwanden restlos, andere waren noch immer vorhanden. Gerade jene, die seine Magielinien kreuzten, schienen sich nicht schließen zu wollen.

Kaum war die Heilung vorüber, schloss Tyiasur Dhaômas Magie wieder ein. Der kleine Drache erklärte Dhaôma, was in etwa passiert war und dass er Mimoun gerufen hatte.

„Und wie geht es Keithlyn?“, fragte der Braunhaarige.

„Ihr fehlt nichts. Sie fühlt sich nur nicht gut, weil sie ihre Jagmarrhälfte eingebüßt hat. Sie hat Angst, dass die anderen sie nicht mehr akzeptieren, wenn sie es ihnen sagt.“

„Was ist mit Vilay?“

„Er macht sich Sorgen.“, offenbarte Tyiasur belustigt das Offensichtliche.

Sofort stieg Dhaôma aus dem Bett. Er lief Xaira in die Arme und diskutierte mit ihr, damit sie ihn hinausließ. Er siegte, denn er wurde wütend, als sie ihn nicht gehen lassen wollte. Gefolgt von einigen anderen, wurde sie Zeuge davon, wie er bei seinem Drachen zusammenbrach und dieser nicht gewillt war, seinen Magier wieder in diese stickigen, engen Höhlen so weit weg von ihm zu lassen.

Dhaômas Zustand besserte sich zusehends. Die Wunden verheilten, sogar narbenfrei, aber eine Sache blieb unverändert: Wenn Tyiasur ihm nicht half, lief seine Magie aus ihm heraus. Wo er gerade stand oder ging, wuchsen und starben Pflanzen, seine Kleider zerfielen oder Wasser wurde zu Eis. Es war nie genug, um ihn zu erschöpfen, aber stetig. Er zog sich von den Halblingen zurück, saß in der Baumhöhle und wartete auf Mimouns Rückkehr. Immer wieder konzentrierte er sich auf die innere Wand, die die Magie aufhalten sollte, und versuchte sie zu heilen, aber er konnte sich nicht vorstellen, wie er etwas heilen sollte, das nicht wirklich existierte. In der dritten Woche nach dem Unfall nahm er Tyiasurs Hilfe an, der ihm beizubringen begann, wie er die Löcher mit Willenskraft komprimieren konnte, aber es klappte nur bedingt, solange er sich konzentrierte.
 

Etwa eine Woche später hob jener blaue Wasserdrache in dem Dorf von Halblingen den Kopf. „Er kommt. Aber er ist sehr erschöpft.“, teilte Tyiasur den Freunden mit, bevor er sich als angenehme Präsenz im Kopf seines Reiters breit machte, ihn zu Pausen zu überreden versuchte. Mit eher minderem Erfolg.
 

Nachdem Tyiasur sich um Mimouns mentalen Geleitschutz kümmerte, war Dhaôma mit seinem kleinen Problem auf sich gestellt. Zwar hatte er dem Drachen versichert, er könne seine Konzentration behalten, allerdings wurde es durch zwei Dinge gehörig erschwert: erstens wäre da eine mangelnde Übung und Müdigkeit zu nennen, zweitens lenkte ihn die Vorfreude auf Mimoun ab. Der Platz um ihn herum begrünte sich zusehends und eine Stunde später blühten die ersten rosafarbenen Kelche auf.

„Dhaôma, könntest du das hier lassen? Du weißt doch, dass wir uns die größte Mühe geben, diesen Platz nicht zuwuchern zu lassen.“, wies ihn Jii darauf hin.

Der Braunhaarige sah zu ihm hoch. Er konnte sehen, wie der männliche Anführer des Dorfes für seine Taktlosigkeit einen harten Rippenstüber kassierte, aber es hatte ihm trotzdem gereicht. Sie verstanden sein Problem nicht. Sie konnten es nicht verstehen.

Mit einer nachlässigen Geste ließ er all die schönen Blüten welken und zu Erde werden, bevor er aufstand und wortlos ging. Bei jedem Schritt hinterließ er junge Triebe oder schwarze, frische Erde. Noch bevor er den Platz ganz verlassen hatte, begann auch seine Kleidung langsam zu zerfallen.

„Du bist ein Vollidiot!“, schimpfte Xaira wutentbrannt auf Jii und lief dem jungen Mann hinterher. Thenra hatte ihr erklärt, was sie von Dhaôma erfahren hatte. Vielleicht war sie die einzige, die es wirklich begriff. „Dhaôma, warte doch. Du musst nicht weggehen.“, rief sie ihm nach und tatsächlich blieb er stehen.

„Ich muss nicht.“ Das jungenhafte Gesicht wandte sich ab und er sah gen Himmel. „Es ist eher so, dass ich es mir selbst nicht verzeihen kann. Zumal ich eigentlich meine Kräfte sparen sollte. Wenn Mimoun hier ankommt, dann wird er kaputt sein.“

Mimoun kam also zurück. Sekunden verzog sich ihr Gesicht und sie wünschte sich, er wäre fort geblieben, aber die letzten Wochen hatte Dhaôma so einsam gewirkt… Einem Impuls folgend umarmte sie ihn und löste damit Erstaunen aus. Aber letztlich klopfte er ihr sanft auf den Rücken. „Das solltest du nicht tun. Du wirst deine Kleider einbüßen.“

„Das ist mir doch egal!“, rief sie. „Halt nicht immer alle wegen belangloser Kleinigkeiten auf Abstand!“ Ihre Umarmung wurde fester und schließlich erwiderte Dhaôma sie. Er hielt sich schrecklich zurück, damit seine Magie ihre Kleider nicht zerstörte, aber er spürte seine Selbstbeherrschung bröckeln. Er ließ sie los.

„Es tut mir Leid, aber ich werde zu meinem Baum zurückkehren. Es war ein Fehler, hierher zu kommen, solange meine Magie so verrückt spielt. Immerhin kann sie jederzeit losgehen.“

Mit einem dicken Kloß im Hals nickte sie. Er hatte ihr erzählt, was passierte, wenn Magie erwachte. Sie geriet genauso außer Kontrolle, wie sie es erlebt hatte. Er hatte ihr auch gesagt, dass er nicht verstand, warum er bei diesem Mal keine neuen Zeichen bekommen hatte. Aber immerhin hatte sie verstanden, warum er solche Sorge hatte, und wieso es gefährlich war, in seiner Nähe zu sein.

„Wenn du einsam bist, komm zurück.“, sagte sie. „Ich warte auf dich.“

„Ich weiß. Danke.“ Sein Lächeln war aufrichtig dankbar, aber sie wusste genau, dass er das Angebot nicht annehmen würde. Mimoun würde kommen. Warum sollte er da weiter einsam sein. „Vilay, bringst du mich zum Baum?“

„Sicher, Freiheit.“ Und während der braunhaarige Magier auf seinen Rücken kletterte, suggerierte der Drache, dass Dhaôma doch nur den See in sich zu schließen brauchte, damit er keine Gefahr mehr darstellte. Immerhin hatte auch er einst dieses Problem gehabt und es mit dieser Lösung behoben.
 

Mimoun spürte wie seine Kräfte schwanden. Schon lange hatte er keine Magie mehr übrig, nun versagten auch wieder seine Muskeln. Sein Atem ging schwer und stoßweise, als er sich auf einen einzelnen Baum setzte, um zur Ruhe zu kommen. Mit sich selbst unzufrieden, sah der Wanderer mit brennenden Augen in Richtung seines Zieles. Noch immer hielt er die Erinnerung an die Angst aufrecht, die ihn nach dem Ruf im Griff hatte. Zwar beteuerte Tyiasur immer wieder aufs Neue, dass alles in Ordnung sei, dass er nicht so hetzen musste, und Mimoun spürte, wie sein Drache versuchte, das schwelende ungute Gefühl zu beruhigen, aber nun so kurz vor dem Ziel zu stehen und nicht weiter zu können, quälte den Geflügelten. Lange wehrte er sich dagegen, doch die Müdigkeit schlug bald mit voller Wucht zu. Um den letzten Widerstand zu brechen, rief der kleine Blaue die Erinnerung an ein Wiegenlied in seinem Reiter hervor, ließ es sanft und unablässig durch dessen traumlosen Schlaf schweben. Nur kurz unterbrach er es, um Dhaôma Bescheid zu geben, dass Mimoun erst am nächsten Tag kommen würde.
 

Blinzelnd und orientierungslos starrte der Geflügelte in die Morgensonne, die unbarmherzig seinen Schlaf störte. Erst langsam sickerte ihm wieder ins Gedächtnis, wo er war und was er geplant hatte. Und Mimoun erinnerte sich wieder daran, dass Tyiasur ihn gegen seinen Willen eingelullt hatte. Sofort schwang er sich wieder in die Lüfte. Der Kleine würde was zu hören kriegen, wenn er ihn in die Finger bekam.

„Dhaôma würde es gar nicht gefallen, wenn du dich seinetwegen umbringst.“, erklärte der Drache, der noch immer in den Gedanken seines Freundes weilte. „Und mir auch nicht.“

Recht hatte er ja, musste ihm der Geflügelte beipflichten und ließ sich diesmal ohne große Probleme zumindest zu einer Frühstückspause überreden. Danach flog er durch, bis er kurz nach Mittag das Dorf der Halblinge vor sich auftauchen sah. Dort war kein großer, grüner Drache. Dort war kein Dhaôma. So änderte er nach einem nachlässigen Winken und ohne sonderlich viel tiefer zu fliegen die Richtung und strebte ihrem alten Rastplatz entgegen, nachdem er den Hinweis von Tyiasur erhalten hatte.

„Er ist gleich da.“, merkte der Wasserdrache an und sah in die entsprechende Richtung.
 

Dhaôma hatte ihn schon über dem Dorf gesehen. Ganz weit oben und kaum zu erkennen. Es hätte genauso gut ein Geier sein können, aber er wusste einfach, dass es Mimoun war. Schweigend stand er auf und trat aus der beinahe unkenntlichen Baumhöhle. So viele neue Triebe waren dazu gekommen, so viele alte Strukturen einfach zerfallen. Eis in den Adern des Baumes hatte diesen sterben lassen, Dhaômas Magie ihn wieder erweckt, es waren andere Pflanzen durch das Holz gewachsen und auch sie waren überwuchert worden oder gestorben.

Vor Glück überlaufend sah der Magier seinem Freund entgegen. Er wurde immer größer. Längst nicht in der Geschwindigkeit, in der er es gewöhnt war, aber inzwischen konnte er die Haare erkennen und die Hände. Wartend streckte er ihm die Arme entgegen.
 

Die Veränderungen waren nebensächlich. Ebenso die Drachen. Es gab nur eines, das zählte: Dhaôma. Und er wartete bereits auf ihn. Stand auf zwei Beinen und sah auch sonst nicht körperlich angegriffen aus.

Um das auch so zu belassen, bremste er rechtzeitig ab. Gerne hätte er ihn einfach über den Haufen geflogen, seinen Freund gepackt und wäre mit ihm den Hügel hinab gerollt, aber er wollte ihm nicht wehtun. So beschränkte er sich eher auf eine sehr stürmische Umarmung. Fest drückte Mimoun den anderen Körper an sich, vergrub sein Gesicht in dessen Halsbeuge.

„Es geht dir gut.“, nuschelte er und Glück und Erleichterung waren aus seiner Stimme herauszuhören. „Es geht dir gut.“
 

Dhaôma konnte nur nicken. Er wusste, dass es eine Lüge gewesen wäre. Auch wenn er sich körperlich wohl fühlte – jetzt schon gleich dreimal -, innerlich war er kaputt. Mit aller Macht versuchte er, seine Magie zu unterdrücken, aber obwohl er es nicht schaffte, wuchsen um seine Füße herum nur ein paar äußerst widerstandsfähige, rötlich leuchtende Gräser.

Einen Moment später ließ er willentlich seiner Magie Raum, um zu sehen, ob Tyiasur Recht hatte. War Mimoun wirklich bis zur Erschöpfung geflogen? Ja, war er. Aber es war nichts, das er nicht beheben konnte.

Es war ein völlig anderes Gefühl, diesen Körper zu heilen. Es war, als gäbe es nichts Natürlicheres auf der Welt als Mimouns Körper. Wie von selbst fand die Kraft ihren Weg. Dhaôma musste gar nichts weiter tun. Und in diesem Zusammenhang begriff er, was er wirklich getan hatte, als er Keithlyn eine neue Form gegeben hatte. Er hatte seine Magie in Bahnen gelenkt, die ihr nicht lagen, hatte sie verbogen und verkrüppelt, bis sie gebrochen war, weil sie dem Druck nicht mehr stand gehalten hatte. Fast hatte er den Eindruck, sie wäre froh, ihr altes Selbst wieder finden zu dürfen. Vielleicht tat sie deshalb, was sie wollte?

„Ich habe dich vermisst. Und ich habe wirklich erschreckende Neuigkeiten.“
 

Da war es wieder. Dieses warme Gefühl, das Geborgenheit und Sicherheit versprach, das seinen Körper überschwemmte. Mit einem wohligen Seufzen lockerte Mimoun seinen Griff, ließ seinen Magier aber nicht los.

Was dann folgte, war wieder einmal so typisch Dhaôma. Er verstand es wunderbar, innerhalb von Sekundenbruchteilen gegensätzliche Gefühle in dem Geflügelten hervorzurufen. Freude, dass Dhaôma ihn ebenfalls vermisst hatte, Entsetzen, als durch die Ankündigung schlechter Nachrichten sein ungutes Gefühl wieder in ihm empor kroch.

Unfähig etwas zu sagen, schob der junge Geflügelte den Magier von sich, hielt dessen Hände aber weiterhin fest. Vielleicht ein wenig fester, als nötig gewesen wäre. Das war die Furcht, die aus ihm sprach und sich auch aus seinem Gesicht ablesen ließ.
 

Dhaôma holte tief Luft, da Mimoun aussah, als wolle er die schlechten Neuigkeiten wissen. „Ich weiß jetzt, wer für den Krieg verantwortlich ist. Es sind Halblinge, die Hanebito und Jagmarr zwingen, Kinder miteinander zu zeugen, denn, wie du vielleicht weißt, können sie selbst keine kriegen. Sie wollen wissen, wer stärker ist, und eines der Völker soll verschwinden, soll komplett ausgelöscht werden. Also sind die Magier hinter der Ausrottung der Hanebito her und im Grunde müssten wir sofort los, um das zu stoppen. Ich weiß…“ Er holte Luft. „Ich weiß, wo sie sich befinden, kenne ihr Versteck inzwischen Dank unserer Freunde ziemlich gut, und weiß in etwa, was man gegen sie machen kann, aber wir brauchen wahrscheinlich die Unterstützung der Magier, die uns erstmal glauben müssen, und die Hanebito sollten auch Bescheid wissen, damit sie sich erstmal zurückziehen. Dann braucht Silia unsere Hilfe und wir haben versprochen, bei den Rekruten vorbeizuschauen, die Magier erwarten uns, aber es ist noch immer zu kalt für die Drachen, nicht wahr? Mimoun, ich weiß nicht weiter! Wir müssen doch handeln, oder?“ Noch einmal atmete er tief ein. „Mimoun, sie entführen Hanebito. Hast du nicht gesagt, Silias Gefährte wäre vermisst? Was, wenn er bei ihnen ist? Was, wenn er noch lebt? Wir müssen uns beeilen, denn sie sagen, die Wahrscheinlichkeit wird immer geringer, dass er unter den Gefangenen ist, weil sie oft Selbstmord begehen!“
 

Eine dunkle Hand schob sich über Dhaômas Lippen. Das waren zu viele Informationen auf einmal. „Langsam. Du bist schon wieder in Eile, da komm ich nicht ganz hinterher. Also hängen geblieben sind, dass Halblinge den Krieg verursacht haben, die Sache mit den Gefangenen und sofortiger Handlungsbedarf. Auch wenn mir wieder entfallen ist, aus wie vielen Gründen.“ Die Hand löste sich wieder und Mimoun atmete tief ein und runzelte die Stirn, als er angestrengt nachdachte. „Silia bekommt in diesen Tagen ihr Kind.“ Ein resignierter Unterton schwang in diesem Satz mit. „Und solange es noch zu kalt für die Drachen ist, können wir nicht zurückkehren.“ Seine Finger strichen eine Haarsträhne Dhaômas hinter dessen Ohr. „Also beruhige dich. Nimm dir die Zeit, mir alle Einzelheiten zu berichten, sonst kann ich dir nicht helfen.“
 

„Silia… ist schon so weit?“ Betroffen starrte Dhaôma seinen Freund an. „Aber… Warum… Warum bist du dann hier? Du hattest es doch versprochen! Du wolltest doch bei ihr sein! Und ich sollte helfen! Und…“ Seine Augen weiteten sich, als er begriff. Sie würden niemals rechtzeitig wieder auf der Insel sein, um ihr zu helfen. Und wenn, dann wäre er auch keine große Hilfe derzeit. Aber Mimoun hätte ihr doch auch alleine beistehen können. Oder… „Ist es so schlimm, dass du mich holen gekommen bist? Sollen wir gleich zurück? Geht es ihr schlecht?“
 

Auch wenn Dhaôma seine Kraft in ihn hatte fließen lassen, so fühlte er sich mit einem Male erschöpft. „Vor einigen Wochen hatte ich ein dumpfes Gefühl, eine schreckliche Vorahnung, die es mir unmöglich gemacht hat zu atmen.“ Seine Stirn suchte die Schulter des Magiers. „Und nur wenige Tage später hörte ich eine verzweifelte Stimme meinen Namen wispern. Ich war so voller Angst. Angst, dass dir wieder etwas passiert wäre, dass ich dich nun endgültig verloren hätte. Silia meinte, in diesem Zustand wäre ich ihr keine Hilfe. Sie…“ Mimoun schluckte einmal schwer. „Sie hat mich rausgeworfen. Sie sagte, mein Zuhause wäre nicht mehr dort.“
 

„Rausgeworfen?“, fragte Dhaôma entgeistert. „Hab ihr euch gestritt…“ Aber dann erleuchtete ihn doch noch Mimouns Hinweis und er verstummte. Vor einigen Wochen? Sollte Mimoun wirklich in der Lage sein, über all die Entfernung hinweg zu spüren, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte? Oder war es, weil sein Seelenpartner, der kleine Drache, verletzt wurde, wo sie doch ein tieferes Band verband? Hatte Tyiasur nicht erwähnt, er hätte ihn gerufen? Über all die Distanz? Wahnsinn! Aber das wiederum würde bedeuten, dass er es verhindert hatte, dass Mimoun seiner Schwester in einer schweren Zeit helfen konnte!

Schwach strich er über den Kohlschopf seines Freundes und drückte ihn an sich. „Es tut mir Leid. Ich mache wirklich nur Probleme.“
 

„Schon okay.“, nuschelte der Geflügelte in die weiche Haut des Magiers. „Solange es dir nur gut geht.“

„Danke der Nachfrage. Uns geht es auch gut.“, mischte sich eine leicht grantige Stimme in ihren Gedanken ein. Sofort löste sich Mimoun von seinem Freund und wandte sich schuldbewusst seinem Drachen zu.

„Entschuldige.“ Sanft glitten seine Finger über die kühlen Schuppen. „Ich freue mich natürlich, euch zu sehen.“ Damit gab sich der Kleine zufrieden und schmiegte sich an die streichelnden Finger.
 

Dhaôma machte einen Schritt zurück. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Dass er sich darüber freute, nicht mehr allein zu sein, machte das auch nicht viel besser. Vielleicht hatte Silia doch Recht gehabt. Vielleicht nahm er ihr Mimoun weg.

Ein kurzer Blick huschte zu Lulanivilay, der ein wenig abseits lag und nur einen müden Blick für den Heimkehrer hatte. Langsam trat er zu ihm. „Vielleicht solltest du ihn auch begrüßen.“, schlug er vor.

Diesmal war der Blick aus goldenen Augen auf ihn gerichtet. „Warum? Er war doch gar nicht so lange weg.“

Ah, deshalb also. Für Lulanivilay waren diese sieben Wochen keine Zeitspanne. Noch immer überraschte diese so völlig andere Denkweise Dhaôma von Zeit zu Zeit. „Für ihn war es lange. Und für mich auch.“

„Mag sein.“ Und damit schlossen sich die Augen wieder. Das Gespräch war beendet.

Resignierend strich sich Dhaôma durch das Haar. Warum hatte er sich diesen Drachen ausgesucht? Er sah wieder zu Mimoun und automatisch schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. Er hatte ihn so vermisst. Aber es stand noch eine Beichte aus. Wie sollte er diese anfangen?

„Aha. Das Anhängsel ist also zurück. Tyiasur hat also Recht behalten.“ Xaira hatte die Anhöhe erklommen. In der Hand hielt sie einen Korb mit Brot und geröstetem Fleisch. „Dhaôma, ich bringe dein Essen. Kannst du nicht zurückkommen? Es ist wirklich eine weite Strecke bis hierher.“

Entschuldigend kam der Braunhaarige auf sie zu und nahm ihr den Korb ab. Es war genug darin, dass auch Mimoun etwas abbekommen konnte. Sie hatte also damit gerechnet, dass er zurückgekommen war. „Ich weiß. Sei nicht böse.“

Ihr Schimpfen über diese Tatsache war aufgesetzt und selbst Dhaôma konnte es spüren. Sie zuckte mit den Achseln. „Vielleicht fühlst du dich mit ihm ja in der Lage, dich gegen die anderen durchzusetzen.“

„Ich will mich nicht gegen sie durchsetzen.“

„Das weiß ich.“ Angesäuert ließ sie sich zu Boden gleiten, um sich auszuruhen. „Deswegen bist du ja hier und nicht bei uns.“
 

„Und die Furie ist immer noch da.“, biss Mimoun zurück. Und dahin war ihre schöne Zweisamkeit. Warum noch mal musste die hier sein? Wegen ein bisschen Essen?

Nur langsam wurde ihm etwas bewusst. Es dauerte beinahe einen halben Tag Fußmarsch für die Halblinge hierher. Das hieß, Xaira befand sich bereits auf dem Weg hierher, als er das Dorf überflogen hatte. Und ihren Worten war zu entnehmen, dass das nicht das erste Mal zu sein schien, dass sie ihm Essen vorbeibrachte.

Mit hölzernen Bewegungen ging der Geflügelte zu seinem Magier hinüber. „Ich bin beruhigt gegangen, weil ich dachte, du wärst nicht alleine, hättest hier genug Gesellschaft und Freunde. Warum bist du nicht in ihrem Dorf? Haben sie dir etwas angetan?“, verlangte er zu erfahren und fixierte die sitzende Frau scharf mit mühsam unterdrückter Wut.
 

„Sie haben mir nichts angetan.“, sagte Dhaôma beruhigend und lächelnd. „Sie kümmern sich um mich. Und alleine bin ich gar nicht so viel. Ab und an mal einen Tag oder zwei. Abgesehen davon, dass Lulanivilay und Tyiasur immer da sind.“ Er grinste breit. „Und jetzt bin ich hier, damit ich dich die ersten Minuten wenigstens für mich habe.“ Xaira schickte ihm einen vernichtenden Blick und geknickt seufzte Dhaôma. Sie durchschaute seine Ausrede natürlich. „Ich bin alleine, weil ich es für besser halte. Hast du dich hier mal umgeschaut?“ Seine Hand fasste das Chaos ein, das auf dem Hügel herrschte. Neben den Pflanzen waren kleine Krater aus dem felsigen Untergrund gebrochen, Erde war weggeschwemmt, der Baum war ein Wust aus Pflanzen. Wie auf ein Kommando entließ Tyiasur zusätzlich noch seinen Bann über Dhaôma, so dass zu dessen bloßen Füßen Gräser aufwuchsen, die im nächsten Moment zu Eis gefroren.
 

Ein wenig beruhigt nahm sich Mimoun die Zeit, sich die Umgebung anzuschauen. „Es gab Wichtigeres für mich, als eine verwüstete Landschaft, als ich hier ankam.“, murmelte er achselzuckend und bekam nach seiner Drehung gerade noch das Schicksal der Gräser mit. Sanft suchten seine Finger die seines Magiers. „Was ist hier geschehen, während ich weg war?“, bat er leise um Erklärung.
 

Verzweifelt wich Dhaôma dem Blick aus. Im Grunde wollte er nicht, dass Mimoun das erfuhr, aber er wollte auch nicht, dass er wütend wurde, weil er es ihm verschwieg. Aber vielleicht wurde er auch wütend, weil er sich und die Drachen gefährdet hatte. Das wollte er auch nicht.

„Du darfst nicht böse werden.“, begann er ernsthaft. „Ich weiß, du wirst es sein, aber du darfst nicht böse auf mich sein. Versprich das.“
 

„Dhaôma?“ Unruhe erfasste den Geflügelten. Auf einmal war er sich nicht mehr sicher, ob er es wissen wollte. Mimoun nahm das Gesicht seines Freundes in die Hände und zwang diesen mit sanfter Gewalt ihn anzusehen. „Dhaôma. Wie lange kennen wir uns schon? Wann war ich jemals ernsthaft böse auf dich?“
 

„Als ich nicht ‚Entschuldigung, dass ich dir Sorgen bereitet habe’ gesagt habe.“, gab dieser prompt zurück. „Und als ich nicht wollte, dass du für mich verletzt wirst, dass ich meinen Drachen fragen würde, ob er auf dich aufpasst.“

„Sicher mache ich das.“, versprach Lulanivilay lapidar, ohne sich auch nur zu bewegen.

Unwirsch schüttelte Dhaôma den Kopf. „Du bist fast immer böse, wenn mir etwas zustößt, weil ich nicht gut genug aufgepasst habe oder deiner Meinung nach nachlässig war. Vielleicht schreist du nicht herum wie Silia oder Radarr, aber ich kann trotzdem spüren, dass du mich dann meidest und in dir brütest.“
 

„Wäre es dir lieber, ich würde wie sie einfach rumbrüllen?“ Unglücklich legte sich die Stirn des Geflügelten in Falten. Konnte er so was denn? Anfangs ja, als er Dhaôma weder ausreichend kannte, noch etwas über ihn gewusst hatte. „Ich muss dann doch erst einmal meine Wut wieder unter Kontrolle bringen, damit ich dich weder mit unbedachten Worten noch unbedachten Taten verletze. Ist das… falsch?“ Wieder fing er den Kopf seines Magiers ein. Sanft streichelten seine Finger über dessen Wangen. „Ich will dich nicht verletzen. Und ich will dich nicht verlieren.“
 

„Nein, es ist nicht falsch, nicht zu schreien. Schreien ist unangenehm. Ich will ja bloß nicht, dass du jetzt böse wirst.“ Im Grunde genommen wusste er, dass dieses Versprechen Blödsinn war, denn Ärger war etwas, das sich nicht gut unterdrücken ließ. „Ich weiß schließlich selbst, dass es falsch und dumm war.“ Schwach zog Dhaôma die Hände seines Freundes herunter, um dem Blick ausweichen zu können. Es war ihm so unangenehm, ihm das zu beichten. „Aber im Endeffekt ist nichts Schlimmes passiert. Zumindest nichts Großartiges.“

Ein paar Schritte weiter rollte Xaira mit den Augen. Dhaôma war wirklich nur dann so verstockt, wenn Mimoun da war. Bei allen anderen nahm er kein Blatt vor den Mund oder verschwieg es ihnen gleich völlig, aber vor Mimoun verhielt er sich völlig bekloppt. Frustriert zog sie die Beine an, schlang die Arme darum und sah in eine andere Richtung. Die beiden hatten sie wahrscheinlich vergessen.
 

Was war hier nur geschehen, dass Dhaôma es nicht einmal wagte, ihm ins Gesicht zu sehen? Seufzend zog er den Magier zu Lulanivilay, ließ sich gegen ihn gelehnt auf den Boden sinken und sorgte dafür, dass Dhaôma zwischen seinen Beinen saß und sich mit dem Rücken an ihn lehnte. So musste er ihn nicht mehr angucken, wenn es ihm derzeit so zuwider war, ihm ins Gesicht sehen zu müssen.

Es dauerte nur Sekundenbruchteile bis Tyiasur sich neben den Freunden zu einem Haufen blau geformt hatte. Während die eine Hand des Geflügelten locker die Hüfte seines Magiers umschlungen hielt, ruhte die andere auf dem Wasserdrachen.

„Ich werde mich bemühen, nicht böse auf dich zu werden. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich es schaffe, aber ich werde mir die größte Mühe geben.“
 

Seufzend lehnte sich Dhaôma gegen Mimouns Brust. Er spürte ein Kribbeln auf dem oberen Rücken und schüttelte schließlich den Kopf, während er sich von ihm losmachte. „Ich… Es ist… Ich habe versucht…“ Wieder unterbrach er sich und blieb gerade so in Mimouns Reichweite sitzen. „Mimoun, ich kann meine Magie nicht mehr stoppen. Es ist, wie damals bei Lulanivilay. Sie fließt einfach aus mir heraus, tut was sie will. Sieh dir dein Hemd an. Es beginnt schon zu zerfallen. Meins ist schon seit ein paar Wochen kaputt. Ich bin so froh, dass ich hier den Poncho nicht tragen muss… Aber auch die Pflanzen. Sie wachsen einfach. Oder sterben. Ich… Es gäbe so viel zu tun, aber gerade jetzt, wo ich endlich, endlich etwas tun könnte, muss so etwas passieren. Es ist wirklich zum Verzweifeln mit mir. So bin ich niemandem eine Hilfe.“
 

Seine Hand glitt automatisch zu seinem Hals, als Dhaôma ihn auf sein Hemd aufmerksam machte. Seufzend fischte Mimoun den Stein von seinem Schoß, drehte und wendete ihn.

„Warum beginnst du nicht besser mit dem Anfang der Geschichte, bevor du mich vor das Resultat stellst.“ Er legte den grünlich-schwarzen Stein in die kleinen Klauen des Wasserdrachens und entledigte sich, ohne sich großartig zu bewegen, seiner Kleidern. Warm genug war es dafür. Damit fertig zog der Geflügelte seinen Freund wieder an seine Brust. Vergessen war Xaira, die hier noch irgendwo in der Gegend sein musste.
 

Braune Augen weiteten sich, als er Mimouns Handlungen beobachtete, die in ihrer Einfachheit fürsorglicher und liebevoller nicht sein konnten. Als er ihn dann in die Arme nahm, brach in ihm der Damm, der all die negativen Gefühle zurückgehalten hatte. Gefühle der Angst, der Reue, der Schuld, der Ablehnung. Seine Arme schlangen sich um Mimouns Hals und er weinte wie schon lange nicht mehr. Im Grunde wollte er Mimouns Wunsch entsprechen und ihm alles von Anfang an erzählen, es kam jedoch kein Wort mehr aus seiner Kehle.

Sowohl Xaira als auch Lulanivilay wurden davon überrascht. Die friedliche Stimmung von gerade eben war innerhalb eines Momentes zerbrochen. Aber während Lulanivilay beruhigend tröstende Töne ähnlich einem monotonen Gesang von sich gab, machte sich Xaira auf den Rückweg. Es tat ihr weh, die beiden so zu sehen. Es tat ihr weh, dass sie Dhaôma nicht genug bedeutete, um ihr gegenüber mit seinen Gefühlen ehrlich zu sein. Warum musste erst Mimoun kommen, bevor er sich eingestand, dass er nicht alles alleine schultern konnte? Warum hatte nicht sie es sein können, die ihm helfen konnte? Aber sie musste zugeben, dass Mimouns Lösung für die Kleiderzersetzung ziemlich genial gewesen war. Etwas, das sie sich nie getraut hätte.
 

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*sehr zufrieden mit sich ist*

Streithähne

Kapitel 58

Streithähne
 

Was war hier nur vorgefallen?

Sanft begannen seine Finger über den Rücken des Freundes zu streicheln, folgten teilweise gezielt den Linien. In kleinen Bewegungen wiegte er ihn hin und her und begann eine kleine Melodie zu summen, während er seinen Freund weinen ließ, ihm die Zeit ließ, sich wieder zu sammeln.
 

Als würde der Himmel mit ihm fühlen, begann es nach einiger Zeit zu regnen, während Dhaôma sich langsam wieder beruhigte. Irgendwann verstummte auch Lulanivilay wieder und das Schluchzen wurde seltener. Langsam und mit monotoner Stimmlage erzählte Dhaôma, was in Mimouns Abwesenheit passiert war. Er begann bei Thenras Erzählung bezüglich der Halblinge, der schrecklichen Wahrheit hinter dem Verschwinden der Hanebito und der magieunbegabten Magier, fuhr fort mit deren Motiv, den Krieg anzustacheln, und endete damit, dass er sich nutzlos gefühlt hatte und dass er sich beweisen wollte, weswegen er Keithlyns Wunsch erfüllt hatte. Die Ausmaße der Katastrophe brachten ihn wieder zum Weinen, aber er erzählte Mimoun alles, was er selbst wusste.
 

Während der Erzählung waren die Hände des Geflügelten immer seltener in Bewegung gewesen, nun lagen sie zu Fäusten geballt auf seinen Oberschenkeln. Für eine Frage, die man sich nur selbst beantworten konnte, wurden zwei Völker in den Untergang getrieben, wurden beide Seiten für ein grausames Werk missbraucht. Dieser Zirkel brachte ihn zur Weißglut.

Mimoun bekam nicht mit, wie sich sein Gesicht immer weiter verfinsterte. Sein Blick war starr auf einen Punkt jenseits dieser Welt gerichtet.

Und dann das hier Geschehene. Wie konnten diese Halblinge auch nur im Entferntesten denken, sie wären die Leidtragenden dieser Situation? Keithlyn, ja. Aber sie waren alle damit einverstanden gewesen. Wie konnten sie es wagen, Dhaôma für das Geschehene verantwortlich zu machen? Und wie konnten sie es wagen, ihn nun, da er ihre Hilfe brauchte, im Stich zu lassen, sich von ihm abzuwenden?

„Kanntest du die Konsequenzen deines Handelns?“ Ein dunkles Knurren begleitete seine Wort, der Blick noch immer ins Nirgendwo gerichtet.
 

Verstummend schüttelte Dhaôma den Kopf. Er spürte die Wut des Schwarzhaarigen und war sich einen Moment lang nicht sicher, ob es sich auf ihn bezog. Vorsichtig löste er sich von ihm. „Ich wusste nicht mal, ob es klappt. Ich wollte es nur versuchen, weil sie gesagt hat, ich könnte es schaffen. Dass es aus dem Ruder läuft, habe ich erst gemerkt, als sich die Magie verselbstständigte.“ Entschuldigend senkte er den Kopf und das offene, schwernasse Haar fiel ihm ins Gesicht. Das Lederband, das sie sonst zurückhielt, war schon lange kaputt. „Ich weiß, dass es blöd von mir war, etwas Magisches zu versuchen, das ich noch nie vorher getan habe, obwohl ich erst vor etwas mehr als einem halben Jahr Leoni erklärt habe, dass es zu Anfang immer etwas unvorhergesehen sein kann.“
 

„Hast du dich entschuldigt? Bei Keithlyn, meine ich. Und den Drachen?“
 

Diesmal nickte Dhaôma, aber seine Hände krampften sich zu Fäusten. In ihm wuchs die Verzweiflung, weil Mimoun wirklich wütend klang, weil er nur an ihm vorbeistarrte, weil er ihn nicht mehr halten wollte. Aber Lulanivilay hatte ihm vergeben, immerhin hatte er etwas ähnliches auch einmal durchlebt. Tyiasur wusste durch die Gedankenübertragung, dass er es nicht absichtlich getan hatte, zumal Dhaôma zu dem Zeitpunkt, als es wirklich gefährlich wurde, ohnmächtig gewesen war. Und Keithlyn hatte nur gesagt, dass die Schuld sie selbst treffe, weil sie nicht auf ihn hatte hören wollen, als er sagte, dass es vielleicht schief ging. War es zu viel zu hoffen, dass auch Mimoun ihm seine Dummheit vergeben konnte?
 

„Dann hast du nichts Falsches getan, Dummkopf. Gib dir nicht die Schuld.“, urteilte Mimoun und legte eine Hand auf den braunen Haarschopf. Das Lächeln, dass er versuchte, war äußerst missglückt, da in ihm noch immer die Wut über das Erfahrene schwelte. „Und keine Angst. Ich werde ihnen nachher die Köpfe abreißen und wieder gerade rücken.“ Und da der Geflügelte sich nicht sicher war, ob Dhaôma verstand, was er damit ausdrücken wollte, fügte er hinzu: „Ich bin nicht böse auf dich. Ehrlich.“
 

Hoffnungsvoll blickte er auf und las in den grünen Augen, dass es der Wahrheit entsprach. Mimoun war wütend, aber nicht auf ihn. Erleichtert lächelte er. „Du darfst ihnen auch nichts tun. Sie waren wirklich nicht gemein zu mir. Xaira bringt mir sogar etwas zu essen, wenn ich nicht zu ihnen gehe. Und ich war immer mal wieder dort. Ich sagte doch schon, dass ich hier bin, weil ich es für besser halte.“
 

Die Bilder und Gedanken, die Tyiasur ihm schickte, sprachen da eine andere Sprache. „Dann weißt du gar nicht, dass einige mit dem Gedanken gespielt haben, dich zu töten, damit sich das nicht wiederholt? Dass sie dich ausschimpfen, wenn deine Magie wieder ohne Kontrolle war, ist auch komplett an dir vorbei gegangen?“ Er schüttelte den Kopf. „Sie hatten nicht das Recht dazu. Du bist derjenige, der unter den Folgen zu leiden hat. Du hast sie immer unterstützt, ihnen immer geholfen, selbst das Risiko zu sterben bist du für sie eingegangen und kaum brauchst du Hilfe und Verständnis, lassen sie dich allein! Dafür verdienen sie sehr wohl eine Abreibung.“
 

„Töten?“ Erneut weiteten sich die braunen Augen. Das konnte doch nicht sein! Niemals hatte irgendjemand etwas in die Richtung angedeutet. „Woher willst du das wissen?“, fragte er, doch noch bevor die Worte ganz heraus waren, begegnete er Tyiasur blauem, ernstem Blick. Deswegen hatte Lulanivilay ihn nicht mehr zurück in die Höhlen gelassen. Um ihnen einfach die Gelegenheit nicht mehr zu geben. Konnte das wirklich sein? Ein kurzes Nicken des kleinen blauen Kopfes zerschmetterte seine heile Welt. „Wer? War es Thenra? Xaira? Keithlyn? Jii?“ Seine Hand zitterte. Wollte er es überhaupt wissen?
 

„Das ist nicht so wichtig.“, wischte Mimoun die Frage beiseite. Dhaôma hatte es wohl wirklich nicht gewusst und vielleicht wäre es besser gewesen, es wäre so geblieben. „Ich werde mich dieses Problems annehmen und ja, es wird niemand ernsthaft zu Schaden kommen, versprochen.“
 

„Es ist wohl wichtig.“, murmelte Dhaôma. Er war am Boden zerstört. „Ich muss doch wissen, von wem ich mich fernhalten muss, sonst kann ich mein Versprechen nicht halten, nicht wahr? Nicht mehr verletzt werden, dir keine Sorgen bereiten. Wie soll das gehen, wenn ich nicht weiß, wer gefährlich ist?“ Abgesehen davon, dass ihm das bei Kekaras auch nicht viel gebracht hatte.
 

„Ich sagte, sie haben mit dem Gedanken gespielt. Ich weiß nicht, ob sie es noch immer wollen, das werde ich nachher herausfinden, aber sicher hätten sie hundert Möglichkeiten dafür gefunden, es durchzuziehen. Sie hätten jemand anderen als Xaira schicken und das Essen vergiften können. Ein Angriff mit dem Bogen, was weiß ich.“ Nun mit einem sanften Lächeln strich er Dhaômas Wange entlang. „Ist dir schon einmal aufgefallen, dass immer, wenn ich nicht da bin, du in Lebensgefahr gerätst? Den ersten Winter warst du unter einer Lawine begraben, auf der Trainingsinsel war ich in dem Moment auch nicht in der Nähe und nun hier. Dich kann man echt nicht alleine lassen.“
 

Schuldbewusst lehnte sich Dhaôma gegen das Streicheln. „Es tut mir Leid. Ich möchte das nicht. Ich bemühe mich wirklich, das musst du mir glauben!“ Flehendlich sah er ihn an.
 

„Ich weiß.“, murmelte Mimoun und zog Dhaôma wieder näher, hauchte einen keuschen Kuss auf die Wange des Magiers. „Ich habe nur Angst, dass dich irgendwann dein Glück verlässt. Was soll ich denn machen, wenn ich niemanden mehr habe, zu dem ich zurückkehren kann?“
 

Der Gedanke, Mimoun allein zurückzulassen, und das Bild, wie er einsam und verlassen auf weiter Flur stand, schnürte Dhaôma das Herz zusammen. Niemals könnte er das zulassen! Niemals! Er könnte es einfach nicht ertragen, ihn einsam zu wissen!

Den Schmerz auf seinem Gesicht konnte er nicht verstecken, als er auf Mimouns Schoß zurückkletterte und ihn fest umarmte. Der sanfte Regen spülte seine Haare über Mimouns Schultern und Rücken, aber auch er konnte das Zittern nicht verbergen. „…nicht allein.“, wisperte er, viel zu leise, um gehört zu werden. „Ich lass dich bestimmt nicht allein.“
 

„Es ist alles okay.“, murmelte Mimoun und fuhr wieder über den Rücken seines Freundes. „Ich bin ja nun wieder da, um auf dich aufzupassen.“ Er spürte das Zittern unter seinen Fingern, bezog es aber auf eine andere Tatsache. Es regnete. Vielleicht entzog ihm diese Berieselung Wärme, auch wenn Mimoun die Umgebungstemperatur als recht angenehm empfand. „Vielleicht sollte ich auch schon damit anfangen. Raus aus den nassen Klamotten und rein ins Trockene.“ Schon schlüpften seine Finger an den Bund der Hose und begann daran herumzunesteln.
 

„Ich muss nicht ins Trockene.“, murmelte Dhaôma. „Es ist irre warm. Und du klebst. Da tut dir das Wasser ganz gut.“
 

„Ist doch gut, wenn ich klebe. So klebst du auf jeden Fall an mir fest und ich muss mir keine unnötigen Gedanken machen.“, grinste Mimoun und drückte seinen Magier wieder an sich, nachdem seine Finger sich unverrichteter Dinge von der Hose entfernt hatten.
 

Die Worte reizten den Braunhaarigen zum Kichern. Es tat so gut, dass Mimoun wieder da war. Er war richtig glücklich gerade. Wenn er recht darüber nachdachte, war es völlig egal, was passieren würde, was sie tun würden oder warum, solange Mimoun da war, erschien es einfach nicht mehr so schlimm, was alles passierte.

„Danke.“, seufzte Dhaôma irgendwann. Seine Finger begaben sich auf Wanderschaft und streichelten den warmen Rücken. „Dass du wieder da bist.“
 

„Ich habe dich zu lange warten lassen, nicht wahr?“ Mimoun lehnte seinen Kopf gegen Dhaômas Schulter. Eine seiner Hände kroch höher und kraulte Dhaômas Nacken.

Etwas polterte neben ihnen zu Boden. Es war der Esskorb, den Tyiasur ihnen gebracht hatte. Der Korb war auf die Seite gefallen und der Inhalt rollte heraus.

„Da ihr wenigstens das ja nun geklärt habt, iss.“, verlangte der kleine Blaue. In den Klauen hielt er noch immer den für seinen Reiter so wichtigen Stein. Er hatte den Korb mit seinem Zähnen hierher geschleppt. Der Regen hatte ihm das ein wenig erleichtert.

Mit einer Hand schob Mimoun das Brot wieder zurück, damit es nicht noch mehr einweichen konnte, als ohnehin schon, und griff sich ein wenig des Fleisches. Nun da er hier war, wieder bei seinen Freunden, wo er nicht mehr hetzen musste, spürte er erst den Hunger, der seinen Magen sich zusammenkrampfen ließ.
 

Während sie aßen, hörte der Regen auf. Kurz bevor sie ihr Mahl beendeten, begann die Dämmerung. Da sich die Wolken verzogen, konnte man einen Großteil des Sonnenuntergangs beobachten, wie er sich farbenprächtig entfaltete und schließlich verschwand. Es war zu spät für Mimoun, um noch bei den Halblingen vorbeizuschneien, außerdem wollte Dhaôma ihn nicht gehen lassen. Viel lieber wollte er ihn bei sich haben, um die Ruhe zu genießen, die Mimoun in ihm auslöste. Sie redeten noch ein wenig. Dhaôma ließ Mimoun erzählen, wie es allen so ging. Er lachte leise, als er von Haru hörte. Sehnsucht nach diesen Tagen entfachte sich in ihm und er wollte am liebsten gleich selbst wieder zu ihnen. Sie schmiedeten Pläne, wobei sich sogar Lulanivilay beteiligte, aber sowohl Dhaôma als auch die anderen wussten, dass vorher etwas Wichtigeres getan werden musste. Sie mussten die Kämpfe endgültig stoppen, bevor sie sich die Zeit nahmen, den Frieden zu genießen.

In dieser Nacht schlief Dhaôma zum ersten Mal seit langem ruhig und entspannt. Tyiasur sperrte seine Magie ein, damit nichts passieren konnte, aber der kleine Blaue bekam das Gefühl, dass seit Dhaômas Gedanken nicht mehr ausschließlich ins Negative drifteten, seit er sich entspannte, die Auswirkungen nachgelassen hatten. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er Mimoun geheilt und damit weniger Kraft zur Verfügung hatte.
 

Es dauerte lange, bis auch Mimoun sich Ruhe gönnte. Immer wieder fuhren seine Finger durch braune Strähnen und gedankenverloren nahmen seine grünen Augen jede Einzelheit seines Freundes in sich auf. Wie konnte jemand auch nur ansatzweise auf die Idee kommen, dass dieses unschuldige, herzensgute Geschöpf absichtlich jemandem schaden wollen würde? Wie konnten sie, wenn auch nur gedanklich, auf die Idee kommen, diesem sanften Wesen Schaden zuzufügen?

Damit Dhaômas Schlaf nicht durch seine wieder wachsende Wut beeinflusst werden konnte, atmete Mimoun einmal tief durch und kuschelte sich an den Magier. Erfreute er sich lieber an der Tatsache ihn wieder in den Armen halten zu können. Schließlich dämmerte auch der Geflügelte ein.

Zwar hatte er auf seiner Reise nur ungenügend Schlaf bekommen und war auch am Abend vorher sehr lange wach geblieben, dennoch konnte Mimoun an diesem Morgen nicht lange schlafen. Wieder begann er durch braune Strähnen zu fahren. Ein verträumtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, das er nicht bemerkte und das auch nicht verschwinden wollte.
 

Dhaôma wachte davon auf. Es war angenehm und trotzdem schlug er die Augen auf. „Es ist schön, dass der Traum diesmal echt war.“, sagte er weich und drückte seine Nase gegen warme Haut, dann lachte er. „Du klebst immer noch. Gehen wir baden?“

„Ich geh schon vor.“ Die Erde bebte leicht, als Lulanivilay sich erhob und von dannen trottete. Offenbar hatte er wirklich nur darauf gewartet, dass sie wach wurden.
 

„Nein.“, entgegnete Mimoun. „Sonst kommst du mir ja doch noch abhanden.“ Dennoch erhob er sich und reichte auch seinem Freund hilfreich die Hand. Nun da der Regen nicht mehr war, würde es wieder unerträglich warm werden. Eigentlich brachte ein Bad erst etwa um die Mittagszeit etwas, wenn er völlig im Wasser aufweichen konnte. Dennoch erfüllte er seinem Freund den Wunsch.

„Du träumst also von mir?“, schmunzelte der junge Geflügelte. „Was denn? Sollte ich da etwas wissen?“
 

Errötend nahm der Braunhaarige die Hand an und zog sich hoch. „Ja, ich habe oft geträumt.“, antwortete er. „Dass du wieder zurückkommst. Dann war ich traurig, wenn ich aufgewacht bin. In diesen Momenten hätte ich gerne weitergeschlafen. Aber manchmal war es schlimm, weil ich sah, wie du stirbst. Das war schrecklich. Ich war immer froh, dass ich nur geträumt habe. Aber irgendwie… Ich war mir im Wachsein sicher, dass es dir gut geht. Aber vielleicht habe ich mir das nur eingeredet, denn Träume spiegeln das, was unterbewusst in dir ist, nicht wahr?“
 

„Das heißt, du vertraust meinem Wort nicht? Wenn du im Unterbewusstsein träumst, ich wäre tot, vertraust du doch nicht darauf, dass ich wie versprochen zurückkehre.“ Das war ein wenig verletzend.
 

Dhaôma zuckte mit den Schultern. „Du weißt, was mir passiert ist. Was auf unseren Reisen schon passiert ist. Wie schnell es gehen kann, dass man verletzt wird. Und du warst so lange allein.“ Er drehte sich weg. „Niemals Gewissheit zu haben, was mit dir ist, ist beunruhigend. Es ist nicht schön, zurückzubleiben, denn das einzige, das man dann tun kann, ist sich zu sorgen.“
 

Sanft griffen seine Hände nach Dhaômas, verwoben sich mit ihnen, doch er zwang seinen Freund nicht, sich zu ihm herumzudrehen. „Erinnerst du dich an den Sturm? Damals am Strand? Wir haben uns beide beinahe umgebracht, weil wir nicht mit Sicherheit wussten, ob es dem anderen gut ging. Schon damals haben wir festgestellt, dass wir mehr auf die Fähigkeiten des anderen vertrauen müssen.“ Vorsichtig fuhr seine Nase durch das weiche Haar. „Wir haben die Insel der Drachen überlebt, wir haben jetzt schon Unglaubliches geleistet. Keiner von uns beiden ist schwach. Wir können gut auf uns selbst aufpassen. Störend ist nur die leichte Neigung, sich ständig zu verletzen.“ Mimoun lachte leise. Ja, diese Angewohnheit war wirklich nervig. „Bis mich die wispernde Stimme verzweifelt rief, hatte ich keinen Grund zu glauben, es ginge euch schlecht. Und ich war nicht allein. Streckenweise ja, auf den Flügen. Doch ich war häufig bei Meinesgleichen. Oh. Das erinnert mich an...“ Hektisch löste er sich von seinem Magier und begann in seinen Habseligkeiten zu wühlen. Er hatte doch noch einen Brief von Addar und Familie mit auf den Weg bekommen. Den musste er noch überbringen. Triumphierend hielt der Geflügelte ihn in die Höhe.
 

Neugierig hätte Dhaôma am liebsten danach gegriffen, aber etwas anderes war im Moment wichtiger. „Wir müssen baden gehen.“, sagte er und legte den Brief beiseite. „Vielen Dank für den Botendienst, aber das hier geht vor, okay?“
 

„Bah.“, murrte Mimoun, packte dann aber seinen Freund und trug ihn zum Wasser. Er watete nur wenige Schritte hinein, bevor er Dhaôma einfach hineinfallen ließ.

„So. Du badest.“, stellte der Geflügelte fest, als sein Freund prustend wieder an die Oberfläche kam, und wandte sich schon um, das Wasser wieder zu verlassen. Doch der Magier ließ das nicht zu, so dass eine wilde Wasserschlacht entbrannte, nach der beide erschöpft aber glücklich in der Sonne lagen.

Lange konnte Mimoun jedoch nicht liegen bleiben. Es gab da etwas, dass er dringend erledigen musste. Und zwar bevor seine ganze Wut verraucht war. Denn das schaffte Dhaôma. Seine bloße Anwesenheit brachte dem Geflügelten Frieden und Ausgeglichenheit. Und damit gerade das jetzt nicht seine Pläne durcheinander warf, klopfte er leicht auf den Bauch seines Freundes.

„So. Ich geh jetzt mal die anderen begrüßen, bevor es zu warm wird, um sich zu bewegen.“
 

Sofort rappelte der Braunhaarige sich auf. „Ah, ich komme mit, ja?“, rief er und stolperte beinahe. Zum Glück konnte er sich an Mimouns Arm festhalten, so dass er nicht zu Boden ging. Und weil sich das einfach gut anfühlte, hielt er den Arm weiter fest. „Sag mal, du kommst mir schon wieder etwas größer vor.“ Seine Stirn legte sich in Falten. „Wann seid ihr Hanebito denn ausgewachsen?“
 

„Keine Ahnung.“, gestand Mimoun. Es war nie von Bedeutung. Dennoch hob er seine freie Hand und verglich seine Größe mit der Dhaômas. Stimmt. Er war tatsächlich größer als sein Freund. Ein winziges Bisschen. Aber wie groß er noch werden würde? Ihm war es egal. „Hast du Angst, dass du ewig zu mir aufschauen musst?“, stichelte er scherzhaft und löste sich endlich von dem Magier.

Schnell schlüpfte der Geflügelte wieder in seine Sachen. Ab jetzt musste er Abstand zu seinem Freund halten, wollte er nicht inmitten der Halblinge die Hose verlieren. Es war bedauerlich, aber derzeit nicht zu ändern. Tyiasur reichte den Stein zurück, den er bis jetzt aufbewahrt hatte. Wieder einmal wurde das Oberteil Mimouns kürzer, um ein Band für das Schmuckstück zu liefern.

Ein wenig abseits und mit leicht unglücklicher Miene sah er zu Dhaôma hinüber. Kuscheln war nun nicht mehr. Mit einem aufmunternden Lächeln strubbelte der Geflügelte seinem Freund durch die Haare.

„Bist du soweit? Können wir los?“
 

Nickend schwang sich der Braunhaarige auf seinen Drachen, der nachlässig mit den Flügeln schlug. Es gab einige heftige Windstöße, bis er in der Luft war, Blumen knickten um und Steinchen und Sand flog davon. Aber einmal in der Luft war der große rotgrüne Drache leicht und wenig.

„Was genau willst du denn mit den Halblingen besprechen?“, fragte Dhaôma laut, um Mimoun zu erreichen. „Ich würde gerne fragen, ob nicht ein paar uns begleiten wollen, damit die Magier und Hanebito die Geschichte mit der Ursache des Krieges auch glauben. Meinst du, sie stimmen dem zu?“
 

Gut, dass Dhaôma gleich eine zweite Frage hinterher geworfen hatte. „Du hast erwähnt, dass sie bereits einmal einen Aufstand versucht haben und scheiterten. Wenn die Halblinge noch immer gewillt sind, dem Zirkel Einhalt zu gebieten, werden sie uns begleiten. Wir bieten ihnen jetzt bessere Ausgangsbedingungen als damals. Denn wenn wir es schaffen, Magier und Geflügelte zu überzeugen, hat der Zirkel beide Völker gegen sich stehen.“ Mit einer spielerischen Rolle flog er über Dhaôma hinweg auf dessen andere Seite. „Es gibt dann niemanden mehr, der uns stoppen könnte.“
 

Lachend lenkte Dhaôma Lulanivilay in eine Spirale, um über Mimoun zu fliegen. Es brauchte zwar seine ganze Kraft, um sich festzuhalten, aber es war es wert. Er war so glücklich, dass Mimoun wieder da war, dass der kurze Abstand zwischen ihnen schon zu viel war. „Dann werde ich sie fragen.“, rief er, bevor sich der Drache wieder richtig herum drehte.

Sie kamen dem Dorf näher. Xaira stand auf dem Hügel in der Nähe und beobachtete sie. In ihr tat es weh. Hatte sie wirklich geglaubt, Dhaôma hätte in der Zeit, da Mimoun weg gewesen war, gelacht? Jetzt sah sie, dass es falsch gewesen war. Nicht wirklich glücklich.

„Blindfisch.“, zischte sie, meinte damit sich, aber gleichzeitig auch Mimoun. Wie konnte dieser Kerl die Avancen übersehen, die ihm Dhaôma machte? Und wie konnte der Magier nicht begreifen, dass seine Liebe erwidert wurde? „Idioten! Alle beide.“ Bitter drehte sie sich weg, sah zu Keithlyn, die abseits zwischen den Bäumen stand und ebenfalls hinaufsah. „Wehe, du traust dich nicht, mit ihm zu sprechen. Ich werde richtig wütend, wenn das hier so weitergeht!“

Ertappt wich das Albinomädchen zurück, senkte schuldbewusst die Augen.

„Aaaaargh!“, fuhr Xaira auf. „Macht doch alle, was ihr wollt! Richtet euch zugrunde und leidet! Ist mir doch egal!“ Sie fuhr auf dem Absatz herum und machte Anstalten, wutentbrannt abzurauschen, doch daraus wurde nichts, denn das Objekt ihres Ärgers landete genau vor ihr.

„Ai, Xaira. Bist du okay?“

Naivling! „Sieht es so aus?“, fauchte sie und er sah sie bestürzt an. „Ich hasse es, dass ihr alle so verklemmt seid! Warum seid ihr so verbohrt und blind! Ist doch nicht zu fassen!“ Sie setzte ihren Weg fort, an Lulanivilay vorbei und in die Höhlen. Und sie war sich darüber bewusst, dass ein verwirrter Braunhaariger ihr nachblickte.
 

Auch Mimoun sah ihr verständnislos nach. Aber es war auch nicht wichtig. Sie hatte er bereits am Vortag begrüßt und selbst wenn Xaira eine Furie und Giftspritze war, so wusste er doch, dass sie Dhaôma nicht schaden würde. Warum auch immer, diese Frau war seiner Schwester wirklich sehr ähnlich.

Aber das war ja nicht wichtig. Lächelnd überblickte er die paar Gestalten, die sich versammelt hatten. Es waren bei weitem nicht alle hier. Bedauerlich.

„Entschuldigt bitte, dass ich euch nicht schon gestern begrüßt habe. Ich freue mich, wieder hier zu sein.“ Kurz atmete Mimoun tief durch. „Und nun kommen wir zum angenehmen Teil der Unterhaltung.“ Innerhalb von Sekundenbruchteilen verschwand das Lächeln, seine Schwingen klappten bedrohlich auf und ihn umgab eine Aura aus Blutdurst. Seine Fingerknöchel ließ der junge Geflügelte erwartungsvoll knacken. „So. Wer hat es gewagt meinen Magier zu verletzen?“ Seine Stimme war pure Wut.
 

Erschreckt starrte Dhaôma ihn an – das hatte er nicht kommen sehen. Aber er schüttelte die Lähmung seiner Gliedmaßen schnell ab und eilte dann zu ihm hin, um seinen Arm zu greifen. „Ich hab dir doch gesagt, dass mich niemand verletzt hat! Das war nicht ihre Schuld, sondern meine!“
 

„Und ich habe dir gestern schon erklärt, dass weder dich noch Keithlyn irgendeine Schuld trifft. Diesen Ausgang konntet ihr nicht voraussehen.“, widersprach Mimoun deutlich sanfter. „Aber dass diese Narren, obwohl sie einverstanden waren, dich dafür verantwortlich machen und dich solange triezen, bis du dich freiwillig wieder in die Einsamkeit flüchtest, werde ich ihnen nicht verzeihen. Ich habe dich hier in ihrer Obhut gelassen, weil ich ihnen vertraut habe.“ Die Todesandrohungen sprach er hier besser nicht erneut aus, wenn Dhaôma in der Nähe war. Aber diese speziellen Halblinge würde er sich separat noch zur Brust nehmen.
 

„Du verstehst da auch etwas falsch.“, mischte sich Thenra ein. Die Alte hatte ein wenig gebraucht, um aus ihrer Höhle zu kommen, jetzt stützte sie sich auf Ula. „Wir haben ihn nicht getriezt. Ich hätte so etwas nicht geduldet.“

Und während Dhaôma Mimoun klarzumachen versuchte, dass sie Recht hatte, fühlten sich einige der Halblinge deutlich unwohl. Natürlich hatten sie darauf geachtet, dass es die Älteste nicht mitbekam, aber dafür hatte es meistens Xaira mitbekommen. Jii hatte seine Worte beinahe sofort bereut, als er gesehen hatte, wie Dhaôma gegangen war. Er hatte es nicht böse gemeint und nur nicht nachgedacht. Aber Grisu ballte die Hände zu Fäusten. In seinen Augen wäre es wirklich besser, wenn dieser verfluchte Magier nicht gekommen wäre. Dann wäre sein Mädchen jetzt nicht so seltsam. Dann wäre sie noch die Alte und würde sich nicht so reserviert benehmen. Und sie würde vor allem nicht dem Hanebito schöne Augen machen!
 

„Dhaôma.“, versuchte Mimoun seinen Freund sanft zu unterbrechen. „Du magst vielleicht nicht hinter die Masken von Menschen sehen können, bist naiv genug, um alles zu glauben, aber vergiss bitte nicht, dass Tyiasur anwesend war.“ Ach was sollte es. „Und vergiss nicht, dass sie dich sogar töten wollten. Sie sollen zumindest ein schlechtes Gewissen kriegen und sich anständig entschuldigen.“
 

Betroffen ließ der Magier seinen Freund los. Er hatte das vergessen. Oder vielleicht traf verdrängt die Realität eher. Und im Grunde konnte und wollte er das auch nicht glauben.

Als Thenra die Stimme erneut hob, sackte ihm das Herz in die Hose. „Ich kann nicht leugnen, dass das Thema aufgekommen ist, aber wir haben diejenigen bereits in ihre Schranken verwiesen und sie haben ihre Meinung geändert. Wie hätten wir zulassen können, dass einige aus Angst jemanden töten, der ihnen so viel Gutes zuteil werden ließ?“

Glücklich sah Dhaôma die alte Frau an. Sie war genauso gegen das Töten wie er. „Siehst du?“, fragte er Mimoun, doch er wurde von Xaira unterbrochen, die zurück war.

„Mach dir nicht ins Hemd. Es gibt genug hier, die ihn mit ihrem Leben verteidigt hätten, nach allem, was er für unser Dorf getan hat.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und einige nickten. Zu viele hatten in den paar Wochen von den Reisenden profitiert, viele davon hatten Verletzungen geheilt bekommen, die anderweitig schwerer zu behandeln gewesen wären.

Um Dhaômas Füße begannen Pflanzen zu gedeihen und zu sterben, als Tyiasur seine Fühler ausstreckte, um die Wahrhaftigkeit hinter den Worten zu erkunden.
 

„Ich soll mir nicht ins Hemd machen?“, fuhr Mimoun auf. „Soll ich etwa nicht wütend werden, wenn ich erfahre, dass ihr ihn schneidet und maßregelt, nur weil er keine Kontrolle mehr über seine Magie besitzt? Er wollte euch helfen und muss nun mit den Konsequenzen leben. Findet ihr es gerecht, dass ihr Dhaôma dann auch noch dafür büßen lasst, anstatt ihm nun beizustehen, wo er Hilfe braucht? Seid ihr jemals auch nur ansatzweise auf den Gedanken gekommen, dass ihn das verletzen könnte? Ah nein. Natürlich nicht. Er besitzt ja so was wie Gefühle gar nicht. Er ist nur ein nützliches Werkzeug, das man wegschmeißt, wenn es kaputt gegangen ist!“
 

Dhaôma stand kurz vorm Weinen. Dass sein Freund sich so für ihn ins Zeug legte, ihn so verteidigte, freute ihn, aber er wollte keinen Streit. Er wollte nicht, dass das Wiedersehen von solchen unschönen Worten getrübt wurde. Und er wollte nicht, dass alle bestraft wurden, wo es doch ganz offensichtlich nur einige wenige betraf. Aber er konnte Mimoun nicht daran hindern, denn er hatte ihm versprochen, ihm nicht vorzuschreiben, wie er lebte, dass er ihm nicht verbieten würde, für ihn zu kämpfen.

Xaira trat nach vorne, bis sie nur noch zwei Meter vor Mimoun stand. „Fällt dir eigentlich auf, was für einen Müll du hier redest?“, fragte sie scharf und ihr Gesicht war wutverzerrt wie Mimouns. „Wir lassen ihn fallen? Klingt ja großartig von dem Kerl, der ihn hier zurücklässt, weil er jemand anderen besuchen möchte, und nicht daran denkt, dass er Schwierigkeiten haben wird, überhaupt zu schlafen!“ Ihre Augen blitzten herausfordernd. „Und nur weil er jetzt seine Magie nicht mehr unter Kontrolle hat, werden wir ihn nicht mit Samthandschuhen anfassen, weil er so sehr zu bemitleiden ist. Das wäre ihm sicher nicht recht, oder?“
 

Schwierigkeiten zu schlafen? Kurz irrte sein verunsicherter Blick zu Dhaôma, bevor er sich der Frau vor sich zuwandte.

„Ich habe euch das Wichtigste anvertraut, das ich habe. Und du kennst nicht das Gefühl, wenn die Familie, die du liebst, langsam zerbricht und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst! Du hast nicht das Recht, über mich zu urteilen!“, zischte er leise. „Und niemals habe ich verlangt, dass ihr ihn bemitleiden sollt. Himmel nein. Damit käme er ja noch schlechter zurecht. Ihr sollt Verständnis zeigen für die Situation, in der er momentan steckt.“
 

Sie schenkte ihm ein gruseliges Lächeln. „Verständnis? Was meinst du eigentlich, warum ich jeden Tag zu ihm gelaufen bin, um ihn zu versorgen?! Weil ich verstehe, dass er allein sein will, und um ihn zu überzeugen, zurückzukommen! Was kann ich dafür, dass er so stur ist?“

Neben ihnen zog Dhaôma den Kopf zwischen die Schultern. Er fühlte sich schuldig an diesem Streit, dabei verstand er nicht so genau, warum sich diese zwei lieben Menschen so angifteten. Zumal ihre Vorwürfe nicht gerechtfertigt waren. Weder war Mimoun daran Schuld, dass er nicht schlafen konnte, noch hatte Xaira ihn vernachlässigt.
 

Mimoun Lächeln glich sich ihrem perfekt an. „Ich habe dich nie namentlich erwähnt. Ich habe niemanden namentlich erwähnt. Ich habe gehofft, dass sich die Richtigen angesprochen fühlen.“ Herausfordernd verschränkte er seine Arme. Jetzt war der Zeitpunkt, wo Tyiasur sich zu Dhaôma flüchtete. Sein Reiter war auf Krawall gebürstet und da wollte er beim besten Willen nicht dazwischen geraten. „Sieht wohl so aus, als hätte ich Nummer Eins gefunden. Entgegen deiner Behauptungen anscheinend.“
 

„Wovon sprichst du?“, wollte sie misstrauisch wissen. „Wer ist Nummer Eins bei was?“ Dann wurden ihre Augen wieder schmal. „Und nur zu deiner Information: auch ich habe nie von allen gesprochen. Dass jemand von allen gemocht wird, ist schlicht utopisch zu glauben. Das sollte selbst jemandem wie dir, der sich offenbar allgemeiner Beliebtheit erfreut, klar sein!“
 

„Das weiß ich durchaus. Ich renne mit meinem Dickkopf häufig genug gegen Wände.“ Sein Lächeln wurde wieder ein wenig fies. „Und du bist auf meine Anschuldigungen am besten angesprungen. Und gerade wenn man die Wahrheit nicht verträgt, reagiert man besonders heftig darauf. So als Information für kleine Dummchen.“
 

„Ich geb dir gleich kleine Dumm…“, begann Xaira wutentbrannt, da unterbrach sie eine Erschütterung des Bodens. Im nächsten Moment schob sich Lulanivilay zwischen sie.

„Ihr seid zu laut. Denkt nach, bevor ihr euch gegeneinander stellt. Ihr seid auf der gleichen Seite.“ Seine goldenen Augen blinzelten schläfrig und seine Stimme klang nicht so, als würde er sie wirklich zurechtweisen. „Ihr streitet nur gern.“

Ein wenig entfernt begannen einige zu lachen. Keithlyn, die sich schüchtern genähert hatte, Ula und Mihara, selbst das raue, papierartige Kichern von Thenra war zu hören.
 

„Da gibt es nichts zu lachen.“, fluchte Mimoun lauthals in die Runde. Wie kam diese überdimensionale Eidechse dazu… Schmerzhaft zuckte der Geflügelte zusammen und wirbelte zu Tyiasur herum, starrte ihn an. Dieser war eindeutig wütend, wie die aufgestellten Stacheln bewiesen, ebenso das leise Fauchen.

„Auch das muss einmal sein.“, erwiderte er auf Lulanivilays Feststellung hin, als er sich beschämt wieder dem großen Drachen zuwandte. „Entschuldige.“ Dann sah er an dem Drachen vorbei. „Und du hast schon wieder heftig reagiert.“, wies er Xaira darauf hin.
 

„Weil du wie ein Berserker um dich schlägst.“, zuckte sie mit den Schultern. „Man kann auch ruhig miteinander reden, wenn man etwas klären will.“ Ihre braunen Locken wurden von einem Windstoß erfasst und legten sich dann über ihre rechte Schulter. „Sieh mal nach links. Fällt dir was auf?“
 

Nur widerwillig wurde der Anweisung Folge geleistet. Was sollte dort sein? Dhaôma stand neben ihm, den Wasserdrachen noch immer auf der Schulter tragend. Und sonst?

Erst als Tyiasur dem Magier ins Gesicht stupste, wurde Mimoun bewusst, dass gerade diesem die Situation ganz und gar nicht behagen dürfte. Der unsichere Blick, der zwischen den Streithähnen hin und her irrte. Die geduckte Haltung, um möglichst unauffällig zu bleiben.

Und dafür begann Mimoun Xaira zu hassen. Dass sie ihn extra darauf hinweisen musste, was er Dhaôma antat. Wie ein geprügelter Hund schlich der Geflügelte zu seinem Freund hinüber. „Zieh nicht so ein Gesicht.“, bat er leise. „Ich will sie doch nur ein wenig ärgern. Ich tu ihnen schon nicht weh.“
 

„Ich weiß.“ Genau aus diesem Grund hatte er nichts gesagt, hatte sie machen lassen. Dennoch gefiel es ihm nicht, dass sie wegen ihm – über ihn stritten. Er fühlte sich nicht so ungerecht behandelt, dass Mimoun oder Xaira ihn schützen müssten. Und wenn, dann sollten sie nicht gegeneinander sondern miteinander streiten.

Ohne sein Zutun griff er nach Mimouns Hand und lächelte. „Danke, dass du dich sorgst.“

„Nicht schon wieder das.“, seufzte Xaira entnervt und schlug die Hand vor die Augen. Ihr ging dieses ziellose Geflirte der beiden gehörig auf den Geist.

Die seltsam geladene Atmosphäre war gegangen, Mimouns Haltung nicht mehr so wütend, dass man befürchten müsste, dass er sie angriff, damit trauten sich einige der Halblinge näher heran. Jii schlug ihm auf die Schulter und begrüßte ihn, entschuldigte sich darüber hinaus noch einmal für seine unpassenden Worte, die er in geistiger Umnachtung gesprochen hatte, Thenra berührte Mimoun freundlich am Ellbogen und Keithlyn blieb in einiger Entfernung stehen und lächelte, bis er ihr seine gesamte Aufmerksamkeit schenkte. Ihre Wangen färbten sich rot, als sie die Flügel entfaltete und sie leicht bewegte. Ihre Arme gestreckt, drehte sie sich einmal im Kreis, strich sich dann ein paar der weißen Haare aus dem Gesicht, um ihm ihre Ohren zu zeigen. Es war das erste Mal seit der Katastrophe, dass sie aus sich herausging.
 

Ein paar wirklich sehr leichte Kopfnüsse wurden verteilt, um zu zeigen, dass das Thema noch lange nicht gegessen war. Anschließend nahm sich Mimoun die Zeit Keithlyn genau zu betrachten. Sie hatte nun richtige Flügel, groß genug, das zierliche Mädchen zu tragen. Mit wenigen schnellen Schritten war er bei ihr und prüfte Beschaffenheit von Haut und Knochen. Dass sie so aussahen, als würden sie das Mädchen tragen, hieß noch lange nicht, dass es auch der Wahrheit entsprach.

„Zeig mir, was du bereits kannst.“, verlangte er lächelnd und zupfte an ihrem Ohr. Dieses Kind sah nun wirklich wie eine Geflügelte aus. Nichts erinnerte mehr an ihr Halblingsdasein.
 

Das weißhaarige Mädchen wurde rot. „Gar nichts.“, gab sie zu. Unsicher erwiderte sie seinen Blick. „Du hattest doch gesagt, keine Flugversuche ohne dich. War das falsch? Hätte ich es üben dürfen?“
 

„Ich hatte gesagt, lass die Finger vom Gleiter.“, zuckte Mimoun beiläufig mit den Schultern. „Das hast du ja getan. Aber ich bin richtig stolz auf dich, dass du dennoch auf mich gewartet hast.“ Anerkennend streichelte er ihr über die weißen Haare. Dann klatschte Mimoun fordernd in die Hände. „Flattere mal ein wenig. Ich will mal sehen, inwieweit Dhaôma deine Muskeln ausgebildet hat.“
 

Sie wurde noch ein wenig röter, diesmal vor Aufregung, als sie die Flügel zaghaft bewegte. Vorsichtig steigerte sie die Kraft und spürte, wie der Wind sich in der zarten Haut fing, wie sie sich dehnte und Gewicht auf die Speichen legte. Ein kräftiger Stoß und sie schwebte in der Luft, bevor sie vor Schreck aufhörte und wieder auf den Füßen landete. Von sich selbst beeindruckt, dass es so gut funktionierte, bewegte sie die Flügel.

„Es geht.“, wisperte sie und eine Träne der Erleichterung rollte über ihre Wange. Im nächsten Moment war sie aufgekratzt wie immer. „Mimoun, es geht! Hast du das gesehen?“
 

„Natürlich habe ich das gesehen.“, freute sich der Geflügelte, der sich völlig auf das Mädchen konzentrierte. „Aber du willst dich doch damit nicht zufrieden geben, oder? Also los.“ Damit schwang er sich in die Lüfte und erwartete das Mädchen nur wenige Meter über dem Boden.
 

Ein wenig entfernt beobachtete Dhaôma das und freute sich wahnsinnig. Bis jetzt hatte er den Eindruck gehabt, dass sie es bereute, aber nun…

„Es ist schön, sie so zu sehen, nicht wahr?“ Korkkan war neben ihn getreten. „Ich hatte mir Sorgen gemacht, aber ihr scheint es gut zu gehen.“

Sprachlos sah Dhaôma zu ihm und lächelte erneut. Es freute ihn, dass er nicht der einzige war. In ihm kribbelte etwas, das sich anfühlte, wie als wolle etwas Freiheit genießen, die ihm verwehrt gewesen war. Am liebsten wollte er hüpfen und springen und fliegen und lachen.

Xaira trat zu ihnen hin und sie grinste. „Die erste hat den wichtigen Schritt geschafft.“, sagte sie stolz. „Sieh sie dir genau an. Das ist dein Werk.“

Wieder kribbelte es. Diesmal in den Fingerspitzen.

„Aber jetzt bist du dran. Jetzt mach du den einen Schritt, okay?“

Sein Herz setzte einen Moment aus, dann nickte er. In ihm lief Energie über. Energie, die der Freude entsprang, dass sich alles zu lösen begann. „Du hast Recht. Ich darf nicht länger zaghaft sein.“

„Das will ich hören. Also los.“ Und sie schob ihn sanft in Mimouns Richtung.

Zu ihrer Überraschung drehte sich Dhaôma direkt wieder um und ergriff ihre Hände. „Xaira, begleitest du uns zu den Hanebito und den Magiern? Ich bin sicher, Lulanivilay kann dich locker tragen! Und wenn du und vielleicht noch ein paar andere mitkommen, dann fällt es uns leichter, eure Geschichte zu verbreiten. Wir werden viel schneller Resultate erzielen und…“

Xaira war sprachlos. Sie hatte gewollt, dass er Mimoun endlich sagte, was er empfand, wie kam er jetzt auf so einen Humbug? „Was zum… Dhaôma!“, fuhr sie auf. „Das war nicht das, was ich meinte! Du solltest Mimoun endlich sagen, dass…“

„Er weiß es doch schon.“ Sein Lachen schnitt klar und hell durch die Luft und nahm ihr ihre Stimme. Wann hatte er das letzte Mal so gelacht. „Wir haben gestern darüber gesprochen und er hat zugestimmt, dass wir euch fragen. Und ich hätte eben gerne dich dabei.“

‚Dich.’ Er wollte sie dabei haben. Xairas schwarzbraune Augen wurden feucht, obwohl sie wusste, dass er das nicht so meinte, wie sie es sich erhoffte. Im Grunde machte er gerade alles falsch, was man falsch machen konnte, aber dennoch… „Wann wollt ihr denn los?“, fragte sie und ihre Kehle war eng wie ein Strohhalm.

„Sobald wie möglich. Vielleicht in fünf Tagen, vielleicht in zehn.“

Um sie herum wurde es laut, als einige applaudierten. Keithlyn war Mimoun gefolgt und landete kurz darauf in seinen Armen. Sie strahlte, als sie versuchte, sich abzustoßen, um noch ein wenig höher zu kommen. Sie war fürchterlich ungeschickt, aber man konnte sehen, dass ihre Flügel sie problemlos trugen, wenn sie nur ein wenig Übung bekam.

„Korkkan! Korkkan! Schau, ich kann fliegen!“

Der Mann lachte und winkte zurück und wieder brach Beifall aus.

Redet endlich Klartext!

Kapitel 59

Redet endlich Klartext!
 

Anerkennend nickte der Geflügelte, als er seine Schülerin bei ihren ersten Flugversuchen beobachtete. „Noch nicht so hoch hinaus.“, verlangte er und wies sie an, einige Schleifen zu fliegen und einen Gleitflug zu probieren. Es gab keine Schwierigkeiten. Sie musste halt nur noch lernen, mit ihren Kräften zu haushalten und nicht gegen den Wind zu kämpfen, sondern ihn zu nutzen. Aber auch das würde sie bald gemeistert haben. „Sobald du spürst, dass du nicht mehr kannst, lande. Warte nicht, bis zum allerletzten Augenblick. Du hast jetzt alle Zeit. Nimm sie dir.“, gab er ihr den nächsten Tipp. „Und bleib noch dicht über dem Boden. Dann kannst du auch alleine üben.“ Und schon ließ sich Mimoun fallen und streunte zu der Gruppe hinüber, die sich um seinen Freund gebildet hatte. Xaira fixierte er mit beinahe hasserfülltem Blick, bevor er Dhaôma anlächelte.

„Du kannst stolz sein auf das, was du vollbracht hast. Du hast ihr Freiheit geschenkt.“
 

„Mimoun!“ Dhaôma umarmte ihn. „Xaira wird mit uns kommen, um die Magier und die Hanebito zu überzeugen, den Krieg zu beenden. Ist das nicht toll?“
 

„Oh, wie ich mich freue.“ Zwar erwiderte er die Umarmung, aber deutlich schwang sein Unmut mit. Mimoun hatte nichts dagegen, dass Halblinge sie begleiteten, ganz im Gegenteil, aber warum musste es ausgerechnet diese Frau sein? „Gibt es noch jemanden, der die Furie an die Leine nimmt?“
 

„Äh…“ Dhaômas Freude erstarb. Gerade jetzt hatte er das schreckliche Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Dennoch antwortete er. „Ich habe außer ihr noch keinen gefragt.“, erklärte er kleinlaut. „Das wollte ich nachholen.“

Hinter ihm bekam sich Xaira langsam wieder unter Kontrolle. Mimouns Aussage hatte sie ernüchtert. „Vielleicht möchtest du lieber an die Leine genommen werden? Wenn du dich bei den Magiern so aufführst wie hier, dann wird das nie was mit dem Frieden.“
 

Demonstrativ und besitzergreifend schlang Mimoun seinem Freund die Arme um den Hals und zog ihn an sich. Für ihn war das Aussage genug, dass er unter Dhaômas Pantoffel stand. „Ich weiß wie ich mich zu benehmen habe. Ich will es nur gerade nicht.“
 

„Nicht schon wieder streiten!“, bat der Magier in diesen Disput. Seine Stimme klang flehendlich und er zog an Mimouns Kleidern. Im nächsten Moment hielt er einen Fetzen davon in der Hand. „Oh nein.“, wisperte er und zog sich augenblicklich zurück. „Entschuldige, bitte, das war…“
 

„Ups.“ Mimoun lachte ausgelassen. „Da war ja was.“ Wieder begab er sich auf die Suche nach dem Stein, der erstaunlicherweise noch um seinen Hals baumelte. Aber dieses Band würde keiner Belastung mehr standhalten. Noch immer kichernd, produzierte er ein neues Band und hängte das Schmuckstück direkt dem Wasserdrachen um. Bei ihm würde er einfach am sichersten sein. Den Rest seines Hemdes konnte er sich ohne große Anstrengung vom Leib reißen und warf es nach kurzer kritischer Betrachtung zusammengeknüllt hinter sich.

„Lass mir wenigstens die Hose, sonst wird es peinlich.“, bat der Geflügelte und zog Dhaôma wieder näher. „Ich werde ab jetzt auch brav sein, damit du dich konzentrieren kannst.“
 

Seufzend nickte Dhaôma. Es war so eine Schande. Wirklich. Dass er Mimoun nicht einmal mehr wirklich berühren konnte, wenn sie unter Menschen waren.

„Ich denke, es wird Zeit, dass wir die Willkommensfeier starten. Unsere Jäger waren in letzter Zeit sehr erfolgreich und wir könnten alle ein wenig Spaß gebrauchen, nicht wahr? Und wer weiß, vielleicht kommt ja auch das ein oder andere Gespräch zustande.“, suggerierte Thenra, was von Jii sofort aufgenommen wurde. Plötzlich waren alle in eiliger Beschäftigung, um alles vorzubereiten.

„Sag mal, Dhaôma, wohin wollt ihr denn zuerst?“, fragte Xaira, weil sie und die beiden Reisenden dazu genötigt wurden, nicht zu helfen. „Weißt du, ich würde unglaublich gern eure Tochter kennen lernen. Ich bin sicher, sie ist ein wundervolles, glückliches Kind.“

„Du besuchst Dhaômas Tochter?“, fragte Keithlyn, die seit einiger Zeit wie ein Derwisch zwischen allen herumflatterte. Längst waren ihre Kräfte aufgebraucht, aber sie war so erleichtert, dass alles zu stimmen schien, dass niemand sie deswegen angemacht hatte, dass sie so viel Lob bekommen hatte, dass sie kaum anders konnte. „Ich will mit! Ich fliege auch alleine! Ich will die Hanebito kennen lernen!“
 

„Unsere Tochter.“, bestand Mimoun auf dieser Tatsache. „Und das schaffst du nicht.“, schmetterte er gleich als nächstes gnadenlos ab. „Wenn du selbst fliegst, wird uns das nur unnötig aufhalten.“ Tyiasur kletterte wieder auf die Schulter seines Reiters und kühlte diesen. „Außerdem… du bist noch ein halbes Kind. Was würde Korkkan dazu sagen? Er wird sich große Sorgen machen.“ Aber wie er die Kleine mittlerweile einschätzte, würde sie ihren Ersatzvater solange bedrängen, bis dieser zustimmte. „Oder du überredest ihn mitzukommen, aber ich weiß nicht, wie viele Vilay tragen kann.“

Mit einem Blick reichte er die Frage an eben jenen weiter.
 

„Genug.“, antwortete dieser gelangweilt. Seit einiger Zeit schielte er auf das Essen. Da er selbst nicht zum Jagen gekommen war, hoffte er auf eine Portion für sich. Und wie es aussah, waren sie tatsächlich bereit, einen halben Bock mit ihm zu teilen.

Also sprang Dhaôma ein. „Sie haben es doch auf der Insel ausprobiert. Er hat fünf problemlos tragen können. Und hat sie abgeschüttelt, als es ihm zuviel wurde. Also sollten wir wohl nicht mehr als vier sein.“ Allerdings blieb die Frage, wie er sie tragen würde. „Vielleicht sollten wir Körbe flechten, in denen man sitzen kann, weil sicher nicht alle auf seinen Rücken passen.“ Dann wurde er rot. „Außerdem muss Tyiasur auch bei uns mitfliegen. Ohne ihn wird der Tragegurt wahrscheinlich porös.“
 

„Die Körbe kriegst du locker alleine hin. Dann bleibt nicht viel Kraft für Chaos übrig.“, überlegte Mimoun laut. „Und wie weit reicht eigentlich die magielose Zone, die Tyiasur errichtet? Kannst du das einschränken oder muss ich in großem Abstand zu euch fliegen?“

„Ich habe es nicht ausprobiert. Es war nicht nötig.“

„Gut.“ Bekräftigend nickte der Geflügelte. „Dann haben ja alle was zu tun. Keithlyn übt fliegen, Tyiasur übt mit mir zusammen das gezielt Magie blockieren, Dhaôma lässt Körbe wachsen und du…“ Mit einem zuckersüßen Lächeln wandte er sich an Xaira. „…stehst niemandem im Weg.“
 

„Schon klar, und der Störenfried trifft Reisevorbereitungen.“ Sie streckte ihm die Zunge raus, gerade als Lulanivilay sich erneut meldete.

„Ich konnte jederzeit den See in mir nutzen, wenn Pusteblume Freiheit geholfen hat.“, merkte er an und blinzelte jetzt zu dem kleinen Drachen. Er schien nicht so ganz zu verstehen, wo das Problem liegen sollte.
 

„Sagte die Giftschleuder.“ Mimoun wandte sich dem Drachen zu. „Du hast aber auch einen größeren See und mehr Kraft als ich. Wenn Tyiasur es nicht auf ein Minimum reduzieren kann, also nur auf Dhaôma, dann werde ich nicht so lange durchhalten und du musst mich ebenfalls tragen.“
 

„Ich weiß, dass du ein schwacher Mensch bist.“, gab der Drache indifferent zurück und beobachtete weiter seinen Anteil des Festmahls.

„Vilay!“ Dhaôma war empört. „Das ist nicht wahr.“

„Wenn du es sagst, Freiheit.“

Neben ihnen fing Xaira an zu lachen.
 

„Im Vergleich zu ihm, bin ich schwach.“, stimmte Mimoun dem Drachen ungerührt zu. „Aber da ich bei Weitem stärker bin als der Durchschnitt, sind die anderen wohl auf Säuglingsniveau im Vergleich zu ihm.“ Der Geflügelte gab sich die größte Mühe der lachenden Frau die kalte Schulter zu zeigen. Warum auch immer, es fiel ihm heute schwer, in ihrer Gegenwart ruhig zu bleiben. Vielleicht weil sie ihm trotzig die Stirn geboten hatte.

Um sich abzulenken, zog er Dhaôma in seine Arme und bettete seinen Kopf auf dessen Schulter, während er Keithlyn beobachtete, die wieder über die Wiese sprang. „Du könntest für den Nachtisch sorgen.“, nuschelte der Geflügelte leise.
 

Das würde er wirklich gerne… „Mimoun, die Samen liegen sicher verwahrt bei Thenra, damit ihnen nichts passiert, während meine Magie so verrückt spielt. Ich habe sie darum gebeten, sie zu bewahren.“

„Wir könnten sie doch holen.“, schlug Xaira vor.

„Findest du den Erdbeersamen in dem Beutel?“

„Ist er beschriftet?“, gab sie zweifelnd zurück

Dhaôma lachte. „Wie das denn? Er ist zu klein.“ Ein weiteres Lachen gluckerte durch seinen Bauch.

„Ich hole einfach den ganzen Beutel.“ Die junge Frau erhob sich und schüttelte ihr lockiges Haar aus. „Ich bringe ihn auch wieder weg, wenn du den richtigen Samen gefunden hast.“

Wenig später versperrte Tyiasur Dhaômas Magie, während dieser zielsicher in dem Beutelchen suchte. Den Samen zu finden, ohne wenigstens ein bisschen Magie einzusetzen, dauerte definitiv länger, aber schließlich hatte er den Samen. „Heute gibt es die kleine Variante, ja?“
 

„Ich muss mich ja auch erst langsam wieder daran gewöhnen, welche zu bekommen.“ Vorfreudig rieb sich der Geflügelte die Hände. Wie lange hatte er jetzt auf Erdbeeren verzichten müssen? Genauso lange, wie auf denjenigen, dem er diesen Reichtum zu verdanken hatte.

Mimoun schenkte Dhaôma schon im Voraus ein dankbares Lächeln, als hinter ihnen auch schon Stimmen laut wurden, dass alles fertig sei, dass sie endlich kommen sollten. Ohne seinem Freund die Zeit zu lassen, Erdbeeren wachsen zu lassen, ergriff er ihn am Handgelenk und zog ihn sanft in den Kreis der anderen, ließ sich neben ihm nieder.
 

Es wurde laut und lustig. Irgendjemand hatte beschlossen, dass Jii eine Rede halten sollte, aber dieser war darauf nicht vorbereitet. Die wenigen Worte, die er sagte, hatten keinen wahren Zusammenhang, außer, dass er sich freute, Mimoun wieder dabeizuhaben. Dann wurde gegessen, ein reichhaltiges Mahl, da nach dem Regen vor einigen Wochen alles freudig wuchs und gedieh. Die größte Delikatesse, die sie anboten, waren einige Früchte der stacheligen Kakteen, die man vorher pellen musste, um die Stacheln nicht im Mund zu haben.

Eine Frage in die Runde zeigte an, dass es einige gab, die Erdbeeren haben wollten. Und Keithlyn war ganz scharf darauf, seine Magie endlich wieder zu sehen. Ihrer Meinung nach hatte er sie viel zu lange unter Verschluss gehalten. Allerdings waren auch Vertreter der Meinung, dass es vielleicht gefährlich sein könnte, anwesend, so entfernte sich Dhaôma ein wenig.

Aus dem einen Kern wurde schnell eine Pflanze, die Blühte und verblühte, Früchte bildete, die zerfielen und neue Samen freisetzten. Immer mehr Pflanzen kamen aus der Erde hervor, vervielfältigten sich rasant, bis Dhaôma der Meinung war, jetzt alle ausreichend mit Erdbeeren eingedeckt zu haben.

„Jii, ich werde die Pflanzen danach verschwinden lassen, also sieh es mir nach, dass sie hier wachsen.“

Der Mann wurde rot. „Ja, weißt du…“, begann er und kratzte sich am Hinterkopf. „Du kannst sie gerne stehen lassen. Erdbeeren wachsen hier ja sonst nirgendwo.“
 

Das entlockte Mimoun tatsächlich ein Kichern. Er wusste, dass so ein Vorfall Angst auslösen konnte. Es war nur allzu verständlich. Man musste ihnen einfach mal den Kopf gerade rücken, damit sie ihren Fehler einsahen. Und zumindest Jii hatte das ja nun getan.

„Ich gehe nicht davon aus, dass diese Pflanzen hier lange überleben können.“, merkte er an und machte sich bereits über die ersten Beeren her.

„Wenn du da bist, ist das auch kein Wunder.“, kam ein Zwischenruf und löste Gelächter aus. Die einzige Reaktion des Geflügelten bestand darin der Sprecherin die Zunge herauszustrecken.
 

Jii entschuldigte sich, um auch ein wenig in dem kleinen Feld zu sammeln, während Dhaôma drei Erdbeeren für Thenra pflückte und sie ihr brachte. „Ich möchte Xaira mitnehmen. Und vielleicht noch ein oder zwei andere. Wäre das in Ordnung?“

„Wohin sollen sie denn mit dir gehen?“

„Ich brauche Zeugen eurer Geschichte. Sie sollen mir helfen, diejenigen zu besiegen, die die Welt, die ich zu lieben beginne, zu zerstören versuchen.“

„Hat Xaira dir ihre Hilfe angeboten?“

„Sie hat schon zugesagt.“

„Dann ist das in Ordnung.“, lächelte die alte Frau. „Wen möchtest du noch mitnehmen?“

„Das weiß ich noch nicht. Die, die mitgehen wollen.“

„Dann solltest du sie fragen. Was hält dich davon ab?“

Lächelnd schüttelte der Braunhaarige den Wuschelkopf. „Dir bin ich nicht gewachsen, Thenra.“

Scheckerndes Lachen begleitete ihre nächsten Worte: „Das hätte mich auch gewundert.“

„Und wen soll ich fragen?“

„Wie wäre es mit Ula? Sie kann die Karte lesen und vervielfältigen.“

„Ich glaube, Mimoun möchte keine Frauen dabei haben. Es steht gegen ihre Überzeugung, Frauen in den Krieg zu schicken.“

„Langfristig sicher eine gute Entscheidung. Wie wäre es dann mit Juuro. Er ist ein guter Kämpfer wenn es darauf ankommt, wenn auch ein wenig schweigsam.“

Nachdenklich sah Dhaôma zu dem älteren Mann hinüber. Er hatte einen Charakter, der es schwer machte, ihn zu verstehen. Dhaôma konnte niemals sagen, was er gerade dachte. Aber er hatte ihn bei der Jagd gesehen und konnte nur zustimmen, dass er stark war. „Versteht er sich mit Xaira?“

„Ja, er versteht sie gut.“

Er nickte. „Und sonst?“

„Frage ihn. Er wird dir antworten.“

Wieder nickte der Magier und streunte dann zu Mimoun, um ihm Thenras Vorschlag mitzuteilen.
 

„Ich werde ihn fragen.“, stimmte Mimoun zu, als ihm klar wurde, dass Dhaôma sich dazu nicht so schnell würde durchringen können. Er klaubte sich die nächste Beere vom Stängel und seufzte abgrundtief. Dhaômas Blick war so bohrend und bittend, dass der Geflügelte anscheinend sofort gehen musste. Das war’s erstmal mit seinem Nachtisch. „Ich geh ja schon.“

Genauso schwerfällig, wie er sich erhoben hatte, ließ er sich mit ein paar Erdbeeren neben dem Älteren fallen. Auch wenn ein Friedensangebot nicht nötig war, so hielt Mimoun ihm doch einige hin. Ein wenig erstaunt wurden die kleinen roten Gebilde begutachtet, dann aber mit einem kurzen Nicken angenommen.

„Dhaôma hätte gerne ein paar von euch dabei, um eure Geschichte glaubhafter zu machen. Xaira kommt bereits mit, aber das wird keine leichte Reise. Für niemanden von uns. Und wir brauchen auch starke Kämpfer.“, begann der Geflügelte ohne Umschweife.

„Sie ist stark.“

Nur widerwillig stimmte Mimoun zu. Ja. Mochte sein. „Dennoch hätten wir gerne auch dich dabei. Du musst nicht sofort darauf reagieren.“, stellte er sofort klar. „Wir werden noch eine Weile hier bleiben müssen. Also überlege es dir gut.“

Ohne auf eine weitere Reaktion zu warten, erhob er sich wieder und kehrte zu Dhaôma zurück. „Ich habe ihn gefragt. Aber ich habe ihm auch gesagt, er soll es sich reiflich überlegen.“
 

„Mimoun! Mimoun!“ Keithlyn flog ihm in die Arme und klammerte sich dann mit Beinen und Armen an ihn. Dhaôma hatte gar keine Chance bekommen, zu antworten. „Warum fragst du so viele, ob sie mitkommen? Dann bleibt am Ende kein Platz für mich!“
 

Der Geflügelte musste einen Schritt zurückgehen um ihrem Anprall standzuhalten. Oh je. Was sollte er denn jetzt darauf antworten? „Jeder von ihnen hat immer noch die Möglichkeit nein zu sagen.“ Er verschränkte die Hände unter ihrem Hintern, so dass sie nun bequem darauf sitzen konnte. „Und ich hätte dich wirklich gerne dabei. Ich würde dir so gerne meine Familie und Freunde vorstellen. Aber…“ Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe herum. „Das hier wird kein kleiner Familienbesuch. Wir reisen in Kriegsgebiet, geraten sicher auch in Frontnähe. Das ist kein Ort für ein Mädchen. Du bist hier behütet aufgewachsen. Du weißt nicht, wie es ist, jede Minute um sein Leben fürchten zu müssen. Ich würde dir gerne dieses Schauspiel von Blut und Tod ersparen. Wenn alles vorbei ist, wenn euch keine Gefahr mehr droht, dann kann ich euch dort wenigstens ruhigen Gewissens willkommen heißen.“
 

Sie starrte ihn an. Und man sah in ihrem Gesicht, dass sie das Nein hinter den Worten verstand. Ihre feinen Züge verhärteten sich, ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und dann begann sie zu toben. Ihre Fäuste trafen Mimouns Schultern, während sie weinte, heulte und schrie. Dhaôma war mit dieser Hysterie völlig überfordert, obwohl er versuchte, sie zu beruhigen. Seine Worte kamen bei ihr nicht an. Er war regelrecht glücklich, als Korkkan auf sie zutrat.

Noch bevor ihr Vater sie erreichte, war jemand anderes plötzlich da. Ein junger Mann, der graues Haar hatte. „Lass sie los!“, fauchte er Mimoun an und packte sie an der Taille, um sie von ihm herunterzuheben. „Ich lasse nicht zu, dass du sie so berührst!“
 

Ihre Reaktion war vorherzusehen und verständlich. Deshalb tat Mimoun auch nichts, als sie nach ihm schlug. „Tut mir Leid.“, murmelte er immer wieder, doch auch das hatte sie nicht erreicht.

Aber die Reaktion des jungen Mannes überforderte ihn tatsächlich. Wie berührte? Er verhinderte, dass sie durch ihre Zappelei auf dem Boden landete. Und warum waren seine Worte so heftig? Verwirrt blinzelte Mimoun ihn an. Hier schien er etwas verpasst zu haben. Aber beinahe mechanisch tat er, was man von ihm verlangte und zog seine Hände unter ihr hervor.
 

Ihre Reaktion war ein erschrockenes Aufquietschen und reflexartiges Festklammern an seinem Hals. Grisu zog an ihr, aber sie strampelte und traf ihn empfindlich auf der Brust. Zischend ließ er sie los.

„Was soll das? Hast du vergessen, dass ich dein Lebenspartner bin, sobald du alt genug bist? Du hast es mir vor Jahren versprochen!“

Entgeistert sah sie ihn an und streckte ihm die Zunge raus. Ihr Verhalten, sich an Mimoun zu klammern und Grisu zu ignorieren, flammte dessen Zorn auf. Er packte sie am Arm und zerrte an ihr, was sie vor Schmerz aufheulen ließ.

„Lass das.“, schritt Dhaôma ein und wurde nur wütend angezischt.

„Lass sie los!“, forderte der Mann wieder von Mimoun.

Zum Glück war Jii zur Stelle. „Grisu, lass sie los. Du tust ihr weh.“

„Sie hat sich ihm nicht an den Hals zu werfen. Sie hat sich mir versprochen!“
 

Wenn seine Mutter nun hier wäre, würde sie wieder mit Mimoun schimpfen. Als es so heftig wurde, umschlang er die Hüften des Mädchens, breitete die Schwingen aus und stieß sich ab. „Was soll das?“, verlangte der Geflügelte außerhalb der Reichweite Grisus von diesem zu erfahren. „Wann hat sie dir das versprochen? Als sie ein Kind war und nichts von Liebe wusste? Gefühle können sich ändern im Laufe der Zeit. Hast du sie mal gefragt, was sie heute will?“ Aber der Junge hatte Recht. Es war wohl zur Beruhigung aller Gemüter besser, wenn er sie nicht mehr festhielt. Aber er landete nicht dort, wo er gestartet war. Er setzte sie inmitten einer Gruppe Halblinge ab, die sich zwar erhoben hatten und starrten, aber nicht eingriffen, um das Chaos nicht zu vergrößern. Mimoun überließ das Kind ihrem Schutz und trat vor die Gruppe, um dem wütenden Mann entgegenzutreten.

„Mein Herz ist bereits vergeben.“, versuchte der Geflügelte ruhig zu erklären und seinen Kontrahenten damit zu beschwichtigen. „Ich habe keinerlei Interesse dieser Art an ihr. Für mich ist sie nur eine gute Freundin. Und noch ein Kind.“
 

„Sicher, eine Freundin! Dafür verbringst du verdammt viel Zeit mit ihr! Zumal sie deinesgleichen jetzt ähnlicher ist, nicht wahr? Jetzt hat sie jemanden besseren verdient als einen Halbling, nicht wahr? Wir sind ihrer nicht mehr würdig oder was?“, brüllte er.

Und sah sich im nächsten Moment von Dhaôma zurückgeschupst. „Du redest Mist. Denk nach, bevor du so etwas Unsinniges von dir gibst!“ Der Braunhaarige holte tief Luft. „Seit wann bitte soll Mimoun rassistisch veranlagt sein? Was glaubst du eigentlich, warum wir hier sind, warum wir befreundet sind, warum wir euch gern haben?“

Grisu schüttelte die Verblüffung über Dhaômas Handgreiflichkeit ab. Was wagte es dieser nichtsnutzige Magier, ihn zu schelten! Das würde er ihm büßen. Wutentbrannt hob er die Faust.
 

Um die sich starke Finger schlossen. Die zweite krallenbewehrte Hand legte sich um die Kehle des Mannes. „Beruhige dich.“, verlangte Mimoun. „Ich hatte nicht einmal vor, sie mitzunehmen.“ War das noch Liebe bei dem Kerl oder schon Besitzgier? „Und zuallererst entscheidet immer noch Keithlyn, mit wem sie sich abgibt.“
 

Einen Moment hatte Dhaôma schon gedacht, er würde geschlagen werden, und ihm war das Herz in die Hose gerutscht. Zum Glück war Mimoun da und passte auf ihn auf.

„Es ist genug, Grisu.“, erklang da die Stimme von Mihara. „Du bist zu weit gegangen. Du wirst jetzt in deine Höhle gehen und dort bleiben, bis du dich beruhigt hast. Denke darüber nach, was du gerade gesagt hast, dann komm hierher zurück und entschuldige dich.“

„Tch!“ Grisu riss sich von Mimoun los und schlug dessen Hand weg. Um ihn herum standen seine Leute und starrten ihn schweigend an. Keiner ergriff Partei für ihn, keiner verteidigte ihn. Selbst Tori, sein bester Freund, hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Verreckt doch alle!“, knurrte er und drehte sich um. Tatsächlich trat er in die Höhle.

„Er greift den Gedanken an Mord wieder auf.“, teilte Tyiasur seinem geflügelten Freund mit. „Diesmal schließt es dich mit ein.“
 

„Verdammt.“ Ein wenig entnervt, ein wenig verzweifelt, rieb sich Mimoun über den Nacken. Das hatte er eigentlich nicht bezwecken wollen. Unwirsch schüttelte er den Kopf. Erst einmal das nächstgelegene Problem lösen.

„Geht es euch gut?“, fragte der Geflügelte einerseits Dhaôma, andererseits Keithlyn, die jetzt aus der Gruppe hervortrat. Korkkan trat an die Seite seiner Tochter und wünschte dasselbe zu erfahren.
 

„Ich bin okay.“

„Ich auch.“ Das Mädchen sah Mimoun an und sie wirkte niedergeschlagen. „Ist es wahr, dass du mich nicht mitnehmen willst? Gibt es keine Chance für mich? Ich kann doch jetzt selbst fliegen.“ Hoffnungsvoll sah sie Dhaôma an, der nur den Kopf schüttelte.

„Du wärst im Weg. Weißt du, Mimoun hat alle Hände voll zu tun, auf sich aufzupassen, wenn er bei den Magiern ist. Dann muss er auf mich aufpassen, weil ich immerzu in dumme Situationen gerate. Und wenn wir auf dich aufpassen müssen, damit dir nichts passiert, dann kommen wir nicht mehr voran.“

„Aber ich kann doch wegfliegen.“

„Aber du weißt, dass die Magier Jagd auf Hanebito machen. Du bist jetzt einer von ihnen.“

Ihre roten Augen begannen wieder in Tränen zu schwimmen. Unwirsch wischte sie sie weg. „Und wie lange seid ihr weg?“

„Das wissen wir nicht.“

„Keithlyn. Mach ihnen keine Probleme. Unterstütze sie, so gut du kannst, damit sie wiederkommen, um dich zu holen.“ Die Stimme ihres Vaters klang sanft und doch eindringlich. Er stimmte sie schließlich um. Enttäuscht ließ sie den Kopf hängen.

„Na gut. Mimoun? Bist du wirklich schon gebunden?“
 

„Mein Herz… ja.“, gab Angesprochener ein wenig wehmütig zu. „Es tut mir aufrichtig Leid, wenn ich Gefühle dieser Art in dir geweckt haben sollte, aber ich werde sie nicht erwidern können.“ Aber das sollte jetzt eigentlich nicht Inhalt des Gespräches werden. „Jemand sollte eindringlich mit Grisu reden. Ich würde ihm gerne selber verständlich machen, dass seine Eifersucht unbegründet ist, aber ich fürchte, derzeit würde es mit einem Toten enden.“

„Würdest du ihn denn töten, könntest du ihn nicht umstimmen?“, wollte Thenra wissen.

Mimoun verneinte mit einem Kopfschütteln. „Er wünscht derzeit meinen Tod.“

„Das würde ich nicht zulassen. Ich habe es auch bei Dhaôma unterbunden.“, stellte die Alte sofort klar.

„Ich weiß.“ Der Geflügelte schenkte ihr ein sanftes Lächeln, das sie zwar nicht sehen, aber in seiner Stimme hören konnte. „Ich danke dir dafür.“
 

Dhaôma runzelte die Stirn. Grisu wünschte Mimouns Tod? Das war ganz und gar nicht im Sinne ihrer Mission. Und wenn man bedachte, wie schnell so jemand zuschlagen konnte, dann war es regelrecht gefährlich hier zu bleiben. Sie hatten an Kekaras ja schon gesehen, wohin das führte.

Leise ging er zu seinem Drachen, hockte sich in seine Halsbeuge und lehnte sich gegen ihn. „Mimoun hat gesagt, es ist noch immer kalt da, wo wir hinwollen. Das heißt, wir können noch nicht los fliegen, aber ich möchte auch nicht mehr hier bleiben.“

„Du flüchtest, Freiheit.“

„Ich weiß.“, nuschelte er und drückte seine Nase in seine Armbeuge. Seine braunen Augen suchten nach einem schwarzen, wuscheligen Haarschopf und fanden ihn bei Keithlyn, die sich an seinem Arm festklammerte. Er fragte sich wirklich, an wen Mimoun sein Herz verschenkt hatte. Bevor sie von den Drachen zurückgekommen waren, hatte er davon noch nichts gehört, also musste es ein Mädchen sein, das er später kennen gelernt hatte. Oder Jadya. Sie hatte er ja auch wieder getroffen und sie war schon damals in ihn verliebt gewesen.

„Bist du traurig, Freiheit?“

Er schüttelte den Kopf, nickte und versteckte sein Gesicht. Lulanivilay legte tröstend den Schwanz um seinen Reiter.
 

„Ist das denn von Bedeutung?“, wich Mimoun den ganzen Fragen aus, mit denen ihn Keithlyn bestürmte. Sie wollte alles wissen über seine Auserwählte. Sanft löste er ihre Finger von seinem Arm. „Und es wäre wirklich besser, wenn du ein wenig Abstand halten könntest. Sonst werde ich früher gehen müssen, als es mir Recht wäre.“

„Warum kannst du es mir nicht einfach sagen? Ist sie hübsch? Nun sag schon.“ Sie ignorierte seinen Vorschlag gekonnt.

„Das schönste Geschöpf auf dieser Welt.“, erwiderte er schließlich mit einem wehmütigen Lächeln. „Und unerwiderte Liebe tut weh, nicht wahr? Vor allem wenn man immer wieder daran erinnert wird.“

Es dauerte einen Augenblick, bis das Albinomädchen begriff und schwieg. Leicht streichelte er ihre Hand, die nun locker auf seinem Oberarm lag und wandte sich dann ab. Er bemerkte Xaira nicht, die völlig entnervt die Hände über dem Kopf zusammenschlug.

Der Blick des Geflügelten glitt über die Anwesenden. Zwar hatte Dhaôma gesagt, es ginge ihm gut, aber das sagte dieser häufig. Und nicht immer entsprach es auch der Wahrheit. Doch er konnte den Magier nicht entdecken. Er stand nicht in seiner Nähe. Nur Lulanivilay lag halb zusammengerollt ein wenig abseits. Dort musste der Gesuchte sich aufhalten, denn in die Höhlen würde er jetzt wahrscheinlich eher nicht gehen. Dort fand er ihn tatsächlich und bei dem Anblick, den das Häufchen bot, schnürte es ihm die Kehle zu.

„Hey. Alles in Ordnung. Ich passe schon auf, dass dir niemand etwas tut.“, versuchte Mimoun mit sanfter Stimme zu beruhigen und streichelte die braunen Haare.
 

Dhaôma sah auf. Er lächelte, sein Gesicht war trocken. Es hatte ihn zwar geschockt, das Mimoun jetzt vergeben war, dass er vielleicht bald wieder alleine war, aber irgendwie hatte er damit gerechnet. Als Mädchen hätte er ihn sofort genommen.

„Ich weiß.“, sagte er leise und schmiegte sich in die streichelnde Hand. „Trotzdem fühle ich mich hier fest gekettet. Ich möchte weg. Möchte anfangen, etwas Sinnvolles zu tun, möchte diese Sache endlich beenden!“ Aber es würde bedeuten, dass Mimoun ihn früher verlassen würde, nicht? Sollte er sich also Zeit lassen? Nein. Nicht bei einem so hohen Preis.

Hinter ihnen tauchte Xaira auf. „Ich will mit euch reden. Jetzt. Möglichst privat.“, sagte sie und verschränkte grimmig die Arme vor der Brust.
 

Nicht sie. „Ehrlich. Dich kann ich jetzt am allerwenigsten ertragen.“ Mimoun sah sie bei diesen Worten nicht einmal an. Ruhig bleiben, nicht streiten, damit sich Dhaôma auf Wichtigeres konzentrieren konnte.
 

„Das ist mir herzlich egal. Er ist traurig wegen dir. Du bist total eifersüchtig. Und ich habe die Schnauze voll, von dir angezickt zu werden, also kommt jetzt mit und hört zu, was ich zu sagen habe, sonst mache ich es hier vor allen Leuten und das kann wirklich peinlich für euch werden, klar?“

Tyiasur stupste seinen Ziehvater ermunternd an, seine blauen Augen bohrten sich in dessen grüne.
 

Dhaôma war seinetwegen traurig? Warum? Weil er schon wieder Ziel von Anfeindungen wurde? Und reagierte er tatsächlich eifersüchtig? Er konnte Xaira einfach nicht ausstehen. Was war daran bitte Eifersucht?

Erneut erntete er einen Stoß in sein Gesicht. Mimoun war wohl zu lange eine Antwort schuldig geblieben. Mit einem abfälligen Geräusch wandte er sich an die Frau. „Aber fass dich kurz.“, verlangte er und wandte sich um, blieb außerhalb der Hörweite anderer wieder stehen.
 

„Komm du auch, Dhaôma, ja?“

Der junge Mann nickte und ließ sich von ihr hochziehen. Sie folgten Mimoun und Xaira schlug vor, noch ein wenig weiter zu gehen, um sich vielleicht hinsetzen zu können. Sie versprach auch, sich kurz zu fassen, während sie hinter ihrem Rücken die Augen rollte.

In einem kleinen Hain blieben sie schließlich.

„Setzt euch.“

Dhaôma tat, was sie verlangte. „Xaira, ist was nicht in Ordnung?“

„Das stimmt, hier ist etwas gewaltig verrutscht, aber das werden wir gleich grade rücken, also Geduld.“ Sie wandte sich an den Geflügelten. „Nimm Platz und beantworte meine Frage geradeheraus, ohne großartig nachzudenken oder zu lügen: Magst du Dhaôma?“
 

Zwar runzelte Angesprochener aufgrund der Absurdität diese Frage überhaupt zu stellen die Stirn, dennoch nickte er. „Ja.“, bekräftigte er seine Bewegung auch noch verbal.
 

„Wunderbar. Dhaôma, was sagst du dazu?“

Irritiert zuckte der Braunhaarige die Schultern. „Das weiß ich doch.“

Sie seufzte. Sie hatten keinen blassen Schimmer, worauf sie hinauswollte. „Dann also ganz von vorne. Sozusagen für Anfänger.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Mimoun. „Gerade eben hast du gesagt, du wärst verliebt, ist das richtig?“

Dhaôma presste die Lippen zusammen. Er wollte das eigentlich nicht noch mal hören. Zumindest nicht, bevor er sich an den Gedanken gewöhnt hatte und Mimoun von ganzem Herzen Glück wünschen konnte.
 

Hör auf, schrie etwas in dem Geflügelten. Hör auf in meinen Wunden zu stochern! Nur mühsam konnte er seine Wut im Zaum halten und die Worte herauspressen: „Was bezweckst du?“
 

„Ich will, dass er nicht mehr so verletzt aussehen muss. Ich will, dass er sich nicht mehr quälen muss!“, zischte sie und zeigte auf Dhaôma, die andere Hand in die Hüfte gestemmt. „Und ich will, dass du nicht mehr eifersüchtig auf mich sein musst.“

„Es ist gut, Xaira. Das musst du nicht tun.“

Sie fuhr herum. „Dhaôma, hast du eigentlich eine Ahnung, wie ich mich fühle? Jedes Mal, wenn ihr zusammen seid, dann tut ihr, als gäbe es nichts Natürlicheres auf der Welt, als euer Geflirte! Zärtlichkeiten, die nicht einmal unter Geschwistern normal sind, seht ihr als normal an. Ihr beobachtet den anderen mit einer Liebe, dass es einem eine Gänsehaut verursacht. Und hast du mir nicht gesagt, dass deine Liebe unerwie…“

„Hör auf!“, rief er dazwischen.

„Nein! Ich will nicht. Du liebst ihn. Er liebt dich! Warum könnt ihr das nicht begreifen? Ihr solltet das auch nicht von mir hören! Ihr solltet es euch selbst eingestehen, aber bei euch zweien wird das ohne Hilfe nie was!“
 

In seinem Kopf herrschte Leere. Erst war da Angst, dass etwas zerstört worden wäre durch ihre Worte. Dann Hoffnung. Doch jetzt nur noch Leere. Zu gerne hätte er Xaira ‚Du irrst dich.’ gesagt, aber der Einwurf seines Drachens warf ihn aus der Bahn.

„Leoni wollte, dass ihr es allein schafft diese Hürde zu überwinden, deshalb habe ich geschwiegen. Aber sie hat Recht.“, pflichtete Tyiasur der Frau bei.

Sein Blick suchte den aus braunen Augen. „Er kannte nicht einmal Freundschaft. Wie soll er Liebe begreifen, wenn es ihm niemand erklärt hat?“ Seine Worte waren leise, ziellos gesprochen und so, als wäre sein Freund nicht anwesend. Sein Blick wurde tieftraurig. „Ihr irrt euch.“
 

Auch bei Dhaôma hatte Xairas Wortschwall einen Hoffnungsschimmer ausgelöst, Freude war in ihm aufgekommen, Aufregung, ob das Wahr sein könnte. Und dann Mimouns Worte. Sie holten ihn auf den Boden der Tatsachen zurück und wiesen ihn zurück auf seinen Platz. Er war Mimouns bester Freund, stand immer an seiner Seite. Das würde sich nicht ändern, nicht wahr?

„Du kleiner…“, schäumte Xaira auf, doch Dhaôma stand auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Lass gut sein, ja? Setz ihn nicht mehr unter Druck.“ Er schloss kurz die Augen, dann wandte er sich an Mimoun. „Sie hat Recht. Und Leonie hat mir erklärt, was Liebe ist. Ich weiß also, was sie meint. Dennoch hat Xaira Recht. Zumindest im Bezug auf mich. Aber ich werde deiner Liebe nicht im Weg stehen. Ich werde…“
 

„Halt. Stopp.“ Mimoun griff einerseits nach Dhaômas Hand, unterbrach ihn so zusätzlich, mit der anderen griff er sich an den Kopf. Das musste er erst einmal verarbeiten. Leoni hatte es Dhaôma erklärt? Hatte der Magier es auch verstanden? Er behauptete das zumindest und schürte damit sowohl Hoffnung als auch Angst. Angst davor, wenn Dhaôma es falsch verstanden hätte und schließlich ein Mädchen finden würde, das er ernsthaft liebte. Könnte der Geflügelte es dann ertragen, seinen Freund gehen zu lassen? Alles zog sich bei diesem Gedanken in ihm zusammen.

„Vertrau seinen Gefühlen.“

Unsicher glitt der Blick der grünen Augen zu Tyiasur, der noch einmal bekräftigend nickte, und schweifte wieder zurück zu Dhaôma. Auf einmal war sein Hals trocken und er schaffte es nicht mehr, den Blickkontakt aufrecht zu erhalten. „Du…“ Zittrig holte er Luft. „Du würdest meiner Liebe nur im Weg stehen, wenn du mir dein Lächeln verwehren würdest.“
 

Der Schreck über den schnellen Einwurf verlor sich in der langen Phase, in der Mimoun nachdachte. Er sah so fertig aus. „Ich weiß.“, lächelte er. „Mach dir keine Sorgen, ich werde es nicht verlieren. Ich habe doch versprochen, an deiner Seite zu sein.“

Misstrauisch kniff die junge Frau die Augen zusammen, dann rieb sie sich über die Nasenwurzel. Wie konnte man nur so hart an jedem Ball vorbei schlagen, der einem zugeworfen wurde? War das jetzt nur eine sehr umständliche Art zu sagen, dass sie sich liebten, oder hatten sie es wieder nicht geschafft?
 

„Wirst du das wirklich?“ Seine Stimme war beinahe ein tonloses Flüstern. „Und wenn du jemand anderen findest? Jemand, der dir wichtiger sein wird als ich? Noch kann ich dich gehen lassen. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, nachdem du mir gehört hast. Ich habe Angst, Dhaôma. Ich bin nicht so stark wie du einst behauptet hast.“
 

Wichtiger als Mimoun? So etwas würde es niemals geben. „Mach dir keine Sorgen. Du musst nicht stark sein. Ich sagte doch, dass du bei mir auch mal schwach sein kannst.“

„Halt, halt.“ Xaira bekam immer mehr den Eindruck, dass es Mimoun zwar langsam aber sicher begriff, dass Dhaôma jedoch falsch abgebogen war. Er sah nicht so aus, als hätte er begriffen, dass seine Liebe erwidert wurde. „Mimoun, du musst es für ihn buchstabieren, sonst versteht er es nie. Oder soll ich hier ein wenig übersetzen? Mal ehrlich, redet doch endlich mal Klartext, ohne euch hinter irgendwelchen Vermutungen und Interpretationen oder Andeutungen zu verstecken.“

Beleidigt sah Dhaôma sie an. „Ich habe sehr wohl begriffen, dass ich ihm meine Unterstützung geben muss, damit er mit seiner Liebe glücklich sein kann.“

Von Xaira kam nur ein frustrierter, lauter Schrei.
 

„Erklär es mir.“, verlangte der Geflügelte mit einem Mal sehr ernst und ruhig. „Was ist Liebe?“
 

Ein Test? Natürlich wusste er es. Er hatte sooft darüber nachgedacht, wie Leoni es vorgeschlagen hatte. „Ein höher schlagendes Herz, wenn man denjenigen sieht. Das Gefühl der Zerrissenheit zu denken: ‚Er kommt morgen endlich zurück, warum nicht schon heute? Ich freue mich - ich bin traurig.’ Kleine Gesten, die einen glücklich machen. Das Gefühl der Freude, wenn derjenige lächelt. Eifersucht, wenn er mit jemandem redet, der ihn mag. Angst, dass er in anderen Armen liegt. Schmerz, wenn man sich zu überreden versucht, ihn bei einer Beziehung mit einer anderen zu unterstützen.“, betete er wirr herunter. „Oder habe ich das falsch verstanden?“
 

Müde glitt die Hand des Geflügelten vom Handgelenk seines Freundes. Mit einem resignierten Seufzen schloss er die Augen. Es stimmte zwar, was Dhaôma aufgezählt hatte, doch es klang so… auswendig gelernt.

„Dann wenden wir uns von der grauen Theorie ab und kommen zur Praxis. Kannst du irgendetwas davon auf mich anwenden, ohne es stur nachzuplappern?“ Noch immer sah Mimoun den Magier nicht an. Nur seine geballten Fäuste waren stumme Zeugen des winzigen Funkens Hoffnung, der erbittert ums Überleben kämpfte. Vertrau seinen Gefühlen, hatte Tyiasur ihm geraten. Hatte es etwa tatsächlich Anzeichen gegeben, die er einfach nur übersehen hatte?
 

Schlagartig rutschte Dhaôma das Herz in die Hose. Mimoun vermittelte ihm nicht den Eindruck, als wolle er, dass er ihm sagte, dass er ihn liebte. So abweisend war er sonst nicht. Normalerweise sah er ihn an. Normalerweise war er nicht so angespannt. Normalerweise lächelte er! Was sollte er tun? Hatte Xaira es jetzt kaputt gemacht? Hätte sie doch nur nichts gesagt!

Ein schneller Blick zu ihr und er machte einen Schritt zurück. Sie wartete genau wie Mimoun. Letztlich ließ er den Kopf hängen. Mimoun schätzte es nicht, wenn er ihn anlog. „Es tut mir Leid.“, flüsterte er. „Ja, kann ich. Ich habe gewartet. Seit Tyiasur gesagt hat, dass du kommst. Ich war furchtbar traurig, dass du schlafen musstest, obwohl ich es verstanden habe, obwohl ich dich selbst dazu überredet hätte. Ich war schrecklich einsam, bis du endlich angekommen bist, war rastlos und unruhig. Danach war es viel einfacher, Farben zu sehen oder fröhlich zu sein. Mein Herz schlägt jedes Mal wie wild, wenn du in einer Menge stehst und ausgerechnet mich ansiehst, oder wenn du mich wie selbstverständlich findest, obwohl ich nicht gekommen bin, um dich zu begrüßen. Dir mag es egal sein, aber mich macht es glücklich. Die Einfachheit, mit der du Dinge tust, ein Lächeln, ein Winken, wenn du an mich denkst - das ist etwas Besonderes. Deine Art, alles, was du anpackst, mit vollem Einsatz zu tun, dass du Fiamma so unvoreingenommen aufgenommen hast, ist eine wunderbare Eigenschaft, die ich über alle Maßen bewundere. Als du weggeflogen bist, wäre ich beinahe kaputt gegangen. Natürlich wusste ich, dass du zurückkommen würdest, aber das hinderte die Träume nicht, mich auch am Tage zu torpedieren. Egal wo ich hinsah, ich erwartete immer, dich zu sehen, obwohl ich genau wusste, dass es nicht sein kann. Das hat wehgetan. Ich konnte kaum atmen, als ich an Jadya dachte. Natürlich ist sie ein wundervolles Mädchen, natürlich hat sie dich verdient und ich werde euch auch nicht im Wege stehen, aber es piekst in mir und ich fühle mich elend.“ Tränen quollen aus seinen Augen und er wischte sie unwirsch weg. „Es tut mir Leid. Wirklich. Ich werde es nie wieder sagen. Ich steh dir nicht im Weg! Du musst auch keine Rücksicht mit mir üben, solange ich nur an deiner Seite bleiben kann.“
 

Noch immer war das Seelenleben des Geflügelten aufgewühlt, doch nun war nicht mehr Furcht das vorherrschende Gefühl. Tiefe Liebe und unendliches Glück wirbelten in ihm, nahmen ihm die Luft zum Atmen und Reden.

Also zeigte Tyiasur nach Einverständnis seines Reiters eine Erinnerung, diesmal aus der Sicht des kleinen Drachens, nicht aus der Mimouns. Dhaôma konnte sich selbst sehen, blass, in Felle gehüllt in einem Raum, der lang gesteckt war und nur aus Betten zu bestehen schien. Neben sich selbst konnte der Magier einen offensichtlich von Verzweiflung und Sorge erfüllten Geflügelten erkennen. Und klar und deutlich waren für ihn die Worte Mimouns zu vernehmen. „Du hast gesagt, du möchtest, dass ich glücklich bin. Das bin ich nur bei dir, nur durch dich. Nirgendwo sonst werde ich solches Glück finden, wie ich es an deiner Seite erfahren durfte. Du bist mein Leben. Dir gehören mein Herz und meine Seele, hörst du? Niemand sonst hat solche Macht über mich.“ Auch den darauf folgenden zärtlichen Kuss zeigte Tyiasur, bevor er die Erinnerung abbrechen ließ.

„Niemals habe ich erwähnt, dass Jadya für mich je eine solch große Bedeutung bekommt, wie du sie für mich hast.“, erklang in der Gegenwart die noch immer leise und unsichere Stimme Mimouns.
 

Braune Augen waren immer weiter geworden, dann war Dhaôma zusammengesunken, weil seine Knie sich in warmes Wachs verwandelt hatten. Sein Gesicht brannte. „Das hast du mir gesagt?“, fragte er atemlos. „Ich erinnere mich nicht daran. Dabei…“ Er verstummte. Das war so eine wichtige Botschaft, wie konnte er die vergessen?

Erst danach überschwemmte ihn das Begreifen und im gleichen Maße Glück. Mimoun liebte ihn? Ernsthaft? Wirklich? Wahrhaftig?

„Aber… du hast geweint, als ich dich geküsst habe! Leoni hat gesagt, dass Küssen dazu gehört. Ich dachte…“ Immer leiser werdend verstummte er. „Ich habe es wieder missverstanden, nicht wahr?“, fragte er geknickt.
 

„Du hast nicht zugehört. Auch du hast geweint, als ich zu Addars Insel zurückkehrte, nachdem…“, schüttelte Mimoun unwirsch den Kopf. „Tränen bedeuten nicht immer etwas Schlechtes. Sie können auch Freude symbolisieren.“
 

Unbemerkt zog sich Xaira zurück. Die beiden hatten es endlich geschafft. Sie war unendlich erleichtert, dass sie jetzt endlich überstanden war, diese heikle Situation. Und sie fühlte sich unendlich elend, weil sie ihre eigenen Chancen auf immer zerstört hatte. Wie blöd konnte man eigentlich sein?

Schweigend setzte sie sich neben Thenra, die ihrer Freundin sachte die Hand auf die Schulter legte. Kein Wort kam über ihre Lippen, aber dennoch schien die Alte Frau es genau zu verstehen. Diese einfache Geste hatte etwas ungeheuer Tröstliches.

„Du hast es ihnen also gesagt.“

Stumm kauerte sie sich zusammen und Thenra rieb sachte über ihren Rücken, stellte keine weiteren Fragen.

Das Haus im Wald

Kapitel 60

Das Haus im Wald
 

Tyiasur war der Nächste, der ging. Aber er zog sich nicht so weit zurück. Mit ein wenig Mühe erklomm er einen Baum und beobachtete von dort oben das weitere Geschehen.
 

Unsicher ergriff Mimoun die Hände seines Freundes, lächelte ein wenig schüchtern, während er sich neben ihn hockte. Vorsichtig strichen die krallenbewehrten Finger braune Strähnen aus dem feinen Gesicht.
 

Kleinlaut nickte Dhaôma. Er konnte es noch immer nicht recht fassen. Wie lange hatte er das jetzt auf dem Herzen und sich eingeredet, Freunde sein wäre genug? Dabei hätte er nur etwas sagen müssen. Ein bisschen Mut zeigen. Aber Mut, das war im Angesicht eines großen Verlustes und Risikos etwas relativ Unerreichbares für ihn. Immer schon gewesen.

Ein leises Lachen gluckerte aus ihm heraus, als er sich gegen Mimoun lehnte. „Entschuldige.“, murmelte er.
 

„Ich wüsste nicht, für was.“, erwiderte Mimoun leise. Kurz huschte Sorge über seine Züge, da Dhaôma wie gescholten aussah. Das war nicht seine Absicht gewesen. Dann lachte er leicht. Es war also alles wieder okay, oder?

Sanft zog er seinen Freund in die Arme und ließ sich zurückfallen. Jetzt war alles in Ordnung. Tiefer Frieden hatte den Geflügelten ergriffen und er schloss zufrieden seufzend die Augen.
 

Aber Dhaôma wurschtelte sich wieder heraus und setzte sich auf. „Dafür, dass ich es nicht verstanden habe. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, hast du es ziemlich oft gesagt, nicht wahr? Aber ich habe nicht verstanden, dass du das meinst. Dabei hat es mir Leoni doch extra erklärt.“ Er schüttelte den Kopf. „Trotzdem solltest du mit mir reden, wenn ich etwas nicht verstehe. Erklär es mir. So wie früher. Lass mich nicht im Dunkeln, nur weil ich etwas nicht weiß.“
 

Auch der Geflügelte setzte sich wieder auf, sah aber nicht Dhaôma an, sondern starrte ins Nichts. „Weißt du noch, wie lange ich gebraucht habe, um dir Freundschaft begreiflich zu machen?“ Es war eine rhetorische Frage und er ließ eine Antwort auch nicht zu. „Immer wieder habe ich es versucht und ich weiß nicht, ob du nicht wolltest oder nicht konntest, aber egal, was ich versuchte, du hast es nicht verstanden. Du hast es einfach so hingenommen, so wie es nun einmal deine Art ist.“ Unsicher rieben sich seine Finger aneinander. „Ich wusste nicht, wie ich dir da ein intensiveres Gefühl wie Liebe begreiflich machen konnte. Ich wollte mich nicht damit kaputt machen, immer und immer wieder gegen eine Wand zu reden, ohne Erfolg. Da war es mir lieber, wenn ich die Gefühle in mir verschließe, wenn ich die Zeit, die du mir an deiner Seite gewährst, in vollen Zügen genieße. Du nimmst immer Rücksicht auf andere, ohne deine eigenen Gefühle zu beachten. Ich wollte dich nicht an mich fesseln, weil ich befürchtete, du würdest darauf eingehen, nur um mich nicht zu verletzen. Aber das hätte mich schließlich innerlich zerrissen, das hätte mich kaputt gemacht. Ich konnte dieses Thema nicht ansprechen. Wie hätte ich es dir erklären sollen?“
 

Darauf wusste Dhaôma nichts zu antworten. Er spürte, dass Mimoun sich irgendwie quälte, aber gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass er aufgegeben worden war. Schwach hob er die Hand und strich seinem Freund über den schwarzen Schopf. „Ich weiß, dass ich nicht so klug bin, aber für später: Gib mich nicht auf, ja? Ich möchte doch lernen. Damit ich weiter an deiner Seite bleiben kann.“ Seine Lippen zogen sich zu einem Lächeln. „Ich gebe mir auch Mühe, damit du nicht kaputt gehst. Ich passe auf dich auf.“
 

Es war lange her, doch Mimoun beherrschte die Bewegung noch perfekt. Sein Fingerknöchel traf Dhaômas Stirn. „Wie kommst du darauf, dass du nicht klug bist?“, wollte er gespielt böse wissen. „Du hast allein den Weg zu den Drachen gefunden. Du beherbergst so viel Wissen über Pflanzen in deinem Kopf, von dem ich nicht die leiseste Ahnung habe. Du hast dir als erster Mensch überhaupt Gedanken zu diesem Krieg und seine durchführbare Beendigung gemacht. Ich möchte nicht, dass du dich schon wieder abwertest. Du hast nur nicht so viel Erfahrung im Umgang mit Menschen, aber dafür bin ich ja jetzt da. Darüber hinaus brauchst du dir keine Sorgen mehr machen, dass ich kaputt gehe. Du gehörst doch jetzt zu mir, nicht wahr?“ Der Blick der grünen Augen spiegelte noch einen Rest Unsicherheit.
 

„Ich denke schon.“, nickte Dhaôma und kicherte. „Ich kann einfach nicht glauben, dass es Xaira war, die das bewirkt hat. Sie war doch immer böse mit uns, aber trotzdem hat sie uns geholfen.“ Vorsichtig umarmte er den Schwarzhaarigen. „Wir müssen uns unbedingt bedanken, wenn wir sie das nächste Mal sehen.“ Dann verzog er das Gesicht und sah sich um. Ihm war vorher gar nicht aufgefallen, dass sie in einem Meer aus weißen Blümchen gesessen hatten. Aber es gefiel ihm. „Wir müssen nicht heute noch mal zu ihnen, oder? Ich wäre viel lieber mit dir allein bei dem Baum.“
 

„Was immer du dir wünscht.“, lächelte der Geflügelte sanft und erhob sich. Dabei duldete er es nicht, dass sich Dhaôma von ihm löste, was das Aufstehen ein wenig komplizierter machte. Kurz hob er den Arm, um Tyiasur Platz zu bieten, aber dieser wandte sich ab.

„Passt auf eure Kleider auf.“, war sein einziger Kommentar, als er sich vom niedrigsten Ast fallen ließ und Richtung Halblinge wuselte, sich zu dem anderen Drachen gesellte.

Kurz sah Mimoun seinem kleinen Gefährten nach und rieb seinen Kopf an Dhaômas. „Also konzentrier dich.“, bat er und stieß sich ab. Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Baumhöhle erreichten. Sofort nachdem er den Magier abgesetzt hatte, entledigte er sich seiner Hose, um sie zu schonen. Und da er nun unbekleidet war und auch die Temperaturen immer weiter zunahmen, lief er zwei Schritte Richtung Wasser, bevor er sich umwandte und Dhaôma lächelnd eine Hand entgegen streckte. „Komm.“
 

Konzentration war gut gesagt. Es fiel Dhaôma äußerst schwer, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Im Grunde genommen hatte sich zwischen ihnen nichts geändert, aber dennoch fühlte es sich irgendwie schöner an, mit Mimoun zusammen zu sein. Allein, dass er ihn nach so langer Zeit wieder trug, machte ihn schon unsagbar glücklich.

Und genauso folgte er ihm, griff die Hand und ging mit ihm zum zweiten Mal an diesem Tag zum Wasser. Immer wieder spürte er, wie seine Magie aus ihm herauströpfelte, aber alles, was er damit erreichte, war, dass Mimoun frischer wirkte. Als würde auch seine Magie sich einzig und allein auf Mimoun konzentrieren.

Der Fluss war kühl und ein wenig schlammig, aber es machte nichts. Kurz hielten sie Ausschau nach Krokodilen, aber seit einiger Zeit hegte Dhaôma den Verdacht, dass Lulanivilay sie ausgerottet hatte. Der Drache war auf seine Echsenverwandten nicht gerade gut zu sprechen gewesen.

Dhaômas Augen fanden immer wieder das Profil seines Schatzes, aber obwohl er ihm unglaublich viel mitzuteilen hätte, wusste er nicht, wo anfangen. Stattdessen kicherte er und fasste ihn fester.
 

Mimoun spürte die Magie, doch ebenso spürte er auch den wohltuenden Effekt. Beinahe machte es die Hitze um ihn herum erträglicher. Dennoch war ein Bad immer noch eine angenehme Alternative.

Es war seltsam. Etwas war verschwunden. Ein Druck. Ein Knoten in seinen Eingeweiden. Es war, als könnte Mimoun endlich wieder frei atmen. Er musste nicht mehr versuchen, seine Gefühle zu verbergen.

Es gab nicht viel zu sagen. Beide genossen die Nähe des anderen, ließen nicht zu, dass der Hautkontakt abbrach. Das Wasser umspülte sie ein wenig heftiger als sonst, aber auch das störte nicht die angenehme Stille, die sie umgab.

Mimoun verzichtete darauf, an diesem Tag noch auf die Jagd zu gehen, denn das Wenige, das Xaira am vergangenen Tag gebracht hatte, war bereits aufgebraucht. Es reichte, wenn Dhaôma seine überquellende Energie gebrauchte. In dem ehemaligen Garten, der schon bei der Flut verwüstet worden und auch der wilden Magie zum Opfer gefallen war, ließen sich noch Reste auftreiben, die durch die Macht des Magiers zu neuem Leben erwachten.

Am Abend kehrten die Drachen zurück. Nachlässig ließ Lulanivilay einen Korb fallen. Die beiden Freunde waren wohl auch jetzt nicht vergessen worden. Vielleicht sollte Mimoun doch über alles Vorgefallene hinwegsehen.
 

Auch den darauf folgenden Tag verbrachten die beiden zusammen. Sie redeten kaum, aber dennoch kam es ihnen vor, als wäre zwischen ihnen jeder Gedanke klar. In Dhaômas Hinterkopf murrte zwar eine Stimme, dass er dafür keine Zeit hatte, dass sie lieber langsam Vorbereitungen treffen sollten, aber es kümmerte ihn nicht. Zum ersten Mal dachte er, dass es ihm egal sein konnte, was mit der Welt geschah, solange nur Mimoun in Sicherheit war. Im nächsten Moment schalt er sich selbst dafür.

Am nächsten Morgen kehrten sie zu den Halblingen zurück. Xaira begrüßte sie mit einem Lächeln, das nicht so fröhlich aussah wie sonst.

„Wir haben noch einen Mitreisenden. Volta möchte mit.“, begann sie und zeigte auf einen jungen Mann, der auf sie zukam. „Er kennt jeden Winkel des Schlosses wie seine Westentasche, weil er früher eine Heidenangst vor den Benimmlehrern hatte. Und er kann sich gut verstecken.“ Sie presste die Lippen zusammen. „Außerdem wollen wir jemanden suchen, der noch in diesem Schloss sein sollte.“

Dhaôma nickte. „Alles, was du willst.“ Fest drückte er sie. „Danke, Xaira.“

„Sicher. Kein Problem.“ Ein leichtes Schulterklopfen und sie schob ihn von sich. „Es war einfach nicht mehr mit anzusehen.“
 

Es dauerte einen Moment. Mimoun betrachtete die Frau lange und ließ die Empfindungen, die er dabei hatte, auf sich wirken. „Ich kann dich immer noch nicht leiden.“, stellte er schlussendlich fest. „Ich fürchte, das hatte nichts mit Eifersucht zu tun.“ Seine nächste Reaktion musste gerade nach diesen Worten für alle überraschend kommen. Er verneigte sich vor ihr. Keine Andeutung, keine leichte Verbeugung, sondern richtig. „Ich danke dir. Für das, was du uns geschenkt hast. Für deine Hilfe, als ich ihn alleine ließ. Dafür, dass du uns auch weiterhin unterstützen möchtest.“
 

Es hatte zumindest den Effekt, dass sie rot wurde. Knallrot, was unter ihrem dunklen Teint ziemlich seltsam aussah. „Was machst du denn da? Was sollen die Leute von mir denken?“, zischte sie und schaltete auf wütend, um ihre Scham zu verstecken. Umsonst, wie sie feststellte, als Volta zu lachen begann.

„Sag schön, bitte, bitte, gern geschehen.“, kicherte er und sie wollte ihn treten. „Zier dich nicht so.“

Ihre Gesichtsfarbe vertiefte sich noch ein wenig mehr, als sie zornig wurde. „Verarscht mich nicht, ihr Wichte!“

In einiger Entfernung lief Grisu vorbei, der sie finster musterte, sich aber tunlichst von ihnen fernhielt.
 

Mimoun versuchte gar nicht erst zu verbergen, dass er die Situation amüsant fand. „Also dir kann man es wirklich nicht Recht machen.“, schlug er noch einmal in die Kerbe. „Als ich mich aufgeregt habe, hast du gemeckert, wenn ich mich bedanke, wirst du auch wütend. Wirklich. Was für ein Verhalten meinerseits wäre dir denn lieber? Ich werde mich bemühen, schließlich schulde ich dir ja noch was.“

Er spürte die feindseligen Blicke Grisus im Nacken, doch es brachte nichts, jetzt schon in Wunden zu stochern. Der Kerl brauchte einfach noch ein wenig Zeit. Also ließ der Geflügelte den jungen Mann erst einmal in Ruhe.

Aufgeregt klatschte er in die Hände, als ihm wieder etwas einfiel. „Juuro.“ Aufmerksam sah sich Mimoun nach dem Gesuchten um. „Wir hatten ihn ja gefragt. Ob er schon eine Antwort gefunden hat?“
 

„Hat er.“, stimmte Volta seiner statt zu. „Er sagte, er wolle etwas vorbereiten, bevor er gestern aufgebrochen ist. In spätestens fünf Tagen sollte er zurück sein.“

Dhaôma lächelte. „Dann werden wir jetzt Körbe flechten, die gemütlich sind und groß genug für euch. Auf Lulanivilays Rücken können nur zwei sitzen.“

Volta war begeistert. Der junge Mann war Feuer und Flamme wegen des neuen Plans, der es ihm ermöglichte, seine Schwester zu retten, also half er Dhaôma bei der Wahl des Samens und quasselte ihn unermüdlich zu. Der Grundkonsens war, dass diese Schwester so etwas Ähnliches wie telepathische Fähigkeiten hatte, weil der Magieranteil in ihr sehr hoch war. Sie hatte die Halblinge zusammengeführt, ihre Flucht organisiert und war zurückgeblieben, um sie zu decken.
 

Eine Zeitlang blieb Mimoun daneben stehen, um weitere wichtige Informationen zu erhalten, bald wandte sich seine Aufmerksamkeit dann Keithlyn zu. Sein Einverständnis, bei geringer Flughöhe allein üben zu können, nutzte sie voll aus. Mit aufmerksamen Blicken verfolgte er ihre Bahnen und nickte anerkennend. Das Kind lernte schnell. Man spürte deutlich den Ehrgeiz, den sie bei ihrem Training an den Tag legte.

Mimoun kam sich gerade ein wenig überflüssig vor. Noch würde er Keithlyn nicht in höhere Luftschichten lassen. Erst sollte sie mehr Ausdauer entwickeln. Zweitens könnte sich Grisu vielleicht ein wenig beruhigen. Lulanivilay lag nur wieder da und versuchte mit leichten Bewegungen des Schwanzes Insekten abzuwehren, während er die Menschen um sich herum beobachtete. Und Tyiasur blieb für den Notfall noch bei Dhaôma.

Missmutig verzog der Geflügelte das Gesicht. Gut. Würde er sich die exakten Informationen beschaffen, die sein Freund am Abend seiner Rückkehr nur angerissen hatte, und begab sich zu Ula, um sich Aufbau und Grundriss des Schlosses zeigen und erklären zu lassen.
 

Währenddessen legte Xaira einen umfangreichen Vorrat an getrockneten Früchten und geräuchertem Fleisch an, sorgte für Wechselkleider im Falle eines Unfalls mit Dhaômas Fähigkeiten und nähte Wasserschläuche. Nebenbei besserte sie ihre Peitsche und den Dolch aus, die sie bei einem eventuellen Kampf würde brauchen können.

Die Körbe waren schnell fertig. Einmal begriffen, wie groß sie sein mussten, ließ Dhaôma sie wachsen. Die restliche Zeit verwandten Dhaôma und Volta dazu, das richtige Polstermaterial auszusuchen, da es weder schwer noch juckend sein durfte. Ein paar Halblinge entwickelten dann eine stabile Konstruktion, die die Körbe an dem Haltegurt Lulanivilays befestigte, und weil es dem Drachen das Gleichgewicht durcheinander brachte, halfen sie auch gleich, das Geschirr zu optimieren.

Exakt fünf Tage später kam Juuro zurück. Der Mann trug einige exotische Felle, die er in abenteuerliche Kleider verwandelte. Mo half ihm dabei. So sah der ohnehin schon grobschlächtige Mann ziemlich ehrfurchteinflößend aus, gerade weil die Kleider seine Hanebitohälfte heraushob. Er meinte, nun sei er bereit. Die übrig gebliebenen Felle spendete er großzügig an seine Reisebegleiter. Immerhin war es kalt dort, wo sie hinreisen würden.

Dhaôma wurde in diesen Tagen immer unruhiger. Wie schon früher, wenn er das Gefühl hatte, nicht länger warten zu können, stand er hoch oben im Wind und starrte in die Ferne. Er wusste, dass seine Freunde es schwer haben würden in der Kälte, aber wenn sie wieder im Süden begannen, dann hätten sie zumindest vielleicht die Zeit auf ihrer Seite. Außerdem hätte er zu gerne wieder seidene Kleidung, denn diese blieb von seiner Zersetzung seltsamerweise verschont, wie ein letzter Rest in seinem Samenbeutel bewiesen hatte. Nur dazu müsste er nach Hause, um welche zu holen. Und ob er dann noch hineinpasste, blieb eine andere Frage. Immerhin war auch er während der Reisen gewachsen.

Er hatte begonnen, den Halblingen, eine solide Grundlage aus essbaren Pflanzen wachsen zu lassen, was einen großen Teil seiner Magie aufbrauchte. Das hatte gleich zwei Vorteile: er fühlte sich viel wohler inmitten seiner altbekannten Freunde, und er war nicht mehr das explosive Fass an Energie, das jederzeit Kleidung oder Pflanzen zerstörte. Dennoch blieb Tyiasur, um seine Magie einzukerkern, denn sonst regenerierte sie sich einfach nicht schnell genug, um den See aus Energie zu füllen.
 

„Es wird Zeit.“, murmelte Mimoun, als er auf der Anhöhe neben seinen Freund trat. Sein Blick glitt in die Richtung, in die ihr Weg sie führen würde. Unwohlsein und Unsicherheit erfüllten den Geflügelten. Nun würde sich alles entscheiden. Was auch immer geschah, es würde damit enden. Entweder kehrte endlich Frieden in diese zerrüttete Welt oder eines der Völker würde nicht mehr existieren.

Seine Finger suchten die von Dhaôma und verwoben sich mit ihnen. Relativ erfolgreich versuchte sich der junge Mann in einem aufmunternden Lächeln. „Lass uns gehen.“
 

Der Abschied gestaltete sich tränenreich und schwerfällig, bis Lulanivilay seine Geduld verlor. Mit einem unwilligen Knurren packte er Volta und Xaira mit je einer seiner Vorderpranken und startete durch. Dhaôma, der mit Juuro schon auf seinem Rücken saß, winkte lachend und rief eine Entschuldigung zurück, dabei war er eigentlich ganz froh über den Aufbruch. Es war fast Mittag. Liebevoll fuhr seine Hand über Lulanivilays Rücken, bevor er zu Mimoun sah, der sie schnell eingeholt hatte, nachdem er die Überraschung über den unvorhergesehenen Start überwunden hatte. Der Geflügelte war leicht und schnell, da zu der Last von vier Personen auch Tyiasur bei Dhaôma blieb, um die Körbe vor dem Abstürzen zu bewahren.

„Mimoun? Hilfst du den beiden in die Körbe?“
 

„Natürlich.“, gluckste Angesprochener. Das war mal wieder so typisch Lulanivilay.

Nacheinander ergriff der Geflügelte die beiden Anhängsel an den Händen, woraufhin sie von dem Drachen losgelassen wurden. Danach war es nur eine kurze Anstrengung, sie in ihre Körbe zu bugsieren. „Du hättest wirklich was sagen können.“, merkte Mimoun an und rollte sich Kapriolen schlagend in guter Laune wieder einmal über den Drachen und seine Last hinweg. „Das würde manche Sachen wesentlich vereinfachen.“
 

„Es hätte Zeit gekostet.“, war die einfache Antwort. Wahrscheinlich war es dem großen Grünen einfach zu lästig gewesen, das durchzudiskutieren.

Die Reise diesmal war wesentlich anstrengender als früher. Sie hatten ein Ziel und Zeitdruck und Anhängsel, die alles verkomplizierten, weil sie zu allem eine durchdachte Meinung hatten. Dass sie Zwischenstation bei den Magierdörfern machen wollten, passte weder Xaira noch Juuro, aber am Ende setzte Dhaôma sich durch. Er und Mimoun ließen die beiden Halblinge zurück und nahmen lediglich Volta mit, der sich aufgeregt an Dhaôma klammerte, da er sich auf dem Drachen bei weitem nicht sicher fühlte. Aber er war neugierig auf die Magier.

Als sie auf dem Marktplatz landeten, sanft und ohne etwas zu zerstören, waren sofort diejenigen da, die sie das letzte Mal schon kennen gelernt hatten. Zwei junge Männer und der Sprecher der knapp tausend Seelen großen Stadt begrüßten Dhaôma und Mimoun wie Ehrengäste und auch die Drachen wurden ehrerbietig angesprochen. Die Eröffnung, sie hätten wenig Zeit und müssten viel besprechen, öffnete ihnen die Tore in eine große Scheune, in die auch Lulanivilay hineinpasste. Mit etwa zwanzig Magiern und den drei Freunden an einer großen Tafel entwickelte sich das Gespräch sehr schnell in die Richtung Halblinge und Krieg. Wie erwartet trafen sie auf Unglauben und danach auf Bestürzung. Aber auch die Magier hatten erschreckende Neuigkeiten. Aus dem Kriegslager war Befehl ergangen, ein Auftauchen der Drachenreiter sofort der neuen Einheit zu melden, die wie vor vierhundert Jahren Jagd auf Drachen machte. Und der Anführer dieser Einheit war niemand anderes als Radarr en Finochinu en Regelin.
 

„Das ist ein Witz, oder?“ Mimoun hatte sich ruckartig erhoben und bebte vor Zorn.

Man versicherte ihm sofort, dass es sich nicht um einen schlechten Scherz handle und Tyiasur bestätigte ihm das, als er die Magier noch immer ungläubig musterte.

„Weiß dieser Kerl eigentlich, wen er da verfolgt?“

Man bestätigte ihm, dass dieses Wissen verbreitet worden war, und kraftlos ließ er sich zurücksinken. Zwar wusste der Geflügelte, dass sich diese Geschwister nicht wirklich verstanden, dennoch waren sie verwandt. Mimoun war es absolut unbegreiflich, wie man Jagd auf seinen eigenen kleinen Bruder machen konnte. Hing dieser Magier etwa so sehr an Krieg, Gewalt und Tod, dass er sogar seinem Blut schaden würde?

„Was werdet ihr jetzt tun?“, wollte er völlig ruhig von den Anwesenden Dorfbewohnern wissen. „Was würde euch drohen, sollte ein Verschweigen unserer Anwesenheit herauskommen?“
 

Die Anwesenden zuckten mit den Schultern. „Wir können es nicht verschweigen. Wir können nicht tausend Menschen ununterbrochen überwachen, zumal in jedem Dorf und jeder Stadt Späher einquartiert wurden. Im Grunde hätten wir euch gerne gewarnt, aber wir wussten ja nicht, wo ihr euch befindet.“

„Das ist auch nicht nötig.“, mischte sich Dhaôma ein. „Radarr ist kein Problem. Das war er noch nie.“ Es war nicht so, als hätte Radarr ihn jemals ernst genommen. Das hatte sich mit Sicherheit auch noch nicht geändert. „Dennoch sind wir auf eure Hilfe angewiesen, das Wissen über die Halblinge und den Krieg weiterzuverbreiten.“

„Das werden wir tun.“, versprach der Sprecher und sah zweifelnd auf den Magier vor sich, um den das Korn ansehnlich hoch geworden war. „Was wirst du wegen Radarr unternehmen?“

Die Situation war beinahe komisch. Gegen seinen Bruder hatte er seit Jahren nicht mehr bestehen müssen. Das letzte Mal mit sieben. Woher sollte er also wissen, was er gegen ihn unternehmen konnte? „Das entscheide ich, wenn es soweit ist.“, beschloss er, während vor ihm eine blutrote Mohnblume ihre Blüte entfaltete. „Bis dahin: Die Einzelheiten zu den Hintergründen des Krieges stehen in diesem Brief. Vervielfältigt ihn und gebt ihn weiter.“

Die zwanzig Magier waren deutlich verwirrt, als sie wieder verschwanden. Wahrscheinlich waren diese Neuigkeiten ein bisschen zuviel für die konservativen Gemüter. Oder Dhaômas Tauschangebot, ein exotisches Fell gegen kalte Seidenkleider, hatte sie völlig überfahren. Volta war dafür begeistert, weil er gesehen hatte, dass Magier durchaus nicht nur schlecht waren, und sie ihm während seiner ganzen Geschichte aufmerksam gelauscht hatten.

Kaum waren sie am Stadtrand, kleidete sich Dhaôma um. Es waren nicht seine üblichen Kleider in hellgrün und rot, stattdessen hatte man ihm dunkelblaue Seide mit weißen Stickereien überlassen – eine reiche Farbe. Das würde sicher Eindruck machen, wie sie es ihm prophezeit hatten, als sie sie ihm geschenkt hatten. Das Fell hatten sie nicht einmal annehmen wollen. Er würde es brauchen, wenn sie nach Norden kämen. Außerdem hatten sie darauf bestanden, ihm Schuhe zu geben, etwas das er schon sehr lange nicht mehr getragen hatte. Zufrieden betrachtete er sich. Es war phantastisch, endlich wieder dieses unglaublich weiche Gefühl auf der Haut zu spüren. Es ging einfach nichts über Seide!
 

„Gut siehst du aus.“ Starke Finger glitten über den Stoff an Dhaômas Bauch. Weich, anschmiegsam. Genau passend für seinen Magier. Es war lange her, dass Mimoun seinen Freund in solchen Gewändern gesehen hatte. Zumindest in welchen, die nicht zerrissen und geflickt waren.

Warum auch immer. Ihm kam die Erinnerung an die Kinder wieder hoch, wie sie Dhaôma für ein Mädchen gehalten hatten, nur aufgrund der weichen Kleider und Haare. Mit einem Kichern ordnete er die braunen Haare und wandte sich schließlich ab. „Na kommt. Lasst uns die anderen abholen.“
 

Xaira war deutlich erleichtert, als sie wieder bei ihr waren. Sie hatte sich Sorgen und Vorwürfe gemacht, weil sie nicht bei ihnen geblieben war, auch wenn Juuro sie mit Worten beruhigen wollte. Sie umarmte Dhaôma, bevor sie ihn von sich schob und pfiff. „Tolle Kleider.“, meinte sie. „Seide habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen.“

„Das geht nicht kaputt.“, nickte er und kicherte. „Ich habe sie begeistert, weil sie das Korn nicht mehr in die Scheune tragen mussten. Es wuchs direkt dort.“

Die junge Frau rollte mit den Augen. „Was ist bei eurem Gespräch herausgekommen?“

„Sie helfen uns.“, antwortete Dhaôma und lächelte. „Wollen wir weiter?“

Volta starrte ihn an. „Das ist alles? Dhaôma, da waren Unmengen an Informationen! Die müssen sie doch erfahren. Was ist mit deinem Bruder?“

„Der ist mein Problem.“

„Bruder?“

„Radarr jagt ihn. Er will die Drachen töten.“

„Das kann er nicht.“ Und plötzlich sah Dhaôma nicht mehr so lieb aus. Seine Augenbrauen trafen sich fast und seine Fäuste waren geballt. „Ich werde niemals zulassen, dass irgendjemand wiederholt, was die Magier vor Jahrhunderten zum Spaß gemacht haben! Niemals! Eher werde ich zum Mörder!“
 

„Und ich lasse nicht zu, dass du deine Hände mit Blut besudelst.“ Unnachgiebig zwang der Geflügelte die Fäuste sich zu öffnen. „Das ist meine Aufgabe.“ Niemals sollte Dhaôma einen Menschen töten. Wenigstens er sollte unschuldig bleiben.
 

„Es ist nicht so, dass ich es will, aber du kennst meinen Bruder nicht. Dagegen ist Silia ein Schoßfenra.“ Beruhigend streichelte Dhaôma über Mimouns Wange. „Pass einfach auf, dass du nicht in die Nähe seiner Magie kommst, ohne Tyiasur dabeizuhaben, oder in die Nähe seiner Hände, solange du nicht weißt, zu was er fähig ist. Er ist nicht umsonst schon mit Sechzehn ein Anführer bei den Soldaten gewesen.“
 

Prüfend ruhte der Blick der grünen Augen auf dem Magier. Ganze Szenarien spielten sich unter den schwarzen Zotteln ab. Vor allem solche, die Vorbereitung betreffend. Wenn Radarr tatsächlich so gefährlich war, sollte er wohl lieber ernsthafter mit dem Bogen trainieren. Geschwindigkeit und Ausdauer übte er in Lulanivilays Anwesenheit ausreichend, doch das ließ sich noch steigern.

Mimoun schloss vertrauensvoll die Augen und lehnte sich leicht in die streichelnde Berührung. „Versprochen.“

„Hört auf zu turteln, wir haben zu tun.“

Der Geflügelte schenkte der Frau einen bitterbösen Blick. Wieso musste sie immer Recht haben? Und warum musste sie es auch immer heraushängen lassen?

„Was tun wir?“, wollte er ohne weiteren Kommentar in ihre Richtung von dem Magier wissen. „Wir müssen weitere Magiersiedlungen aufsuchen, um ihre Geschichte zu verbreiten, aber zeitgleich geben wir Radarr damit Hinweise über unsere Reiserichtung und Geschwindigkeit. Zwar sind wir schnell, aber wir wissen auch nicht, wo er sich derzeit aufhält. Ich würde eine Begegnung mit ihm lieber vermeiden.“ Auch um Dhaôma ein möglicherweise böses Ende zu ersparen.
 

Dhaôma sah ihn an. Um die Dörfer und Städte der näheren Umgebung kümmerten sich die Magier selbst, also mussten sie es nicht überstürzen und konnten getrost ein wenig weiter fliegen, um einen weiteren Ort zu besuchen. „Können wir nicht hin und her fliegen? Also unvorhersehbar, meine ich. Keiner sagt, dass wir die Städte besuchen müssen, die wir schon kennen. Die Geschichte wird sich auch so verbreiten, weil es Zeitungen gibt.“

„Was ist denn Zeitungen?“, wollte Xaira wissen.

„Nie gehört? Das sind Schriften, die über eine Woche oder einen Monat berichten. Wichtige Dinge stehen da gerne mal drin.“ Dann seufzte er. „Am liebsten würde ich direkt in die Hauptstadt fliegen. Vielleicht kann ich mit Radarr reden, bevor seine Leute da sind, um ihm Unterstützung zu geben.“ Unglücklich sah er in den Wald. Wenn er daran dachte, wieder nach Hause zurückzukehren, wurde ihm ganz anders. Dieser Ort war definitiv mit schlechten Erinnerungen behaftet.

„Schlechte Idee.“, schüttelte Volta den Kopf. „Wenn ich das richtig verstanden habe, ist dort auch das zentrale Lager der Armee, richtig? Also gehen wir dort erst hin, wenn wir eine Armee auf unserer Seite haben. Alles andere wäre Selbstmord.“
 

„Wir haben notfalls eine Armee. Die Geflügelten ließen sich da wahrscheinlich schnell überreden, aber das ist kaum eine Alternative. Es wäre nur weiteres unnötiges Blutvergießen. Und Magier ständen uns wahrscheinlich nur die zur Verfügung, die für den Krieg nicht zu gebrauchen sind, also keine Kämpfer.“ Unnachgiebig schüttelte Mimoun den Kopf. „Wir müssen erst die Wurzel allen Übels vernichten, bevor wir den Hass der Völker komplett beseitigen können. Dazu müssen wir beide Seiten zumindest davon überzeugen, eine Weile die Waffen schweigen zu lassen. Und Radarr scheint offensichtlich der falsche Ansprechpartner dafür zu sein. Ihn und seine Leute sollten wir vorerst meiden.“ Nun wandte er sich wieder dem Magier in ihrer Mitte zu. „Alles in Ordnung?“ Mimoun war der Blick Dhaômas nicht entgangen. Nun waren es seine Finger, die Kontakt zu fremden Wangen suchten. „Du musst das nicht mehr allein bewerkstelligen.“
 

Ja, sicher. Aber man hatte ja gesehen, dass trotzdem alle kämpfen wollten. Volta wollte eine Armee, Mimoun bezeichnete die Hanebito als solche, die Menschen wurden nach Kämpfer oder Schwächlinge eingeteilt.

„Kein Kampf.“, entschied der braunhaarige Magier und entspannte sich willentlich. „Wie immer – jeder Kampf oder Streit wird umgangen und vermieden. Wir hetzen auch niemanden auf, verstanden? Die Halblinge sind nicht alle böse. Sie wurden nur falsch erzogen. So ist das mit vielen Menschen auf der Welt und man kann sie nicht alle töten deswegen.“

„Wie willst du deine Feinde sonst vernichten.“

„Gar nicht. Langsam solltest du das wissen.“

„Aber das ist Tagträumerei!“, ereiferte sich Volta. „Versteh doch, dass ohne Gewalt ein schneller Frieden nicht möglich ist!“

„Mit Gewalt wird Frieden niemals möglich.“, schüttelte Dhaôma den Kopf. „Entweder Frieden oder Gewalt. Auch wenn der Frieden durch Worte länger dauert.“

Xaira lächelte, dann klopfte sie Volta auf die Schulter. „Essen wir was, dann beruhigen sich auch die Gemüter. Es ist alles schon vorbereitet. Und währenddessen könnt ihr uns erzählen, was ihr sonst noch herausgefunden habt.“

Sie setzten sich im Kreis auf den Boden und Dhaôma berichtete von den Magiern, die erzählt hatten, dass sich viele Untergrundbewegungen gebildet hatten, die Deserteure versteckten und beschützten, wenn sie nicht mehr kämpfen wollten. Überall verschwanden Soldaten oder begabte Kinder, um sie vor dem Krieg zu bewahren. Die Einheimischen weigerten sich häufig, Soldaten in ihren Häusern übernachten zu lassen, und jagten einzelne, aufhetzerische Menschen aus der Stadt. Es gab eine Flut von jungen Pionieren, die von Frieden und Drachenkriegern erzählte. Dagegen stand im Grunde nur die Drachenvernichtungsstaffel, die Dhaômas Bruder anführte, und die forcierte Rekrutierung neuer Soldaten, die nicht so gut vonstatten ging, wie sich die Armee das erhoffte. Natürlich war der Hass nicht einfach ausgelöscht worden, aber der Konsens, dass neue Morde die Toten nicht zurückholten und dass man es einfach mal versuchen wollte, die Hanebito anders zu sehen als als Monster, überlagerte jene, die nach Vergeltung schrieen.

Sie erzählten auch, dass die Magier die Geschichte der Halblinge verbreiten würden, dass sie es kaum glauben konnten und dass es eine gute Entscheidung gewesen war, Volta mitzubringen, da er sie beinahe gleich überzeugt hatte. Allerdings wollte man nicht glauben, dass Magier und Hanebito gezwungen wurden, Kinder miteinander zu haben. Das kam den Magiern doch etwas komisch und an den Haaren herbeigezogen vor.

Etwas später machten sie sich auf den Weg. Xaira und Juuro hatten entschieden, dass sie in der nächsten Stadt dabei sein würden.

Als sie am Abend unter einem großen Baum übernachteten, zog Dhaôma seinen Freund ein wenig beiseite. Wortlos umarmte er ihn, suchte Wärme und Überzeugung in dessen Anwesenheit. Er wollte nicht reden, sondern einfach ein wenig Zeit nur mit ihm. Es war einfach nicht das gleiche, wenn so viele dabei waren.
 

Nicht nur Arme schlangen sich um den schmalen Leib. Die ledernen Schwingen schlossen zumindest optisch ihre Umgebung aus.

„Hey. Mach dir keine Sorgen.“ Langsam schob sich eine Hand den Rücken des Magiers hinauf und begann seinen Nacken zu kraulen. Sanft berührten die Lippen des Geflügelten die Stirn seines Freundes. „Wir werden den Krieg friedlich beenden. Die einzige Gewalt, die wir ausüben, ist unsere Verteidigung.“ Er suchte sich eine bequeme Stelle auf dem kargen, kalten Boden und zog Dhaôma auf seinen Schoß. Beruhigend strichen seine Finger immer wieder den Rücken des anderen entlang.

Es musste nichts weiter gesagt werden und sie genossen die Stille und Zweisamkeit, die sie umgab. Eng umschlungen schliefen sie schließlich ein. Nur wenig später suchten auch die Drachen ihre Nähe.

Dem natürlichen Ablauf folgend, war Dhaôma als Erster wach und weckte nach und nach die anderen, damit sie ihre Reise fortsetzen konnten. Noch einmal überflogen sie die Magiersiedlung, die sie am Vortag besucht hatten und änderten die Richtung, folgten nicht mehr der Route, die sie im Herbst zu den Halblingen geführt hatte.
 

Bald befanden sie sich direkt im waldigen Land der Magier. Niemand konnte vorhersagen, in welchem Städtchen sie Zwischenhalt einlegten, aber sie flogen über jede Stadt, die sie sahen, hinweg, um präsent zu sein.

Dann landeten sie auf einer Lichtung, um zu übernachten, wie sie es oft taten, damit Lulanivilay leichter starten konnte. Das Haus und dessen Bewohner bemerkten sie erst, als sie ihnen ganz plötzlich gegenüberstanden. Es waren viele, dabei war das Haus nicht besonders groß. Und sie hatten jedes Alter von sechs bis über sechzig. Ganz schnell überflog Dhaôma sie. Vielleicht acht Kinder, vier Jugendliche, zwölf auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, fünf in ihren Mittdreißigern und zwei Alte. Ach, und ein Baby, das in den Armen einer jungen Frau schlummerte. Und sie alle starrten sie mit großen Augen angstvoll an.

„Friede sei mit euch zwischen Himmel und Wasser.“, winkte Dhaôma schüchtern und Volta grinste breit.

„Wenn ihr nicht wollt, dass wir hier sind, gehen wir selbstverständlich wieder.“, fügte Xaira an. „Aber wir würden es sehr schätzen, wenn wir über Nacht auf dieser Lichtung bleiben könnten.“

„Wow, lauter komische Leute!“, rief eines der Kinder begeistert. „Schau mal, der da sieht aus wie ein Hanebito!“

„Ja, und die sehen aus wie Moira.“, sagte ein anderes Kind und plötzlich sah es gar nicht mehr so ängstlich aus, sondern mehr wütend. „Geht weg! Moira bekommt ihr nicht!“
 

‚Sieht aus wie ein Hanebito.’ Also wirklich. Er war doch ein Paradebeispiel.

Mimoun hielt sich im Hindergrund dicht bei Lulanivilay. Magier fürchteten sein Volk im Allgemeinen und sie sahen derzeit auch so aus, als hätten sie Angst. Die Frau mit dem Baby verschwand gerade im Haus. Die Haltung der anderen wirkte angespannt. Der Geflügelte wollte ihnen keinen Grund geben, ihn zu fürchten, dennoch antwortete er dem Kind in der sanftesten Tonlage, die ihm möglich war.

„Wir wollen Moira nicht. Wir wollen uns hier nur ein wenig ausruhen. Wenn ihr gestattet, natürlich.“
 

Um Dhaôma begannen wieder einmal Blumen zu wachsen, als Tyiasur prüfte, ob sie in Gefahr schwebten. „Sie sehen aus wie Moira?“, fragte er und betrachtete seine Freunde, bevor er plötzlich leuchtende Augen bekam. „Ist sie etwa auch ein Halbling?“

„Wer bist du?“ Einer der Jugendlichen trat vor, in der Hand ein Stock. Er war groß und breit gebaut und definitiv ein Magier, der Feuer beherrschte. Unter seiner Kleidung konnte Dhaôma das Zeichen leuchten sehen und die Luft um ihn herum war ein wenig wärmer.

Langsam entspannte er sich. „Mein Name ist Dhaôma en Finochinu en Regelin. Ich bin Drachenreiter und auf dem Weg in die Hauptstadt, um dort die Wahrheit zu verbreiten und Frieden zu schaffen. Diese Leute sind meine Freunde. Mimoun ist ebenfalls ein Drachenreiter. Sein Drache ist der kleine Blaue und heißt Tyiasur. Lulanivilay heißt der große Grüne. Er ist ein netter Geselle, wenn man ihm nicht auf die Nerven geht. Und diese drei hier sind Xaira, Volta und Juuro, die uns helfen wollen, Frieden zu schaffen.“ Sein Ausdruck wurde ein wenig weicher, als er den Jungspund betrachtete, der jetzt gar nicht mehr so angriffslustig aussah. „Du bist ein kluger Junge, dass du es geschafft hast, der Armee zu entkommen. Seid ihr alle Menschen, die dem Krieg ausweichen und sich verstecken, um nicht eingezogen zu werden? Ist Moira ein Halbling, den ihr vor den Magiern versteckt, damit sie sie nicht töten?“

Die junge Stirn legte sich in Falten, aber es war ein Mädchen, das neben ihn trat. „Du bist ein Spion, gib es zu! Du bist hier, um uns alle…“

„Nein.“, schüttelte Dhaôma den Kopf.

„Wartet mal.“, unterbrach sie einer der älteren Männer. „Seht mal, er ist ein Heiler. Vielleicht kann er Marvin helfen.“

„Du willst Marvin einem Magier ausliefern, der behauptet, ein Drachenreiter zu sein?“

„Sind die Drachen nicht Beweis genug?“, fragte er und dann nickte er zu den Neuankömmlingen hinüber. „Erinnerst du dich an den Aufruf, den Bruder des Generals zu fangen? Er da hat den gleichen Namen wie der General. Wenn er von ihm ebenfalls gesucht wird, dann sollte er für uns keine Gefahr darstellen, nicht wahr?“
 

„Und von ausliefern kann doch keine Rede sein, wenn ihr dabei seid, nicht wahr?“, mischte sich Mimoun vorsichtig ein. „Vielleicht sollten wir uns um ein Problem nach dem anderen kümmern. Wenn das mit Marvin etwas Schwerwiegendes ist, sollte das als erstes behandelt werden. Dhaôma ist ein Heiler, wie ihr ja bereits festgestellt habt.“ Der Stock des Feuermagiers war wieder ein wenig in die Höhe gewandert, als sich der Geflügelte zu Wort gemeldet hatte. Mimoun probierte sich in einem kurzen Lächeln. Diese Reaktion war verständlich, schließlich waren sie Magier und damit offiziell Feinde seines Volkes.

„Ich bleibe auch draußen und rühre mich nicht vom Fleck.“, bot er an und hob zum Zeichen der Beschwichtigung seine Hände.

„Es ist nichts, was nicht auch so wieder heilen würde.“, bekam der Geflügelte als Antwort präsentiert. Verstehend nickte er. Gut. Dann halt später.

„Gut. Dann das nächste Problem.“, nahm Mimoun das Gespräch weiter in die Hand, denn er war müde und wollte eigentlich schlafen. Aber so wie es schien, würde es noch dauern. „Ihr wisst nicht, ob ihr uns trauen könnt.“ Kurz seufzte er. „Verständlich. Ihr versteckt euch hier, nicht wahr? Aber mal im Ernst. Welchen Grund hätten ein Magier, ein Geflügelter, Drachen und Halblinge gemeinsam durch die Welt zu reisen?“
 

Sie sahen einander an. Ob sie wollten oder nicht, sie mussten Mimoun Recht geben.

„Warum lässt du Pflanzen wachsen, obwohl es nicht sein müsste?“, wollte einer der Erwachsenen wissen. „Kannst du deine Magie nicht kontrollieren?“

Zerknirscht zuckte Dhaôma mit den Achseln. „Doch, eigentlich schon, aber seit einiger Zeit läuft die Energie einfach aus.“

„Dann ist es sowieso nicht sicher, wenn du deine Hände an Marvin legst.“, entschied der Mann, doch mischte sich eine der jüngeren Frauen intervenierend ein.

„Als ob es irgendwas ändern würde. Ein paar Pflanzen neben Marvins Bett hin oder her. Er hat seit Tagen Bauchweh, wenn jemand ihm diese Qualen nehmen kann, dann wäre es das Risiko auf jeden Fall wert!“

„Tyiasur?“

„Keiner weiß, was die Bauchschmerzen auslöst, aber dem Jungen geht es ganz und gar nicht gut, er hat Fieber und ist schwach.“, erklang es in Dhaômas Gedanken.

In dem Moment kam die Frau auf ihn zu. „Heiler, Pflanzenformer, Drachenreiter. Beeindruckende Laufbahn.“, stellte sie fest. „Ich habe schon von dir gehört. Du bist der, der die Magier zum Frieden aufruft, nicht wahr?“

Dhaôma nickte. „Wäre es nicht sinnvoll, dem Jungen schnell zu helfen?“, fragte er. „Ihr mögt mir nicht vertrauen, aber ihr könnt euch sehr wohl verteidigen, wenn es euch darauf ankäme, nicht wahr? Und Moira ist doch auch ein Halbling? Wird sie nicht erfreut sein, einige ihrer Leute kennen zu lernen? Oder einen Hanebito, der ja immerhin ein Teil ihres Lebens ist?“

Die Frau lachte. „Du hast ganz schön starke Augen, Dhaôma. In Ordnung, komm mit. Mein Bruder braucht endlich einmal Ruhe im Schlaf, sonst wird er niemals wieder gesund.“ Und mit ein paar Worten an die anderen, führte sie Dhaôma ins Haus, während alle anderen draußen blieben.

Rebellen

Kapitel 61

Rebellen
 

Sie begegneten niemandem. Die Frau mit dem Baby war verschwunden, Moira sah er auch nicht, dafür hockte in einer Ecke eine Katze mit vielen Welpen. Sie sah ihn verschlafen an.

Das Kind war vielleicht zwölf und blass wie der Tod. Dhaôma beeilte sich, um zu ihm zu kommen, legte fast sofort seine Hand auf den Bauch und den Kopf. Die Frau sagte noch irgendwas, aber er war schon zu tief in dem Jungen drin, um sie noch zu verstehen.

Niemals hatte er etwas Vergleichbares geheilt. Der Darm des Jungen hatte sich einmal um sich selbst gedreht und war schrecklich aufgegast und geschwollen. Viel des Organs war bereits am Absterben und es war sicherlich allerhöchste Zeit, etwas zu unternehmen. Allein das Zurückdrehen des Darmes mittels Magie war ein beinahe unmögliches Kunststück. Wie sollte er das schaffen? Er konnte doch nichts bewegen! Dann kam ihm ein Einfall: Er konnte Wasser bewegen. Also zog er soviel Wasser, wie der schmale Körper entbehren konnte, in die Bauchhöhle und versetzte dort alles in Schwingungen, bis der verknotete Darm sich löste. Anschließend war es nicht mehr ganz so schwierig. Zwar verbrauchte es eine ganze Menge Energie, den Darm soweit wieder funktionstüchtig zu bekommen und das Gift aus dem Blutkreislauf zu filtern, aber letztendlich konnte er seine Magie zurückziehen. Zum wohl hundertsten Male war er glücklich über Lulanivilays Hilfe, denn ohne ihn wäre der Junge verloren gewesen.

„Ich denke, er braucht nur noch ein wenig Zeit, um aufzuwachen.“, sagte er schließlich und ließ sich auf den Boden sinken. Eines der Katzenbabys krabbelte auf seinen Schoß und zog ein paar Fäden aus der Seide, was er lachend unterband.

Die blonde Frau seufzte. Sie hatte das ganze kritisch beobachtet und war zunehmend erleichtert gewesen, als die Farbe in die Wangen ihres Bruders zurückgekommen war. Und nun saß dieser junge Mann auf dem Boden und versuchte einem Katzenbaby zu erklären, dass es seine Kleider nicht kaputt machen sollte. Was sollte sie von ihm halten? „Danke.“, sagte sie.

„Ich finde es erstaunlich.“, bemerkte der Braunhaarige da und sah sie an. „Egal wo ich hinkomme, immer ist irgendjemand krank und obwohl mir niemand vertraut, gewinne ich durch eine Heilung das Vertrauen aller. Meinst du, mir wurde die Gabe deshalb gegeben, damit ich es leichter habe, mit den Menschen zu reden?“

Sie blinzelte. Was fragte er sie das? Meinte er nicht, dass es negativ war, wenn er ihr eine solche Tatsache unterbreitete? Aber er wirkte nicht so, als meinte er es irgendwie verdreht oder als erwarte er eine Antwort von ihr. Im Gegenteil, er beschäftigte sich wieder mit der Katze. Letztlich begann sie zu lachen. „Komm, wir holen deine Freunde herein. Es wird immer noch frisch draußen, wenn es dunkel wird.“
 

Kurz sah Mimoun seinem Freund dabei zu, wie er im Haus verschwand, dann wandte er sich entschieden ab und befreite mit Hilfe von Juuro Lulanivilay von seinem Geschirr. An den Stellen, an denen das Geschirr gesessen hatte, verpasste der Geflügelte dem großen Grünen eine kurze Kraulmassage, bevor er sich selber aus der Lederrüstung schälte.

„Ist das nicht ein wenig leichtsinnig?“, fragte eine misstrauische Männerstimme hinter ihm.

Mimoun wandte sich zu dem Sprecher um, konnte ihn aber nicht ausmachen, kannte er doch weder die Menschen noch ihre Stimmen. „Ja. Manche würden es wahrscheinlich als Leichtsinn ansehen.“, lächelte der Geflügelte amüsiert. „Ich nenne es Vertrauen. Ich vertraue einfach mal darauf, dass ihr mir nicht schaden wollt.“ Nicht, dass ihn das dünne Ding in irgendeiner Art beschützt hätte. Mimoun hatte das Zeichen des Jugendlichen ebenfalls durch die Kleidung schimmern sehen. Und auch wenn er es nicht direkt erkannt hatte, so wusste der Geflügelte durch Fiamma, was sich dort verbarg. Auf diese Entfernung hätte das üble Verbrennungen gegeben.

Er wandte sich wieder der Aufgabe zu, ihre Habseligkeiten auf einem Haufen zu bündeln. Sicher wurden die Sachen in den Körben verstaut, die er neben Lulanivilay stehen ließ. Erst danach wandte er sich wieder den anwesenden Magiern zu.

Volta war ihm zur Hand gegangen und stand nun grinsend, aber ein wenig verloren in der Gegend herum. Juuro besah sich die Szene abwartend und Xaira versuchte noch immer mit Worten die Menschen von der Friedfertigkeit der Reisenden zu überzeugen. Seufzend schüttelte Mimoun den Kopf. Dauerte nicht mehr lange und die Frau hatte die armen Magier tot gequatscht.

Plötzlich spürte er eine Berührung am Flügel. Kinder waren neugierige Maden, die sich überall durchwinden würden, wenn etwas ihr Interesse geweckt hatte. Es war der Junge, der begeistert die Ulkigkeit der Besucher entdeckt hatte.

„Findest du es richtig, gegen den Willen deiner Eltern zu mir zu kommen?“, wollte er von dem Knirps wissen, der die Stabilität der Speichen testete. Das erstickte Keuchen der Erwachsenen im Hintergrund war deutlich zu hören. Ah. So hatte sich Dhaôma also damals auf Mimouns Heimatinsel gefühlt.

„Ich habe doch keine Eltern mehr.“, erwiderte das Kind, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

„Kümmert sich denn niemand um dich?“, wollte Mimoun gespielt verblüfft wissen. Es war klar, dass dieser Junge inmitten dieser Menschen nicht allein aufwuchs.

„Quatsch. Averin passt auf mich auf.“

„Also ist sie deine neue Mama, oder nicht?“ Mimoun verzog schmerzhaft das Gesicht, rührte sich sonst nicht. Die kleine Zecke zog nun an der Flughaut. Nun war der Zeitpunkt, an dem die Erwachsenen eingriffen. Es war nicht schwer für die Frau, den Jungen von dem Geflügelten wegzuziehen. Dieser starrte ihn gerade verblüfft an und dachte nicht daran, sich zu wehren.

„Geht das denn?“

„Bei uns schon.“, erwiderte Mimoun lächelnd.

„Gut. Dann sag ich ab heute Mama zu dir.“ Der Kleine wand sich im Arm der Frau und schlang ihr die Arme um den Bauch.
 

Sie war überrascht, dann lachte sie. „Von mir aus.“ Liebevoll wuschelte sie dem Kind durch die Haare. Und löste damit eine wahre Eifersuchtsflut aus. Die Kinder, die das mitbekommen hatten, rannten jetzt zu ihr, manche weinend, manche beinahe entrüstet.

„Ich auch!“

„Warum darf er das? Warum ich nicht?“

„Darf ich auch Mama sagen?“

Solches und Ähnliches konnte man aus dem Stimmenwirrwarr heraushören, was sie abermals zum Lachen brachte. „Was ist denn plötzlich los mit euch? Ihr wolltet mich doch sonst nie als Mutter akzeptieren.“

„Aber hat er nicht gesagt, dass es so ist? Eine Mutter muss man Mama nennen.“ Das Kind zeigte auf Mimoun. „Und…“ Er stockte, dann lächelte er vorsichtig. „Ich hab dich gerne. Du mich nicht?“

„Oh weh. Was für eine Frage. Warum sollte ich hier sein, wenn ich dich nicht gern hätte?“

„Und mich?“ „Und mich?“, erklang der aufgeregte Kinderchor. Mimoun war vergessen.

Juuro klopfte dem Geflügelten auf die Schulter und nickte zufrieden. „Nicht schlecht, das Manöver.“, brummte er.
 

„Alles Übung.“, lachte Mimoun verhalten und zuckte mit den Schultern. So waren die Zecken erst einmal damit beschäftigt, die Erwachsenen zu beschäftigen.

Mit einem teils amüsierten, teils fast glücklichen Lächeln betrachtete der Geflügelte die wuselnde Schar. Dann entgleisten seine Gesichtszüge, als ihm etwas aufging. Sie alle wollten sie Mutter nennen. Waisen. Sie hatten es hier mit Waisen zu tun. Tiefes Mitgefühl ergriff ihn und sein Blick glitt über die Jugendlichen. Ob sie dasselbe Schicksal teilten?

Der Feuermagier behielt ihn noch immer fest im Blick, wie das Umschauen des Geflügelten ihm gezeigt hatte, und musste die Erkenntnis und den Schrecken richtig gedeutet haben, denn der gesenkte Stock wurde fester umklammert und die Lippen aufeinander gepresst.

„Es tut mir Leid.“, formten seine Lippen, denn über das Stimmengewirr der Kleinen wären seine Worte sowieso nicht zu hören gewesen.
 

„Was ist denn hier los?“ Haya trat aus dem Haus. Das Tohuwabohu erstaunte sie, denn es drehte sich nicht wie erwartet um die Fremden sondern um Averin. „Takon, nimm deinen Stock runter. Er wäre dir sowieso nur im Weg, wenn du kämpfen willst.“

„Oh nein, er würde gut brennen.“

„Trotzdem. Dank dem Magier geht es Marvin wieder besser, also behandle sie mit Respekt.“

Freude flog über das finstere Gesicht und lockte die Älteren an. Laute Rufe, Jubel und Erstaunen brachte schließlich selbst die Kinder dazu, von ihrer neu ernannten Mutter abzulassen.

„Ach ja? Und wo ist Dhaôma?“, fragte Xaira und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ihre aufflammende Wut wurde einfach weggelacht. „Er ist über Kitty gestolpert. Sie hat einen Aufstand gemacht, weil ihre geliebten Katzen ihn zu mögen scheinen, jetzt ist er ihr neues Spielzeug, oder so ähnlich sieht es aus.“

„Kitty?“, fragte Volta erstaunt. „Wer ist das denn?“

„Ja, wie soll ich sagen? Sie ist ein wenig seltsam. Normalerweise ist sie scheu und lässt niemanden an sich heran, außer er ist ein Tier und nicht größer als eine Katze – Babys ausgenommen - aber nun klebt sie an diesem Kerl.“

„Sie mag ihn?“, war auch Takon erstaunt, dann zog sich seine Stirn in Falten. „Was soll das hier eigentlich? Wo kommt ihr eigentlich her?“, fauchte er und schwang den Stock. Er traf eine der Säulen, die die Veranda umgaben, dass es krachte, so dass ein paar Kinder erschrocken schwiegen.

„Wir kommen von Mittag.“, antwortete Xaira. „Beziehungsweise aus der Hauptstadt oder aus dem Himmel oder von der Insel der Drachen. Du kannst behaupten, wir kommen von überall her.“

„Ich will sehen, wie Kitty mit ihm spielt!“, flüsterte hinter Takon ein Kind.

„Au ja. Vielleicht können wir mitspielen.“

„Hey, Flügelmann, kommst du auch spielen? Du siehst stark aus, vielleicht bist du ein guter Gegner.“
 

Flügelmann? Gegen seinen Willen musste Mimoun prusten. „Ich heiße Mimoun.“, erklärte er noch einmal sanft. „Und wenn ich darf, gerne.“

„Natürlich.“, kam die prompte Antwort, wie nicht anders zu erwarten von einem Kind gerufen. Aber dem Geflügelten war es lieber, wenn ein Erwachsener das Okay gab. Zeitgleich mit Averins Nicken ergriffen ihn die Kinder an den Händen und zogen ihn in Richtung der Hütte.

„Und der Nächste wurde zum Spielzeug degradiert. Vielleicht sollten wir fliehen, solange wir noch die Chance dafür haben.“, lachte Volta. Mehr bekam Mimoun nicht mit, denn er verschwand in der Tür.
 

Nur zwei der Kinder blieben und starrten noch immer sprachlos die Halblinge an, während die Erwachsenen endlich die Gelegenheit ergriffen, die Ankömmlinge förmlich zu begrüßen. Zwar war ihnen unwohl, aber man sah es ihnen nicht an, als Haya sie hereinbat.

Im Haus erklangen Kinderstimmen, Lachen, Schreien, Schimpfen – nichts besonderes. Bis sie die Situation sahen, in der sich alle befanden. Dhaôma saß auf dem Boden und sah erstaunt aus. Die Kinder standen in einer Traube und schimpften auf das Mädchen, das ihnen im Weg stand. Mimoun stand wie ein großer Pfahl aus den Kindern heraus. Und Kitty stand da auf allen Vieren, halb Katze, halb Mensch, und fauchte sie an, ihre grüngoldenen Augen blitzten gefährlich, ihr Schwanz schlug aufgeregt, ihre Nackenhaare waren gesträubt, ihre Krallen ausgefahren und die Ohren flach an den Kopf angelegt – wahrscheinlich der Grund dafür, dass die Kinder noch keinen Übergriff gewagt hatten.

„Kitty.“, machte Jondale einen Schritt in die Mitte, der Älteste der Mittelschicht. Er wirkte gutmütig und schwächlich und von ihm ging eine wunderbare Wärme aus, was selbst seine Stimme vermittelte. „Was ist denn los?“

Fauchen war ihre Antwort.

„Sie spricht nie.“, erklärte Haya den Halblingen und lächelte. „Und es sieht so aus, als hätte sie euren Freund als ihr Eigentum erschlossen.“

„Ai.“, war Dhaômas Kommentar gerade, der sich aufgerichtet hatte, um Frieden zu stiften. „Kleine Katze, sei friedlich.“ Der Kopf ruckte herum, die Ohren stellten sich auf. „Kein Streit zwischen Familienmitgliedern.“ Sie legte den Kopf schief und die ockerfarbenen Haare fielen schwer über ihre Schulter. Dann trottete sie zu ihm und drückte ihren Kopf gegen sein Bein und in diesem Zuge wurde ihr Gesicht ein wenig katzenhafter.
 

„Hey. Das ist meiner.“, maulte Mimoun wenig enthusiastisch. Er wusste, dass Dhaôma das genauso sah und spätestens am Abend wieder in seinen Armen liegen würde. Und sie war ein Kind. Keine Konkurrenz also. Aber was erstaunlicher war: eine menschliche Katze. „Ich wusste ja gar nicht, dass auch so was bei euch möglich ist.“ Er schob sich an die Spitze der Kinderschar und hockte sich hin. Sanft lächelnd hielt er ihr eine Hand entgegen. „Hallo, Kleines.“
 

Fast augenblicklich legte sie die Ohren an und schlug nach ihm. Ihre Krallen fuhren in sein Fleisch. Erschrocken griff Dhaôma nach ihren Schultern, um sie zurückzuhalten, da entwand sie sich ihm und flüchtete in die Schatten der Tragebalken unter die Decke. Nur noch ihr Schwanz war zu sehen, wie er unruhig schlug.

Besorgt krabbelte Dhaôma zu Mimoun und besah sich die Kratzer. Eine kurze Berührung und sie verschwanden. „Ziemlich aufbrausendes Mädchen.“, lächelte er und sah sich dann um. „Oh, alle versammelt. Sind wir jetzt Freunde?“

Die Szene hatte für Stille gesorgt, so war er allgemein hörbar gewesen. Jetzt lachten einige, andere stürzten sich auf die beiden, um einen Kampf zu initiieren, jetzt wo der Störenfried weg war. Volta war unweigerlich Teil des Spiels, denn er hatte sich zu nahe an den Mittelpunkt gewagt, um das Katzenkind zu betrachten.

Haya kicherte und leitete Juuro und Xaira an einen Tisch. „Tee?“, fragte sie und zwei der anderen begannen zu decken, während die Alten ein paar Blätter in einen großen Kessel fallen ließ. „Dazu gibt es Brot und Käse. Da es noch so früh im Jahr ist, ist das Mahl leider ein wenig karg.“

„Das macht nichts.“, winkte Xaira ab. „Wir haben wahrlich genug dabei und eine unerschöpfliche Recource namens Magie auf unserer Seite.“

„Ah, ja, der Magier. Er ist ein Multitalent, nicht wahr?“

„Das heißt?“

„Er kennt mehr als zwei Arten Magie.“

„Soweit ich es weiß, vier.“

„Beeindruckend. Aber von einem Drachenreiter erwartet man nichts anderes.“ Walla sah aus dem Fenster und betrachtete den Drachen, der in der Erde grub. Seine großen Pranken warfen Klumpen schwarzer Erde durch die Luft. „Was macht er da eigentlich?“

„Ich habe keine Ahnung.“, antwortete Xaira und hob abwehrend die Hände. „Lulanivilay versteht niemand, ich glaube, nicht einmal Dhaôma.“

„Sieht aus, als werfe er einen Wall auf.“

„Hinterfrage nie seine Taten. Das führt zu gar nichts.“

Der Mann nickte und setzte sich wieder. Inzwischen war Tee eingeschenkt worden. „Und die drei stört es gar nicht, dass die Kinder mit ihnen spielen und so grob sind? Sie müssen doch müde sein.“

„Sie setzen sich schon zur Wehr.“

„Was meinte der Magier damit, dass seine Energie ausläuft?“, fragte er munter weiter und Xaira lachte ob seiner Neugier.

„Das kann ich dir nicht so recht erklären. Frag ihn das selbst. Aber es ist nur dann gefährlich, wenn man Lederkleidung trägt, dann kann es sein, dass man nackt dasteht. Oder es wachsen Brennnesseln direkt unter einem.“

„Wow! Er kann sogar Leder zerstören?“ Takons Neugier war entfacht und er sprang auf. „Ich frage ihn, ob er mir das beibringt.“ Und schon stürzte er sich ins Getümmel.

Der stärkste der Männer, definitiv ein Veteran mit Narben und breiten Schultern erhob sich plötzlich. Er holte tief Luft, dann brüllte er: „Genug!“ und augenblicklich herrschte Stille. „Alle an den Tisch, sonst setzt es was!“ Sie gehorchten. Jedes einzelne Kind wuselte an seinen Platz und setzte sich.

Dhaôma sah sich plötzlich ganz alleine und begann zu lachen. Mimoun an der Hand nehmend begab auch er sich an den Tisch. „Entschuldigt, dass wir so ein Chaos ausgelöst haben.“

Der Muskelberg nickte zufrieden und setzte sich.
 

Als wäre es jemals anders. Egal, wo Dhaôma oder er hinkamen. Eine der ersten Reaktionen war immer Chaos. Das würde sich wohl nie ändern. Nicht solange solche Quälgeister vorhanden waren.

Mimoun setzte sich ebenfalls mit einer gemurmelten Entschuldigung an den Tisch. Er hatte sich erschrocken, als die donnernde Stimme über sie hinweggefegt war. Zu sehr war er in das Spiel mit den Kleinen vertieft gewesen. Aber es war erstaunlich, wie gut der Mann die Rasselbande im Griff hatte.

Zum Essen war dann auch die junge Frau mit dem Baby wieder da. Und die Reisenden bekamen Moira endlich zu Gesicht. Verblüfft starrte Mimoun sie an. Mit keinem Wort war erwähnt worden, dass es sich ebenfalls um ein Kind handelte. Irgendwie war er wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass es eine Erwachsene war, die vor dem Zirkel geflohen war. Also, wo kam sie her? Fragend sah Mimoun zu seinem Freund hinüber.
 

Dhaômas Augen hatten zu leuchten begonnen, als das Baby ihnen vorgestellt wurde. Seit sie Fiamma und Seren kannten, liebte er Babys. Und Mimouns Frage fasste er so auf, dass er ihn wegen dem Baby fragte. Grinsend zuckte er mit den Achseln. „Sie ist doch süß.“, grinste er.
 

Da Dhaôma in eine andere Richtung gesehen hatte, war klar, dass der Magier ihn falsch verstand. Aber das war auch nicht wichtig. Es war eigentlich egal, wo Moira herkam. Hauptsache, sie hatte hier liebevolle Eltern und Freunde.

Mimoun betrachtete sich ebenfalls das kleine Lebewesen, von dem sein Freund gesprochen hatte, und nickte lächelnd. Babys waren immer süß. Wie wohl Silias Baby aussah? Er hatte sein Versprechen bezüglich der Geburt nicht halten können, also war es eigentlich Pflicht, dass er nun zumindest vorbei flog und das neue Familienmitglied begrüßte. Aber gerade jetzt war keine Zeit dafür. Mit einem tiefen Seufzen stieß er alle Luft aus und wandte sich ein wenig bedrückt dem Essen zu.
 

Bestürzt beobachtete Dhaôma das Mienenspiel seines Freundes und legte ihm schließlich besorgt die Arme um die Schultern. „Was ist? Bist du traurig?“
 

Traurig? Nein. Das war irgendwie das falsche Wort, auch wenn es nicht falsch war.

„Ich habe nur grad an ein paar andere Babys gedacht.“, wich er aus. Er wollte nicht von Silia und ihrem Nachwuchs anfangen, da ihm sonst Xaira wieder einen Strick daraus drehen würde. Und diese Genugtuung wollte er ihr nicht gönnen.
 

„Ai.“ Das konnte er verstehen. Zufrieden drückte er seine Nase gegen Mimouns Wange und kicherte. „Dauert nicht mehr lange, dann kannst du sie wieder sehen.“
 

„Hoffen wir es.“ Mimouns Hand wanderte in Dhaômas Nacken und verhinderte, dass dieser zurückweichen konnte. Sekundenlang ließ er seinen Kopf am Hals seines Magiers ruhen, bevor er mit der Zunge kurz darüber fuhr und auf die feuchte Stelle pustete.

Keine trüben Gedanken in geselliger Umgebung, befahl sich Mimoun selbst. Ihm wurde nicht bewusst, dass plötzlich eine andere Art von Stille herrschte und man sie zum Teil sprachlos anstarrte, während drei gewisse Halblinge nahezu ungerührt weiteraßen.
 

„Aber…“ Haya zeigte verdattert auf die beiden schmusenden Jungen. „Ist das…“

„Ja.“

„Aber sie…“

„Ja.“

„Sie sind...“

„Ganz genau.“ Xaira seufzte. „Sie sind zusammen, Dhaôma ist kein Mädchen und nein, sie blicken absolut nicht, was es heißt, dass sie zusammen sind. Recht viel mehr als das werdet ihr nicht zu sehen bekommen.“

„Oh.“ Sie griff nach ihrer Gabel und aß weiter, was auch die anderen Erwachsenen dazu bewog, die seltsame Szene mit weniger starrenden Blicken zu beglücken. Takon war bei weitem nicht so einfach abzuschütteln. Wie hatten diese seltsamen Gestalten es an ihren Tisch geschafft? Seit Jahren hatten sie keinen Besuch mehr gehabt, aber diese fünf und ihre Haustiere saßen hier, obwohl sie mächtig genug waren, das Haus einstürzen zu lassen, wenn sie wollten.

Ein kurzer Blick zur Seite ließ ihn aufseufzen. Juuro hatte Moira auf dem Schoß und sprach leise mit ihr. Und sie schien wirklich glücklich zu sein. Sie lachte die ganze Zeit, wo sie doch sonst immer so schüchtern und ängstlich gewesen war. Sie lachte diesen gruseligen Mann mit den Raubtierklamotten an. Hier spielte wirklich alles verrückt.
 

Tyiasur blickte sich auf dem Tisch um. Zwischen die zwei Schmusenden wollte er nicht geraten, aber mit Essen konnte man sich hier auch nicht ablenken. Wie konnte man sich bitte davon ernähren? Alles, was ihm zusagte, war der Becher voll Wasser seines Partners. Darin hatte er seine Schnauze versenkt, als ein leichter Ruck seine Konzentration störte. Der Kopf des kleinen Blauen fuhr herum und die dunklen Augen funkelten das Kind an, das nun, da er näher dran lag, neugierig an ihm herumtastete.

„Die komische Eidechse ist total glitschig.“, stellte es laut fest, ohne mit seinem Tasten aufzuhören. „Lustig.“

Mit einem Fauchen stellte Tyiasur die Stacheln auf und entzog seinen Körper den kleinen Händen. Ein dunkler Arm legte sich zwischen ihm und dem Kind auf den Tisch.

„Tyiasur ist ein Drache. Eidechse ist für sie eine schwere Beleidigung.“, erklärte der Geflügelte dem Kind und strich Tyiasurs Stacheln wieder an den Körper.

„Er ist trotzdem lustig.“, befand das Kind und schob sich grinsend den nächsten Bissen zwischen die Zähne. Von der anderen Seite versuchte ein zweites Kind die Behauptung des Jungen zu überprüfen. Ohne Erfolg. Das Zielobjekt zog sich zwischen die Drachenreiter zurück. Kinder, egal welcher Rasse, waren und blieben nervig.
 

Dann öffnete sich die Tür und Lulanivilays riesiger Schädel schob sich hindurch. „Feuermacher, komm.“, sagte er.

Alle sahen auf. „Was meint er?“, wollte Walla wissen, aber noch bevor jemand ihm antworten konnte, präzisierte Lulanivilay, was er wollte:

„Lichtblitz, hilf mir.“

„Lichtblitz? Wer soll das sein?“ Sie waren ratlos.

„Gibt es niemanden, der die alte Sprach noch beherrscht?“, fragte Dhaôma freundlich und wollte schon die Übersetzung liefern, da sprach die Großmutter mit ihrer rauen Stimme zum ersten Mal.

„Takon, er möchte, dass du ihm hilfst.“

„Ich?“ Die Farbe wich aus seinen Wangen. „Warum?“ Noch immer ruhten die goldenen Augen auf ihm und unbewusst machte er sich möglichst klein.

Helfend erklärte Dhaôma: „Ich denke, er will, dass du ihm die Erde anwärmst, damit er bequemer liegt. Da du das Feuer beherrschst, ging er davon aus, dass du das könntest.“

„Feuer machen? Woher wisst ihr das?“

„Man konnte es durch deine Kleider sehen, als du aufgeregt warst.“, lächelte der Braunhaarige. „Ai, keine Angst. Wenn du willst, gehe ich mit, aber er wird dir nichts tun. Und wenn du nicht willst, dann kannst du auch ablehnen.“

Takons Augen flackerten zu seinen Erziehungsberechtigten, um herauszufinden, was er tun sollte, aber dann spannte er sich an. „Ich probiere es. Ich bin zwar nicht gut darin, aber ich versuche es zumindest.“

„Soll ich mitkommen?“

Kurz überlegte er, dann nickte er. „Ja. Bitte.“

Zusätzlich stand Walla auf, dem die Neugierde quer über das Gesicht geschrieben stand, und sie gingen hinaus. Lulanivilay hatte tatsächlich so etwas wie einen großen Krater gebuddelt, der ihn vor Wind schützen würde.

„Und was soll ich jetzt machen?“, fragte Takon den Drachen mit zittriger Stimme.

„Mach die Steine so heiß, dass man Eier darauf braten kann.“

Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf. Wie sollte er eine solche Hitze zustande bringen? Er konnte doch gerade mal einen Stecken zum Brennen bringen und war darauf schon sehr stolz!

„Dein See ist nicht groß, aber ich werde ihn speisen.“

Hilfe suchend wandte sich der Jugendliche an Dhaôma. „Wie bitte?“

„Ich glaube, du solltest einen Schritt zurückgehen. Ansonsten setze einfach deine Magie frei, dann wird das schon.“ Er legte ihm unterstützend die Hände auf die Schultern.

Zweifelnd hob Takon seine Arme und rief die Magie aus seinem Bauch. Angst machte Überlegenheit Platz, als er die kleine Flamme vor seinen Augen auftauchen sah. Er hatte es geschafft. Jetzt noch ein wenig speisen… Und obwohl es nur mit diesem einem Funken begonnen hatte, wuchs die Flamme rasend schnell zu einem hellen, reißenden und brüllenden Inferno. Erschrocken taumelte er einen Schritt zurück, wurde aber dennoch von einer unbegreiflichen Hitzewelle erfasst, als das Feuer gefühlt bis zum Himmel reichte. Dhaôma zog ihn zurück.

„Wahnsinn! War das wirklich ich?“, rief er aufgeregt. „Das ist phantastisch! Niemals war meine Magie so mächtig!“

„Ja und nein.“, dämpfte der Braunhaarige die Freude und zog ihn weiter zurück. „Du hast das Feuer und die Magie gerufen, aber er hat sie so verstärkt, dass sie ihm nützlich wurde.“

„Er hat sie… verstärkt?“ Sprachlos sah er zu Lulanivilay, der jetzt einfach in die nicht mehr ganz so hoch brennenden Flammen hineinmarschierte und sich dort zusammenrollte. Zu dem Zeitpunkt, als er lag, glühte nur noch die Erde unter ihm. Alles andere war schwarz und verkohlt.
 

„Ich will auch gucken.“ Und schon war der Nächste aufgesprungen. Und noch ein kleiner Körper folgte. Lachend wurde das Mahl von den Erwachsenen unterbrochen und die gesammelte Schar strebte gen Ausgang.

Mimoun entschied sich dafür, drinnen zu bleiben, begab sich aber zum Fenster und betrachtete sich das Schauspiel von dort aus. An die Außenwand gelehnt direkt daneben stand Juuro und hatte Moira auf den Schultern. Damit hatte die Kleine den besten Ausblick auf die Feuersäule, die gen Himmel strebte. Und sie war nicht die Einzige, die erschrocken aufschrie. Aber es gab auch Applause und Jubel.

„Da hat jemand nachgeholfen.“, stellte Mimoun nüchtern fest und stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett. Seine Gedanken begannen abzudriften. Kein Wunder, dass Feuermagier so gerne im Krieg genutzt wurden, wenn sie solche Kräfte ohne die Hilfe dieses Drachens beschwören konnten. Dem Geflügelten lief es kalt den Rücken herunter. Wie gut, dass Krieg bald nicht mehr ihr Lebensinhalt sein würde.
 

Nachdem das aufgeregte Geschnatter abflaute und erklärt war, dass der Drache Probleme mit der Kälte hatte und es deswegen genoss auf glühendem Untergrund zu liegen, kehrten alle zum Essen zurück. Curai bestand darauf und verlangte, dass es keine weiteren Unterbrechungen geben sollte.

Es gab eine. Sie waren noch nicht ganz fertig, da raschelte es unter dem Tisch und Dhaôma zuckte erschrocken zusammen, als Kitty sich auf seinen Schoß zog. Sie erstarrte kurz, sah ihn angespannt an, dann drehte sie sich um und schnupperte an seinem Essen.

„Willst du was?“, fragte der junge Mann, doch sie ignorierte seine Anfrage. Stattdessen wurden ihr von Jondale Milch und Früchte entgegen geschoben. Begeistert war sie von dem Obst nicht, aber sie aß es.

„Sie scheint dich wirklich zu mögen. Das wird was, wenn ihr wieder geht.“

„Sie wird schon noch lernen, dass es auch andere nette Menschen gibt.“, gab Dhaôma ruhig zu bedenken und stützte sich seitlich auf der Bank ab. Als er sie hatte streicheln wollen, hatte sie geknurrt, also ließ er seine Hände von ihr. „Sie wäre eine tolle Kandidatin für die Insel der Drachen, aber ich fürchte, sie wird kaum die Motivation aufbringen, diese Insel zu suchen.“, meinte er zu Mimoun.
 

Der Angesprochene schnaubte belustigt. „Na, ich weiß nicht.“, gab er offen zu und stützte seinen Kopf auf seine Hände. „Als sonderlich friedlich würde ich sie ja nun nicht gerade bezeichnen.“ Mimoun betrachtete die Stelle, die ihre Krallen vorhin getroffen hatte. „Aber eigentlich hat sie dieselbe Ausgangsposition wie du. Na ja fast dieselbe. Du hast damals nicht um dich geschlagen.“
 

„Ai? Was meinst du?“ Verständnislos runzelte er die Stirn und versuchte einen Zusammenhang zwischen sich und diesem seltsamen Kind zu ziehen. Hatten sie dieselbe Ausgangsposition?
 

Wieder zog Mimoun seinen Freund näher an sich. Das war eigentlich nichts, was für alle Ohren bestimmt war. „Einsamkeit inmitten von Menschen. Niemanden an sich heran lassen. Sie zeigt wenigsten, wenn sie etwas nicht mag.“, flüsterte er ihm ins Ohr. „Aber ich liebe dich trotzdem. Einfach, weil du so bist wie du bist.“
 

Nachdenklich betrachtete Dhaôma das Mädchen und dann die Menschen um sie herum. Vielleicht hatte Mimoun Recht. Vielleicht war sie einsam. Aber definitiv aus anderen Gründen. Oder? Bei den Hanebito hatte er sich auch so gefühlt, als wäre er nicht willkommen, weil er anders war. Zumindest am Anfang war es so gewesen.

„Wenn ich nur mit dir reden könnte.“, murmelte er. „Dann könnte ich dich fragen.“ Gedankenlos fuhr er über ihr Haar, was sie erschrocken die Krallen ausfahren ließ. Das tat zwar weh, aber Dhaôma blinzelte den Schmerz weg und zog seine Hand zurück, was darin endete, dass sie ihren Kopf an ihm rieb, weil sie jetzt doch gestreichelt werden wollte. „Du kannst dich auch nicht entscheiden, oder? Aber vielleicht hat Mimoun ja Recht. Vielleicht gehst du bald auf die Suche nach jemandem, der nur für dich da ist.“

Sie begann zu schnurren und rollte sich schließlich zusammen, nachdem sie vollständig zur Katze geworden war.

„Du bist ziemlich schräg.“ Der Junge, der gerade Tyiasur geärgert hatte, stand neben ihm. „Du bist ein Magier, aber du sammelst seltsame Leute um dich. Einen Hanebito, eine Schlange, einen Drachen, die Halblinge und jetzt Kitty. Wie machst du das?“

„Es sind zwei Drachen. Das hat dir Mimoun gerade schon erklärt.“, unterband Dhaôma Tyiasurs Aufbegehren und strafte den Jungen mit einem unwilligen Blick, unter dem dieser zusammenschrumpfte.

„Entschuldige.“

„Angenommen. Und zu deiner Bemerkung: Ich sammle sie nicht, ich finde sie und mag sie. Und warum sollte ich mich nicht mit Wesen umgeben, die ich gern habe? Du magst deine Familie doch auch. Kitty, Moira…“

Errötend nickte das Kind, dann begann ein anderes zu lachen.

„Spielen wir wieder? Dürfen wir aufstehen?“

„Diesmal bin ich der Jäger! Moira, bist du das Burgfräulein, das gerettet werden muss?“

Die Kleine betrachtete hin und her gerissen Juuros Gesicht, dann nickte sie und rutschte von dessen Schoß. Und weil Dhaôma verneinte, wollten die Kinder Mimoun als Ritter haben. Er sollte die Prinzessin vor den bösen Trollen beschützen, die sie fressen wollten.
 

„Au ja.“ Vorfreudig rieb er sich die Hände. „Kurzen, schnellen Sieg meinerseits oder dafür sorgen, dass die lieben Kleinen völlig erschöpft ins Bett fallen?“, grinste Mimoun und sah Dhaôma fragend an. Er selbst wollte nun definitiv nicht mehr schlafen. Wann hatte er das letzte Mal ausgelassen mit einer Rasselbande toben können?
 

„Mach sie fertig. Ich feuere dich an.“, gab der Braunhaarige ungeniert seine Präferenz bekannt. Er fühlte sich hier wie auf Addars Insel, hatte schon vergessen, dass sie hier nur Gäste waren.

Xaira war da umsichtiger. „Keine Sorge.“, sagte sie freundlich zu den besorgten Erwachsenen. „Er kann gut mit Kindern umgehen. Und er ist ein fürsorglicher Mensch, der niemandem weh tut, außer er verdient es.“

Haya nickte wenig überzeugt, immerhin war er ein Hanebito! Aber wenn sie Frieden haben wollten, würde das vielleicht normaler werden und wenn die Kinder dann schon wussten, dass ein Hanebito nicht zwangsweise gefährlich war, dann war schon ein großer Schritt getan. „Treibt es nicht zu weit.“, mahnte sie und die Kinder stoben johlend davon.
 

Was zum…? Völlig erschlagen starrte der Geflügelte die Frau an, die gerade positiv über ihn gesprochen hatte. „Du kannst ja auch mal was Nettes sagen.“, stellte er lachend fest, bevor ein Ruck an seinen Handgelenken seine Aufmerksamkeit forderte.

„Komm endlich!“

Ein Lachen war die einzige Antwort Mimouns, als er sich sanft dem Griff der beiden Kinder entwand. „Darf ich bitten, Prinzessin?“ Mit einem Lächeln verneigte er sich leicht vor Moira und hielt ihr eine Hand hin, die sie schüchtern und zögerlich ergriff, nickte. Mimoun führte das Kind zu den anderen nach draußen, die schon ungeduldig warteten. Kurz wanderte sein Blick in den Himmel. Es war schon fast dunkel. Viel Zeit blieb nicht mehr. Also musste Mimoun sich ranhalten, damit die Kinder erschöpft ins Bett fielen. Also wandte er sich ihnen zu und ließ sich erklären, welche Aufgabe er hatte. Im Großen und Ganzen lief es auf eine Riesenkabbelei hinaus, aber sie versuchten eine Geschichte zu spielen.

Taloth war mit Moira auf der Wiese unterwegs, weil die Prinzessin die Natur genießen wollte, als eine Horde bösartiger Trolle über sie herfiel. Zum Glück war der heldenhafte Ritter nicht weit, um ihnen beizustehen. Mimoun lachte still in sich hinein. Es war so ziemlich das erste Mal, dass er einer der Guten war. Sonst taugte er nur als Bösewicht. Aber es gefiel ihm.

Spätestens als klar war, dass der Ritter über unglaubliche Kräfte verfügte, wechselten Jäger und Prinzessin die Seiten und versuchten gemeinsam mit ihren ‚Feinden’ den einst strahlenden Helden in die Knie zu zwingen. Nun lachte Mimoun laut. War ja irgendwie klar gewesen.

Viel hatte er ihnen nicht entgegen zu setzen. Sie waren fast dreimal so viele wie auf seiner Heimatinsel, hatten dementsprechend dreimal so viele Gliedmaßen und dieselbe vermehrte Anzahl an Masse.

„Und wer rettet jetzt den Retter?“, fragte der Geflügelte mit einem erstickten Lachen, denn nachdem sie ihn endlich auf den Boden gezwungen hatten, saßen sie auf ihm. Neun Kinder hockten auf ihm, während die älteren Jugendlichen applaudierend daneben standen. Dabei nahmen die Kleinen keine wirkliche Rücksicht. Auch auf seinen Flügeln lastete ihr Gewicht.

„Los, runter. Neue Runde.“, japste er schließlich und trommelte mit der einzigen freien Hand auf den Boden. Hatten sie sich vorher nicht runter bewegen lassen, die Aussicht auf eine neue Runde schaffte es. Kaum war ihr Gewicht verschwunden, setzte er sich auf und atmete tief durch. „So.“ Mimoun grinste ein wenig fies. Zurück zu alten Gewohnheiten. „Jetzt bin ich der Böse.“ Und schon sprang er auf und stürmte auf die Kleinsten zu, die Kreischend und lachend auseinander spritzten. Der Geflügelte hatte ihnen nicht einmal die Zeit gelassen, sich zu formieren. Da er bedeutend schneller war, ergriff er das erste Kind, schwang sich wenige Meter in die Luft und begann das kleine Mädchen abzukitzeln. Diesmal hatte sein Gegner keine Chance. Nur eine halbe Minute später setzte er das noch immer lachende und japsende Kind ab und stürzte sich auf den Nächsten. Das Ganze ging noch zwei Kinder gut, bis die Älteren den Zeitpunkt richtig abpassten und ihn wieder am Boden hielten. Das gab eine fiese Revanche.

„Genug.“, brachte Mimoun unter Kichern hervor. Es wurde zu dunkel, um noch vernünftig sehen zu können. Das sahen auch die Jugendlichen ein und brachten die Kleinsten schnell zur Ruhe. Aber sie gingen noch nicht hinein. Jeder hockte sich auf den Fleck, wo er sich gerade befand und atmete tief durch. Es gab aber auch jemanden, der schneller wieder fit war.

„Genug für heute.“, bestimmte Mimoun ernst und unnachgiebig, als er kleine Finger an seiner Seite spürte. „Gehen wir wieder rein.“, fügte er sanfter hinzu, als das Kind ihn unglücklich ansah. Nur widerwillig stimmten einige ihm zu. Es hatte solchen Spaß gemacht.

Zwei der Kinder erhoben sich nicht, als die gesammelte Mannschaft gen Hütte strebte. Sie waren beinahe sofort nach Spielende vom Schlaf übermannt worden. Mit leisem Lachen hob der Geflügelte sie hoch und brachte sie nach drinnen, übergab sie dort den Erziehungsberechtigten.
 

„Also, was macht ihr hier?“, begann Dhaôma Katze kraulend, als Mimoun und die Kinder abgezogen waren. „Seid ihr Flüchtlinge oder Kriegsverweigerer?“

„Wir sind fast alles. Die Kinder sind beinahe alles Waisen. Nur Leni und Zagi nicht. Und das Baby Tintin. Gaina und Jondale haben versucht, Moiras Eltern zu verteidigen und sind dabei beinahe umgekommen. In dem Kampf sind viele gestorben. Im Grunde sind sie die einzigen, die es überlebt haben. Haya und Marvin kommen aus dem Norden. Ihr Vater wollte Marvin mit sieben auf ein Schlachtfeld mitnehmen, weil er Feuermagie entwickelt hat, die einen Funkenregen hervorruft. Sie ist mit ihm weggelaufen. Curai kommt aus der Hauptstadt. Er hat unter deinem Bruder gedient. Er ist hier, weil er den Tod nicht mehr erträgt.“

Tumio erzählte weiter: „Ich bin hier geboren und aufgewachsen, aber meine Frau wurde im Krieg getötet, obwohl sie schwanger war, also habe ich beschlossen, elternlose Kinder aufzunehmen. Und weil ich nicht will, dass sie eingezogen werden, weiß so gut wie keiner, dass ich Waisen hier aufziehe. Großvater und Großmutter helfen mir zum Glück.“

„Der Junge ist ein guter Mann geworden.“, brabbelte der Großvater leise und glühte vor Stolz. „Ohne ihn wäre es hier sicherlich langweilig.“

„Kitty ist irgendwann einfach da gewesen. Wir wissen nicht, wo sie herkommt. Takon dagegen ist eigentlich gekommen, weil sein Vater ihm befohlen hat, Curai zu töten. Es hätte seine Aufnahme in die Kriegsreihen bedeutet, aber er wollte das nicht, also ist er geblieben. Er ist ein ziemlich guter Spurenleser, dass er ihn hier aufgetrieben hat, obwohl Curai nicht gefunden werden wollte.“

„Und ich bin hier eines Tages genauso unerwartet angekommen wie ihr.“, lächelte Averin. „Leni ist meine Tochter und ich wollte im Wald leben, damit sie nicht in Angst aufwachsen muss. Als man mir angeboten hat, hier zu bleiben und bei den anderen Kindern zu helfen, da hab ich einfach ja sagen müssen.“

„Und Tintin ist hier geboren worden.“, lächelte Gaina und wiegte ihr Kind im Arm, das im Schlaf zufrieden murmelte.

„Und wessen Sohn ist Zagi?“

„Meiner.“, meldete sich Haya zu Wort. „Allerdings ist sein Vater bereits gefallen.“

„Wie traurig.“

„Dafür leben wir hier abseits in Frieden.“, lächelte Haya weich. „Und da du für wahren Frieden sorgst, wird er hier glücklich aufwachsen können, meinst du nicht?“

„Wir geben uns Mühe.“, versprach der braunhaarige Magier. Seine Finger fuhren inzwischen über Kittys dargebotenen Bauch. „Ich möchte ja auch, dass Fiamma in Frieden aufwachsen kann.“

„Wer ist Fiamma?“

„Meine und Mimouns Tochter.“

„Ihr habt eine Tochter? Aber ich dachte ihr seid beide…“

„Sind wir auch. Wir haben sie adoptiert.“, sagte er und erzählte leise die Geschichte. Sein Gesicht nahm dabei einen äußerst wehmütigen Ausdruck an.

Dann waren die Halblinge dran, ihre Geschichte zu erzählen, die mit Entsetzen und Wut aufgenommen wurde. Die Magier waren fassungslos, dass es so etwas wirklich geben konnte, dass man jemanden dazu bringen konnte, Kinder zu kriegen, indem man jemanden dazu zwang, eine dritte Person zu vergewaltigen. Ihre Wut verstörte die Kleinen, die von ihrem Spiel mit Mimoun zurückkamen und sie mussten das Gespräch unterbrechen, um die bereits schlafenden Kinder zu Bett zu bringen und die restlichen zum Schlafen zu überreden. Die Zeit wurde genutzt, um zu einem gemütlicheren Ort zu wechseln, so setzten sie sich schließlich alle vor den Kamin, in dem noch immer ein kleines Feuer prasselte. Dhaôma hatte sich zwischen Mimouns Beine gekuschelt und lehnte gegen ihn, die Katze wieder auf dem Schoß - sie hatte genau so lange gewartet, bis er wieder gesessen hatte, um sich aus ihrem Versteck zu wagen. Moira schlief auf Juuros Schoß. Sie war von ihm einfach nicht wegzubewegen und er hatte auch nichts dagegen, dass sie bei ihm war. Selten hatten die Halblinge einen so liebevollen Ausdruck auf diesem harten Gesicht gesehen.

Dann erzählte Jondale ihnen von Moiras Eltern, die ein wenig abseits einige Tagesreisen von hier entfernt gelebt hatten. Er war ein Hanebito mit gebrochenen Flügeln gewesen, der von einer Magierin gesund gepflegt worden war. Sie hatte ihn versteckt und sie hatten ein Kind bekommen, weil sie sich wirklich geliebt hatten. Irgendwann waren sie entdeckt worden und obwohl ihre Nachbarn versucht hatten, sie zu verteidigen, hatte es darin geendet, dass das kleine Dorf zerstört wurde.

Curai hatte auch etwas zu erzählen, da er Radarrs Armee erst zwei Jahre nach Dhaômas Verschwinden verlassen hatte. Damals hatten sie eine große Suchaktion nach dem Bruder des Anführers veranstaltet, weil dieser nicht nach Hause gekommen war, aber außer einer gut ausgerüsteten Baumhöhle hatte man nichts gefunden, keinen Hinweis darauf, dass er getötet worden wäre. Jetzt, da er Dhaômas Geschichte hörte, musste er lachen, denn er hatte damals mit seinen Kollegen viel darüber philosophiert, was mit Dhaôma passiert sein konnte. Niemals waren sie auch nur darauf gekommen, dass er einen Hanebito gerettet haben könnte und diesen auch noch nach Hause bringen würde. Leider hatte man daraufhin die Wachen und die Sicherheitsmaßnahmen in der Hauptstadt erhöht, da man Entführungen aus hohen und reichen Häusern befürchtete, was ein Leben dort ziemlich unangenehm gemacht hatte.
 

Mimoun bekam von dem Gespräch vor dem Kamin so gut wie nichts mehr mit. Nicht nur die Kleinen waren erschöpft. Die Arme um Dhaôma geschlungen, den Kopf an dessen Schulter gelehnt, war er schon nach wenigen Minuten eingeschlafen.
 

Dhaôma und Mimoun blieben mitsamt Katzenmädchen und Tyiasur einfach vor dem Kamin, während die anderen sogar so etwas Ähnliches wie Schlafplätze hergerichtet bekamen. Aber da Dhaôma seinen müden Freund nicht wecken wollte, musste es eben so gehen. Außerdem sah es nicht so aus, als hätten sie viel Platz, um noch mehr in Betten zu legen.
 

Am nächsten Morgen wurden die beiden unsanft geweckt, denn ein paar Kinder hatten sich anschleichen wollen, was Kitty wütend verhinderte. Nun gab es einen lautstarken Kampf, bei dem eigentlich jedes der Kinder zu weinen anfing, weil Kittys Krallen sie verletzten. Am Ende fing Dhaôma die kleine Katze ein und lächelte.

„Ist schon gut.“, beruhigte er sie. „Ich bin schon wach und sie tun mir auch nichts.“

Danach musste er erst einmal die Kratzer behandeln, was die Kinder begeisterte, weil sie sich einfach schlossen. Schwieriger war es, sie davon zu überzeugen, dass ihre neuen Spielkameraden gehen wollten. Durch das Geschrei, das daraufhin entstand, wurden auch die Erwachsenen wach, also versprach Dhaôma ihnen, dass er als Entschuldigung etwas für sie wachsen lassen würde, sie müssten sich aber überlegen, was sie haben wollten. Was gab das für ein Jubel, als sie feststellten, dass Lulanivilay nicht da war. Ohne den Drachen konnten die Reisenden unmöglich weiterziehen. Und endlich hatte man auch Zeit, die große Kohlegrube zu inspizieren, die Tokan am Vorabend gemacht hatte. Es war zwar nichts besonderes, aber dennoch ein wunderbares Schurkenversteck und sie passten alle locker hinein.

Dann begann die Magie Dhaômas zu wirken, nachdem er den Kindern gesagt hatte, sie sollten die Samen, die sie sich ausgesucht hatten, in die Erde stecken. Es hatte auch nur ein bisschen Nachhilfe bedurft, sie zu überreden, sie um den Krater herum zu pflanzen. Lulanivilay war nicht da, also war sich Dhaôma nicht sicher, ob er genügend Kraft haben würde, um sie alle wachsen zu lassen, aber er stellte recht erstaunt fest, dass es ihm gar nicht schwer fiel. Es dauerte zwar länger und als Lulanivilay endlich kam, machten alle Pflanzen noch einen großen Schub, aber er war seit der Zeit auf der Dracheninsel noch einmal stärker geworden.

Der Drache brachte Beute mit. Er hatte zwei Wildsauen erlegt und überließ eine davon den Menschen, die den Mund nicht mehr zubekamen. Wie lange hatten sie kein Fleisch mehr gegessen?

Und während alle sich darum kümmerten, streunte Dhaôma zu seinem schwarzhaarigen Schatz und legte diesem ein paar Erdbeeren in die Hand. „Zum Glück haben sie hier auch einen Pflanzenmagier, so können die Sommerpflanzen auch jetzt schon überleben.“
 

Mimoun hatte sich die ganze Zeit kaum bewegt. Er war zwar mit nach draußen gegangen, aber – Himmel – wie lange war es her, dass er Muskelkater gehabt hatte? Dennoch zufrieden und glücklich schob er sich eine der Erdbeeren in den Mund.

Sein Blick glitt über die wuselnden kleinen Gestalten und ein wehmütiges Lächeln erschien auf dem dunklen Gesicht. „Hast du etwas dagegen, wenn wir noch ein paar Kinder adoptieren würden?“, fragte er leise, den Blick nicht von ihnen abwendend. „Ah, nein. Besser nicht. Wir ziehen, wenn das alles vorbei ist, in ein Dorf mit ganz vielen Kindern. Eigene würde ich nur verziehen.“
 

„Alles, was du willst.“, lachte Dhaôma und kuschelte sich an ihn. „Vielleicht findest du ja auch noch ein paar Waisen, die es aufzuziehen gilt. Oder Asam lässt uns bei ihnen oben wohnen, dann hättest du gleich zwei unbändige Racker.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, denn ihm war klar, dass sie kaum ein ganzes Jahr nur an einem Ort bleiben konnten. „Oder sie finden den Weg hinauf zu den Drachenreitern, dann hätten wir dort oben eine große Familie, die frei ist von Sorgen.“
 

„Na ja, frei von Sorgen wären alle außer Lesley. Der hätte unsere Plagen dann am Hals und er hatte sich ja schon bei uns beschwert, dass wir zu laut wären.“, lachte Mimoun. „Wie soll es dann erst bei Amar und Fiamma und Haru und Elin und Selen und dem ganzen Rest werden? Sie haben doch uns als Vorbild.“ Er schlang seine Arme um Dhaôma und lehnte seinen Kopf gegen den seines Freundes. „Und ich bin mir sicher, dass es nicht mehr lange dauert, bis sich Drangar wieder mit Leben füllt und erblüht.“
 

„Sicher. Lesley sagte doch, dass wir die Quälgeister mitbringen. Und wenn der Krieg vorbei ist, werden wir uns bei der Mutter erkundigen, was es für die Kleinen bedeutet, sich zu beweisen, damit wir Lesley ein wenig Beschäftigung bringen können.“

Es gab noch Frühstück, dann hieß es, aufbrechen. Im ersten Moment schien es eine langwierige Prozedur zu werden, sich von allen auf einmal zu verabschieden, aber nachdem alle Kinder auf einmal zu Mimoun stürmten, um ihn zu umarmen, Marvin sich bedankt hatte, der wieder laufen konnte, und ein paar Worte gesprochen worden waren, die bei weitem noch nicht alles waren, griff sich Lulanivilay seinen Reiter, setzte ihn auf seinen Rücken und verfrachtete noch Juuro hinter ihn, bevor er auf die gleiche Art durchstartete wie beim letzten Mal.

„Danke für gestern, Lichtblitz.“, dröhnte es noch einmal in den Köpfen der Anwesenden, bevor der Drache hinter Baumwipfeln verschwand.

Und während Dhaôma noch winkte, fand er es schade, dass Kitty sich nicht verabschiedet hatte. Seitdem sie am Morgen diesen Streit unterbrochen hatten, war sie verschwunden gewesen.
 

Es war unglaublich, wie schnell Kinder Zuneigung zu jemandem fassen konnten, wenn man sich nur ausgelassen genug mit ihnen beschäftigte. Es schmerzte ein wenig, diese lieben Menschen zu verlassen. Zum ersten Mal hatte sich der Geflügelte unter Magiern wohl gefühlt. In jedem besuchten Dorf, in jeder Stadt hatte er trotz allem ein leichtes Unwohlsein verspürt, auch wenn sie zurückhaltend-höflich zu ihm waren.

„Wir kommen bald mal wieder vorbei.“, versprach Mimoun und folgte seinen Freunden. Es fiel ihm nicht schwer, sie einzuholen, dennoch war er eine ganze Zeit lang ziemlich wortkarg. „Ich vermisse sie jetzt schon.“, gestand er schließlich.
 

„Du kannst sie jederzeit besuchen.“, grinste Xaira und streckte ihm die Hände entgegen. „Wenn du jetzt also so freundlich wärst, uns aus dieser unangenehmen Lage zu befreien?“

Volta grinste nur und winkte dem Geflügelten zu. Im Grunde fand er es ganz lustig, so zu fliegen, auch wenn der Korb bequemer war.
 

Oh ja. So wie er jeden, den er mochte, jederzeit besuchen konnte. Alle wohnten so weit voneinander entfernt. Da wäre er ja das ganze Jahr über damit beschäftigt, Freunde zu besuchen.

Aber es gab wohl derzeit ein anderes Problem. „Na gut. Weil du es bist.“ Sekundenlang hatte Mimoun die beiden Halblinge einfach nur angestarrt. Eigentlich hätten es die zwei so langsam lernen müssen und schon vorher in die Körbe klettern können. Auch jetzt war es schnell geregelt, die Halblinge in ihren Sitz zu helfen.

Kursänderung

Kapitel 62

Kursänderung
 

Ihre Reise verlief angenehm. Sie besuchten unterwegs noch eine kleinere Magiersiedlung. Diesmal waren Juuro und Xaira wie angekündigt dabei. Auch hier gab es Verwirrung, Verblüffung, Entsetzen und Unglauben, als ihnen alle Fakten und die gesamte Geschichte präsentiert wurden. Aber sie konnten nicht lange bleiben. Der Weg der kleinen Reisegruppe würde sie weiterführen in Magiergebiet und jede Minute des Rastens inmitten einer Magierstadt konnte die Drachenjägertruppe auf den Plan rufen. Und darauf hatte keiner von ihnen Lust.

Einen Tag später machten sie in einem kleinen Waldstück Rast. Es war das erste Mal, dass sie ihre eigenen Vorräte anrührten, da sie von Magiern bisher gut durchgefüttert worden waren. Kaum hatte Juuro die Vorratstasche geöffnet, wich er zurück. „Was zum…?“ Ein scharfer Gestank strömte aus der Tasche.
 

„Was ist denn?“, wollte Xaira wissen und rümpfte die Nase. Das war Raubtierurin, ganz eindeutig. „Wir haben wohl einen unerlaubten Mitreisenden.“ Sie packte die Tasche und drehte sie um. Heraus fielen Essensreste, Lederfetzen, Kot und eine Katze, die fauchend auf den Füßen landete. Einmal blinzelte sie, dann stob sie davon, direkt auf Dhaômas Schultern, wobei sie einige Löcher in Kleidung und Haut hinterließ. Von dort oben blickte sie bedacht auf sie.

„Kitty?“

Sie sah Dhaôma an und ignorierte ihn dann.

„Sieht so aus, als wären unsere Vorräte unbrauchbar.“, knurrte Xaira und warf den Beutel in den vorbei fließenden Bach, damit er sauber gespült wurde. „Was willst du hier, du nutzloses Vieh? Wir ziehen in den Krieg, selbst dir müsste klar sein, was das bedeutet!“
 

„Hast du überhaupt nicht nachgedacht? Deine Eltern und Freunde werden sich große Sorgen machen.“, stimmte Mimoun zu und kratzte sich am Kopf. Na wunderbar. Was nun? Er könnte zwar alleine zurückfliegen und sie nach Hause bringen, aber das würde mehrere Tage dauern und sie ließ sich von ihm nicht anfassen. Und mitnehmen ging nicht, wie Xaira gerade treffend formuliert hatte. Hier lassen aber ebenso wenig.

Entschieden schüttelte er den Kopf. „Kannst du bitte ein wenig Fisch für uns suchen?“, bat er seinen Drachen und wandte sich an Dhaôma. „Und du lässt bitte ein wenig Obst wachsen. Wir müssen unsere Vorräte wieder aufstocken. Und was mit dir wird…“ Mimoun fixierte die Katze sehr ernst. „…darüber reden wir noch.“ Tyiasur verschwand bereits in den Fluten, da fiel Mimoun etwas ein. „Die Drachen hatten mich doch auch über sehr große Entfernung gerufen. Jetzt ist es nicht ganz so weit. Sie könnten Bescheid sagen.“
 

Lulanivilay starrte nur auf die Katze und wandte sich dann desinteressiert ab. Er hatte sie schon kurz nach dem Start bei dem Holzhaus gerochen, aber ihm war es einfach egal, ob sie da war oder nicht. Es war ihre freie Entscheidung.

Und Dhaôma begann zu lachen. „Du wolltest nicht mehr in dem Haus sein? Es ist doch schön dort.“ Sie rieb ihr Köpfchen an ihm. „Was willst du denn machen, wenn Gefahr droht? Du weißt doch, wie Magier sein können, oder?“ Ihr Schwanz schlug. „Wir bringen dich wieder nach Hause. Gleich morgen.“ Sie sprach von seiner Schulter und verschwand in einem Dickicht. „Was nun? Hab ich sie verschreckt?“, fragte der Braunhaarige bekümmert.

„Glaub ich nicht. Es sah mehr so aus, als hätte sie dich gar nicht verstanden.“ Noch immer raschelte es im Gebüsch.

„Aber mitnehmen geht doch nicht.“, sagte Xaira unglücklich. „Und es ist viel zu gefährlich mit den Drachen das Gebiet zweimal zu überfliegen. Wer weiß, wo die Jäger inzwischen sind.“

„Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als sie mitzunehmen.“, kicherte Dhaôma. „Ich an ihrer Stelle hätte das als Kind auch gemacht, wenn ich gekonnt hätte.“
 

Soviel zum Thema, darüber reden wir noch. Dhaôma hatte es einfach entschieden.

„Dann hätten wir Keithlyn auch mitnehmen können. Das wird kein Spaziergang, Dhaôma. Wir können nicht ständig auf sie aufpassen. Wir brauchen einen Ort, wo wir sie sicher unterbringen, bis wir sie wieder abholen. Mitnehmen kommt nicht in Frage.“
 

„Ai?“ Dabei war er davon ausgegangen, dass sie Keithlyn unter anderem wegen ihrem Gewicht nicht mitgenommen hatten und damit sie nicht von Magiern gefangen genommen wurde. Laut der Halblinge waren weibliche Hanebito selten zu fassen zu kriegen und sehr begehrt. „Willst du zurück? Wir bringen damit nicht nur uns in Gefahr, wenn wir zweimal an der gleichen Stelle im Wald, wo nichts ist, landen.“
 

„Dessen bin ich mir durchaus bewusst.“ Er verschränkte die Arme und betrachtete das Gebüsch, in dem die kleine Katze verschwunden war. „Darum sagte ich ja, dass Tyiasur ihnen Bescheid geben soll, dass sie wohlauf ist, und wir einen sicheren Ort für sie brauchen.“ Besagter Drache brachte gerade den ersten Fisch ans Ufer. Und sofort zog er sich selbst mit an Land. „Kalt.“, stellte er simpel fest.

„Ah. Tut mir Leid.“ Das hatte Mimoun natürlich nicht bedacht. Das Wasser war zwar nicht mehr gefroren, musste aber dennoch noch empfindlich kühl sein. Sanft schlossen sich seine Hände um den schlanken Leib und schob ihn unter sein Hemd. Seit er den Drachen hatte, fiel es weiter aus, damit er in höheren, kälteren Luftschichten einen warmen Rückzugsort hatte. Zischend zog der Geflügelte die Luft ein. Wirklich kalt.
 

In dem Moment kam auch die Katze zurück. In ihren Fängen hatte sie eine Ratte und legte sie fast feierlich vor Dhaôma auf den Boden. Große gelbe Augen sahen ihn an. „Ist das für mich?“, fragte der Magier und sie sah fort, verschwand wieder im Gebüsch. „Was sagt man dazu? Ich will das nicht essen.“ Die Ratte sah wirklich nicht mehr sehr appetitlich aus. Ihre Gedärme hingen heraus.

„Okay, lassen wir es fürs erste gut sein. Vielleicht können wir ja doch noch bei den Hanebito vorbeifliegen und sie dort lassen.“, schlug Volta vor. „Und wir sollten sie ohnehin noch warnen wegen der Halblinge, nicht wahr? Wir könnten bei ihnen immerhin erreichen, dass sie oben in ihren Höhlen bleiben und nicht mehr kämpfen.“

„Hanebito leben nicht in Höhlen.“, korrigierte ihn Dhaôma sofort.

„Trotzdem wäre es hilfreich, wenn sie sich vorerst nicht mehr bei den Magiern blicken ließen.“

„Das ist nicht so einfach. Sie müssen jagen, um zu überleben.“

„Reden wir mit ihnen. Vielleicht können sie sich etwas überlegen.“

„Also fliegen wir jetzt in Richtung Sonnenaufgang?“, wollte Dhaôma wissen. Er betrachtete immer noch die eklige Ratte.
 

Ratten. Das weckte Erinnerungen. Der Geflügelte knuffte den Magier in die Seite. „Komm schon. Es ist ein Geschenk und du müsstest ihn doch noch kennen, den Geschmack von Ratten. Gut durch konnte man sie fast essen.“, lachte er, während seine Hände an der Beule vor seinem Bauch entlang strichen. Er wirkte fast schwanger.

Aber sein Gesicht wurde ernster. „Wir können nicht zu einem X-beliebigen gehen. Es muss einer vom Rat sein. Jemand, der ohnehin schon auf unserer Seite steht und der unsere Geschichte glaubt und sicher weiterverbreiten wird. Addar, Asam, Kaley… das sind die, denen ich am meisten vertraue. Aber sie sind soweit weg derzeit.“
 

„Ich weiß.“ Dhaôma nickte, beschloss dann aber, die Ratte in Ehren dort liegen zu lassen und wandte sich ruckartig ab. „Ich weiß, dass sie weit weg sind. Aber was willst du mit ihr machen? Sie zurücklassen? Aussetzen? Du müsstest dir vorstellen können, wie es sich anfühlt, zurückgelassen zu werden von demjenigen, den man gern hat. Es ist auch nicht gesagt, dass man sie dann nicht doch einzieht, um ihre Fähigkeiten zu nutzen. Und dabeihaben willst du sie auch nicht. Ich meine, du hast ja Recht, sie ist im Weg, aber…“ Er verstummte und strich sich durch das Haar. „Ich werde mit ihr reden.“, sagte er schwerfällig. Damit wandte er sich ab und hielt auf das Gebüsch zu, in dem sie verschwunden war.
 

Weit kam Dhaôma nicht. Mimoun schlang ihm von hinten die Arme um den Bauch und zog ihn fest an sich, vergessend, dass noch immer Tyiasur unter seinem Hemd steckte. Fauchend und zischend wand sich dieser hervor und verzog sich in einen der Körbe.

„Es tut weh.“ Dhaôma hatte ihn darum gebeten alles zu erklären, damit er verstehen konnte, also würde er das tun. „Es tut weh, wenn du mit mir schimpfst, obwohl es keinen Grund dafür gibt.“, nuschelte er in die braunen Haare. „Ich habe doch nie davon gesprochen, sie auszusetzen. Hältst du mich wirklich für so ein Monster? Ich will die Kleine doch nur nicht in Gefahr bringen.“
 

Das hatte er nicht erreichen wollen. Er wollte nicht, dass sich Mimoun schlecht fühlte, aber irgendwie schaffte er es immer wieder. „Verzeih.“, murmelte er leise.

Hinter ihnen rollte Xaira mit den Augen und wies Volta an, Feuerholz zu sammeln, während sie und Juuro jagen gingen. Das würde ja was werden. Dhaôma hatte eh längst gewonnen, also war das nur noch eine Sache der Zeit, bis Mimoun es begriff. Entweder sie nahmen die Katze mit oder sie brachten sie zu den Hanebito.
 

Mit einem stummen Nicken wurde Dhaômas Entschuldigung zur Kenntnis genommen. Länger als nötig hielt Mimoun ihn umschlungen, bevor er ihn von sich schob und mit einem Klaps auf den Hintern in die richtige Richtung schob. „Na los. Rede mit ihr. Und ich bitte derweil Tyiasur um eine Nachrichtenübermittlung.“ Und damit wandte er sich ab. Sein kleiner Freund war schnell gefunden und auch bereit, Kittys Familie Bescheid zu geben, was er mithilfe von Lulanivilay auch sofort tat.

Nüchtern gab er bekannt, dass man sich über seine plötzliche Anwesenheit in ihren Köpfen erschrocken habe und dass sie sich bereits Sorgen gemacht hätten, da sie unauffindbar war. Es beruhigte sie zumindest zu wissen, wo sie steckte, und man wollte gerne wissen, wie es jetzt weiter gehen sollte. Mimoun ließ den Drachen ausrichten, dass man das selber noch nicht wusste und sie sich später erneut melden würden.
 

Dhaômas Aufgabe war nicht so einfach. Er rief sie, aber sie war weg. Seufzend ließ er sich auf einen umgefallenen Baum sinken und starrte auf den Boden, wo langsam aber sicher Triebe wuchsen. Natürlich, sein Energienproblem war noch nicht gelöst, er schleppte lauter Leute in den Krieg und Mimoun war wegen ihm auch in Gefahr. Er war so nutzlos, dass er fast daran erstickte. Bau dir eine Grundlage auf und setze deine Prioritäten richtig, hatte Addar gesagt, aber was tat er? Er suchte sich den kürzesten Weg, weil die Zeit knapp wurde und missachtete damit alles, was er gelernt hatte.

„Verdammt!“, zischte er und schlug mit der Faust auf den Baumstumpf, woraufhin etliche Samen auf einmal in die Höhe schossen, aufblühten und seinen Arm einwickelten. Es brachte ihn zum Lachen. Er war so mächtig und konnte doch nichts richtig machen.

Als Kitty ihn wieder fand, hatte er den gesamten Baumstumpf in ein Kunstwerk verwandelt. Ihre Katzenaugen betrachteten sich das, bevor sie langsam wieder menschlicher wurde. Sie hielt ihm eine Eidechse entgegen und er lachte.

„Ich brauche das nicht. Du kannst es essen.“ Sie tat es. „Kitty, warum bist du mitgekommen?“

Sie zeigte auf ihn. „Weil ich da bin?“ Ein Nicken bestätigte das. „Aber im Krieg ist es gefährlich. Du bist in Gefahr, wenn du bei uns bist. Jederzeit könnten wir angegriffen werden.“ Ihr Finger stupste gegen seinen Unterarm. „Ja, ich kann auch verletzt oder getötet werden, aber ich kann mich besser schützen als du.“ Ihre gelben Augen starrten ihn an und er seufzte. „Könntest du von hier den Weg nach Hause zurückfinden?“ Sie schüttelte den Kopf. „Auch nicht, wenn ich verspreche, dich abzuholen, wenn alles vorbei ist?“ Wieder verneinte sie und er gab auf. „Und was soll ich jetzt machen? Mimoun ist böse auf mich, weil ich dich mitnehmen werde.“ Kittys kleine Hand streichelte über seinen Kopf, aber das bedeutete nicht, dass sie für ihn darauf verzichten würde, ihn zu begleiten. Sie lächelte nur dankbar. „Können wir uns darauf einigen, dass du dich aus Kämpfen heraushältst und dich in deiner Katzenform versteckst und niemandem zeigst, dass du eigentlich eine Magierin bist? Vielleicht interessierst du sie dann nicht und bleibst unbemerkt.“ Fröhlich nickte sie und er seufzte. „Ich verstehe dich ganz und gar nicht.“ Aber auch das störte sie nicht, wie es schien. Sie hatte begonnen, mit den Blümchen zu spielen, die um diese Jahreszeit einfach noch nicht blühen sollten.

Volta kam vor Dhaôma zurück und seufzte nur. „Er ist nicht sehr gut darin, nein zu sagen, oder?“, fragte er Mimoun. „Du hättest das hören müssen. Hoffnungslos weichherzig.“
 

Ein Nicken war die einzige Antwort. Ein leises Lächeln folgte. „Also haben wir jetzt eine Katze mit dabei.“ Ein Blick zu Tyiasur reichte, damit dieser die Information und das Versprechen, auf sie aufzupassen, weiterleiten konnte.

Mimoun streckte sich auf der kalten Erde aus und sah in den Himmel. Seine Augen folgten dem Flug der Wolken. Er wusste nicht, wie lange er dalag, wusste nicht zu sagen, was er dachte, aber seine Gedanken kreisten um ihre derzeitige Situation. Manchmal wirkte es so als würde dieser Magier nicht nachdenken. Was sollten sie nun mit diesem Kind anfangen? Sie mussten ständig auf sie aufpassen. Sie bedeutete nur Gewicht und einen weiteren Esser und war kein bisschen hilfreich bei ihrer Mission.

Vielleicht sollte er Dhaôma beibringen, nein zu sagen. Obwohl ihm das bei den Plagen aus Mimouns Dorf gut geglückt war. Und Amar hatte sich auch aufhalten lassen. Konnte Dhaôma sich vielleicht nur bei Magierkindern nicht durchsetzen? Oder lag es daran, dass sie nur bei ihm so anhänglich und kuschelig war. Wenn sie doch sonst niemanden so an sich ranließ. Hatte der Magier Kitty etwa unbewusst schon adoptiert? Himmel, so eine Tochter wünschte sich echt jeder. Das würde dann ‚Mama’ ausbügeln dürfen.
 

Als Dhaôma zurückkam, hatten die anderen bereits Feuer gemacht und etwas zu Essen organisiert. Er selbst hatte sich ein wenig verausgabt, weil er wieder ohne Lulanivilay Magie gewirkt hatte, also würde es kein Obst oder Gemüse geben bis auf ein paar Beeren, die er von seinem Kunstwerk mitgenommen hatte. Kitty war wieder eine Katze. Offenbar hielt sie sich an ihr Versprechen. Dennoch ignorierte sie alle anderen, als wären sie gar nicht da.

„Warum ich?“, murmelte Dhaôma, bevor er sich zu Mimoun setzte. „Verloren.“, erklärte er ihm zerknirscht. „Es tut mir Leid.“
 

„Ich weiß.“, lächelte Mimoun still. Er hatte nur kurz zu Dhaôma gesehen, als dieser sich niederließ, und starrte nun wieder in den Himmel. „Mama sollte lernen sich gegen ihren Nachwuchs durchzusetzen, sonst tanzen sie uns bald alle auf der Nase herum.“ Kurz strich er ihm lächelnd über die Wange. „Hältst du es wirklich für klug, sie mitzunehmen? Krieg ist nichts, was man einem Kind antun sollte.“
 

„Nein. Es ist nicht klug, aber…“ Hilflos zuckte er mit den Schultern, sagte nicht einmal was gegen das Mama, das er sonst immer vehement ablehnte.

„In Ordnung. Wir wissen alle, dass du immer ja sagst, soweit ich es beurteilen kann, also kommt jetzt essen. Wenn nicht, werden wir auch die noch rohen Stücke grillen.“, drohte Xaira und bekam damit die Aufmerksamkeit.

„Das wäre gemein.“, bemerkte Dhaôma und erhob sich wieder.
 

„Ich glaub nicht, dass du dich mit Vilay anlegen willst.“, stellte Mimoun ungerührt fest und betrachtete die Frau, indem er seinen Hals überstreckte. Gegrilltes zählte nicht zu seinen Lieblingsspeisen, war aber auch nichts, was er ablehnen würde. Trotz allem folgte er Dhaôma und sie ließen sich am Feuer nieder.

Obwohl Mimoun hier ausreichend Leckerbissen vorgesetzt bekam, kaute er nur lustlos darauf herum. Sein Blick wanderte immer wieder zu der kleinen Katze, die es sich auf Dhaômas Schoss gemütlich gemacht hatte. Er spürte eine Berührung und betrachtete Tyiasur, der es sich mit seinem selbst erbeuteten Fisch auf Mimouns Schoss bequem gemacht hatte. Kurz warf ihm der Wasserdrache einen abschätzigen Blick zu und futterte ungerührt weiter. Das hieß wohl, er solle sich nicht so viele Gedanken machen. Kichernd strich er ihm über den Kopf.
 

In dieser Nacht schien der Mond hell und erschwerte Dhaôma das Schlafen zusätzlich. Die Situation, in der sie sich befanden, gefiel ihm nicht. Im Grunde waren sie gerade dabei, ohne Plan einfach drauflos zu rennen. Zwar war ihm das nicht wirklich zuwider, hatte er das schließlich vorgeschlagen, aber es gefiel ihm nicht, dass sie damit so schutzlos waren. Seitdem die Sache mit Kitty aufgekommen war, fühlte er sich, als wären sie eingekesselt, als stünden sie auf einem Silbertablett, über dem Radarr aufragte. Nein, im Grunde ging das schon so, seit sie wussten, dass Radarr Jagd auf die Drachen machten. Er hatte Angst um sie.

Schweigend erhob er sich, betrachtete kurz Mimoun, der im Gegensatz zu ihm genügend körperliche Bewegung bekam und deshalb meist sehr tief schlief, dann setzte er sich auf Lulanivilays andere Seite und betrachtete die komplizierten, rotgrünen Muster auf dem Flügel, den dieser reflexartig zum Schutz vor der Kälte vor ihn gespannt hatte.

„Du bereust, Freiheit.“, stellte der Drache fest. „Was?“

„Ich habe Angst.“

„Man kann es sehen.“

„Ist das so?“ Seufzend legte er den Kopf in den Nacken und betrachtete den beinahe vollen Mond. „Sag mir, was ich tun soll. Was würdest du machen?“

„Zum Meer fliegen und große Fische jagen.“, antwortete der Drache mit gedämpfter Stimme. Er wollte niemanden wecken. „Aber das ist nicht dein Wunsch. Du willst, dass sie alle leben.“

„Ist das falsch?“

„Nein, nur schwer.“

„Was soll ich also tun?“

„Ich kann dir nicht sagen, was du tun willst. Du musst alleine darauf kommen.“

Schwer schloss der junge Mann die Augen und gab sich dieser massiven Verantwortung hin, bis er plötzlich die Augen öffnete. „Kannst du dich bewegen, Vilay?“

„Sicher.“

„Lass uns fliegen. Wie früher.“

„Himmel wird sich Sorgen machen.“

„Tyiasur kann ihm sagen, dass alles okay ist. Bitte.“

Als hätte Lulanivilay jemals etwas dagegen, zu fliegen. Leise trottete er weg vom Lager, bevor er startete.

Es dauerte einige Zeit, bis sich Dhaômas Mütchen so weit abkühlte, bis er wieder klar denken konnte. Unter ihnen war dichter Wald, kleinere Flüsse und wie winzige Glühwürmchen verteilt die Siedlungen, die man ohne ihre Feuer kaum wahrgenommen hätte. Über ihm waren der Mond und die Sterne und winzige Wolken. Es war vollkommen still bis auf das Pfeifen des Windes.

„Ich weiß, warum du Angst hast.“, meinte Lulanivilay irgendwann. „Jetzt gerade hast du keine.“

Schweigend ließ Dhaôma seine Augen durch die Nacht schweifen. „Ich weiß es auch.“, sagte er. „Aber daran lässt sich zurzeit nichts ändern.“

„Es wird besser, wenn du wieder frei bist. Es dauert sicher nicht mehr allzu lange.“

„Oder länger. Vilay, geh mal runter. Vorsichtig.“ Er hatte etwas gesehen, das ihn beunruhigte. Viele kleine Feuer. Als sie näher waren, erkannte er, dass es sich um ein Lager handelte. Ein Lager auf einer Lichtung, darum herum Soldaten in ihrer Kriegeruniform. War es Radarrs Stützpunkt? Waren sie gefunden worden? Hatte man auf sie gewartet?

„Wir fliegen zurück.“

„Soll ich sie einfach einsammeln?“

„Nein, das ist nicht nett. Wir warnen sie vor und legen dein Geschirr an, sonst falle ich am Ende hier noch runter.“

Lulanivilay machte ein Geräusch, als fände er es lustig. „Ich fange dich auf.“ Aber weil er sie eben nicht handgreiflich aus dem Schlaf reißen durfte, machte er aus seiner Landung auch keinen Hehl. Er bretterte durch ein paar Äste, hinterließ einige tiefe Furchen auf dem Boden und peitschte einmal mit dem Schwanz hinterher, so dass sie allein von dem Krach schon auf den Füßen standen.
 

„Was zum…?“, fluchte Mimoun ungehemmt und erfasste blitzschnell die Situation. Dhaôma saß auf Lulanivilays Rücken und den Spuren zu urteilen war der Drache gerade gelandet. Das hieß im Umkehrschluss, dass Dhaôma weg gewesen war. Ohne Bescheid zu geben. „Wo warst du?“, verlangte er schärfer als nötig zu erfahren. Sie befanden sich auf Kriegsgebiet. Der Magier konnte doch nicht so einfach herumstromern, wenn ihm der Sinn danach stand.
 

„Ich musste meinen Kopf frei bekommen und über meinen Horizont sehen, um zu verstehen, dass ich mich selbst fange.“, gab Dhaôma zur Antwort, dann wandte er sich an die anderen. „Wir fliegen morgen in die Steppe oder direkt zu den Hanebito. Die Armee liegt auf der Lauer und wartet nur auf uns. Wir haben sie gesehen, nicht einmal eine Flugstunde von hier entfernt.“
 

Es war noch mitten in der Nacht, wie ein Blick in die Umgebung bewies. Knirschend mahlten Mimouns Zähne aufeinander. Auch wenn sich eine Flugstunde nicht viel anhörte, war es doch eine gewisse Strecke, die die Magier zu bewältigen hatten. Also konnten sie noch ein wenig Kraft schöpfen. Auch wenn es ihm nicht behagte, hier in der Nähe von feindlich gesinnten Magiern zu nächtigen. Und die Frage war: ruhten sie auch oder kamen sie ihnen immer näher?

„Volta. Xaira. Könnte ich euch darum bitten, wach zu bleiben? Wir können jetzt noch nicht los, es ist zu dunkel und ich muss selber fliegen.“

„Und wir können uns während des Fluges in den Körben ausruhen.“, machte Volta deutlich, dass er verstanden hatte, worauf Mimoun hinaus wollte. „Natürlich bleibe ich wach.“

Dankbar nickend wandte sich der Geflügelte seinem Freund zu. „Sag mir doch wenigstens Bescheid. Was ist, wenn du eines Tages nicht mehr von so einer Aktion zurückkommst?“, bat er sanft. „Ich weiß, dass du mit Lulanivilay unterwegs warst und ich vertraue ihm voll und ganz, aber unsere Gegner sind darauf aus, Drachen zu töten.“
 

„Damit du nicht schlafen kannst und dich sorgst? Oder am Ende mitkommst? Ich brauchte Zeit für mich. Ohne diese vielen Leute um mich herum. Und ich wollte dich auch nicht vor den Kopf stoßen.“ Vorsichtig rutschte er von dem Drachen herunter, da sie offenbar beschlossen hatten, noch ein wenig zu bleiben. „Du warst so müde, dass du nicht einmal gemerkt hast, dass ich aufgestanden bin, obwohl du sonst immer reagierst.“
 

Traurig senkte er den Blick. „Ich mache dir keine Vorwürfe deswegen, jeder braucht mal Zeit für sich, aber…“ Mimoun schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Er verstand Dhaômas Standpunkt durchaus. Aber verstand Dhaôma auch, wie er sich fühlte?

Vorsichtig, fast ängstlich nahm Mimoun die Hand seines Freundes und zog ihn auf den Boden. Dieser hatte Recht gehabt. Der Geflügelte war müde und eine Diskussion würde nur Kraft und Nerven kosten. Seufzend schloss Mimoun die Augen. Er zog den Magier nicht in eine Umarmung, sondern hielt nur dessen Hand fast krampfhaft fest.
 

Lächelnd begann Dhaôma die Hand zu streicheln, erst mit dem freien Daumen, dann mit der freien Hand. Irgendwann ging er dazu über, sein Haar zu streicheln. Lulanivilay rollte sich um sie herum wie eine Mauer und irgendwann spürte Dhaôma die Katze in seinen Kniekehlen. Wortlos streichelte er Mimoun weiter, um ihm zu versichern, dass er da war, dass er nicht mehr fort ging.
 

Er konnte nicht schlafen. Jede dieser streichelnden Berührungen wollte er spüren und in sich bewahren. Mimoun hatte Angst, dass Dhaôma eines Tages ohne ein Wort verschwand und nie wieder zurückkehrte. Zwar konnte er noch ein wenig Schlaf finden in dieser Nacht, doch erholt fühlte er sich nicht. Aber das war egal. Sie mussten von hier verschwinden und zwar so schnell es ging.

Während des Fluges, der sie schon seit Stunden Richtung Steppe führte, wurde Mimoun immer ruhiger. Immer häufiger verfiel er in eine Art Segelflug, um Kraft zu sparen. Eine Pause konnten sie sich aber nicht leisten, also biss er die Zähne zusammen.

Mit geschlossenen Augen lauschte er dem Wind, als ihn ein kräftiger Druck, wieder wach rüttelte. Erschrocken blinzelte er Lulanivilay an.

„Du bist immer tiefer gegangen.“, erklärte Volta. „Bist du in Ordnung?“

Der Blick der grünen Augen löste sich von dem großen Drachen und irrte zu dem Halbling hinüber. „Natürlich. Ich war mit meinen Gedanken nur woanders.“, grinste Mimoun.

„Und zwar auf dem Weg ins Traumland.“, merkte Xaira an. „Machen wir eine Pause.“
 

Auch Dhaôma hatte das mit Erschrecken bemerkt und nun suchte er mit den Augen einen Ort, der ihnen einen gewissen Schutz geben konnte. Sie hatten regelrechtes Glück, dass in dem Fluss, dem sie schon seit einiger Zeit folgten, eine Insel zu sein schien, groß genug für viele Bäume, die ihnen Deckung geben würden.

„Da unten.“, sagte er und zeigte hinunter.
 

Die Pause dauerte bis zum nächsten Morgen. Juuros Einschätzung nach waren die Magier nicht einmal halb so weit gekommen wie sie. Und vermutlich waren sie in die falsche Richtung gelaufen. Im Grunde mussten sie sich Dank Lulanivilay nicht hetzen. Also beschlossen sie, die nächste Magierstadt auch aufzusuchen, um ihren ursprünglichen Plan nicht zu vernachlässigen. Zwei Tage später stießen sie auf eine recht große Stadt und aufgeschlossene Anführer, die ihnen geduldig zuhörten. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als der große Saal, in dem sie sich alle befanden, gestürmt wurde. Tyiasur hatte sie gerade noch rechtzeitig warnen können, hatte einen ungeduldigen Gedanken von außerhalb des Raumes erhascht, denn die Zuhörerschaft hatte das nicht kommen sehen.

Herein kamen Soldaten. Genug, um sie alle zu töten, aber zum Glück reagierten die Drachen sofort. Tyiasur stoppte die Magie, Lulanivilay unterstützte den kleinen Blauen und bei den Soldaten brach augenblicklich Panik aus. Einem solch großen Drachen entgegenzustehen und keine Magie zur Verfügung zu haben, war der Alptraum aus ihren schlaflosen Nächten.

Schon wollte Lulanivilay sie vernichten, da zog Dhaôma an einer seiner Krallen. „Wir gehen.“, beschloss er mit fester Stimme. „Keinen Kampf!“

„Aber Dhaôma, sie sind doch hilflos!“, rief Volta und wurde im nächsten Moment von Xaira in einen der Körbe geschupst. „Wir können sie alle besiegen!“

Lulanivilay gehorchte schon, breitete seine Flügel aus und die Holzdecke zersplitterte unter dem Druck seines massiven Kopfes.

„Draußen sind noch mehr Magier.“, warnte sie Tyiasur, während Splitter auf sie niedergingen.
 

„Wärst du auf einen solchen Sieg etwa stolz?“, fauchte Mimoun den jungen Halbling wütend an und kämpfte sich durch die herabregnenden Trümmer nach oben. „Wir wollten Frieden bringen und nicht weiteres Leid und Zerstörung. Wenn du das noch nicht begriffen hast, bist du hier definitiv falsch!“

Der Geflügelte ließ sich auf dem Rand des zerstörten Daches nieder und betrachtete sich Stirn runzelnd die Szene. Da waren Soldaten, die verzweifelt versuchten, ihre Magie zu wirken. Wieder andere versuchten den unangenehmen Druck auf ihrem Körper durch Kratzen loszuwerden. Und dann gab es noch solche, die sich davon nicht hindern ließen. Ein Stein streifte ihn am Unterschenkel. Der Nächste war besser gezielt, auf die Entfernung aber ohne Wirkung. Es war erstaunlich, wie einfach er über solch eine Aktion hinweg sehen konnte, wenn es ihn selbst betraf und nicht Dhaôma. Früher hätte es ihm in den Fingern gejuckt, diesen Idioten die Leviten zu lesen, heute nicht mehr. Heute drehte er ihnen demonstrativ den Rücken zu und schwang sich in die Lüfte. Wo war Dhaôma? Wo waren Lulanivilay und die anderen? War Kitty bei ihnen?
 

Lulanivilay hatte ein paar Mal mit den Flügeln geschlagen und hatte schnell an Höhe gewonnen. Er tobte innerlich, man konnte es spüren, wenn man ihn berührte. Ebenso wie Juuro, dessen starke Arme Dhaôma bald den Bauch eindrückten. Unter ihnen war es zu Schlägereien gekommen – Magier gegen Magier.

„Es sieht so aus, als wollen die einen uns verteidigen. Die anderen wollen uns wohl vernichten.“

„Das da unten sind Männer meines Bruders.“, sagte Dhaôma leise, so dass im Grunde nur Juuro ihn hören konnte.

„Woher weißt du das?“

„Die roten Bänder an den Armen. Das ist das Zeichen seiner Einheit.“ Dhaôma wandte sich ab. „Mimoun, bist du verletzt? Ist Tyiasur bei dir?“
 

Was? Dhaôma brauchte doch noch die Hilfe des kleinen Wasserdrachens. Also war er wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Tyiasur bei dem Magier blieb. Aber wenn er nicht dort war… Mimoun Herz setzte einen Schlag aus und panisch begann sein Blick das Trümmerfeld unter ihnen abzusuchen. Nichts. Nichts Blaues war zu sehen. War er begraben worden? Nein. Sonst würde seine Kraft nicht mehr wirken. Aber wo steckte er dann?

„Mach dir nicht ins Hemd.“

Ernsthaft wütend wandte sich Mimoun Xaira zu. Sie konnte doch nicht verstehen, wie er sich fühlte, weil er seinen Drachen… Sie saß nicht in dem Korb, sondern hing halb draußen, sich krampfhaft mit einer Hand festklammernd. Die andere hatte sie halb über ihren Kopf erhoben. An ihr sickerte Blut entlang, das aus kleinen Wunden tropfte, die die vor Schreck aufgerichteten Stacheln des kleinen Drachens verursacht hatten, der kopfüber in ihrer Hand baumelte.

Tiefe Erleichterung ergriff den Geflügelten. „Es tut mir Leid. Es tut mir Leid.“, beteuerte er immer wieder, als Tyiasur auf die Schultern seines Reiters überwechselte. Im selben Atemzug begriff Mimoun auch, warum Xaira keinen Versuch startete, in ihren Korb zu klettern. Er war belegt und wurde verteidigt. Einen beherzten Griff und tiefe Kratzer später saß die kleine Katze in der einstmaligen Vorratstasche, die zu ihrem Transportmittel geworden war. Nun war der Weg für Xaira frei.

„Lasst uns von hier verschwinden. Je eher wir weg sind, desto eher hören hoffentlich die Prügeleien auf. Tyiasur. Bitte blockiere die Magie so lange wie möglich, damit sie sich keine ernsthaften Verletzungen zufügen können.“ Einen schmerzhaften Kopfstoß später stimmte der kleine Drache seinem Wunsch zu. Ja. Den hatte er wirklich verdient.
 

„Tyiasur, kannst du ihnen bitte vermitteln, was ich sagen will?“, rief Dhaôma, nachdem auch er sich ein wenig von dem Schreck, ihn womöglich verloren zu haben, beruhigt hatte.

„Allen oder nur den Kriegern?“

„Alle, die du erreichen kannst.“

„Das sind nicht viele. Es ist anstrengend so viele Magier auf einmal aufzuhalten. Außerdem kann ich dann die Magie nicht mehr stoppen.“

„Das ist in Ordnung. Sag ihnen bitte, dass es schade ist, dass sie so versessen auf Krieg sind. Und vermittle ihnen meinen Dank, dass sie uns helfen. Sie sollen wenn möglich niemanden töten, denn damit ist niemandem geholfen.“

„Du bist ein Träumer, Freiheit.“, mischte sich Lulanivilay ein, was Dhaôma zum Lächeln brachte.

„Würdest du ihn bitte dabei unterstützen, damit er mehr Menschen erreichen kann?“

„Sicher.“

Kurz darauf kehrte bei den Magiern für einen unheimlichen Moment Stille ein, bevor lautes Rufen zu ihnen heraufhallte. Einige schienen enthusiastisch ihre Hilfsbereitschaft anzubieten, andere verfluchten sie und ein paar versuchten sie magisch anzugreifen, aber ihre Zielgenauigkeit wurde von den Friedensunterstützern gestört. Dhaôma lachte frei heraus. „Ihr werdet es schon noch begreifen!“, rief er und winkte und Tyiasur übersetzte auch das.

Dann geriet die Stadt außer Sicht.
 

Mimoun wünschte sich gerade in die Sicherheit seines Volkes. Da wusste er zumindest, dass die, die er liebte, sicher waren und nicht jeden Moment befürchten mussten, angegriffen zu werden.

Niemand konnte sagen, was geschehen wäre, wären die Drachen nicht bei ihnen gewesen. Dankbar drückte er seine Wange gegen Tyiasurs Kopf. Aber vielleicht wäre es eher so gewesen, dass sie gar nicht erst diese Stadt betreten hätten.

„Ehrlich? Diese Soldaten gehen mir gerade gehörig auf die Eier.“, maulte er frei heraus.
 

Sie flogen weiter, so schnell sie konnten. Xaira schimpfte mit Volta wegen seiner Uneinsichtigkeit im Bezug auf das Töten. Irgendwie schaffte sie es, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, aber ob er einsichtig war, blieb abzuwarten.

Sie konnten die Steppe schon sehen, als sie ein paar Tage später eine weitere Stadt anflogen. Lange hatten sie diskutiert, ob sie das Risiko eingehen sollten, aber Dhaômas Argument, dass sie sich wegen einem solchen Zwischenfall nicht ins Bockshorn jagen lassen sollten, zog, so dass sie – angespannt und mit einer gehörigen Portion Unwohlsein – ein weiteres Gespräch mit Magiern hinter sich brachten. Diesmal wurden sie nicht angegriffen, aber sie warnten die Menschen dort dennoch vor den Übergriffen der Armee. Dhaôma hatte zu befürchten begonnen, dass dieser Versuch, Frieden zu schaffen, am Ende Krieg im Land der Magier allein bedeutete.

Und dann erreichten sie die große Steppe. Es war inzwischen Frühling, aber wurde noch immer bitterkalt nachts. Gerade auf der Steppe hatten sie Probleme, warm genug zu bleiben, um sich zu bewegen. Aber hier bestand nur eine geringe Chance, von Magiern angegriffen zu werden. Dhaôma sehnte sich danach, auf die Inseln hinauf zu kommen. Wenn mit dem Hohen Rat zu sprechen, sein nächster Schritt sein würde, dann wollte er nicht so viel Zeit damit verbringen, dorthin zu gelangen.

„Hetz nicht, Freiheit.“, hörte er seinen grünroten Drachen immer wieder sagen, woraufhin er einmal tief durchatmete. Es war nicht so leicht für ihn, sich zusammenzureißen.
 

Die Steppe. Seine Heimat war zum Greifen nahe. Auch ihm fiel es schwer, ruhig zu bleiben, wenn auch aus anderen Gründen als Dhaôma. Seine Familie war hier, seine Freunde. Es war vielleicht nur ein Winter gewesen, aber dennoch vermisste er sie.

Drängeln sollte Mimoun aber auch nicht. Es war eine beschwerliche Reise und im Gegensatz zu Lulanivilay musste er kein zusätzliches Gepäck mitschleppen. Die Reise war dennoch auch für ihn erschöpfend. Sein Blick glitt suchend über das weite Land, das sich vor ihnen ausbreitete. Wo waren sie eigentlich gelandet? Die kleine Gruppe hatte so viele Kursänderungen vorgenommen, so viele kaum noch nachzuvollziehende Routen genommen… Ach. Das würde kein Problem darstellen. Wenn sie den ersten seiner Art trafen, würde er sich wieder zurechtfinden.

Aufgeregt wie ein kleines Kind hibbelte er hierhin und dorthin und Xaira war erwartungsgemäß die Erste, die explodierte. „Du bist momentan wirklich schwer zu ertragen!“, fauchte sie ihn an. „Tob dich an Dhaôma aus, aber verschone uns mit deinem Bewegungsdrang.“

Verblüfft blinzelte Mimoun zu dem Halbling hinüber und grinste dann schelmisch. „Tut mir Leid. Ich werde mich bemühen, ruhiger zu werden.“
 

Die ersten Inseln tauchten aus einer Art Hochnebel auf, als sie in Richtung Großes Wasser flogen. Seit Tagen war es so diesig und regnete auch immer wieder mal. Dhaôma war so glücklich über seinen Poncho, der den Regen wenigstens einigermaßen abhielt. Aber noch glücklicher war er, als er auf einer der Inseln Gestalten ausmachte, die sich in die Luft erhoben. Juuro hatte sie auch gesehen, denn er spannte sich. Und Dhaôma wurde aufgeregt. Welche Insel war es? Waren sie weit von Addars entfernt? War Silias Insel nahe? Denn auch wenn Mimoun es nicht gesagt hatte, so wusste Dhaôma einfach, dass sein Freund sich Vorwürfe machte, sein Versprechen gebrochen zu haben, also plante er einen Besuch bei Silia, auch um zu sehen, ob es der Mutter und dem Baby gut ging.

„Mimoun, kündigst du bitte unsere Freunde an? Nicht, dass sie uns nicht dahaben wollen. Dann sollten wir nicht landen.“
 

„Mach ich.“, lachte Mimoun ausgelassen und schraubte sich mit einer Spirale höher, bevor er kehrt machte und sich Tyiasur aushändigen ließ. „Es ist garantiert einfacher zu erklären, wer ich bin, wenn er dabei ist. Also streng dich an. Ich weiß, du schaffst das.“ Und schon war er wieder verschwunden.

Es wäre nicht nötig gewesen den Wasserdrachen mitzunehmen. Lulanivilay war schließlich nicht zu übersehen gewesen. Aber Mimoun war ein Drachenreiter. Als solcher war er sicher schon längst bei seinem Volk bekannt und als solcher hatte er natürlich auch mit seinem Drachen zu erscheinen.

Mit freundlicher Zurückhaltung wurde der Neuankömmling begrüßt und Mimoun stellte sich vor, wie es sich für einen Drachenreiter gehörte.

„Also doch.“, stellte ein Jungspund aus den hinteren Reihen der Neugierigen fest. „Wir haben schon viel von dir gehört.“

„Nur Gutes, hoffe ich.“, lachte Mimoun zurück. Das vorlaute Mundwerk des Burschen fand keine Begeisterung bei den Erwachsenen.

„Natürlich.“, sprang der Älteste der Gruppe ein, aber den Jungen konnte er nicht unterbrechen.

„Und dass du ein Kindskopf bist.“

„Nerofa, genug.“

Mimoun lachte nur. Es störte ihn kein bisschen. Er fand es erfrischend.

„Warum sind deine beiden Begleiter nicht mit zu uns gekommen? Fürchten sie uns?“

„Nein.“, wehrte Mimoun sofort ab. „Wir haben nur weitere Freunde mitgebracht. Sie sind ein wenig… speziell.“, wich er aus und erklärte es lieber gleich, bevor jemand nachfragen konnte. „Es sind Halblinge. Ihre Eltern sind sowohl Magier als auch Geflügelte. Dhaôma befürchtet, dass ihr sie vielleicht nicht bei euch haben wollt.“

Lange Zeit herrschte Schweigen. „Sie sind Freunde von euch.“, stellte der Älteste schließlich fest. „Und ihr seid diejenigen, die unsere Jungen vor dem Krieg beschützen wollen. Warum sollten wir sie fortjagen?“

Das war also ein Einverständnis. Begeistert grinsend schraubte er sich noch wenige Meter in die Höhe und winkte seinen Freunden ausladend zu, dass sie ruhig kommen konnten.
 

Dank Tyiasur verstanden sie das Rumgehampel auch auf die Entfernung und Lulanivilay flog auf die Insel zu. Er war müde und ihm war kalt und er wollte ein paar Steine haben, auf die die Sonne schien. Nicht zu haben bei dem Wetter, aber das würde sich hoffentlich bald geben.

Dhaôma wurde wie Mimoun als Freund begrüßt. Egal, wie er sich kleidete, er war bekannt unter den Hanebito und die Halblinge staunten nicht schlecht, wie anders hier die Begrüßung vonstatten ging. Kein ewiges Gerede und etikettierte Floskeln, sondern einfache Worte mit tiefem Sinn. Die Kinder wurden nicht festgehalten und rannten herum, kamen ihnen so nahe wie die aus der Holzhütte im Wald. Am unglaublichsten war die Tatsache, dass ihnen angeboten wurde, bei den anderen in den Häusern zu übernachten und dass man dem großen Drachen Decken brachte, die ihn wärmten. Als man ihnen erklärte, dass man schon gehört hätte, dass die Drachen die Kälte nicht so gut vertrugen, waren die Halblinge absolut überzeugt, dass dieses Leben aus Umsicht und Hilfsbereitschaft wirklich erstrebenswert war.

Es wurde ein lustiger Abend. Mit Dhaômas Feuersteinen machte man ein Feuer, das die Kälte ein wenig vertrieb, es wurden Geschichten erzählt und Dhaôma wurde von den Kindern zum Fangenspielen verdonnert. Offenbar war der Magier als Babysitter bekannt, was die Halblinge ein wenig wunderte, weil sie eher den Eindruck gewonnen hatten, dass es Mimoun war, der mit Kindern umgehen konnte.

Als etwas später am Abend dann Kitty in ihrer Katzengestalt kam und die Kinder mit ihr spielen wollten, musste dann aber eingegriffen werden, denn die Katze setzte Zähne und Krallen ein, um sich die Rasselbande vom Leibe zu halten. Die blutigen Kratzer waren kein schöner Anblick.
 

Lange unterhielt sich Mimoun an diesem Abend mit Lyetor, dem Dorfältesten. Es interessierte ihn stark, in welcher Richtung und Entfernung sich Addars Heimatinsel befand. Die kleine Reisegruppe befand sich etwa auf halber Strecke zwischen der damals besuchten Trainingsinsel und ihrem Zielpunkt, nur deutlich weiter östlich. Es würde also garantiert noch eine Woche dauern, wenn nicht mehr. Ein wenig war das schade. Mimoun hatte gehofft schon dichter dran zu sein.

Beunruhigender fand er die Eröffnung Lyetors, dass die Rekruten des letzten Jahres schon fast vollständig zur Verstärkung der Front gerufen wurden. Völlig entgeistert starrte Mimoun den Älteren an. Das durfte nicht wahr sein. Warum schon so früh? Sie konnten ihre Ausbildung doch sicher noch nicht vollständig abgeschlossen haben.

Das Kinderlachen klang für den jungen Drachenreiter mit einem Mal schal. Es konnte ihn nicht erfreuen, wusste er doch jetzt, dass sich Aylen und die anderen nun in größter Gefahr befanden. Auf einen fragenden Seitenblick Juuros hin, erklärte er, was ihn bedrückte. Wie zum Trost fand die Pranke des Mannes Mimouns Schulter. Und auch der Dorfälteste entschuldigte sich, da er den Gast nicht in Kummer hatte stürzen wollen.

„Schon gut.“, wehrte Mimoun ab. „Ich bin Euch dankbar für diese Information.“ Sein Blick suchte die Gestalt des Magiers. „Sagt es Dhaôma bitte heute nicht mehr. Er würde nur wieder die ganze Nacht wach liegen und sich Vorwürfe machen.“

Danach versuchte Mimoun alles auszublenden bis auf Dhaôma. Mit dessen ausgelassenem Spiel mit den Kindern, seinem Schimpfen mit Kitty und die Begeisterung über die schnelle Heilung versuchte er alle trüben Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen.

Es wurde spät, als die Kinder schließlich ins Bett gerufen wurden und sich einer nach dem anderen schließlich zur Nachtruhe begab. In dieser Nacht suchte er mehr als sonst die Nähe seines Freundes.
 

Eigentlich spürte Dhaôma das Kuschelbedürfnis, aber er hatte sich seit Wochen das erste Mal richtig ausgepowert. Das ständige Fliegen war zwar wunderschön, aber er vermisste die körperliche Arbeit, die das Wandern mit sich brachte. Er hatte es alles auf einen Schlag nachgeholt und sein Körper forderte Tribut. Gerade als er fragen wollte, ob er etwas tun konnte, schlief er ein, ein zufriedenes, liebevolles Lächeln auf den Lippen und seine Hand immer noch in Mimouns Haaren vergraben.
 

Auch hier fand man es schade, dass sie schon so bald gehen wollten, aber die beiden Drachenreiter drängte es vorwärts. Eine Woche in ihrer Geschwindigkeit zu fliegen, nahm genug Zeit in Anspruch und sie hatten es eilig. Außerdem war der Winter gerade erst vorbei. Die Vorräte der Inseln dürften sich ihrem Ende zuneigen, da wollte Dhaôma ihnen nichts wegessen. Stattdessen half er den einheimischen Pflanzen ein wenig, indem er den Boden abtaute und sie stärkte. Mehr konnte er bei dieser Kälte einfach noch nicht tun.

Xaira fiel es am schwersten zu gehen. Das hier war anders als das Gerede vom friedlichen Zusammenleben bei ihr zu Hause. Die Menschen hier waren wirklich freundlich und hilfsbereit und sie taten sich nicht halb so schwer damit, ihre Vorurteile ein wenig beiseite zu schieben, um die Wirklichkeit zu sehen. Auch wenn man sie bemitleidet hatte, nachdem sie mit ihnen geredet hatten, festgestellt hatten, dass auch sie Menschen waren, hatte sich das Mitleid gelegt. Dass sie sie nicht mit Abscheu betrachteten lag jedenfalls definitiv an Dhaôma und Mimoun, denn als sie fragte, lachte die Frau, mit der sie sprach, nur und zeigte demonstrativ in die Richtung der turtelnden Männer.

„Als ob es so schlimm wäre.“, meinte sie und kicherte.

Xaira verstand jetzt auch viel besser, warum diese beiden so fest an dem Glauben festhielten, dass sie den Frieden herbeiführen konnten. Auch wenn die Magier wenig Bereitschaft zeigten, Hanebito zu akzeptieren, so zeigten die Hanebito umso mehr davon, wenn es um Magier ging. Sie hatten ein wunderbares Beispiel über Jahre kennen lernen können und wenn alle sich so verhielten, dann hatten sie gar nichts gegen sie einzuwenden.
 

Immer wieder führte ihre Reise sie an kleineren Dörfern vorbei. Selten blieben sie für ein paar Stunden. Noch seltener übernachteten sie in einem der Dörfer. Die natürliche Neugierde und der Hunger nach neuen Geschichten dieses Volkes verblüffte die Halblinge ein ums andere Mal.

Mit jeder weiteren Insel, die sie passierten, jeder weiteren Stunde, die sie ihrem Ziel näher kamen, wurde Mimoun aufgeregter und vorfreudiger. Natürlich hatte er sie zwischenzeitlich wieder gesehen, aber er freute sich dennoch riesig, wieder hier zu sein.

„Ist der immer so, wenn er nach Hause fliegt?“, fragte Xaira schließlich entnervt.
 

Dhaôma musste darüber lachen. Sie fragte das schon zum zweiten Mal, aber er hatte gar nicht das Gefühl, dass Mimoun anders wäre als sonst. Früher jedenfalls war er häufig so gewesen. „Tut mir Leid. Ich hatte nur einmal das Vergnügen, mit ihm nach Hause zu fliegen, aber damals konnte man von Vorfreude nicht sprechen.“, sagte er.

Und dann kam Addars Insel endlich in Sichtweite. Dhaôma erkannte sie schon von weitem, schließlich war er oft genug um sie herum und auf sie zugeflogen. Seine Augen begannen zu leuchten.

„Diesmal ist es wirklich eine Überraschung!“, rief er Mimoun zu. „Sie werden wohl kaum schneller ihre Nachrichten verbreiten können, als wir fliegen, nicht wahr?“

„Dhaôma, hör auf, hier rumzuzappeln, sonst fallen wir beide runter.“, beschwerte sich Juuro und der Magier lachte befreit.

„Entschuldige.“

Aber es änderte gar nichts. Schnell wurde die Insel größer und als Dhaôma Fiamma erwähnte, kannte plötzlich Lulanivilay kein Halten mehr. Plötzlich wurde er schneller, nutzte all seine Kraft und Magie, um den Wind zu bändigen und schneller zu werden. Noch bevor die Hanebito der Insel die Chance hatten, sich in die Luft zu erheben, landete er direkt auf dem Platz vor Addars Haus und steckte seinen Kopf ins Innere.

„Ist das Feuerkind da? Mir ist kalt."

Sie wachsen so schnell

Kapitel 63

Sie wachsen so schnell…
 

Die Beschleunigung des Drachens kam so überraschend, dass Mimoun zurückgefallen war. Nur mit Mühe hatte er dafür sorgen können, dass der Abstand nicht noch größer werden konnte. Lachend landete der Geflügelte auf der Insel. Dieser Drache mit seiner unbedarften Geradlinigkeit war einfach herzerfrischend.

„Ihr seid wieder da.“ Ein Anprall auf Höhe seiner Körpermitte zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Mimoun kam gar nicht dazu zu antworten, denn Amar flatterte weiter und auf Dhaôma zu und sprang ihm in die Arme. „Und ihr habt noch jemanden zum Spielen mitgebracht.“ Der Junge kuschelte sich an den Freund. „Ich bin gut, nicht wahr? Nur weil ich mit ihm geschimpft habe, ist Mimoun den Winter über bei dir geblieben.“

Derweil versuchte Leoni den riesigen Drachenkopf beiseite zu schieben, um nach draußen zu gelangen.
 

Lulanivilay zog sich zurück, denn er hatte die Kleine gesehen. Sie schlief. Wie blöd war das denn? Sollte er sich jetzt etwa gedulden?

Und Dhaôma knuddelte seinen kleinen Freund durch. Seinen Armen konnte er nicht so einfach entkommen wie Mimouns, denn seine Stimme hatte ihn vorgewarnt. Er freute sich riesig, ihn wieder zu sehen. „Ja, das war toll.“, flüsterte er. Umso fester wurde die Umarmung erwidert.

Nach und nach kamen mehr Leute aus ihren Häusern und auch die Halblinge kletterten aus ihren Körben. Leoni umarmte den schwarzhaarigen Freund zur Begrüßung und Asam schloss sich kurzerhand an, seine Frau einfach mit umarmend.

„Wir hatten gar nicht so bald wieder mit euch gerechnet.“, merkte Karo an, die wartete, bis sie an der Reihe war.
 

„Sollen wir wieder gehen?“, fragte Mimoun spaßhaft und bekam sofort von mehreren Seiten vehemente Gegenargumente. Asam war da schon entschiedener bei der Sache und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an den Drachenreiter.

„Hast du etwa versucht zu trainieren?“, lachte Mimoun über diese Bemühungen und half Leoni, sich herauszuwinden. Nicht dass sie noch zerquetscht wurde.

„Es war Winter. Ich hatte Wichtigeres zu tun.“ Das junge Ratsmitglied klopfte seinem Freund gegen die Brust. „Aber mal im Ernst. Du sammelst auch Kuriositäten. Wen habt ihr uns denn diesmal mitgebracht?“

Magier, Drachen, Halblinge. Zwar hatte Asam Recht, aber er fing sich dennoch einen schmerzhaften Ellenbogenstoß ein. Der Reihe nach stellte Mimoun die Halblinge vor und wollte mit dem Prozedere schon in die andere Richtung anfangen, als ihm Asam zuvorkam.

„Mein Name ist Asam Maral und ich heiße Euch herzlich willkommen in unserem bescheidenen Dorf.“
 

Dhaôma rutschte endlich auch von Lulanivilays Rücken herunter und setzte den Jungen ab. Es war so wunderbar, endlich wieder hier zu sein. Es wurde noch deutlicher, als auch die anderen Kinder zu ihm liefen und ihn umarmten. Zum Glück übernahm Mimoun das Vorstellen der Halblinge, denn er hatte einfach alle Hände voll zu tun.

Bis ihm etwas einfiel. „Was ist mit Addar? Geht es ihm gut?“

„Er ist im Haus.“, antwortete Leoni und schlug sich zu ihm durch, um ihn doch endlich in die Arme zu schließen. „Wahrscheinlich schläft er grad. Er hat es sich zur Gewohnheit werden lassen, mit den beiden Wirbelwinden Mittagschlaf zu halten.“

„Und das hier…“, wurde an Leoni gezogen. „…ist meine wunderbare, strahlendschöne Frau Leoni.“, grinste er die Halblinge an, bevor diese zu Wort kommen oder etwas auf die formellen Worte erwidern konnten. „Sie ist die Mutter der beiden süßesten Kinder der Welt, aber leider schlafen sie zur Zeit. Sobald sie wach sind, stelle ich sie euch vor.“

Leoni rollte mit den Augen und lächelte liebevoll. „Willkommen. Wir haben schon von euch gehört. Ich war sehr erstaunt, als ich davon hörte, dass die beiden Rumtreiber ein weiteres Volk entdeckt haben. Ich freue mich, euch kennen zu lernen.“

Xaira machte eine rituelle Verbeugung. „Ganz meinerseits.“

Und bevor Amar etwas sagen konnte, hielt ihm Dhaôma den Mund zu. „Keine Frechheiten heute.“, sagte er bestimmt und wurde mit kullerrunden blauen Augen konfrontiert. „Diese Frage wirst du nicht stellen.“

„Aber du weißt doch gar nicht, welche ich stellen wollte.“

„Es steht dir ins Gesicht geschrieben, also halt dich einfach zurück, bis sie von sich aus erzählen.“

Schmollend verschränkte Amar die Arme vor der Brust. „Langweilig.“, maulte er. Seine beiden Cousinen lachten ihn dafür aus.
 

Das war enttäuschend. Mimoun konnte seinen Winzling nicht begrüßen. Also wandte er sich Leoni zu. „Was heißt hier Rumtreiber. Das heißt Wanderer auf Friedensmission.“, korrigierte er die blonde Frau.

Juuro war mit dem sich wellenförmig ausbreitenden Chaos überfordert, denn immer mehr drängelten sich nach vorne, um die vier zu begrüßen und einen Blick auf die Fremden zu erhaschen. Er drehte sich um und begann den Drachen von seiner Last zu befreien. Die Tasche mit der gut versteckten Katze wollte er in einem der Körbe sicher verstauen, als eines der Kinder bereits in dem Ding herumturnte und sich das komische Gebilde genauer betrachtete.

„Wohin?“, fragte er an die zwei bekannten Gestalten, die sich hier besser auskennen würden als er, und hielt die Tasche ein wenig höher. Da er besonders behutsam damit umging, hatte er schnell die Aufmerksamkeit des Kindes.

„Was ist da drin?“ Und schon angelte es nach der Tasche.

Mimoun schritt ein und klemmte sich den kleinen Rabauken verkehrt herum unter den Arm. „Ein weiterer Reisegefährte, sehr scheu und kratzbürstig.“, erklärte er knapp und tauschte Tasche gegen Kind. „Wo bringen wir dich am besten unter?“
 

„Gib sie mir.“, schlug Dhaôma vor und drängte sich zu seinem Freund durch, aber es war schon zu spät. Ein Fauchen erklang, als Yuri neugierig an der Tasche zupfte, die Tasche wackelte und heraus quetschte sich die kleine Katze. Ein einziger Blick in die Runde genügte, um sie auf die doppelte Größe anwachsen zu lassen, weil sich ihr komplettes Fell sträubte. Im nächsten Moment saß sie auf dem Dach, der Schwanz zuckte unruhig, die Augen glommen ungut als Warnung, dass ihr jemand zu nahe kam.

„Das wäre zu vermeiden gewesen, wenn ihr auch nur einmal auf das hören würdet, was wir sagen.“, bemerkte Dhaôma seufzend. Er hätte Kitty zu gerne beruhigt, aber es war einfach besser, wenn man sie erst einmal in Ruhe ließ. „Lasst sie bitte in Frieden. Sie kommt schon, wenn sie möchte.“ Die Kinder sahen ihn alle an, als würde er sie foltern, aber eins nach dem anderen gab widerwillig seine Zustimmung.

„Wie immer ist hier Chaos, wenn ihr ankommt.“, bemerkte da eine äußerst bekannte Stimme vom Eingang. Dort stand in Felle gehüllt und gebeugt der älteste Mann, den sie je gesehen hatten.

„Addar!“, jubelte Dhaôma. „Es ist wunderbar, Euch wieder zu sehen.“

„Glaube ich dir aufs Wort. Aber wenn ich ehrlich bin, wundert es mich, euch überhaupt zu sehen. Wolltet ihr nicht zu den Magiern?“

„Doch, wollten wir. Aber wir haben Neuigkeiten und müssen mit dem Hohen Rat sprechen. Und die Magier waren viel zu nahe dran, die Drachen zu erlegen, deswegen…“

„Halt!“ Schmunzelnd schüttelte der Alte den Kopf. Wie immer viel zu viele Informationen auf einmal wenn man ihn ansprach. „Erzähl das später in Ruhe. Zuerst einmal gibt es Wichtigeres.“ Er wandte sich an seine Gäste. „Ihr seht alle erfroren aus. Kommt herein. Hier ist es schön warm. Wir haben sogar Tee.“

Ehrerbietig neigten die drei Halblinge den Kopf vor diesem Mann. Er strahlte eine größere Weisheit aus als Thenra.

„Es tut mir Leid Leute, aber die Geschichten werden warten müssen. Unsere Gäste sind müde und hungrig, deshalb geduldet euch bitte mit der Begrüßung noch ein wenig. Lulanivilay, wir haben seit deiner Abreise eine Unterkunft für dich gebaut. Es wäre uns eine Ehre, wenn du sie nutzen würdest.“

„Au klasse!“, rief Amar. „Los, komm, Lulanivilay! Ich bring dich hin, dann kann ich auch gleich Feuer machen.“

Karo seufzte leise. Ihr Kind war ein Pyromane geworden, seit er seine Hände an die Feuersteine gelegt hatte. „Ich werde ihn begleiten und dafür sorgen, dass es nicht zu einer Katastrophe wird.“, bot sie an.
 

„Er ist zum Glück kein Magier. Das wäre zur Katastrophe geworden.“, merkte Mimoun an und dachte an die Feuersäule, die Tokan mit Lulanivilays Hilfe heraufbeschworen hatte. Er bemerkte Tyiasur, der unschlüssig zwischen dem sich entfernenden Drachen und dem Magier hin und her sah. Man sah seinen Zwiespalt. Einerseits wollte er den zu erwartenden Kinderhänden entkommen, andererseits musste er auf Dhaôma aufpassen.

„Oh je.“, lachte Mimoun leicht und kraulte das Kinn des kleinen Blauen. Ohne ein weiteres Wort gesagt zu haben, ohne überhaupt versucht zu haben, ihn zu überreden, kletterte Tyiasur auf Mimouns Schulter und machte sich klein.

„Bis später.“, winkte er denen zu, die draußen bleiben mussten und schlüpfte in die Hütte. Es war wirklich wärmer hier drin und schnell entdeckte er die Quelle. Ein sanftes, liebevolles Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, als er sich ganz leise neben die beiden Kleinen hockte. Fiamma bewegte sich unruhig. Wahrscheinlich würde es nicht mehr lange dauern und sie würde erwachen. Sie spürte wohl den Trubel um sie herum, obwohl man versuchte, leise zu sein.
 

Genauso leise setzte sich Dhaôma daneben. Es war herzergreifend, sie so schlafen zu sehen. Ruhig, lieb, brav. Er hatte sie wirklich vermisst.

„Wow.“, flüsterte Xaira und machte große Augen. Niemals hatte sie auch nur einen von ihnen so gucken sehen. Das, was der Magier gezeigt hatte, wenn er von ihr erzählte, war nur ein Bruchteil von dem hier gewesen.

Seren schlug die Augen auf, blinzelte Dhaôma an und runzelte die Stirn. Schon setzte sie dazu an zu schreien, da strichen weiche Magierfinger über ihre Wange, die Wangen Dhaôma leuchteten blass blau, und sie beruhigte sich wieder. Stattdessen streckte sie ihm ihre Ärmchen entgegen.

„Wenn du sie nicht nimmst, schreit sie.“, klärte ihn Leoni auf. „Wenn du sie nimmst, schreit Fiamma. Mimoun, ich verlasse mich auf dich.“ Sie lachte hell und schenkte Tee ein, während Janna etwas zu Essen auftrieb.

Liebevoll nahm Dhaôma die kleine Hanebito in den Arm, was sie begeisterte, einfach, weil sie an Haare herankam. Und wirklich regte sich nicht einmal eine halbe Sekunde später ihre Schwester und in der Hütte wurde es ein klein wenig wärmer.
 

Sofort glitten Mimouns Hände unter ihren Körper und hoben das kurzzeitig verdutzt guckende Kind hoch. Sie war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie schreien sollte. „Hallo, Winzling.“, flüsterte er zärtlich und drückte sie an seine Brust. Erstaunt stellte er fest, dass sie schon wieder gewachsen war. „Bei dir verpasst man wirklich eine Menge, wenn man einmal wegguckt.“

Tyiasur wurde bewusst, dass es besser war, zu fliehen. Doch dieser Gedanke streifte ihn einen Augenblick zu spät. Eine winzige blasse Hand landete auf seiner Nase.

„Drache.“, quietschte die kleine Magierin begeistert, umfasst die Schnauze mit beidem Händen und schmatzte Tyiasur ab.

Verblüfft blinzelte Mimoun und begann zu lachen. „Also wirklich.“ Sanft wuschelte er ihr durch die blonden Löckchen. „Du bist ein kleiner Frechdachs.“
 

Asam umarmte seine Frau und betrachtete seine beiden Töchter, die inzwischen bei jedem fremdelten, nur bei diesen beiden nicht. Es war einfach unglaublich. „Heute wäre der perfekte Tag, einen Ausflug nur für uns Zwei zu starten.“, träumte er. „Aber dann würden wir alles Wichtige und Spannende verpassen, also wird daraus wohl leider nichts.“

Sie gab ihm einen leichten Rippenstüber und drückte ihm den Schöpflöffel in die Hand. „Mach du das mit dem Tee, dann bereite ich Essen für die Wirbelwinde vor.“

Janna bot den Halblingen etwas zu Essen an, nachdem sie sich vorgestellt hatte. Sie war es auch, die erklärte, dass Fiamma ein Adoptivkind war und die beiden sozusagen ihre Väter. Dass sie es bereits wussten, verwunderte sie keineswegs, aber sie grinste breit und fügte hinzu, dass es hier nicht unüblich war, Dhaôma als Mama zu bezeichnen.

Als es ans Füttern ging, übernahm Leoni die Magierin wieder selbst, denn ihre Spielchen mit dem Essen führten regelmäßig zu matschigen Katastrophen, die sie ihren Gästen nicht antun wollte. Spätestens als der erste Löffel in ihrem Gesicht landete, war klar, was sie meinte. Immerhin hatte Mimoun dann wieder beide Hände frei zum Essen.

Amar und seine Mutter kehrten zurück, als sie gerade anfangen wollten. Der Junge flog zwischen Dhaôma und Asam und war dort auch nicht wieder wegzubewegen. Er erzählte strahlend, dass er nur einen Versuch gebraucht hatte, das Feuer zu entfachen.

Dann kam das Thema auf die Reise zu sprechen und die Halblinge erzählten ihre Geschichte ein weiteres Mal. Zusehends wurde es ungemütlicher am Tisch, bis Asam wutentbrannt seinen Teller auf den Tisch feuerte.

„Wie können sie es wagen!“, explodierte er und Seren begann zu weinen.

„Liebling.“, versuchte Leoni einzugreifen, aber diesmal war es unnütz. Asam war einfach stinksauer.

„Ich kann nicht fassen, dass so etwas wirklich passiert! Magier sind Monster? Von wegen! Gegen diese Bestien sind sie nichts!“

„Asam!“, wies ihn Addar zurecht und warf einen schnellen Blick zu Dhaôma, der allerdings nur Seren zu beruhigen versuchte. Mimoun daneben hatte seine Tochter auch wieder im Arm und keiner schien sich daran zu stören. „So etwas wirst du als Anführer unseres Volkes und Vater von Fiamma nie wieder sagen!“

Der Blonde murrte etwas, aber er nickte und riss sich zusammen. „Ich will das nicht glauben. Das ist einfach ungeheuerlich!“

„Aber deswegen sind wir hier.“, meldete sich Dhaôma zu Wort. „Wir wollen, dass der Rat davon erfährt und wir mit ihm weitere Schritte absprechen können. Es wäre wichtig, Waffenstillstand zu erreichen, wenn wir gegen die Rädelsführer vorgehen wollen, ohne große Verluste zu verzeichnen.“

Addar nickte zufrieden. „Du hast dazu gelernt.“, bemerkte er, was Dhaôma vor Freude erröten lies.

„Bei weitem noch nicht genug. Beim letzten Angriff sind wir einfach weggelaufen.“

„Weise Entscheidung, wenn du mich fragst.“, mischte sich Juuro ein und Xaira schilderte daraufhin den Vorfall. Das wiederum führte unweigerlich zu der Frage, warum, und einer knappen Antwort seitens Dhaôma, dass ihn sein Bruder vernichten wollte. Bestürzung wollte greifen, aber der Braunhaarige wischte sie schlichtweg beiseite, indem er erklärte, dass er das nicht so schlimm fand, weil sich im Grunde nichts geändert hätte. Er würde Radarr schon zur Vernunft bringen.
 

Grüne Augen waren starr auf die kleine Magierin gerichtet. Seine Finger spielten mit ihren Händen. Nur langsam schlich sich sein Lächeln zurück. Er hatte auf einen gemütlichen Tag des Ankommens gehofft. Ein Tag ohne Nachdenken und Verpflichtung. Ohne Krieg und schlechte Nachrichten.

„Nicht mehr lange, dann wird jeder Tag so sein.“, versprach Mimoun leise dem Kind, das ihn kaum beachtete, sondern wieder Tyiasur zu erlangen versuchte. Das kleine Mädchen entwand sich hartnäckig seinem Griff und tapste dem fliehenden Kaltblüter hinterher.

Mimouns Blick glitt über die versammelten Familienmitglieder. Die Kinder waren verstört, obwohl nicht klar war, ob sie überhaupt die ganze Tragweite des hier Gehörten begriffen hatten. Früher hatte Addar besser darauf geachtet, dass der Nachwuchs nicht mit solchen Themen in Berührung kam.

Seine Hand suchte den Nacken seines Freundes und begann ihn zärtlich zu kraulen. Nach allem, was bisher geschehen war, was er gehört und gesehen hatte, war sich Mimoun nicht sicher, ob sich dieser Kerl zur Vernunft bringen ließ. Dennoch schenkte er Dhaôma ein aufmunterndes Lächeln.

Der Abend wurde trotz all der schlechten Nachrichten gesellig. Es musste nicht extra erwähnt werden, aber allen war klar, dass man noch am nächsten Tag die Vorbereitungen für eine Ratsversammlung treffen würde. Dort würde man erneut ihrer Geschichte lauschen und über das weitere Vorgehen beraten.

Leoni und ihr Gefährte hatten diese Nacht seit langem mal wieder Zeit für sich, denn die Kleinsten konnten ruhigen Gewissens an Dhaôma und Mimoun weitergegeben werden, die beinahe schon traditionell Unterschlupf unter diesem Dach fanden. Die Halblinge fanden unter Entschuldigungen ein Nachtquartier in einer der anderen Hütten.

Zufrieden kuschelte sich Mimoun an seine Familie. Schlafen konnte er aber nicht, sondern streichelte die kleinen Mädchen und versuchte sich jede Einzelheit von ihnen einzuprägen. Sie wurden so schnell groß. Und er verpasste die vielleicht wichtigsten Jahre.

„Nicht mehr lange.“, flüsterte er erneut.
 

Dhaôma war schon an der Schwelle zum Einschlafen, als er die Worte hörte. „Nicht mehr lange was?“ Verschlafen zwang er seine Augen wieder auf. „Was hast du gesagt?“ Er war hundemüde, nachdem er sich noch einmal um Addar gekümmert hatte.
 

„Nicht mehr lange und ich kann meinen Winzling aufwachsen sehen. Wir verpassen so viel von dem, was sie lernt.“ Lächelnd blieb seine Hand auf Serens Bauch liegen, die eine von Dhaômas Strähnen fest umklammert hielt. „Sie werden so schnell groß.“
 

„Aso.“, murmelte er und kuschelte sich näher, ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht. Seine Lippen bewegten sich noch ein wenig, aber er hatte vergessen, seine Stimme auch fließen zu lassen, als er ins Traumland hinüberwechselte.

Irgendwann kam Kitty dazu und kuschelte sich in Dhaômas Kniekehlen, so weit weg von möglichen anderen wie sie konnte. Lange vor Morgengrauen war sie wieder verschwunden.
 

Oh, wie hatte er diesen Weckdienst vermisst. Kleinkinder, die lautstark den Mangel an Aufmerksamkeit ihnen gegenüber kundtaten, und ein flinker Wirbelwind, der durch die Plane fegte und sich auf Dhaôma warf.

„Los kommt. Wir müssen viel nachholen.“, forderte Amar energisch, die Kleinen ignorierend. Dafür war Mimoun fürsorglicher. Er strafte den Jungen mit einem bösen Blick und nahm beide Mädchen auf den Arm, nachdem er sich selbst aufgesetzt hatte. Sanft sprach er auf sie ein und verteilte leichte Küsschen auf blonde Haare.
 

Wie erwartet brachte es gar nichts. Lachend schüttelte Dhaôma den Kopf. „Du weißt doch, Hunger tut weh. Nimm ihnen die Schmerzen und sie lassen sich beruhigen.“ Unheimlich froh drückte er seine Nase gegen Mimouns Hals, dicht unter dem Ohr, wo die Haut weicher war, dann wirbelte er hoch. „Und jetzt, Amar, werden wir Frühstück für alle vorbereiten. Ich bin mir sicher, sie freuen sich darüber. Du darfst auch wählen, welches Gemüse oder Obst du haben willst.“

„Kirschen!“, jubelte der Junge.

„Wenn ich das mache, ist der Baum so gut wie tot. Er braucht Wärme, um weiterleben zu können, die hat er zur Zeit einfach nicht.“

Enttäuscht versuchte das Kind es mit dem Schmollblick, woraufhin Dhaôma ihn sich unter den Arm klemmte und Mimoun kurz winkte.

„Na los, kleiner Feuerteufel, mach das Feuer wieder an und setz Wasser auf. Wenn alle Arbeit getan ist, werden wir spielen.“

„Das können doch die anderen machen.“

„Aber es macht doch Spaß, etwas dafür zu tun, dass andere lächeln.“

Das gab ihm zu denken. Ja, er mochte es, wenn alle glücklich waren. War es da wirklich so ein großes Opfer, wenn er ein bisschen Frühstück machte? „Sofort, Mama!“ Und schon wetzte er davon, um Wasser zu holen, während Dhaôma nur gespielt seine Faust schütteln konnte. Hinterherrufen kam nicht in Frage, schließlich würden sonst alle wach werden.

Sein Beutelchen mit Samen lag neben dem Eingang, wo er ihn mit seiner Magie nicht zerstören konnte. Er sammelte ein paar Samen daraus hervor, dann machte er sich auf den Weg nach draußen. Seine Handlungen waren routiniert, sein Geist vier Meter weiter bei Mimoun, der die Kinder ruhig zu halten versuchte. Gestern hatte er gesehen, wo die Fleischsuppe aufbewahrt wurde, die die Kinder bekamen, also ließ er seine Magie ein wenig zu schnell wirken, um Mimoun schnell helfen zu können. Kitty kam und maunzte ihn kläglich an, was ihn zum Lachen brachte.

„Du hast auch Hunger?“, fragte er leise. „Ich schaue gleich mal, ob du ein wenig haben kannst.“

Sie folgte ihm ins Haus und prallte vor dem Weinen zurück. Ihre Ohren legten sich an.

„Hey, Kitty, kein Streit. Sie haben nur Hunger.“ Dann nahm er die Blase, in der die Suppe war, eine Schale und einen kleinen Brocken Fleisch, bevor er damit zu Mimoun zurückkehrte. „Was glaubst du, schaffst du beide oder soll ich dir helfen? Amar kümmert sich um das Frühstück.“ Kitty gab er das Fleisch, mit dem sie sich davonmachte, dann nahm er Mimoun eines der Kinder ab. Fiamma überließ er Mimoun. Der hatte mehr Erfahrung mit störrischen, spielenden Kindern. Und siehe da, das Schreien brach ab, sobald der erste Löffel im Mund verschwand. Seren sperrte brav den Schnabel auf. Fiamma dagegen griff nach dem Löffel und zog kräftig daran, um ihn schneller zu bekommen. Allein durch den Schwung landete die Hälfte davon auf Mimoun und ihr.

„Feuer ist an, Wasser wird warm.“, teilte Amar mit. „Essen eure Freunde auch wieder hier?“

„Ich denke schon.“, antwortete Dhaôma sanft. Und als die Plane wieder an ihrem Platz hing, sah er zu Mimoun hinüber. „Es dauert ein paar Tage, bis der Rat zusammengerufen ist.“, begann er schwerfällig aber entschlossen. „Können wir zu Silia fliegen und sehen, ob sie gesund ist? Es bedrückt mich, dass wir das Versprechen nicht haben halten können.“
 

Mimouns Kopf ruckte hoch und spiegelte eine Mischung aus Unglauben und unbändiger Freude auf dem Gesicht wider. So sehr hatte er sich bemüht, Dhaôma die für ihn unangenehme Frau nicht zu erwähnen und er sprach dieses Thema von alleine an.

Fiamma nutzte die Unachtsamkeit ihres Aufpassers aus, lehnte sich vor und angelte mit ihren kurzen Ärmchen nach der Schüssel. Nur knapp konnte eine Überschwemmungskatastrophe verhindert werden.

„Kleiner Frechdachs.“, lachte er auf, bevor er sich wieder darauf konzentrierte, dem Kind die Suppe einzuflößen. Seine Gedanken waren aber nicht völlig auf sie konzentriert, da eine Frage im Raum stand, die beantwortet werden musste, und so ging noch einiges daneben.

„Es war ein Versprechen, das ich gegeben habe. Du musst dich deswegen nicht schlecht fühlen. Ihr seid jetzt meine Familie. Ihr geht vor. Aber…“ Ein kurzes wehmütiges Lächeln huschte über das Gesicht des Geflügelten und seine Stimme war nur noch schwer hörbar. „…ich würde gerne bei ihr vorbeischauen.“
 

„Dann sollten wir das machen. Du weißt nie, was passiert, vielleicht ist das die letzte Gelegenheit. Und ich werde mitkommen. Wenn sie mich immer noch nicht sehen will, ziehe ich für die Tage bei Jadya oder Haru ein. Und wenn die Versammlung stattfindet, fliegen wir einfach von dort direkt dorthin.“ Dann runzelte er die Stirn. „Allerdings müsste ich wohl Lulanivilay fragen, ob er lieber hier bliebe. Hier hat er einen Unterstand und Fiamma. Und die Halblinge müssen mit zum Hohen Rat, da könnte er sie besser tragen als die Hanebito.“ Ah, Planen war einfach nicht seine große Stärke. Da zerbrach einem viel zu schnell der Kopf, weil so viele Eventualitäten abzudecken waren. „Oder je nachdem, wie lange es braucht, können ich und Lulanivilay auch nur für einen Tag bleiben, denn eigentlich würde ich auch gerne noch ein wenig bei Fiamma und Leoni sein, bevor wir wieder zu den Magiern fliegen.“
 

„Lulanivilay bleibt hier.“, bestimmte Mimoun ernst. „Es ist immer noch sehr kalt. Er wird Fiamma brauchen und eine Reise kommt für sie derzeit nicht in Frage. Außerdem muss sie Addar auf seinem Flug unterstützen.“ Welch Wunder. Einen Bissen ohne große Alberei. „Aber bist du dir wirklich sicher, dass du mitkommen möchtest? Ich meine, es gibt für dich keinen Grund, dort zu sein. Zwar möchten dich die Plagen wieder sehen, aber das ließe sich auch einrichten, wenn es wieder wärmer ist. Dann kannst du Haru mit Himbeeren glücklich machen.“ Die Plane wurde zurückgeschlagen und Leoni kam in den Raum. Lachend nahm sie das von Fiamma verursachte Chaos zur Kenntnis.

„Läuft wohl nicht so gut?“, kicherte sie und Mimoun hob bezeichnend den verschmierten Arm.

„Es wird. Alles eine Frage der Übung.“, grinste er zurück.
 

Dhaôma schwieg. Er wollte mit. Das hatte zwei Ursachen: er hatte es Haru und den anderen versprochen und er wollte nicht ohne Mimoun sein. Seit dem letzten Mal schwelte in ihm unterschwellig die Angst, dass das Schicksal es mit ihnen nicht so gut meinte. Wenn er sich erinnerte, wie oft einer von ihnen lebensgefährlich verletzt worden war, dann war es ein schieres Wunder, dass sie noch lebten. Aber Mimoun klang so, als wolle er alleine gehen. Er sagte ja, es gäbe keinen Grund.

„Ihr gebt ein niedliches Bild ab.“, sagte Leoni verschmitzt. Sie brachte Dhaôma damit zum Lächeln.

„Dhaôma, ich bin fertig mit Essen machen. Können wir jetzt spielen?“

„Aber absolut nicht. Weck die anderen. Nach dem Essen könnt ihr spielen.“ Und als Amar strahlend nachfragte, ob er sie wirklich wecken durfte, da musste sie lachen. „Wirklich…“, schüttelte sie den Kopf, als der Junge verschwand und man lautes Gebrüll im Haus hören konnte, mit dem er alle zu wecken gedachte. „Seit du wieder da bist, ist er so fügsam. Wie machst du das?“

Jetzt wirklich lachend zuckte Dhaôma die Schultern. „Keine Ahnung.“

„Na, wie auch immer. Kommt auch essen, ja?“ Und in diesem Moment stob Amar durch die Eingangstür davon. „Wo will er denn hin?“, fragte sie verblüfft.

„Er wird Xaira, Juuro und Volta holen.“

„Was?“

„Er hatte gefragt, ob sie hier essen würden, und ich hab ja gesagt.“

Verstehend nickte sie und grinste. „Für dich macht er wirklich eine Menge.“
 

„Das nennt man Erziehung.“, sinnierte Mimoun an das kleine Mädchen auf seinem Schoß gewandt. „Mama weiß nämlich, wie man es richtig macht.“ Da er mit seinem Gesicht näher an sie heran gegangen war, patschte sie ihm begeistert auf die Wangen.

Mit der Kleinen auf dem Arm erhob sich der Geflügelte und hielt für Dhaôma die Plane auf. Dabei fiel sein Blick auf das ganze Ausmaß, das Fiammas Esskultur hinterlassen hatte. Das würde er später bereinigen müssen. Bevor es jedoch zum Essen ging, musste er vorher sich selbst reinigen. Also drückte er seinen Winzling Dhaôma in die Hand. Auch wenn sie das Feuer beherrschte. Bei den sicherlich herrschenden Wassertemperaturen würde er sie nicht mitnehmen.

„Ich bin gleich wieder da.“ Als Erklärung hob Mimoun ein wenig die bekleckerten Arme. „So sehe ich doch nicht mehr gut aus.“
 

„Ein bisschen Suppe ändert nichts an dir selbst.“, antwortete Dhaôma, aber er hielt ihn nicht auf, sondern winkte. Da er ihm den Schmutzfink überlassen hatte, sollte er sich nicht beschweren.

Amar war wirklich fleißig gewesen. Die von Dhaôma gezogenen Rüben und Früchte lagen ordentlich auf dem Tisch, daneben getrocknetes Fleisch, das Wasser im Kessel dampfte bereits und die Hütte roch nach Thymian und Kamille. Und nach und nach kamen die Bewohner des Hauses aus ihren Schlafecken.

„Sag mal, Dhaôma, hat sich bei euch beiden was verändert?“, fragte Leoni, während sie dem Schwarzhaarigen nachsah. Mimoun wirkte anders. Dhaôma verhielt sich immer noch gleich, aber Mimoun hatte sich definitiv verändert.

„Was meinst du?“, fragte er und sah von dem Kind auf, das er weiterfütterte, was inzwischen nicht mehr so einfach war, weil sie abgelenkt war.

„Ich weiß nicht. Hat er es dir vielleicht gesagt?“

„Was denn?“ Sie verwirrte ihn. Was wollte sie von ihm wissen?

„Ist nicht so wichtig.“ Abrupt drehte sie sich um, lachend mit der Hand wedelnd. „Also, was werdet ihr tun, bis der Rat zusammenkommt?“

Es war wohl die falsche Frage gewesen, stellte sie fest, als sein Blick dunkler wurde. „Das…“ Er wandte seinen Blick ab. „Das weiß ich noch nicht.“

Oha, war das vielleicht eine Wunde gewesen? Zum Glück verstand es Yaji perfekt, die Gedanken des Magiers auf sich zu lenken, denn sie zeigte ihm voller Stolz ihre erste Arbeit am Webrahmen, eines der Dinge, die ihnen Dhaôma in seiner freien Zeit beigebracht hatte.
 

Der Weg zum See war nicht weit. Auch nahm Mimoun kein vollständiges Bad, sondern wusch nur die gröbsten Verunreinigungen von sich. Als er sich auf den Rückweg machte, flatterte ein aufgeregter Junge auf ihn zu und klettete sich an die Schulter des Drachenreiters.

„Die Frau ist genauso wenig begeistert davon, von mir geweckt zu werden wie du.“, lachte Amar. „Aber sie kommen.“ Hinter ihm sah Mimoun bereits Juuro aus der Hütte treten. Mit einem Winken begrüßte er den Halbling und verschwand in der Hütte des Ältesten, ohne auf den Freund zu warten. Gleich hinter der Plane ließ er Amar auf den weich gepolsterten Boden plumpsen und ging zu Dhaôma, nachdem er ein fröhliches „Guten Morgen.“ in die Runde geschmissen hatte.
 

Juuro trat zusammen mit Volta ein, der grinste, als er Amar zuzwinkerte. Ihm gefiel dieser Junge, denn er hatte Xaira zur Wut getrieben. Es war doch immer wieder spaßig zu sehen, wie sich andere das trauten.

Als nächster wurde Addar hereingeführt, gestützt von Asam und Janna. Der alte Mann sah nicht so aus, als fiele ihm das Laufen besonders leicht. Es schien sogar schlimmer geworden zu sein seit ihrem letzten Besuch.

„Addar, wenn Ihr wollt, werde ich mir Eure Beine noch einmal ansehen.“, bot Dhaôma besorgt an, was den Alten zum Lachen brachte.

„Nachdem ihr ja jetzt ein wenig bleiben werdet, hätte ich darum sogar gebeten.“ Ächzend ließ er sich in die weichen Felle sinken und atmete einmal tief durch. „Vielleicht nach dem Frühstück.“

„Dann wäre da nur noch, dass euch auch die anderen sehen wollen. Wir dachten daran, vielleicht ein paar Häute aufzustellen und draußen ein Feuer zu machen, damit wir reden können, ohne jemanden auszuschließen.“

„Das können wir gerne machen.“, stimmte Dhaôma lächelnd zu. „Nach Eurer Behandlung.“

„Dann schicke ich gleich ein paar Leute los, die dafür sorgen, dass sich in acht Tagen der Rat versammelt.“

„Dauert das wirklich so lange?“, wollte Xaira wissen, die inzwischen auch dazu gestoßen war. „Wir können uns eine so lange Pause kaum erlauben.“

„Ja, tut mir Leid. Es sind viele Leute, die wir rufen müssen, es müssen viele Dinge vorbereitet werden.“, erklärte Asam ruhig. „Immerhin will keiner frieren.“

„Bei der Reinigung des Platzes kann ich helfen.“, grinste Dhaôma. „Ein paar Pflanzen jäten, ein bisschen Schnee und Eis entfernen…“

„Dann werde ich das denjenigen mitteilen, die dafür zuständig sind.“

„Aber…“

„Lass gut sein, Xaira.“, unterbrach sie Juuro. „Ein bisschen Pause und ein wenig Zeit unter gut gesinnten Menschen wird uns gut tun.“

Sie verzog das Gesicht.

„Vielleicht schafft es Amar ja, Freundschaft mit dir zu schließen.“, frotzelte Volta. „Ich bin mir sicher, er gibt sich ganz viel Mühe.“
 

Mimoun konnte nur zustimmend nicken. Klar würde sich dieser Junge Mühe geben. Bei neuen Sachen und Herausforderungen war er mit Feuereifer dabei.

Dann schweiften seine Gedanken ab und er begann nachzugrübeln. Acht Tage. Das hieß, er konnte hier noch einige Tage zur Ruhe kommen, bevor er sich aufmachte, sein Heimatdorf zu besuchen. Kurz glitt sein Blick zu Dhaôma. So gern hätte er ihn dabei, aber…

Mit einem Ruck brachte sich Mimoun wieder in die Gegenwart. Was zählte war das Jetzt. Das Planen der nächsten Tage konnte er später in Ruhe mit Dhaôma erledigen.

Da die Jüngsten bereits versorgt waren, verlief das Essen in ausgelassener Stimmung. Die Kinder waren unermüdlich am Plappern und Erzählen. Vor allem Amar beeilte sich und drängte seine beiden großen Freunde dazu, schneller zu essen, damit sie endlich raus konnten. Beinahe aus Protest und nur um ihn zu ärgern, ließ sich Mimoun extra Zeit. Mit eher gegenteiligem Effekt.

„Dann spiel ich halt nur mit Dhaôma.“, bestimmte Amar und verlagerte seine ganze Aufmerksamkeit auf besagten Magier. Nicht einmal das Machtwort seiner Mutter konnte ihn wirklich zur Vernunft bringen. Er wollte raus. Er wollte endlich wieder mit Dhaôma spielen. Mimouns gespielt kummervolle Miene wurde ignoriert.
 

Dhaôma ließ sich breitschlagen. Er wollte nicht, dass der Frieden allzu sehr gestört wurde, deshalb entschuldigte er sich. Addar versprach er, dass er, nachdem das Essen vollständig vorbei war, wiederkommen würde. Dann musste Amar eben kurz etwas anderes spielen.

Es war richtiggehend anstrengend. Da waren so viele Leute, die mit ihm sprechen wollten, aber die Kinder ließen niemanden an ihn heran. Er musste sie alle auf später verschieben. Und letztendlich ersannen die Kinder ein ganz tolles Spiel: Dhaôma war ein feines Magierfräulein und Mimoun ein böser Troll, der sie fressen wollte. Ziel des Spiels: Mimoun von Dhaôma fernhalten, während man Dhaôma dazu brachte, ein Feines-Fräulein-Haus zu bauen. Er nutzte dazu Eis, das bei der Jahreszeit sicherlich länger halten würde.

Aber Mimoun kam nicht. Die Burg aus Eis wurde immer größer, aber der Feind tauchte nicht auf. Juri und Yaji machten es sich zur Aufgabe, den Feind auszuspionieren, bis ihnen das zu langweilig wurde. Und weil Amar es lustig fand, wie Xaira reagierte, stahl er ihr ihre Tasche und versteckte sich damit im Eisschloss.

Nun war der Teufel los. Die Kinder hatten alle Hände voll zu tun, Xaira aufzuhalten, denn die junge Frau war schnell und gewandt und machte beinahe ernst, um an Amar heranzukommen. Dementsprechend mussten auch die Kinder in die Vollen gehen, um gegen sie zu bestehen.

Und Dhaôma stand im Eingang seines Eisschlosses und sah lachend dabei zu.
 

Mimoun hatte in Ruhe sein Mahl beendet und ein wenig mit Addar und Asam geplauscht. Nun stand er hinter der Lederplane versteckt und lugte aus einem Spalt heraus, um die tobende Frau zu beobachten.

„Sie hat deine Rolle eingenommen.“, merkte Asam an, der keine Probleme damit hatte, die Plane auf der anderen Seite komplett zur Seite zu schieben.

„Und sie verkörpert sie gut.“, erwiderte Mimoun ungerührt. Kurz sahen sich die beiden Männer die spielenden Kinder an und fingen an mit kichern. Immer mehr Hausbewohner strebten nach draußen, um sich die Fähigkeiten und Ausdauer der Frau anzusehen.

Da war etwas, das ihn störte. Mimoun konnte anfangs nicht genau sagen, was es war, aber da war ein Gefühl. Er drehte sich um und sah Leoni direkt in die blauen Augen. Das war es gewesen. Ihr nachdenklicher Blick, der sich in seinen Rücken gebohrt hatte. Er konnte sich denken, welches Thema sie bewegte. Nach einem abschließenden Blick nach draußen, ließ er sich neben ihr und den Kleinkindern nieder. Seren versuchte, auf seinen Schoß zu klettern und er half ihr dabei. Fiamma zerlegte das unter ihr befindliche Fell in seine haarigen Einzelteile. Die junge Frau schwieg, sah ihn nur weiter unverwandt an.

„Du bist unmöglich.“, begann Mimoun leise, den Blick auf das Kind gerichtet, und sie seufzte entnervt.

„Rede endlich…“, begann sie, wurde aber sofort von Mimoun unterbrochen.

„Aber du bist die beste Freundin, die man sich wünschen kann.“ Er schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Es dauerte einen Augenblick, bis ihr dämmerte, worauf er hinauswollte. Erfreut klatschte sie in die Hände und hatte damit die Aufmerksamkeit beider Kinder.

„Du hast…“, wieder beendete sie den Satz nicht, denn ihr Gesprächspartner nickte nur. Freudig fiel sie ihm um den Hals. „Wurde aber auch Zeit. Ihr habt uns fast wahnsinnig gemacht mit eurem ziellosen Geflirte. Ehrlich, wie kann man nur so blind sein?“

„Du wirst verlangt.“, kam die Warnung vom Eingang, als auch schon Juri durch die aufgehaltene Plane fegte. Das Mädchen ergriff den Arm des Drachenreiters und zerrte energisch daran.

„Los komm endlich.“ Kinder hatten echt ein Timing. Mehr schlecht als recht setzte er Seren auf das Fell und folgte mit einem letzten dankbaren Lächeln zu Leoni dem bereits wieder verschwundenen Kind.
 

Dhaôma schaffte es irgendwann, die Kinder dazu zu überreden, ihn zu Addar zu geleiten. Sie mussten ihn natürlich weiter beschützen, denn das war schließlich das Spiel, aber da er so gar nichts zu tun hatte, wollte er dem Herrscher einen Ehrbesuch abstatten. Sie gingen eifrig drauf ein. Amar schleppte auch die entführte Tasche mit und so war plötzlich Addars Haus das feurig umkämpfte.

Unterdessen tauchte Dhaôma magisch in den Körper des alten Mannes, um zu sehen, was ihm fehlte. Tyiasur hatte seine Barriere ein zweites Mal gelöst und die Magie floss trotzdem frei, ohne Umwege zu machen. Er konnte nicht viel tun. Ein wenig Energie freisetzen, am Herzen eine Struktur verändern, aber das war es auch schon. Als er zurückkehrte und das bläuliche Leuchten erlosch, presste er nur die Lippen zusammen.

„Ich kann nicht mehr tun.“ Die Worte wollten kaum über seine Lippen kommen. Das Knirschen seiner Zähne drang noch bis zu Addars Ohren.

„Das macht nichts. Ich fühle mich schon viel besser.“, beruhigte er den braunhaarigen jungen Mann und tätschelte seinen Arm. „Vielen Dank.“

Dhaôma senkte den Kopf, schluckte, dann nickte er. „Gern geschehen.“

Janna und Leonie, die zugesehen hatten, wandten sich ihren Aufgaben zu, aber auch ihre Kehlen waren eng. Sie hatten verstanden, was Dhaôma hatte sagen wollen. Und weil Leoni nicht wollte, dass der Gast das mitbekam, drückte sie ihm die beiden eingepackten Babys in die Arme, damit er sie ein wenig spazieren trug. Vielleicht brachte ihn das auch ein wenig auf andere Gedanken, denn er sah aus, als wolle er gleich weinen.
 


 

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Addar *weint*

Blütenmeer

Kapitel 64

Blütenmeer
 

Das Spiel draußen war noch immer in vollem Gange, auch wenn inzwischen alle ziemlichen ausgepowert aussahen. Die Kinder wollten nicht aufgeben. Also machte sich Dhaôma mit Geleitschutz zu seinem großen, grünen Freund, der zwar nicht wirklich schlief, aber doch ziemlich bewegungslos war vor Kälte. Fiammas Anwesenheit änderte das fast sofort, vor allem, da er die unterschwellige Magie verstärkte. Graduell kam seine Bewegungsfähigkeit zurück und Dhaôma ließ die beiden Kinder frei, damit sie mit dem Drachen spielen konnten. Nach anfänglicher Vorsicht verloren sie ihre Scheu und tapsten dem peitschen Schwanz mit seinen Stacheln nach. Sie waren im herumtrotten richtig gut geworden. Und äußerst ausdauernd.

Über ihr Spiel hellte sich auch seine Stimmung wieder auf.
 

Da es ein sehr kurzes und sehr einseitiges Spiel gewesen wäre, schlug sich Mimoun auf Xairas Seite. Zwar fauchte sie ihn an, sie bräuchte keine Unterstützung bei den Gören, doch die Realität sah anders aus. Schließlich war die Tasche wieder in der Hütte verschwunden. Aber auch gemeinsam hatten sie den Kindern nicht ausreichend entgegen zu setzen.

Als Dhaôma mit den Kleinsten wieder nach draußen trat, erstarrte er. Ein nicht geblockter Schlag traf empfindlich seine Magengrube, doch der Blick des Geflügelten blieb wie gebannt am Gesicht des Magiers hängen. Er kannte Dhaôma nun lange genug, um sagen zu können, dass etwas nicht stimmte, dass ihm etwas auf den Magen geschlagen hatte.

Seine nun ernst gemeinten Versuche zu Dhaôma durchzukommen, wurden genauso gut abgewehrt wie seine scherzhaften. Auf den Trick, sie fortzulocken und seine Geschwindigkeit zu nutzen, ließen sie sich auch nicht ein. Sie kannten ihn wohl doch besser als ihm lieb war. Oder sie waren erschöpfter, als sie zugaben.

Plötzlich wandte sich Mimoun ruckartig ab, weg vom Schauplatz des Geschehens. Wenn er nicht zu Dhaôma gelangen konnte, so würde er sich seine Information von anderer Stelle holen. Sein Magier war aus der Hütte Addars gekommen. Was auch immer seinen Freund bedrückte, dort würde Mimoun eine Antwort erhalten.

Als er die Hütte betrat, herrschte eine leicht gedrückte Stimmung, obwohl sich jeder bemühte, entspannt und fröhlich zu wirken. Seufzend ließ Mimoun die Lederplane wieder zufallen und nutzte sie als Rückenstütze, indem er sie gleichzeitig festhielt. Irgendwie traute er sich nicht mehr zu fragen. Was auch immer es war, es betraf alle hier Anwesenden.

„Hört auf, solche Mienen zu ziehen.“, verlangte Addar unwirsch. „Jeder wird mal alt.“

Nun verstand Mimoun gar nichts mehr. Was hatte das Vorgefallene mit Addars Alter zu tun?

„Hat er es dir nicht gesagt?“, wollte der Älteste verblüfft wissen und Mimoun verneinte.

„Die Kinder haben mich erfolgreich von ihm ferngehalten.“

Leise lachend klopfte der alte Geflügelte auf die Felle neben sich. „Du reagierst wohl empfindlich auf seine Stimmungen.“, stellte er fest. „Und nun quälst du dich, weil du den Grund nicht kennst.“ Kurz schwieg er und betrachtete den Drachenreiter. „Es betrübt ihn, dass er mir nicht in dem Maße helfen konnte, wie er es sich wünscht.“

Irritiert runzelte sich die Stirn seines Gesprächspartners. Es brauchte eine Weile und nur der vorher gegebene Hinweis bezüglich des Alters brachte Mimoun schließlich auf die richtige Spur. Bevor er etwas sagen konnte, wurde ihm einerseits ein Becher Tee in die Hand gedrückt, andererseits hob Addar die Hand, um Mitleidsbekundungen zu unterbinden.

„Jeder muss irgendwann gehen. Auch bei mir ist das nicht anders.“

„Ich weiß. Nur sieht man die, die man mag, so ungern gehen.“

Milde nickte Addar und schwieg. Mimoun blieb noch eine ganze Zeit neben ihm hocken und genoss den Tee, doch schließlich erhob er sich mit einer Entschuldigung und trat wieder vor die Tür. Aufmerksam sah er sich um.
 

Xaira kam ihm entgegen. Sie hatte ihre Tasche wieder. Auf ihrem Gesicht leuchtete der matte Schimmer des Sieges, untergraben vom noch matteren Schein der Erschöpfung. Ihre Wangen glühten vor innerer Hitze und kalter Luft.

„Dass ihr es hier oben aushaltet. Ganz ehrlich, keiner sonst würde hier leben wollen.“, murrte sie. „Ich bin so froh, dass ich noch warme Felle habe, sonst würde ich hier erfrieren! Warum wollte Dhaôma noch mal Seide?“ Misstrauisch beäugte sie ihn. „Du bist vorhin so schnell verschwunden? Hast du aufgegeben oder ist was passiert?“
 

„Ach, ich dachte, den Rest schaffst du auch allein.“ Demonstrativ betrachtete er die Tasche. „Zu Recht, wie ich sehe.“ Abschätzig besah sich Mimoun die Frau von oben bis unten. „Na los. Geh rein. Es müsste noch warmer Tee da sein.“ Mit diesen Worten ließ er den Halbling stehen und ging zum Verschlag, wo er Dhaôma das letzte Mal gesehen hatte. Die Kinder saßen und lagen zum Teil völlig erschöpft davor. Jetzt wären sie eigentlich leichte Beute, doch mit einem amüsierten Lachen ließ er die Kleinen liegen. Er wollte wissen, wie es seinem Freund ging und schlüpfte durch den Eingang.
 

Das Spiel der Kleinen war ziemlich bald beendet gewesen, als Lulanivilay keine Lust mehr hatte, weil sie ihn langweilten. Jetzt saßen sie bei Dhaôma auf dem Boden und bestaunten kleine Blumen. Dank Fiammas Magie war der Ort warm genug, dass die Pflanzen, die der Braunhaarige wachsen ließ, nicht eingingen. Zwar hatte er ihnen verboten, die Blüten zu zerpflücken, aber sie hatten es natürlich nicht verstanden. Gerade steckte sich Seren eine Ringelblume in den Mund.

Dhaôma sah auf. „Hallo.“, winkte er. Sein Kichern überlagerte ein wenig seine Worte. „Auch ein paar Blümchen als Nachtisch?“
 

Er lachte. Dem Himmel war Dank. Beinahe zeitgleich mit dem Kichern entspannte sich Mimoun wieder völlig. Es war alles in Ordnung, wenigstens für den Moment.

Der Blick des Geflügelten glitt über die Winzlinge und auch er musste lächeln. Sie waren so süß und herzerwärmend. Er ließ sich neben Dhaôma auf den Boden sinken und dachte über dessen Frage nach. Nacheinander betrachtete er die noch vorhandenen Blümchen und wandte sich schließlich an seinen Freund.

„Wenn zu Blümchen auch Blumenkinder zählen, verzichte ich lieber, sonst habe ich nachher keines mehr.“
 

„Es gibt Nachschub.“, lachte Dhaôma und kreierte mit einer konzentrierten Bewegung einen Kranz für Mimoun. Die Ringelblumen leuchteten wunderbar orange und kontrastierten das schwarze Haar unheimlich intensiv. „So, jetzt bist auch du ein Blumenkind. Aua.“ Mit gerunzelter Stirn entzog er den ziehenden Kinderhänden seine Haare. „Warum sind die für die Kleinen nur immer so unglaublich faszinierend? Es sind doch nur Haare.“ Eine weitere Bewegung später wurden all seine Haare von einem starken Pflanzenstängel in einem Knoten gehalten und es gab Gequengel, weil Fiamma nicht mehr an seine Haare kam.
 

„So etwas Weiches findest du bei uns so selten.“, erwiderte Mimoun. Die Blumen in seinem Haar waren ihm peinlich, wie man deutlich in seinem Gesicht ablesen konnte. Um das zu verbergen, lehnte er sich zu Dhaôma hinüber, wickelte sich eine Strähne braunen Haares um seine Finger und küsste die Stirn seines Freundes.
 

Es brachte Dhaômas Gesicht zum Glühen. Unbändige Freude quoll aus seinem Inneren, ohne dass er es verhindern konnte, aber zur gleichen Zeit machte es ihn unheimlich unsicher. Wie sollte er nun reagieren?

Im Gegensatz zu ihm, wusste seine Magie ganz genau, wie sie zu reagieren hatte, denn die Blumenpracht weitete sich rasendschnell aus. Innerhalb einiger Sekunden wanden sich Ranken über die nächste Wand und an der Decke entlang, erblühten in einem strahlenden Weiß. Wegen seiner Zauberei hatte Tyiasur die Blockade aufgehoben, jetzt spielte diese seltsame Kraft in ihm wieder verrückt. Der Drache ließ sie, denn inzwischen hatte er eine Sache begriffen: abhängig davon, welches Gefühl den Magier beherrschte, wenn seine Magie Amok lief, nutzte sie einen anderen Kanal. War er wütend, zersetzten sich Pflanzen oder Eis wucherte, war er ängstlich, verlor er die Kontrolle über alle Magie, war er fröhlich, kanalisierte sich die Kraft über die Arme oder die Wangen. Jetzt gerade war er glücklich, warum sollte er also eingreifen?
 

Erst als er sich von seinem Freund löste, entdeckte Mimoun das Spektakel um sie herum. Staunend betrachtete er die Blütenpracht. Na toll. Jetzt wurde nicht nur der Geflügelte, sondern auch das Gebäude dekoriert.

Mit schief gelegtem Kopf besah er sich seinen Freund. „Auf die Stirn küssen, gibt weiße Blüten. Mal schauen…“ Damit drückte er ihm einen Kuss auf die linke Wange.
 

Dhaôma wusste sich nicht anders aus der Lage zu helfen, also begann er zu kichern. Er war hoffnungslos überfordert. In seiner Erinnerung war es immer ein Scherz gewesen oder hatte irgendwelche Trauer ausgelöst. Mimoun machte das bei Kindern und seiner Mutter und seiner Schwester. Und nun bei ihm. Es bedeutete, dass er ihn gern hatte. Nicht wahr?

Es war der Grund, warum er sich nicht wehrte, aber in ihm kribbelte alles, besonders seine Arme juckten und er konnte sie kaum stillhalten, denn Mimouns weiche Lippen kitzelten seine Haut.

„Deine Lippen sind genauso weich wie meine Haare.“, brachte er hervor, kicherte erneut.
 

Um sie herum begann das Gras höher zu schießen. Immer mehr gelbe Blüten zeigten sich dazwischen. Sie waren für den Geflügelten trotz seiner anfänglichen Neugier zur Nebensache geworden. Auch sein Spiel fand ein Ende.

„Wenn meine Lippen - die eines Kriegers und Kämpfers - weich sind, wie…“ Mimoun sprach nicht weiter. Sein Gesicht hatte sich nicht weit von dem seines Freundes entfernt. Nun glitt der Blick der grünen Augen zu den Lippen des Magiers und strich vorsichtig mit dem Daumen darüber.
 

Wie hypnotisiert sah Dhaôma in diese grünen Augen, versuchten dem Blick zu folgen. Seine Lippen kribbelten. Genauso die Stellen in seinem Gesicht, die Mimoun berührt hatte. Im Hintergrund nahm er wahr, wie sich Lulanivilay bewegte, aber er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Mimoun war das einzige, das war. Mimoun und der Herzschlag, der laut in ihm widerhallte.
 

Wie häufig hatte er Dhaôma schon geküsst? Jetzt gerade wusste Mimoun es nicht zu sagen, aber er wusste, das hier war anders. Diesmal war es keine Tat aus Verzweiflung. Diesmal gehörte Dhaôma ihm. Und dieses Wissen ließ ihn unsicher werden. Dabei gab es doch nun keinen Grund mehr dafür, nicht wahr?

Hauchzart und vorsichtig küsste er die ihm so vertrauten Lippen, zog sich unsicher zurück, bevor er ein wenig entschlossener zurückkehrte.
 

Es war anders als früher. Auch Dhaôma spürte es sofort. Die Wärme in seinem Bauch, die alles zu überschwemmen drohte, das leichte Schwindelgefühl, das seine Sinne verwirrte, das Kribbeln, das ihn rastlos zurückließ. Und all das wurde nur durch diese keusche, heimliche Berührung ausgelöst.

Er blinzelte und holte Luft. Wann hatte er das das letzte Mal getan?

Dann waren Mimouns Lippen wieder da. Ohnmächtig, etwas dagegen zu unternehmen, schlossen sich seine Augen, ließen nur noch Gefühl zurück. Ein Gefühl, so unbeschreiblich und ungreifbar, dass er mehr wollte, nur um zu ergründen, was es war. Unwillkürlich lehnte er sich ein wenig vor, kam Mimoun entgegen.
 

Ohne sein Zutun wanderte eine Hand höher und legte sich in Dhaômas Nacken, während sich seine andere Hand in den Rücken seines Freundes stahl, ihn näher zog. Dass Dhaôma erwiderte, war für ihn die Bestätigung, die er brauchte. Das hier, was er tat, war richtig. Und er wollte länger den süßen Geschmack von Dhaômas Lippen kosten, dieses Glücksgefühl erleben, das durch seinen Körper tobte.

„Atmen nicht vergessen.“

Die Umgebung holte sich mit Macht ihre Existenzberechtigung zurück und erschreckt löste sich Mimoun von seinem Freund, die Hände noch immer da liegen lassend, wo sie waren. Mit einem sehr unerfreuten Knurren wandte er sich dem Sprecher zu. Asam. Dieser grinste nur höchst amüsiert.

„Wir müssen auf die Jagd, da wir ja nun ein paar Mäuler mehr zu stopfen haben, also mach dich nützlich.“ Und schon kam der Bogen des Geflügelten heran geflogen. Mehr schlecht als recht wurde er aufgefangen und missgelaunt begutachtet. Mimoun wollte nicht weg. Nicht jetzt. Doch Asam war schon wieder nach draußen verschwunden, so dass ein Protest nur vergeudete Luft war.

Mimoun wandte sich wieder seinem Magier zu und lehnte seinen Kopf an ihn. „Kannst du uns einwuchern, so dass ich hier nicht mehr herauskomme?“
 

„Und mich könntest du entwuchern. Es ist ziemlich eng geworden, seit eurem Kuss.“

„Uahhh.“ Erschrocken sprang Dhaôma auf, als er sah, dass seine Ranken den Drachen völlig überwachsen hatten. Zittrig ging er wieder in die Knie. Sie waren weich und er hatte sie nicht unter Kontrolle, als hätte er einen Schock! „Entschuldige. Wann ist denn das passiert?“

„Als er so lieb zu dir war.“, kam die unumwunden passive Erklärung. „Aber es sah so hübsch aus, da hab ich es vergessen.“

Und schon kam der nächste Schrecken. „Wo sind Fiamma und Seren? Sie waren doch grade noch hier!“

„Unter mir.“ Wieder war es die dumpfe Stimme des Drachens, die gelangweilt Ruhe vermittelte. „Sie nerven und zwicken. Mach sie weg.“
 

„Oh weh.“ Mimoun war kurz davor, in Lachen auszubrechen. Wenn das jetzt jedes Mal passierte, wenn er Dhaôma nahe kam, sollten sie sich für diese Zeitpunkte Orte suchen, die fernab jeden Lebens waren.

„Okay.“ Seine Lippen streiften Dhaômas Wange. „Du rettest unsere Lieblinge vor dem fesselnden Naturell der Pflanzen und ich rette sie derweil vor dem Hungertod.“ Seine Arme schlangen sich um den Bauch des Magiers und drückten ihn fest an sich. Sein Mund näherte sich dessen Ohr und flüsterte ihm die drei wichtigsten Worte hinein, bevor er sich löste und sich zum Gehen wandte: „Ich liebe dich.“
 

„Ich freue mich.“, antwortete Dhaôma, was Lulanivilay vor Frust knurren ließ. Er wollte endlich aus diesem Pflanzengewirr heraus!
 

Es war nicht ganz das gewesen, was er zu hören gehofft hatte. Wenn er recht darüber nachdachte, hatte Dhaôma es auch damals nicht direkt gesagt, als Xaira sie auf den richtigen Weg brachte. Zwar hatte er seine Gefühle ziemlich genau beschrieben, doch diesen Satz, den Mimoun zu hören wünschte, hatte Dhaôma bisher noch nicht in seiner Gegenwart ausgesprochen. Ob ihm das derzeit noch unmöglich war? So wie damals mit der Freundschaft?

Ein Pieksen in der Seite riss ihn aus seinen trübseligen Gedanken. Sein Blick fokussierte sich auf Asam, der seinem Freund die Spitze des eigenen Bogens knapp unterhalb der Rippen in den Körper gestoßen hatte.

„Na los. Je schneller wir fertig sind, desto schneller bist du wieder bei ihm.“, lachte Asam ausgelassen und stieß sich vom Rand der Insel, ließ sich nahezu senkrecht fallen, dicht gefolgt von den Jägern, die ihn heute begleiteten.

Kurz glitt Mimouns Blick noch einmal zu dem Verschlag des Drachens und sprang dann hinterher. Das Ratsmitglied kannte sich in ihren Jagdgründen besser aus und so beschränkte Mimoun sich darauf zu folgen. Es verlangte kein eigenständiges Handeln und seine Gedanken drifteten wieder zu einem gewissen Magier, dessen Ringelblumenkranz er immer noch im Haar hatte.

Die Herden waren noch nicht von ihrem Winterplatz zurückgekehrt, so dauerte es eine Weile, bis die kleine Gruppe jagdbares Wild fand. Tragende Tiere wurden verschont, um die Population für das nächste Jahr nicht zu gefährden.
 

Währenddessen machte sich Dhaôma an die Arbeit und fasste er einen Entschluss. „Komm, Vilay, wir helfen ihnen, dann kannst du dir selbst Beute suchen.“

„Es ist kalt draußen.“

„Wir können Fiamma mitnehmen, dann wärmt sie dich.“

„Sag das Sonne und Spatz.“

Es so zu hören, war einfach witzig. Zwar hatte er schon gewusst, was Asams Name übersetzt hieß, aber er hätte es nie ausgesprochen. Jetzt brachte es ihn zum Lachen. „Natürlich sage ich Bescheid, also beweg dich. Du wolltest doch. Los. Wir begleiten Mimoun und passen auf ihn auf!“

„Sicher.“ In den massigen Körper kam Bewegung. Viele der Blumen wurden unter seinen großen Pranken zermatscht, aber den Drachen kümmerte das nicht.

„Warte, der Haltegurt.“ Dhaôma legte ihn an und der Drache schob sich durch die Lederplanen nach draußen, überließ es Dhaôma, sich Seren auf den Rücken zu wickeln und Fiamma auf den Bauch zu binden.

„Ich hab dich schon gesucht. Du warst lange weg.“, kam Leoni auf ihn zu, als er Lulanivilay folgte. „Was machst du da?“

„Ich will sie auf die Jagd mitnehmen. Fiamma hilft Lulanivilay dabei, sich zu bewegen. Da sie schreit, wenn Seren nicht da ist, nehme ich beide mit.“

Sie runzelte die Stirn. Das war doch gefährlich. Aber er schien das gar nicht wahrzunehmen. „Wenn das so ist, begleite ich euch auch.“ Immerhin musste jemand auf sie aufpassen.

„Na dann komm!“, rief Dhaôma begeistert. „Ich wollte dich schon immer mal fliegen sehen.“

„Werd nur nicht übermütig.“ Und nachdem sie eine Sekunde darüber nachgedacht hatte, begriff sie. „Es ist etwas Gutes passiert, nicht wahr?“

„Ja.“, antwortete Dhaôma frei heraus. Lulanivilay breitete die Schwingen aus und der Lärm, der dabei entstand, wenn er die Luft durchschnitt, machte ein Gespräch für ein paar Sekunden unmöglich, aber Leoni hatte auch so begriffen. Der junge Mann auf dem gefährlichen Drachen, bepackt mit zwei Babys, war auf der Jagd nach seinem Geliebten. Wahrscheinlich hatte Asam sie bei irgendetwas unterbrochen.

Die junge Mutter musste sich wirklich anstrengen, um auf gleicher Höhe mit dem Drachen zu bleiben, der immerhin zehn Meter Spannweite hatte. Bei ihren zwei Meter vierzig messenden Flügeln verbrauchte sie viel mehr Kraft.
 

Sie holten die Gruppe Jäger nicht so schnell ein, wie Dhaôma gehofft hatte. Leoni war zu langsam. Irgendwann wurde es sogar Lulanivilay zu bunt. Er flog über die blonde Geflügelte, dann packte er sie und schon wurde er schneller. Das Schreien dreier Kehlen verklang im Wind hinter ihnen.

Oh ja, die Kleinen hatten einen Heidenspaß an der Sache. Der pfeifende Wind, die Geschwindigkeit, das unglaubliche Gefühl gefiel ihnen und sie zappelten beide wie verrückt.

„Leoni, ist alles okay bei dir?“

„Sonne geht es gut. Sie findet bloß die Haltung unbequem.“

„Das müsste auch nicht sein. Wir hätten in ihrem Tempo fliegen können.“

„Du wolltest auf Himmel aufpassen. Das kannst du nicht, wenn du auf sie wartest.“

Dhaôma schwieg. Sein Freund hatte Recht, was aber nicht bedeutete, dass er es guthieß, wie er Leoni behandelte. „Lass sie wenigstens hinter mir Platz nehmen.“

„Nicht nötig.“

„Schau, Dhaôma, da vorne sind sie.“ Tyiasur hatte sich seit langer Zeit mal wieder gemeldet.

„Sie jagen ja schon. Sie hätten ruhig warten können.“

„Sie wussten doch nicht mal, dass wir kommen.“

Abrupt bremste Lulanivilay ab, dann ließ er Leoni fallen, die erschrocken war und schrie, sich dann aber abfing. Kaum hatte er die Klauen frei, ging der Drache in die Vollen. Er beschrieb einen großen Bogen um die Herde herum, dann kam er direkt von vorne, trieb die in Panik geratenden Tiere zurück zu den Jägern und griff sich nebenbei einen Wisent. Ein weiteres Tier stürzte unglücklich, als es versuchte, auf dem Huf zu wenden, während einer der großen Flügel es streifte. Eines der Beine brach hörbar.
 

Mit Jubel wurden die neuen Jäger begrüßt. Doch es dauerte nicht lange, da wurde auch eine wütende Stimme laut: „Was machen die Kinder hier? Dhaôma, bist du noch bei Sinnen?“, wollte Asam aufgebracht wissen. „Die Ebenen sind kein Platz für Kinder.“

„Darum bin ich ja hier.“ Nun hatte auch Leoni die Jagdgesellschaft erreicht. „Ich passe schon auf unsere Mädchen auf.“

Man sah deutlich, dass Asam mit dieser Situation nicht einverstanden war, doch zuerst musste ihr vorrangigster Auftrag zu Ende gebracht werden. Mit Lulanivilays Hilfe waren schnell genug Tiere erlegt und die kleine Gruppe machte sich daran, die Beute fachmännisch zu zerlegen.

Das Ratsmitglied enthielt sich dieser Aufgabe und trat zu Dhaôma. „Die Ebenen sind kein Ort, wo man leichtfertig hingehen sollte. Immer wieder verschwinden Geflügelte und nun wissen wir auch warum. Dass du meine gesamte Familie hierher bringst, war absolut verantwortungslos.“
 

„Warum verschwinden sie denn?“, fragte Dhaôma irritiert. Er verstand nicht, warum Asam sich so aufregte. In seinen Augen gab es keinen besseren Schutz vor der Welt im Allgemeinen als Lulanivilay und Tyiasur in Kombination mit Mimoun. Alle waren sie hier versammelt, also sah er keine Gefahr.
 

„Halblinge.“, ließ Mimoun das einzig nötige Stichwort fallen, das erklärte, was Asam meinte. Auch er war nicht sonderlich angetan von der Tatsache, dass die Winzlinge und Leoni hier unten waren. Gut. Lulanivilay war anwesend und die Gefahr für ihre Liebsten war nahezu null. Deshalb hätte er Dhaôma lieber später dezent darauf hingewiesen, statt ihn hier vor allen zu maßregeln, aber es ging hier vorrangig um Asams Familie.
 

„Aber die sind doch gar nicht hier.“ Irgendwie hatte Dhaôma das Gefühl, dass er nicht verstanden wurde. Seine Freude wurde nicht verstanden, seine Fürsorge missverstanden. Es war wie früher, wenn er etwas getan hatte, was für den Rest der Welt nicht gut nachzuvollziehen war. Wie bei seiner Familie, die schon eine vorgefertigte Meinung hatte. Sie waren zwar nicht wie sie, er wusste das. Sie waren besorgt. Unnötig, aber besorgt.

„Es tut mir Leid, dass ich dir Sorgen bereitet habe. Ich werde es nicht wieder tun.“, versprach er mit hängendem Kopf und fühlte gleichzeitig eine immense Last in sich aufsteigen. Fiamma würde also in ihrer Kindheit niemals Freiheit kosten dürfen, würde immer auf dieser Insel sein, ohne die Möglichkeit, andere Orte zu erkunden, ohne dass einer dabei war, der sie trug. Sie würde niemals die Freude kennen lernen, mit jemandem durch hohes Gras zu rennen, so weit die eigenen Beine sie trugen. Hatte er einen Fehler damit gemacht, sie in Hanebitohände zu geben?
 

Kurz betrachte Mimoun seinen Freund und zog seufzend seine blutigen Hände aus dem Kadaver. Nur notdürftig wischte er das Blut am Gras ab und bat mit einen kurzen Kopfschütteln an Asam, die weitere Angelegenheit ihm zu überlassen. Er erlöste den Magier von seiner Last und ging mit ihm ein paar Schritte abseits.

„Ich weiß nicht, ob du wirklich begriffen hast, warum wir so in Sorge sind.“, begann Mimoun und sprach auch gleich weiter, ohne Dhaôma die Möglichkeit eines Einwurfes zu geben. „Wir beide wissen aus nahezu erster Hand, dass gezielt Geflügelte gefangen wurden. Und wir wissen, dass sie nur selten Frauen in die Finger bekamen. Nun bringst du Leoni und unsere beiden Mädchen mit hier runter. Lass ein Unglück geschehen, nur einen dummen Zufall, eine Unachtsamkeit und sie wären Gefangene des Zirkels. Du erinnerst dich doch sicher noch daran, wie Asam gestern auf diese Information reagiert hat. Und nun sind seine Mädchen hier unten. Solange der Zirkel existiert, sind sie hier nicht sicher. Versuche ihn bitte zu verstehen. Er hat Angst um sie.“ Mimoun lächelte Dhaôma aufmunternd zu. „Ich weiß, dass du es nicht böse meintest und ich weiß auch, dass du sie immer beschützen wirst. Aber ich bin mir absolut sicher, dass du nicht willst, dass ich in potenziell gefährliche Situationen gerate, nicht wahr?“
 

„Ich dachte nicht, dass es gefährlich ist.“, murmelte Dhaôma zerknirscht. „Die Magier vertragen die Kälte nicht, sie würden es nicht wagen, im Winter über die Steppen zu gehen, weil sie euch fürchten. Und Lulanivilay und Tyiasur sind eine schier unüberwindbare Mauer, die sie mit ihrer Magie nicht durchbrechen können. Dann sind hier unheimlich viele Jäger und du bist hier und…“ Seine Stimme war immer leiser geworden. Er hasste es, sich zu rechtfertigen und tat es aus diesem Grund nicht gerne. Im Grunde tat er es nie. Lieber entschuldigte er sich und brachte es möglichst schnell hinter sich, aber bei Mimoun durfte er das nicht machen. Der hatte ihm gesagt, er solle seine Gedanken mit ihm teilen, damit er ihn verstand.
 

„Hey. Nicht traurig sein.“ Vorsichtig lehnte Mimoun sich vor und küsste die Stirn seines Freundes. „Ich weiß, dass du es gut gemeint hast. Und natürlich ist es in unserer Gegenwart weniger gefährlich für sie. Deshalb bin ich auch nicht wirklich böse. Nur ein klein wenig in Sorge. Und ich bin mir sicher, auch Asam wird sich schnell wieder beruhigen.“ Auffordernd klatschte Mimoun in die Hände. „Also. Wir haben noch ein wenig zu erledigen. Passt du solange auf die Mädels auf?“
 

„Du hast sie mir weggenommen. Ich dachte, ich darf nicht mehr, weil ich sie in Gefahr bringe.“, hakte der Braunhaarige vorsichtig nach. Er fühlte sich so unsicher wie den ersten Tag auf den Inseln oben.
 

„Dummkopf.“, lächelte Mimoun sanft. „Ich wollte nur kurz mit dir allein sprechen, herausfinden, ob du wirklich verstanden hast, worum es uns ging. Natürlich darfst du mit den Kleinen auch weiterhin spielen. Du bist doch Fiammas Vater. Niemand kann dir das Recht nehmen, dich mit deiner Tochter zu beschäftigen.“ Vorsichtig drückte er seinem Freund einen Kuss auf die Schläfe. „Na komm.“

Derweil hatte Asam sich einen weniger privaten Einlauf von Leoni eingefangen. Sie hatte Dhaôma nicht aufgehalten, sie war einverstanden gewesen. Wenn er schon jemanden zusammenstauchen wollte, dann sollte er sich gefälligst an die richtige Person wenden.
 

Es war Dhaôma ganz und gar nicht Recht, jetzt zurück zu all jenen zu gehen, die potentiell gegen seine Aktion eingestellt waren. Leonis Verteidigungslinie gegen Asam stimmte ihn zwar ein wenig fröhlicher, aber ihn aufheitern konnte es nicht.

Gerade als sie Lulanivilay erreichten, brach bei den beiden ein heftiger Streit los, der beinahe von Leoni allein geführt wurde. Ihr Wutausbruch beinhaltete, dass sie sich auch als Frau sehr gut allein verteidigen konnte, dass sie es sich nicht nehmen lassen würde, mit ihren Freunden einen Ausflug zu machen, dass sie kein Fenra war, das man irgendwo einsperren konnte, wenn es gefährlich wurde, und dass sich Asam nicht als Glucke aufspielen sollte, nur weil er sich erschrocken hatte. Man konnte in seinem Gesicht sehen, dass es ihm schrecklich weh tat, sich mit ihr zu streiten und er wollte einlenken, aber sie fauchte ihn nur an, dass er gefälligst seine Arbeit tun sollte, denn sie würde die Kinder in Sicherheit bringen, um ihm seine allzu übertriebene Sorge zu nehmen. Wutentbrannt kam sie zu Dhaôma und fragte ihn, ob er etwas dagegen hätte, mit ihr zurück zu den Inseln zu fliegen.

„Nein.“, bestimmte Lulanivilay und krallte sich seine Beute. „Fliegst du allein, mit Freiheit oder wie vorhin, Sonne?“

„Ich bevorzuge es, glaube ich, diesmal allein zu fliegen.“, knurrte sie. Ihre Stimme war eine Spur heller als gewöhnlich.

Dhaôma griff sich Serens Tragegurt und schnallte ihn sich auf den Rücken. „Wir sehen uns später, Mimoun.“ Er warf ihm einen unsicheren Blick zu, bevor er sich auch Fiamma schnappte und auf den Rücken des Drachens kletterte. Einen Knoten später startete Lulanivilay, in jeder Klaue ein Wisent. Da er sowieso auf die zierliche Geflügelte warten musste, konnte er auch mehr tragen.
 

Mit Bedauern sah Mimoun seinen Freund abziehen. Doch schnell wandte er sich ab. Sein Blick ruhte lange und ernst auf Asam, ohne dass er ein Wort sagte.

„Willst du mir irgendetwas sagen?“, fragte das Ratsmitglied schließlich. Er schien sich uneins zu sein, ob er wütend oder geknickt sein sollte, und das hörte man in seiner Stimme.

„Du solltest lernen, entspannter durchs Leben zu gehen.“, gab Mimoun seinem Freund den weisen Rat und hockte sich hin, um seine Arbeit fortzusetzen. „Bei dem ganzen Stress, den du dir umsonst machst, wirst du noch jung sterben.“

„Umsonst?“, fuhr Asam auf. Langsam bekam er wieder Fahrwasser. „Wenn ich nicht einmal meine Familie beschützen kann, wie soll ich dann unser Volk beschützen? Ich trage die volle Verantwortung.“

Ruhig erwiderte Mimoun den Blick und nickte zur Bestätigung dieser Aussage. „Aber auch du vergisst anscheinend eine Kleinigkeit.“ Sein Gesprächspartner schien trotz intensiven Überlegens nicht darauf zu kommen, deshalb fuhr er fort: „Fiamma ist auch meine Tochter. Es sei denn, man hat mir dieses Recht abgesprochen, aufgrund meiner häufigen Abwesenheit? Und sie ist auch Dhaômas Tochter. Niemals würde er unserem Winzling Schaden zufügen oder sie und ihre Familie in Gefahr bringen. Langsam müsstest du ihn wirklich besser kennen.“

Asam schwieg eine ganze Zeit lang und wandte sich schließlich den verbliebenen Jägern zu. „Möchte noch jemand etwas dazu sagen?“

„Weniger reden, mehr arbeiten wäre nicht schlecht.“, wurde hinter einer Hand versteckt gebrummt.

„Ja. Mach dich nützlich.“, wiederholte Mimoun lachend die Worte, mit denen Asam ihn vorhin gestört hatte. Dieses Geplänkel lockerte ein wenig die peinliche Anspannung, ein Rest davon blieb aber bis zum Schluss vorhanden.

Es war wie jedes Mal. Kaum hatte er seine Beute bei den Leuten im Dorf abgeladen, irrte sein Blick auf der Suche nach einer bestimmten Person über die Menge.
 

Dhaôma war mit seinem Drachen, Tyiasur, den Kindern und Leoni auf direktem Weg in die Drachenhöhle gegangen, wie die Kinder dieses Haus nannten. Erst jetzt, als die junge Frau staunend im Eingang stehen blieb, nahm er wirklich wahr, was er hier geschaffen hatte. Zwar war die Blütenpracht und das Grün von tiefen Spuren durchzogen, zertreten und zerrissen, aber ein wenig erinnerte es ihn an seine Heimat, den Wald, in dem er aufgewachsen war, wenn er es zu Hause nicht mehr aushielt. Es war beinahe nostalgisch, wie tröstlich es sich anfühlte, in diesen Dschungel einzutreten.

Weich lächelnd schob er sich an Leoni vorbei. „Tyiasur, lass locker, bitte.“, murmelte er und im nächsten Moment erholten sich all die zertretenen Pflanzen, nur um Sekunden später von Lulanivilay wieder kaputtgemacht zu werden. Es war egal. Er ließ sie sich ein weiteres Mal erholen, bevor er die beiden Kinder absetzte. Seren schlief inzwischen und Fiamma war kurz davor. Der Ausflug war sehr anstrengend für sie gewesen.

„Hey, kann es sein, dass du aufgewühlt bist?“

Der Braunhaarige sah Leoni an, die zu ihm gekommen war. Ihr standen die Blumen unheimlich gut. Sie passte genau in dieses Bild. Aber ihre Worte bohrten in einer Wunde, die heilen sollte.

„Es ist in Ordnung. Er meint es nicht böse.“

„Oh doch. Er meint es genau so, wie er gesagt hat.“ Ernst richtete sich Dhaôma auf. „Asam hat keinen Grund, sich über etwas aufzuregen, was er nicht meint. Und da er sich so selten aufregt, war es ihm doppelt ernst.“

„Das heißt aber nicht, dass er Recht hat.“, versuchte sie einzulenken, aber das Lächeln, das gerade noch auf Dhaômas Lippen gelegen hatte, als er seine Blümchen und die Kinder betrachtet hatte, war wie weggewischt. „Hör mal, nur weil er so etwas gesagt hat, heißt das nicht, dass ich nicht gern mit dir geflogen bin. Es heißt auch nicht, dass du die beiden Kinder nicht weiterhin bei dir haben darfst.“

Seine Augen glommen still, dann wandte er sich ab.

Wann hatte sie ihn jemals so gesehen? Vorsichtig folgte sie ihm, legte ihm ihre Hand auf die Schulter. „Dhaôma?“

Er fuhr herum, wich ihrer Hand aus und sah sie bitter an. „Es reicht wirklich.“ Seine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Keuchen. „Ich werde gleich nach dem Treffen gehen. Ich…“ Erneut wandte er sich ab. Seine Zähne mahlten aufeinander.

„Nein, Dhaôma. Das war sicher…“

„Doch!“, fuhr er auf und als die ersten Pflanzen zu Eis erstarrten, beschloss der kleine blaue Drache, Dhaômas Magie wieder einzusperren. „Doch, es wird Zeit. Es war einfach vermessen zu glaube, ich könnte in eine Familie gehören, ohne sie zu zerstören. Ich werde gehen, damit es nicht wieder passiert und…“

Ihr Entsetzen über seine Worte nahm Leoni den Atem. Glaubte er ernsthaft, er würde ihre Familie zerstören? Warum? Wegen dem kleinen Streit? Weil sie sich auf seine und nicht auf Asams Seite geschlagen hatte? Fest umarmte sie ihn, ließ ihn auch nicht los, als er sich halbherzig wehrte. „Nein.“, flüsterte sie. „Das ist es nicht. Der kleine Streit wird unsere Familie nicht zerstören. Du wirst sehen, heute Abend ist alles wieder im Lot. Es ist doch nicht das erste Mal, dass wir uns streiten.“ Ihr Lachen klang hohl und aufgesetzt, während ihre Hand sanft durch das lange Haar strich. „Wie kommst du darauf, du würdest Familien zerstören?“

„Meine ist zerbrochen, weil ich lebe. Und Mimouns sobald ich in ihr Leben getreten bin.“

Leoni spürte seine Brust beben. „Das war aber nicht deine Schuld. Du warst ein Kind. Ein Kind ist niemals Schuld, wenn seine Eltern einander nicht mehr mögen. Und Mimouns…“

„Doch! Du verstehst das nicht!“ Dhaôma schüttelte sie ab und wandte sich ihr wieder zu. „Du kannst es nicht verstehen! Du warst nicht dabei.“ Er wurde leiser, presste die Augen zusammen, weil er sich nicht erinnern wollte, aber die Erinnerungen flossen vor seine Lider, als wären sie flüssige Spiegel der Vergangenheit. „Du warst nicht dabei, als sie sich stritten, warum Mutter nicht gut genug war, einen Heiler zu gebären, als er ihr Vorwürfe machte und sie sie zurückgab, weil ich nicht einmal kämpfen konnte.“ Wütend wischte er sich die Augen trocken. „Du kannst es nicht wissen, weil du nicht dabei warst, als meine Geschwister mich herumgeschupst haben und sagten, dass ich Schuld an Vaters Tod war, weil ich ihn nicht heilen konnte, als er auf dem Sterbebett lag. Wäre ich ein Krieger gewesen, wäre meine Schwester nicht gestorben! Und wäre ich nicht gewesen, hätte Mimoun sich nicht zwischen mir und seiner Familie entscheiden müssen! Er hat den Tod seiner Mutter nicht aufhalten können. Sie dachte, er wäre tot, weil er mit mir unterwegs war. Silia kann mich nicht leiden, weil ich ihr den Bruder weggenommen habe, und jetzt hat Mimoun sogar noch die Geburt seines Neffen verpasst! Sie hat ihn weggejagt, hat gesagt, er gehöre nicht mehr zu ihrer Familie!“ Mit der Zeit war er immer lauter geworden, seine Gesten ausladender, jetzt schnappte er nach Luft und presste die Hände auf die Augen. Er ließ seine Wut an jemand anderem aus. „Und jetzt bin ich hier. Habe eine Magierin in euer Haus gebracht. Ihr streitet euch wegen mir und…“

„Und wegen dir lebe ich noch.“ Sie ergriff seufzend seine Hand. „Dhaôma, ich sage es dir gerne noch einmal: Wir werden uns nicht trennen. Würdest du in unserem Weg stehen, wären wir nicht mit dir befreundet, würdest du nicht unter unserem Dach leben. Wir kommen klar, du bist eine glückliche Zugabe zu unserer Familie. Was glaubst du, haben wir durch dich erst alles gewonnen? Addar ist noch am Leben, meine Töchter sind hier und gesund und ich kann es noch sehen, sie fühlen. Dank dir hat ein ganzes Volk Hoffnung geschöpft, Hoffnung auf Frieden.“ Sie machte eine Pause, fing mit ihren Augen seine ein. „Kannst du das nicht sehen? Es war nur ein Streit. Lass die Vergangenheit ruhen. Vergiss deine Eltern oder Geschwister, die dich nicht mochten. Du hast nicht in ihre Vorstellungen gepasst, nicht in dieses seltsame Leben, von dem du mir erzählt hattest, aber hierher passt du gut. Ein einfaches, friedliches Leben. Ab und zu mal zu streiten ändert daran gar nichts. Es hilft einen, zu verstehen, was den anderen ausmacht.“

Dhaôma ließ ihre Worte lange auf sich wirken, bevor er sich schluchzend niederließ. Er zog sie in die Arme, suchte die Wärme, die sie ihm angeboten hatte. „Sie werden es uns richtig übel nehmen, wenn wir all die Kinder mit zu den Drachen nehmen, oder?“

„Einige sicher. Niemand lässt seine Kinder gerne ziehen, ob in den Krieg, auf Drachensuche oder in die Ehe.“

„Die Ehe? Ist das nicht ein schönes Ereignis?“

„Aber es bedeutet loslassen. Niemand kann das gut.“ Weich lächelnd wischte Leoni ihm die Tränenspuren von den Wangen. „Hast du dich beruhigt?“ Nicken. „Und du glaubst auch nicht weiter, dass du unsere Familie zerstörst?“ Er zögerte und sah zu Boden, was sie dazu bewog, ihm eine liebevolle Kopfnuss zu geben. „Hör zu, ich gebe dir ein Versprechen. Sollte ich jemals ahnen, dass deine Anwesenheit meine Familie zerstört, werde ich dir das schonungslos sagen und dich davonjagen. Bist du damit zufrieden?“

Er lachte verschnupft, nickte aber. Das beruhigte ihn tatsächlich.

„Sehr gut. Dann sei doch so lieb und lass noch ein paar von den Brombeeren da drüben wachsen. Die würden sich gut zu der Beute von heute machen.“

Lulanivilay begann endlich seinen Wisent zu fressen. Fast schien es, als hätte er Anteil genommen an dem Drama um sich herum, aber vielleicht war ihm der Lärm auch einfach nur auf den Magen geschlagen.
 

Er war nicht da. Er konnte Dhaôma nirgends entdecken. Also war er in einer Hütte. Entweder hatte er die Kleinen wieder in die Hütte geschafft und war nun dort oder bei Lulanivilay, der offensichtlich in seinem eigenen Haus steckte. Mimoun hatte sich für die falsche Möglichkeit entschieden, wie ihm ein kurzer Blick verriet. Addars grüßend erhobene Hand wurde schon gar nicht mehr registriert. Wie hatte Mimoun auch annehmen können, dass sein Freund nach der sich zugetragenen Szene die Gegenwart anderer suchen würde.

Unruhig stürmte der Geflügelte durch die Planen in Lulanivilays Reich und prallte zurück. Auch wenn sich Leoni alle Mühe gegeben hatte, es zu vertuschen, so waren die leicht geröteten Augen doch ein deutliches Zeichen. Dhaôma hatte geweint und er selbst war nicht da gewesen, um ihm zu helfen. Seine Kehle war wie zugeschnürt, so dass kein Wort über seine Lippen kam. Nur sein sorgenvolles Gesicht sprach Bände.
 

„Ah, da bist du ja.“ Leoni drehte sich zu ihm um und auch Dhaôma sah von seiner Arbeit auf, die Ranken in die von ihr bevorzugte Form zu bringen und dabei möglichst viele Früchte entwickeln zu lassen. Es war ihr Spiel gewesen, um ihn aufzumuntern. „Sind die anderen Jäger auch schon zurück oder bist du ihnen weggeflogen?“

Der Magier lächelte weich. „Bist du mit Brombeeren zufrieden oder möchtest du Erdbeeren?“, wollte er wissen.
 

Nur mühsam wandte Mimoun seinen Blick Leoni zu und schaffte sogar ein Lächeln. „Zum Wegfliegen ließen sie mir keine Möglichkeit. Sie halsten mir alles auf, was ich tragen konnte, und noch ein wenig mehr.“ Endlich. Endlich setzten sich seine Füße in Bewegung und brachten ihn zu Dhaôma. „Es ist mir alles Recht.“ Sein Blick glitt über die schlafenden Winzlinge während seine Hand unbewusst und nachlässig mit einer Dornenranke spielte.
 

Besorgt sah dieser Mimoun an. Kam es ihm nur so vor, als wäre etwas anders? „Bist… Bist du in Ordnung?“ Es war doch nicht normal, dass Mimoun Brombeeren über Erdbeeren stellte, zumal er diese Früchte in letzter Zeit recht selten bekam.
 

„Ich, ja.“, antwortete Angesprochener mit flüchtigem Lächeln. „Aber was ist mit dir?“
 

„Jetzt wieder alles in Ordnung. Leoni hat versprochen, dass ich nichts kaputt gemacht habe.“

Die blonde Frau lachte und ihre blauen Augen funkelten verschmitzt. Wie konnte man in diesem Alter noch so sein? Aber es gefiel ihr unerwartet gut, jemandem auf diese Weise zu helfen. Vielleicht würde sie das zu ihrer Aufgabe machen, wenn das alles hier vorbei war.
 

Kurz ruhte Mimouns Blick prüfend auf Dhaôma, um den Wahrheitsgehalt seiner Worte zu ergründen. Er meinte es völlig ernst. Und schon fiel die sorgenvolle Anspannung völlig von ihm ab und er wandte sich Leoni zu. „Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass du die Beste bist.“, fragte er sie strahlend, obwohl er wusste, dass er ihr das schon am Vortag gesagt hatte.

„Du kannst es gern häufiger sagen.“, gab sie ebenso fröhlich zurück.

Mit einem belustigten Schnauben wandte sich Mimoun wieder seinem Freund zu. Seine Hand fuhr prüfend über Dhaômas Stirn, so wie früher, wenn er sehen wollte, ob sich der Magier verausgabt hatte. Bei dem ganzen Pflanzenreichtum wäre es eigentlich zu vermuten. „Wie sieht es mit deinen Kraftreserven aus?“
 

„Bist du verletzt?“, kam die entsetzende Assoziation zurück geschossen. Augenblicklich schlossen sich die Hände um die Wangen, rahmten sie ein und seine eigenen Wangen begannen zu leuchten.
 

Einen Augenblick lang war Mimoun zu verblüfft, um zu reagieren. Wie kam Dhaôma denn jetzt darauf? Sah er etwa so aus, als wäre er verletzt worden? Wovon denn? Dann lachte er schallend los. Aber dieser Magier war schon niedlich in seinem Verhalten.

Seine Finger suchten die seines Freundes, zogen sie aber nicht von seinem Gesicht fort, sondern verhinderten, dass sie von dort weggezogen werden konnte. „Du hast all das hier wachsen lassen und anscheinend auch repariert, da man kaum Beschädigungen sieht. Ohne böse klingen zu wollen, Lulanivilay ist nicht gerade der Rücksichtsvollste. Ich wollte nur wissen, ob du dich nicht verausgabt hast.“
 

Verausgabt? „Nein.“ Dhaôma horchte in sich hinein, doch er konnte noch immer kein großartiges Echo seiner Kraft hören. „Ich denke nicht. Nicht mehr, seit dieser einen Nacht.“

„Welcher Nacht?“, hakte Leoni lasziv nach, aber seine Reaktion war nicht so spaßhaft, wie sie es gemeint hatte. Schmerzvoll sah er sie an und schüttelte den Kopf. Versichernd sah sie zu Mimoun. „Was ist denn passiert?“
 

Ihm entging ihr Unterton nicht. Doch auch ihm war der Spaß vergangen, als Dhaôma diese Momente ansprach.

„Etwas, das sich niemals wiederholen wird.“, schmetterte er ihre Frage mit einer bedrückenden Ernsthaftigkeit ab, die sie erst einmal von weiteren Fragen absehen ließ. Er sagte es ihr nicht nur deshalb nicht, weil Dhaôma es nicht wollte. Wie würden die Geflügelten darauf reagieren, sollten sie es erfahren?

Um sich von trüben Gedanken abzulenken, streckte er sich neben Dhaôma aus und legte seinen Kopf in dessen Schoß. Mimouns Hand wanderte hoch und streichelte die Wange seines Freundes. „Ich freue mich, dass es dir gut geht.“, murmelte er und schloss die Augen. Er wollte nicht schlafen, wollte einfach nur hier so liegen.
 

„Eine große Schmusekatze.“, stellte Leoni fest, um ihre Unsicherheit und den Moment zu kaschieren. „Wo ist eigentlich die kleine Katze? Ich habe sie heute noch gar nicht gesehen?“

„Ich habe keine Ahnung. Sie wird sich wohl verstecken. Nachts war sie jedenfalls da.“

„Schläft sie bei euch?“

Dhaôma nickte, während er seine Finger dazu brachte, schwarzes Haar zu teilen und die viel hellere Haut darunter zu betrachten. Immer wenn Mimoun in Sorge war, dann wurde er schmusig.

Leoni seufzte. „Dann werde ich mich mal auf den Weg machen, Asam zu begrüßen.“ Sie zwinkerte Dhaôma zu. „Wenn ihr später nachkommt, ist alles wieder gut. Du wirst sehen.“

Überwältigt von ihrer Zuversicht, winkte der Magier, bis sie verschwunden war. Wortlos fuhr er fort, Mimoun zu kraulen. Eigentlich wollte er lieber nicht zu Asam gehen. Vielleicht war er noch böse?
 

Schmusekatze? Er war doch keine Schmusekatze. Wie zur Bestätigung versuchte er sich an einem Geräusch, das einem Schnurren recht ähnlich war.

Mimoun drehte seinen Kopf ein wenig mehr, damit Dhaôma auch andere Stellen erreichen konnte und entriss sich ihm plötzlich. Er spürte, wie er dösig wurde. Es war einfach beruhigend, wenn die schmalen Finger ihn berührten. Aber er wollte nicht schlafen.

„Also. Was machen wir jetzt? Die Kleinen schlafen. Wir können sie also nicht piesacken. Und laut sein dürfen wir auch nicht, sonst wachen sie auf.“
 

Eigentlich war Dhaôma ganz zufrieden damit gewesen, wie sie hier gesessen hatten, aber wenn Mimoun etwas zu tun brauchte, dann sollten sie vielleicht planen. „Brombeeren pflücken, dann darüber nachdenken, wie die nächsten Tage aussehen.“, sagte er. „Vielleicht sollte ich wieder mit ein paar Magiern reden, während wir auf den Rat warten.“ Überzeugt war er davon nicht, aber er hatte auch das Gefühl, dass es besser für ihn war, wenn er nicht zu lange hier blieb. Egal, was Leoni oder Mimoun gesagt hatten, in ihm brodelte es immer noch.
 

„Nein.“, war die etwas laute, sehr ernste Reaktion des Geflügelten. „Beeren pflücken, ja. Planen, ja. Aber keine Magier. Nimm dir eine Auszeit. Tu einfach mal das, wozu du Lust hast. Setz dich nicht unnötig unter Druck. Wir werden früh genug wieder mit ihnen zu tun haben.“ Seine Finger spielten mit Dhaômas Haaren und er atmete ein paar Mal tief durch. Vielleicht war seine Reaktion ein wenig zu heftig gewesen. „Ich erinnere mich noch sehr gut an die Begegnung mit den Soldaten. Wenn du sagst, du willst mit den Magiern reden, dann gehe ich davon aus, du meinst auch du. Du allein, niemand sonst an deiner Seite. Lulanivilay vielleicht noch, damit er dich hinbringt. Aber ohne Tyiasur wird die nächste Begegnung mit Soldaten nicht so glimpflich verlaufen. Ich möchte nicht, dass du allein zu ihnen gehst, verstehst du?“
 

„Ja.“ Sein Blick glitt zu den beiden schlafenden Mädchen. Wie viel einfacher war es gewesen, allein zu sein. Zwar auch einsamer, aber er hatte immer tun können, wonach ihm der Sinn stand. „Und wozu habe ich Lust?“, fragte er schließlich an Mimoun gewandt. „Ich bin nicht gut darin, mir etwas auszudenken, was in deinen Augen ungefährlich ist.“
 

Woher sollte er wissen, was Dhaôma machen wollte? „Also, verboten sind: Treffen mit Magiern, wenn niemand in der Nähe ist, von einer Insel springen, auf einer Lawine reiten, Wasserfallspringen, mit Wölfen anlegen. Ah nein, Moment, das war ich.“ Angestrengt grübelte er über alles nach, was seit der Begegnung mit Dhaôma in minder schweren Katastrophen geendet hatte. Mimoun hatte das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, und er wollte die Stimmung nicht endgültig ins Negative laufen lassen. „Sonst steht dir alles frei. Ich frage doch nicht umsonst, was du machen willst. Das kann ich dir doch nicht sagen.“
 

„Ja.“ Und er wusste schon jetzt, dass es eine lange Wartezeit werden würde.

Nachdenklich sah er zu seinem Drachenfreund, aber auf den war auch kein Verlass. Ohne Fiamma würde er sich nur dann fortbewegen, wenn es Wärme versprach. Faktisch war er also wieder einmal an einem Ort gefangen. Warum fühlte es sich immer so schrecklich beengend an, wenn er nicht zumindest die Wahl besaß, an welchem Ort er sich aufhielt? Aber wenn er darüber nachdachte, dann war es schon immer so gewesen. Seit er als Kind sein Zimmer nicht verlassen durfte.

„Manchmal frage ich mich, ob es dir lieber wäre, ich wäre eine Frau, die zu Hause bleibt und das Feuer hütet.“, murmelte er.
 

Betroffen starrte Mimoun zu Boden. Kam er so rüber? Weil er Dhaôma beschützen wollte? Engte er ihn etwa ein? Dabei wusste er doch, dass Dhaôma seine Freiheit über alles liebte.

Der Blick des Geflügelten wanderte zu Dhaôma und er versuchte, sich seinen Freund als Frau vorzustellen. Als kleines Heimchen, das brav Zuhause auf den Gefährten wartete. Es ging nicht. Irgendwie war diese Vorstellung nicht mit dem Magier, der ihm gegenüber saß, vereinbar.

„Ist es falsch, dass ich das mir Liebste beschützen möchte?“ Kurz runzelte sich seine Stirn, als er sein Hirn auf der Suche nach dem passenden Wort durchforstete. „Erdrück ich dich?“
 

Das war es. Nicht wahr? Das war genau das Gefühl, das er manchmal hatte. „Ich freue mich darüber, dass ich dir das Liebste bin.“, stellte er fest. „Aber ich kann nicht aufhören zu leben, nur weil du dir Sorgen machst. Ich kann auch nicht aufhören, meinen Weg zu gehen, nur weil er gefährlich ist. Genauso wenig, wie ich aufhören kann, dich zu lieben, nur weil du mich einschränken willst.“ Er schwieg kurz, dann sah er Mimoun wieder an. „Mach dir keine Sorgen. Bis du zurück bist, werde ich nichts tun. Ich finde etwas, das mich beschäftigt hält.“
 

Er hatte es gesagt. Auch wenn es nur in einem Nebensatz war. Aber es besserte seine Stimmung kein bisschen. „Du kommst also nicht mit.“, stellte Mimoun leise und resigniert fest. Er hatte es gehofft, aber genauso wusste er auch, dass Silia und Dhaôma zusammen auf einer Insel einfach nicht gut gehen konnte. Es war wohl besser so.

Kurz schüttelte er den Kopf. Sie waren vom Grundkonsens abgekommen. „Ich wollte nicht wissen, was die nächsten Tage ist. Das zählt unter planen. Ich wollte wissen, was wir den Rest des Tages machen.“
 

Dhaôma zuckte mit den Schultern. „Ich werde mich wohl bei Asam entschuldigen. Es wird sonst unerträglich hier.“ Um seine Füße herum begannen die Pflanzen zu Eis zu werden und Tyiasur schloss die Magie wieder ein. Es gab Dhaôma den Rest. Der Druck, der jedes Mal auf seinem mentalen Selbst lastete, wenn Tyiasur die Magie einsperrte, machte ihm sowieso zu schaffen, aber heute fühlte er sich mehr denn je eingesperrt und gefesselt. Er tat einen Schritt zurück, dann holte er tief Luft, griff sich an die Kehle, weil es unerwartet schwer fiel.

„Lulanivilay, bitte bring mich zur Ebene. Ich ersticke sonst.“

Wortlos erhob sich der Drache. Da er noch immer sein Geschirr trug, würde es kein Problem geben, wenn er Dhaôma reiten ließ. Und die Reste des Wisents konnte er später essen.

„Tut mir Leid, Mimoun. Ich kann den Tag heute mit niemandem mehr verbringen. Kümmere dich bitte darum, dass der Winzling und seine Schwester zu Addar zurückkehren.“ Wie automatisch griffen seine Hände nach dem Leder, er schwang sich hinauf auf den breiten Rücken und Lulanivilay spannte sich. Im nächsten Moment schoss der große Grüne durch die Lederplanen, dass es knallte, erhob sich nach vier ausladenden Sprüngen steil in die Luft. Sie ließen die erschrockenen Hanebito zurück, die ihnen nur nachsehen konnten, als der dunkle Schatten sich zur Erde hinabstürzte.

Auf den Ebenen angekommen, stieg Dhaôma ab. Er bat Tyiasur, seine Magie zurückzuziehen, ihn sein zu lassen, wer er war, er bat sie beide zu gehen. Lulanivilay stupste ihn an. „Ruf, wenn du Hilfe brauchst, Freiheit.“, dann zog er sich zurück, kehrte zurück auf die Insel und in seine warme Höhle.
 

Dort saß Mimoun noch immer, reglos, blicklos. Erst die Ankunft des Drachens riss ihn aus seiner Starre. Verständnislos betrachtete er den grünen Leib, sah zu Tyiasur, der sich ins Gestrüpp fallen ließ. Mechanisch erhob er sich und befreite Lulanivilay von dem Tragegurt. Ohne sich seiner Handlungen bewusst zu sein, entzündete er ein Feuer, nachdem er alles brennbare Grünzeug in gefährlicher Reichweite des Kohlebeckens entfernt hatte. Dann hob er die Kinder hoch. Es wurde Zeit, dass er sie zu ihren Eltern brachte.

Es gab nicht wenige, die wissen wollte, wohin Dhaôma gegangen war, doch er lief wortlos an ihnen vorbei. Ebenso stumm legte er Addar die kleine Magierin in den Arm und ließ Seren neben ihm weiterschlafen. Die Worte der Anwesenden rauschten, ohne Gehör zu finden, an ihm vorbei. Auf eine Berührung hin, sah er zwar auf, doch sein Blick glitt schnell wieder von der Gestalt ab. Er hatte es nicht einmal als leichte Ohrfeige Xairas registriert.

Sein Weg führte ihn nach draußen und zu dem von Dhaôma damals zu neuem Leben erweckten Kirschbaum. Dicht wuchsen Äste und Zweige, dennoch zog er sich soweit ins Innere zurück, bis seine eng anliegenden Flügel ein Weiterkommen unmöglich machten. Ganz eng schlangen sich seine Arme um seine Knie und sein Kopf bettete sich darauf. Die Rufe der Kinder erreichten ihn nicht. Er wollte nicht spielen, er wollte keine Gesellschaft. Nur Dhaôma wollte er, aber diesen hatte er schwer verletzt. Hatte er überhaupt das Recht, an seiner Seite zu sein, wenn er es nicht schaffte ihn glücklich zu machen?
 

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Sie sind allesamt Idioten *schmoll*

Versöhnung

Kapitel 65

Versöhnung
 

Bis zum Abend streunte Dhaôma über die Ebene. Selbst nach Stunden sturen Laufens konnte er die Insel noch immer sehen. Es machte ihm bewusst, wie wenig er allein erreichen konnte. Dass er inzwischen nach ein paar Minuten Rennen außer Atem war, schuldete er seinem momentanen Leben als Drachenreiter. Dass er immer flog, tat seiner Ausdauer gar nicht gut. Seit Mimoun bei ihm war, war er ohnehin schwach geworden, hatte verlernt, wie man jagt, wie man sich aus schwierigen Situationen selbst befreite. Viel zu oft war er an Orten gestrandet, an denen er wartete, bis der Hanebito wieder da war, bis er von seiner Schwester wieder kam, bis er von der Jagd wieder kam. Irgendwie wartete er immer. Nahm sich selbst zurück und wartete, bis Mimoun sein Leben wieder ihm zuwandte. Warum? Warum band er sich an jemanden, der so viel freier war als er und der ihn daran hinderte, selbst frei zu sein? Warum gab er jemandem so viel Macht über sich, dass derjenige ihn halten, ihn in ein fremdes Leben zwingen konnte?

Nein, das waren die falschen Fragen. Wann hatte sich Mimoun so verändert? Wann hatte er begonnen, sein Handeln zu verbiegen, ihm Verbote zu unterbreiten? Seit wann hielt er ihn für so schwach, dass er ständig Hilfe brauchte? Im Grunde doch von Anfang an. Er war schon immer so gewesen. Nur, dass er die Macht der Liebe dazu gebrauchte, jemanden emotional an sich zu ketten. Das hatte er mit Silia gemeinsam. Sie hatte es mit Mimoun versucht und Erfolg gehabt. Mimoun versuchte es mit ihm – und hatte den gleichen Erfolg.

Ernüchtert ließ er sich fallen, lag eine ganze Zeit im Graupelschnee, bis die Kälte durch die langsam weniger werdenden Kleider drang. Natürlich löste sich das Leder auf, wenn Tyiasur ihm nicht half, seine Magie auszuschalten. Zum Glück hatte er den Poncho oben gelassen, sicher im Zimmer liegend, weit weg von dieser zerstörerischen Kraft. Das einzige, das ihn mit dieser Insel verband, mit den Bewohnern, die er lieb gewonnen hatte.

„Es gibt für mich keinen Grund, dort zu sein.“, wisperte er in den scharfen Wind, der die Tränen auf seinem Gesicht zu Eis werden ließ. „Dabei gibt es so viele Gründe. Ich würde Haru wieder sehen und Elin, Ramon, Jadya… Ich könnte mich um die Kirschbäume kümmern und die Eiche. Die Teiche brauchen sicher auch langsam aber sicher wieder Unterstützung mit ihren Bewohnern. Ich könnte den Kindern noch so viel beibringen.“ Er schluckte hart. „Und ich wäre bei Mimoun. Warum will er mich nicht dabei haben?“

Die Sonne färbte den Himmel rotgolden und violett, zog Streifenwolken aus Pink zwischen die Farben. Die Nacht hier unten wäre zu gefährlich, selbst wenn er sich eine Eishöhle wachsen ließ. Er hatte keine Feuersteine und kein Holz, wahrscheinlich würde er erfrieren. Er musste zurück. Er hatte versprochen, nichts zu tun, was gefährlich sein könnte. Eine weitere emotionale Kette - dabei war es normal, so zu handeln. Es fühlte sich trotzdem falsch an.

„Lulanivilay? Hol mich bitte ab!“, rief er in den Wind. Würde der Drache es hören? Natürlich würde er. Lulanivilays Ohren waren hervorragend. Wenn er rief, hörte er ihn immer. Und er fand ihn über seinen Geruch. Lächelnd schloss er die Augen. „Ich bin froh, dich zum Freund zu haben.“, murmelte er leise.

Als der Drache wenig später polternd landete, wurde er angestupst. „Ich mag dich auch, Freiheit.“ Die Luft aus den Nüstern war warm und feucht. „Aber du bist kalt. Besser, wir fliegen zurück.“

Nickend rappelte der Magier sich auf und kletterte auf den Rücken seines Freundes. „Ich denke, es hat doch etwas Gutes, immer zu fliegen. Ich kann mich viel besser festhalten als früher.“

„Wenn du das sagst.“ Der Drache startete und obwohl die Worte genauso neutral gesprochen waren wie sonst immer, bekam Dhaôma während des Fluges den Eindruck, sie waren ironisch gemeint, denn aufgrund seiner steif gefrorenen Finger, konnte er sich kaum halten. Der zusätzliche kalte Wind nach dem kalten Tag raubte ihm zusehends die Kraft. Lachend musste er zugeben, dass er sich wohl nicht mehr lange würde halten können. Die Lösung Lulanivilays war einfach. Er schüttelte sich ein wenig und ließ den jungen Mann in seine Klauen fallen, wo er ihn dicht unter dem Bauch hielt, wie Beute. Die Situation half dem Braunhaarigen durch Gelächter, den letzten Rest Anspannung loszulassen. Am Ende wurde er direkt vor Addars Hütte gestellt.

„Wärme dich auf, Freiheit. Damit wir morgen spielen können.“

Oh weh, zwei Personen auf einmal treffen, die gerade möglicherweise böse auf ihn waren. Das war nicht leicht. Aber er würde es einfach machen wie immer: entschuldigen und abwarten, bis der Sturm vorüber war. Mut zusammenraffend atmete er tief ein, bevor er hinein trat.

„Warte auf Himmel. Bleib im Warmen.“

Aha, Mimoun war also nicht im Haus. Sollte er dann nicht lieber erst mit ihm sprechen? Aber bevor er sich umdrehen konnte, war Amar schon bei ihm. Dahinter erhoben sich Leoni und Asam, Addar lächelte ihn an, Janna runzelte zwar die Stirn, aber vielleicht lag es an seinem momentanen Aussehen. Dhaôma nutzte also den letzten Rest seiner Magie, um das Eis aus seinem Pelz zu schmelzen und das Wasser abfließen zu lassen, bevor Amar ihn weiter hineinzog und ihn am Feuer niederdrückte. Asam entschuldigte sich bei ihm für die harschen Worte, er hätte sich nur erschrocken, aber Leoni und Mimoun hätten ihm die Augen geöffnet, dass er die Kinder nie in Gefahr bringen würde. Juri und Yaji jammerten, dass er nicht mit ihnen gespielt hatte, und klammerten sich an ihn. Sie waren warm. Genau wie die Atmosphäre. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, ein paar Tage hier zu bleiben.
 

Seine Gedanken begannen wieder abzudriften. Mimoun war blind. Schon damals, als Dhaôma seine Liebe erklärt hatte, hatte er die Anzeichen dafür nicht schon vorher gesehen. Auch jetzt hatte er nicht bemerkt, wie er seinen Freund verletzte. War der Geflügelte entgegen seiner eigenen Angabe nicht fähig, die Gefühle des Magiers zu erkennen? War er dann überhaupt in der Lage, Dhaôma glücklich zu machen? Angst ergriff ihn. Hatte er vielleicht nicht einmal das Recht, sich als Freund zu bezeichnen?

Dhaôma war jemand, der geduldig stillhielt und abwartete. Nun, da es ausgesprochen war, würde der Magier sein Verhalten vielleicht ändern. Vielleicht würde er nun häufiger Abstand suchen, da er die Gegenwart Mimouns nicht mehr ertrug.

Ein stechender Schmerz zuckte durch seinen Oberkörper und der Geflügelte keuchte auf. Das war es, was ihm Angst machte. Mimoun konnte Dhaôma nicht mehr loslassen, doch bei sich behalten würde bedeuten, seinen geliebten Magier weiter zu verletzen.

„Lass ihn atmen.“, drang eine träge Stimme in seine trüben Gedanken.

Der Blick Mimouns fokussierte sich wieder und fiel auf einen kleinen blauen Wasserdrachen, der aussah, als würde er gleich in Kältestarre verfallen. Das gelüftete Hemd des Drachenreiters war einladend, doch nicht nur die Gedanken des Drachens waren träge.

Wie lange saß Tyiasur ihm schon gegenüber und beobachtete ihn, fragte sich Mimoun besorgt und löste mit sanfter Gewalt die Klauen, die sich in die Rinde krampften. Sofort schob er das kleine Schuppentier unter sein Hemd.

„Wenn du ihn erdrückst, gib ihm den Platz zu atmen.“

Mimoun zog sich ein wenig enger zusammen. „Ja, ich weiß. Es ist besser, wenn ich ihn freigebe. Aber…“, weiter kam er nicht, denn spitze Zähne bohrten sich in seinen Bauch.

„Glaubst du, das ist es, was er will? Nein. Er wäre nur böse auf dich, weil du dich von ihm getrennt hast, und auf mich, weil du durch meine Worte auf diese Dummheit gekommen bist. Und doch würde er es keinem von uns beiden sagen.“ Der Körper des schlanken Wesens schob sich an seiner Brust empor und streckte sich ebenfalls aus dem Halsausschnitt heraus. „Du musst die Waage finden zwischen Beschützen und Freiraum lassen.“

Ohne auf den Drachen zu achten, legte Mimoun wieder seinen Kopf auf die Knie. „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“

„Bitte ihn um Hilfe. Oder kannst du das auch nicht?“ Mimoun schwieg daraufhin eine ganze Zeit.

„Kann ich noch ein wenig hier bleiben?“, fragte er zögerlich nach. Es war an sich nicht schlimm, Dhaôma um Hilfe zu bitten, aber er fühlte sich ja schon bei dem Gedanken daran hilflos und schwach. Wie sollte es erst werden, wenn er dem Magier gegenüber stand?

„Nein. Mir ist immer noch kalt.“, war die niederschmetternde Antwort.

Seufzend und mit einem deutlichen Knoten im Magen kletterte der Geflügelte von dem Baum herunter und streunte in nicht gerade schnellem Tempo zu der Hütte des Ältesten hinüber.
 

Die Bewohner der Hütte fragten ihn aus, was er gemacht hatte, während er alleine auf den Ebenen gewesen war, und es erstaunte sie, dass er nur gelaufen war, um Bewegung zu haben. Keiner von ihnen würde im Winter weit weg gehen, um sich zu bewegen. Die Erklärung, dass sie jagen konnten und sich dabei genug bewegten, leuchtete aber jedem ein.

Dhaôma bekam Tee. Leoni hatte Brombeerblätter und Melisse aus Lulanivilays Höhle geholt und damit einen wohlschmeckenden, wärmenden Tee zubereitet, der noch dazu den ganzen Raum mit seinem Duft füllte. Die Wärme tat dem Magier gut und er spürte die Kälte jetzt schlimmer, nachdem seine Hände und Füße wieder auftauten. Himmel, wann hatte er das letzte Mal so gefroren, ohne es zu merken?

Als die Häute zurückgeschlagen wurden, sahen alle auf. Es war Mimoun, wie erwartet. Der Schwarzhaarige sah genauso erfroren aus, wie er sich fühlte, und Dhaôma spürte Sorge und Misstrauen in sich aufsteigen. Warum war er so ausgekühlt, wenn Lulanivilay sich noch bewegen konnte? War er etwa die ganze Zeit draußen gewesen? So wie er? Warum? Hatte er auf ihn gewartet? Ausschau gehalten? Es würde ihm ähnlich sehen, das zu tun.

Ungelenk und steifbeinig erhob er sich. „Willst du einen Tee?“ Er wusste nicht so genau, ob er so sein durfte wie immer. War Mimoun ihm böse, dass er weggelaufen war? War er traurig? Hatte er ihm Sorgen gemacht? Aber er hatte sich ohnehin entschuldigen wollten, nicht wahr? „Es tut mir Leid, dass ich weggelaufen bin.“ Seine Füße hatten ihn direkt vor Mimoun getragen. „Ich musste denken, um nicht zu platzen.“
 

Kaum war er durch die Lederhäute getreten, sah er sich mit allen Blicken konfrontiert. Und sein gerade noch zusammengefasster Mut, mit Dhaôma zu reden, schmolz wie Eis im Sommer.

So war es der Magier, der zuerst das Wort erhob. Und mit solch belanglosem Zeug. Hatte ihm die Auseinandersetzung vor ein paar Stunden nichts ausgemacht? War er schon wieder darüber hinweg? Sollte Mimoun da ernsthaft in Wunden bohren?

Gerade als der Geflügelte zustimmen wollte, um sich ein wenig zu wärmen, sprach sein Freund weiter. Wie hätte es auch anders sein sollen. Eine Entschuldigung. Dhaôma nahm wieder die ganze Schuld auf sich, tat den ersten Schritt um des lieben Friedens Willen. Energisch schüttelte Mimoun den Kopf. „Ich will n…au.“ Mehr erschrocken als wirklich verletzt, hob er die Hände und der kleine Drache plumpste aus der stützenden Umarmung.

„Mit diesem Satzanfang zwingst du ihm wieder deinen Willen auf.“, erklärte das blaue Wesen nur für seinen Reiter hörbar und schlängelte sich nach einigen Augenblicken in Richtung der Feuerstelle.

Tief atmete sein Reiter ein, schloss die Augen und dachte nach. „Ich möchte nicht, dass du dich für etwas entschuldigst, an dem du keine Schuld trägst. Schließlich bin ich derjenige, der dich immer verletzt. Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss.“, brachte er zögerlich hervor und sah seinem Freund vorsichtig von unten an, wirkte unsicher, beinahe schüchtern. „Es tut mir Leid. Ich werde mich ändern.“ Zittrig stieß er die Luft aus. „Aber ich schaffe das nicht allein. Hilf mir bitte.“ Jedes Wort war leiser als das vorhergehende, bis sie kaum noch zu verstehen waren.
 

„Und wie?“ Dass Mimoun so schüchtern wurde, war selten genug, aber dass er so aussah, als wolle er im Boden versinken, tat ihm Leid. „Wie kann ich da helfen? Wie willst du dich ändern?“
 

„Ich will dich nicht mehr verletzen. Sag mir bitte sofort, wenn du dich von mir bedrängt fühlst, wenn ich dich einenge. Wenn ich dir Sachen und Handlungen verbiete, die du unbedingt willst, gib mir notfalls eine Kopfnuss, um mich darauf hinzuweisen, wenn du es nicht sagen kannst.“ Seine Hand suchte unsicher Dhaômas Hemdstoff.
 

Ein wenig von dem Leder zerriss, blieb in Mimouns Hand zurück. Dhaôma seufzte. „Tyiasur, würdest du bitte wieder helfen?“ Es kam keine Antwort, aber er spürte den Druck in sich. Ergeben schloss er die Augen, nickte dann. „Ist gut. Und jetzt setzt du dich da hin, isst und trinkst was Warmes, damit du auftaust. Du bist grad komisch.“
 

Während er schweigend der Aufforderung Folge leistete, zerfusselten Mimouns Finger das brüchige Leder. Die Schnipsel fielen unbeachtet zu Boden.

„Man.“, kam es lang gestreckt von Asam. „Könnt ihr zwei euch nicht einfach mit einem Kuss versöhnen?“ Wahrscheinlich hätte er noch mehr gesagt, doch er erhielt einen Rippenstüber von seiner Frau.

„Wirst du wohl die Klappe halten!“, zischte sie ihn an und erhob sich, um Mimoun, der sich mittlerweile gesetzt hatte, Tee zu reichen.
 

Mit einem Kuss versöhnte man sich? Das hatte er noch nie gehört. Konnte das überhaupt funktionieren? Und waren sie nicht schon versöhnt?

Yuri wuselte los, um etwas von der Beute vorhin zu holen. Sie hatten für Mimoun ein Herz aufbewahrt. Als einer der Jäger stand es ihm zu, auch wenn es nicht mehr warm war. Dhaômas Anteil steckte in der Mitte der Hütte über dem Feuer auf einem Stock. Es brauchte noch einige Zeit.

Das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu. Addar berichtete, dass die Boten am Vormittag aufgebrochen waren und der Rat in etwa sieben Tagen zusammenfand. Bis dahin blieb ihnen nur zu warten. Eloyn hatte angefragt, ob sie ein paar Stunden damit zubringen könnten, über die Briefe zu sprechen, die ihr Dhaôma regelmäßig geschrieben hatte. Manche davon verstand sie nicht – zumal Dhaômas Zeichenkunst nicht die beste war und welke Pflanzen auch nicht immer das richtige Aussehen hatten. Für Mimoun war auch ein Brief angekommen. Kaley wollte wissen, ob er zum Training kommen würde, bevor er weiter zog, da er sich nicht vorstellen konnte, dass er in der letzten Zeit viel trainiert hatte. Ein schwächlicher Körper wäre im Kampf die größte Last, stand unter dem Brief. Amar schimpfte darüber, dass Mimoun gar nicht schwach wäre, aber die beiden Mädchen verglichen Kaley mit Mimoun und mussten dem Älteren Recht geben. Besorgt drängten sie dazu, dass Mimoun mehr trainierte, wenn das im Kampf belastend war, damit er auch wirklich zurückkam.
 

„Ich werde immer hierher zurückkommen. Hier sind meine Freunde, meine Familie. Hier fühle ich mich Zuhause. Da werde ich mich doch von einem dummen Krieg nicht aufhalten lassen.“ Das kaum angerührte Herz sank auf seinen Schoß und eine Hand wuschelte durch Yajis Haare.

Sie blieben dennoch der Meinung, er müsse mehr trainieren. Das nahm Mimoun lachend zur Kenntnis und sagte nichts weiter dazu. Seine Blicke konzentrierten sich wieder auf das langsam kleiner werdende Feuer. Er war sich gerade nicht einmal sicher, ob es gut war, zu Silia zu fliegen. Kaley noch mit einzuplanen, war weitaus schwieriger. Vor allem konnte er einer direkten Konfrontation mit dem Veteran nicht entkommen, denn er war Ratsmitglied und damit zugegen, wenn der nächste Rat stattfand.

Mimoun grauste schon vor dieser Begegnung. Kaley würde vielleicht auf einer Kostprobe bestehen. Vielleicht würde er den Drachenreiter sogar durch die Mangel drehen, wenn er nicht zufrieden war mit dem, was Mimoun bot. Dieser Gedanke half ihm nicht wirklich dabei, seine Stimmung zu heben.

Eine kleine Hand griff nach dem Muskel, der noch immer angeknabbert auf seinem Schoß lag. Mimouns Blick richtete sich auf eine kleine Magierin, die ihn mit großen Augen ansah, als er sein Abendessen außerhalb ihrer Reichweite hob. Dann wurden diese blauen Augen kleiner und das Gesicht gnatschig. Gleich gab es Terror, wenn er nichts unternahm. Schnell hob er sie auf seinen Schoß und trennte ihr ein kleines Stück weicheren Gewebes heraus, auf dem sie nun zufrieden herumsabberte, um es schließlich durchgekaut und feucht auf den Boden fallen zu lassen. Lachend wand sie sich in seinem Griff und entdeckte das nächste, das sie unbedingt haben wollte. Der Stein, der nach Ewigkeiten wieder an seinem Hals baumelte. Begeistert hielt sie das Kleinod umklammert.
 

Irgendwann war auch Dhaômas Essen gar. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, es zu würzen, deshalb schmeckte es fade, aber dennoch aß er es auf. Sein Hunger kannte keine Grenzen. Dann bekamen alle noch Brombeeren, jeder nur zwei, weil das ganze Dorf davon hatte profitieren sollen, aber es war eine willkommene Abwechslung.

Dann verabschiedete sich schließlich Addar und auch die Kinder wurden ins Bett geschickt. Kitty tauchte auf, was noch mal für Wirbel sorgte, aber sie bekam noch ein wenig Fleisch, bevor sie in dem Raum verschwand, in dem die beiden schliefen. Die anderen Bewohner beachtete sie nicht. Letztendlich bekamen sie noch die Winzlinge aufgedrückt, bevor sie ins Bett geschickt wurden. Leoni war der Meinung, sie hätten Schlaf nötig.

Aber wie sollte er schlafen? Mimoun wollte sich seinetwegen ändern. War das überhaupt richtig? „Weißt du, Mimoun, am liebsten wäre es mir, es wäre wie früher. Da warst du natürlicher, deiner Schwester nicht so ähnlich. Du hast gelebt, wie du wolltest, und hast mich leben lassen. Und trotzdem waren wir zusammen. Was hat sich daran geändert?“
 

War das so? War er ihr ähnlich? Mimoun Augen weiteten sich kurz in stummem Erschrecken.

„Der Wunsch, dich beschützen zu wollen, ist stärker geworden, nachdem ich mir meiner Gefühle bewusst geworden bin, vermute ich.“ Er lag in den Fellen und streichelte mit dem Daumen Fiammas Hand, die sich um seine Finger geschlossen hatte.
 

„Ah.“ So war das also. Der Wunsch zu beschützen. War das nicht auch Silias Wunsch gewesen? Dass Mimoun heil zurückkehrte? War der Wunsch zu beschützen wirklich so stark, dass man dafür jemanden an die Leine legen wollte? Sollte das heißen, er wollte Mimoun nicht beschützen? So war das nicht. Er wollte schon. Aber Mimoun hatte doch von Anfang an klar gemacht, dass er das nicht wollte, nicht wahr? Vielleicht sollte er ihm sagen, dass er keinen Schutz brauchte. Aber das würde seinem Wunsch entgegen wirken, beschützt zu werden. Das fühlte sich gut an. Leider nicht mehr, wenn es zu viel wurde.

Sein Blick in schwarze Leere gerichtet, drifteten seine Gedanken zu Situationen, die vergangen waren.
 

Stille senkte sich über den kleinen Raum und ließ die Dunkelheit noch drückender wirken. Und obwohl Mimouns Finger noch immer von der warmen Hand der kleinen Magierin umschlossen waren, war ihm kalt und er fühlte sich einsam. Seine freie Hand tastete suchend nach Dhaôma. „Es tut mir wirklich Leid.“, flüsterte der Geflügelte beinahe tonlos, als seine Finger auf den vertrauten Widerstand trafen.
 

„Denkst du denn, dass ich so viel Schutz brauche?“ Leise klang die Stimme durch die Schatten, klang nachdenklich und vergewissernd.
 

Lange schwieg Mimoun, dachte ernsthaft über diese Frage nach. Brauchte der Magier seinen Schutz? Eigentlich nicht. Er besaß so viele Fähigkeiten und einige ließen sich durchaus zur Verteidigung einsetzen. Es war nur…

„Erinnerst du dich an Kekaras? Ich glaubte dich in Sicherheit und wurde nachlässig. Beinahe hättest du meine Unvorsichtigkeit mit dem Leben bezahlt. Und dann der Zwischenfall bei den Halblingen. Auch das hätte durchaus schief gehen können. Und ich war nicht da, um dir beizustehen. Stattdessen war ich bei der Frau, die dir immer großen Kummer bereitet hat. Ich habe dich nicht beschützen können. Immer wenn du nicht bei mir bist, passiert etwas Schreckliches. Es gibt so viel, was ich nicht vorhersehen kann, so viel, das schief gehen kann.“
 

„Dann solltest du mich nicht allein lassen.“, blubberte sein erster Gedanke aus ihm heraus, als wäre er ein Springbrunnen. „Aber im Endeffekt habe ich all das überlebt. Bevor du da warst, habe ich auch alles überlebt. Zahlreiche Schlachtfelder habe ich besucht, ohne entdeckt, angegriffen oder von Radarr erwischt zu werden. Wir hatten vor langer Zeit mal die Diskussion, dass es verschiedene Arten gibt, zu überleben. Erinnerst du dich?“
 

Mimoun konnte nicht anders, als zu kichern. Oh ja. Und wie er sich an die ersten Diskussionen erinnerte. Sie gingen so gut wie immer zu seinen Ungunsten aus.

„Ja. Und wir waren übereingekommen, dass jeder seine eigene Art zu überleben hat.“ Und Dhaômas war nun einmal das Stillhalten und Verstecken. Mimoun runzelte die Stirn. War das der Grund? Weil er Dhaôma zwang, sich der Überlebensart des Geflügelten anzupassen, wurde dieser immer verletzt? Vielleicht war es tatsächlich so, dass die kämpfende Alternative nicht die richtige Variante für seinen Magier war. „Aber ich habe verstanden.“
 

Und was? Aber das war vielleicht nebensächlich. Solange sie darüber geredet hatten, war es in Ordnung. Seine Gedanken wurden auch immer träger. Es war viel zu viel passiert an diesem Tag. Tief und zufrieden seufzend drehte er sich Mimoun zu und kuschelte sich an ihn. In seinem Rücken spürte er Kitty, zwischen ihnen die beiden Mädchen. Wenn es nur so bleiben würde, dann wäre er zufrieden. Hier waren alle zusammen, die er gern hatte. Mit einem Lächeln auf den Lippen driftete er hinüber in das schlierige Grau, das kam, bevor der Schlaf endgültig Träume schickte.
 

Er spürte die Bewegungen, spürte die Berührungen. Dhaôma kam von selbst und suchte Nähe. Also war Mimoun ihm nicht zuviel und vorsichtige Freude ergriff den Geflügelten. Immer wieder streichelte er die weichen Haare seines Freundes, bis er nach langer Zeit endlich selber einschlief.
 

Der Morgen begann wie immer in diesem Haus ruppig. Amar stürmte nicht durch die Häute, um sie zu wecken. Die Kleinen weinten nicht los, weil sie Hunger oder eine volle Hose hatten. Nein. Die Winzlinge gingen auf Erkundungstour und krabbelten auf ihnen herum. Ungeschickt landete ein Fuß in Mimouns Gesicht, als Seren über ihn krauchen wollte. Hier hatte man nie einen ruhigen Morgen, dachte Mimoun leicht grummelig und müde. Kein Wunder, dass Asam und Leoni die kleinen Zecken abgaben, wenn sich ihnen die Möglichkeit bot. Er ergriff Serens Füße und ließ sie kopfüber baumeln, was ein Gurren auslöste. Es dauerte auch nicht lange und er drehte sie wieder in die richtige Position und drückte sie fest an sich. Davon war sie weniger begeistert, aber da musste sie durch. Als er damit fertig war, schob Mimoun die Kleinen zu Dhaôma und erhob sich.

„Ich bin gleich wieder da. Ich schau mal, dass wir die Kleinen schon versorgt kriegen.“ Ohne auf Erwiderung zu warten, erhob er sich und hielt schon die Plane in der Hand, als ihm etwas siedend heiß einfiel und er herum wirbelte. „Wenn das für dich in Ordnung ist natürlich.“
 

Dhaôma hatte das Spiel beobachtet und sich wohl gefühlt im Angesicht der friedlichen Ruhe. Es war fast wie früher, nichts schien übrig zu sein von dem gestrigen Chaos. Bis zu Mimouns versichernden Worten. Das zufriedene Lächeln verschwand, wurde von einem traurigen ersetzt, bevor er nickte. Warum musste er jetzt plötzlich nachfragen? War es nicht selbstverständlich, dass er tun konnte, was er wollte? Es schadete doch niemandem, nicht wahr? Die Kleinen wären doch begeistert.
 

Mimoun bekam das Gefühl, schon wieder etwas falsch gemacht zu haben, als er sah, wie Dhaômas Lächeln sich wandelte. Dennoch wandte er sich ab und verschwand zuerst in die kalte Morgenluft. Auf dem Rückweg heizte der Geflügelte schon einmal bei Lulanivilay an, damit auch dieser langsam wieder in Schwung kam, und kehrte hastig in die Hütte zurück. Leise durchsuchte er die Vorratskammer und wurde schnell fündig. Nachdem sie gestern schon die Winzlinge früher gefüttert hatten, hatte Leoni extra für diesen Morgen etwas bereitgestellt. Schließlich war Dhaôma immer als einer der ersten wach.

„Komm her, Winzling.“, forderte er Fiamma zum Frühstück auf und winkte bezeichnend mit dem Löffel, nachdem er alles vorbereitet hatte. „In Lulanivilays Häuschen hab ich auch schon Feuer entzündet.“, merkte er nebenbei an und ließ sich den kleinen Fleckenteufel aushändigen.
 

„Danke.“ Dhaôma hatte in der Zwischenzeit Kitty durchgekuschelt. Die kleine Katze hatte mit den beiden Kleinkindern keine Probleme, außer wenn sie auf die Idee kamen, ihr am Schwanz oder den Ohren zu ziehen. Als Mimoun hereinkam, verzog sie sich hinaus, als wäre der Hanebito nicht da. Irgendwie ärgerte es Dhaôma. Sie benahm sich genau wie Silia. Jeder, der ihr nicht passte, wurde geschnitten. Aber ändern konnte er es nicht.

„Ich habe versprochen, heute mit Addar und Eloyn zu sprechen. Das wird lange dauern, denke ich. Was wirst du machen?“
 

„Mir Asam schnappen.“, zuckte er mit den Schultern und löste die kleinen Finger von dem Löffel. Also wirklich. Wie wollte sie essen, wenn sie ihrem Fresschengeber ständig in die Quere kam? „Ich kann nicht zu Kaley. Ich habe keine Zeit dafür. Aber ich fürchte, da ich ihm beim Rat begegnen werde, werde ich mir ohnehin so einiges anhören dürfen.“ Erneut vollführten seine Schultern eine Aufwärtsbewegung. „Ich werd mich wohl ein wenig wappnen.“

Es dauerte nicht lange, bis auch die anderen erwachten und es für die Älteren Frühstück gab. Die Kinder waren wieder besonders anhänglich, wollten sie doch spielen. Schließlich blieb ihnen nicht mehr viel Zeit mit ihren Freunden. Mimoun redete sich sehr schnell mit Training heraus und ließ eventuelle Widersprüche Asams nicht zu. Zu seiner Verwunderung drängten ihn Yaji und Juri sogar dazu. Und so verdrückten sich die beiden Geflügelten schnell nach draußen. Kaum aus der Tür getreten, legte das junge Ratsmitglied los und ließ dem Drachenreiter keine Zeit sich zu orientieren. Zwar wollten sie erst wieder gegeneinander antreten, wenn Asam stärker geworden war, aber wenn Mimoun nachgelassen hatte, kam es auf dasselbe hinaus.
 

Schweigend blieb Dhaôma zurück, beschäftigte sich mit dem Kind auf seinem Schoß und fragte sich, ob es Kaley wirklich kümmerte, ob Mimoun stärker geworden war. Klar, er war sein Lehrer, aber im Endeffekt hatte er selbst Mimoun zu einem Lehrer gemacht, nicht wahr?

„Es ist das zweite, nein, dritte Mal, dass ihr hier seid und streitet.“, bemerkte Addar und ließ sich neben ihm nieder. Sanft pflückte er Seren aus dem langen braunen Haar und platzierte sie auf seinem Schoß. „Was ist diesmal der Grund?“

„Wir haben uns versöhnt. Es ist kein Streit mehr.“

„Auf mich wirkt es anders.“

Eigentlich wollte Dhaôma widersprechen, aber als er den Kopf hob, um etwas zu entgegnen, begegnete er diesem wissenden Blick aus einem weisen Gesicht und wusste einfach, dass es nichts brachte. Vielleicht hatten sie sich versöhnt, aber aus der Welt war es noch lange nicht.

„Erzähl. Vielleicht kann ich dir helfen.“

Vorsichtig sah der Magier sich um. Es war außer ihnen keiner da. Leoni hatte zu einer Freundin gehen wollen, die anderen Frauen waren mit ihren Kindern zum See gegangen, damit sie mal sauber wurden. Wegen der Kälte war Dhaôma nicht dabei. „Er denkt, er müsste mich jedes Mal um Erlaubnis fragen, wenn er etwas tut.“, brachte er schließlich hervor, ließ die Hände sinken. Sein Blick verlor sich an der Wand im Nirgendwo.

„Das heißt, er macht jetzt das, was er von dir gefordert hat?“ Und als der Magier ihn irritiert ansah, erklärte er: „Eine Art Schlussfolgerung. Er zeigt dir, wie er es gerne hätte, damit du es nachmachen kannst.“

Entgeistert starrte Dhaôma ihn an. Mimoun tat was? Das konnte ja wohl nicht wahr sein, oder?

„Vielleicht macht er es aber auch nur, um sich dafür zu entschuldigen, dich eingeengt zu haben. Er meinte ja, er wolle sich ändern. Vielleicht stellt er die Fragen, damit er weiß, wie weit er gehen kann, womit du einverstanden bist.“ Aufmerksam beobachtete er seinen Gast, sah das Entsetzen auf dem blassen Gesicht schwinden und durch Unwillen ersetzt werden. Finster fuhr Dhaôma fort, an Fiammas Fingern zu zupfen. Obwohl ihr das Spiel vorhin noch Spaß gemacht hatte, schwankte ihre Stimmung gerade. Sie schien abzuwägen, ob sie lieber weinen sollte. Schmunzelnd legte ihm Addar seine knochige Hand auf die Schulter. „Du solltest ihm entweder Zeit geben oder ihm sagen, was dir nicht passt. Das was du gerade tust, ist ihm gegenüber nicht gerecht. Er hat um Hilfe gebeten, also solltest du sie ihm geben.“

„Ich will aber nicht gefragt werden. Er hat früher auch nicht fragen müssen, hat einfach getan, was er wollte. Warum ist es auf einmal so schwierig?“

„Unsicherheit. Er hatte dich verärgert. Das will er nicht wiederholen. Er ist vorsichtig.“

„Er gibt mir das Gefühl, ich hätte etwas falsch gemacht.“ Schwach ließ er die Hände sinken und sah den Alten an wie ein geprügelter Hund. „Ist es meine Schuld?“, fragte er mit einem flehenden Unterton. „Kann ich es irgendwie wieder gut machen?“

„Du kannst nur mit ihm reden.“, riet ihm Addar und enttäuscht ließ er den Kopf hängen. Wie sollte er es ihm anders klar machen als mit den Worten der letzten Nacht? „Weißt du, Dhaôma, ich bekomme immer mehr den Eindruck, du möchtest dein Leben lieber separat von ihm leben. Er macht seine Sachen, du die deinen. Keiner mischt sich in die Angelegenheiten des anderen ein. Denkst du nicht, dass eine Beziehung, wie ihr sie führt, anders gestaltet werden sollte?“

Er fühlte sich gescholten. Wie ein kleines Kind, das uneinsichtig gewesen war, wurde er belehrt und gescholten, dabei war es von Addar nicht einmal so gemeint. Er war nur empfindlich, nicht wahr? Übersensibel. Aus dem Gleichgewicht geraten. „Und wie?“, fragte er niedergeschlagen.

„Das solltest du mit ihm besprechen. Im Grunde kann es euch keiner vorschreiben.“

„Kannst du uns nicht helfen?“

So hoffnungsvoll. Addar musste lachen. „Weißt du, wer er ist?“, wollte er sanft wissen. „Kannst du mir sagen, was seine herausragendsten Eigenschaften sind?“

Dhaôma musste nicht einmal nachdenken. „Beschützerinstinkt, Hilfsbereitschaft, Impulsivität, Wildheit, Aufopferungsbereitschaft, Fröhlichkeit, Freiheit, Leben. Er ist ein Familienmensch, ein sesshafter Mensch, jemand, der all seine Liebsten möglichst nah bei sich haben will, um Zeit mit ihnen zu verbringen.“ Schon wieder niedergeschlagen senkte er den Kopf. „Aber das kann ich ihm nicht geben. Leider.“

„Weil du selbst noch auf der Suche bist, nicht wahr?“

„Wer weiß das schon. Ich mag es nur nicht, lange an einem Ort sein zu müssen.“

„Dennoch ist er bereit gewesen, es um deinetwillen in Kauf zu nehmen, immer herumzureisen, seine Liebsten nur ab und zu sehen zu können. Er stellt dich über alle anderen. Seit du das erste Mal hier aufgetaucht bist.“

„Ich weiß.“ Ein schmales Lächeln schlich sich auf Dhaômas Gesicht. Eines, das von Glück sprach. Es sagte Addar, dass auch Dhaômas Liebe Wirklichkeit war. Unter Umständen der Grund, warum er immer stillhielt, wenn Mimoun seinem eigenen Weg folgte.

„Hast du dir schon einmal überlegt, was sein wird, wenn der Krieg vorbei ist? Was habt ihr dann vor?“ Das hatte ihn schon länger interessiert.

Nachdenklich betrachtete Dhaôma Fiamma, die inzwischen seine Lederhose zerrupfte und versuchte, die Seide durch die Löcher zu ziehen. Niemals hatte er sich darüber Gedanken gemacht. Allerdings… „Ein Heim gründen? Mimoun wünscht sich Kinder. Und er ist ein guter Vater.“

„Warum siehst du nicht überzeugt aus? Es ist immerhin deine Zukunft. Solltest du da nicht etwas fröhlicher wirken, wenn du darüber sprichst?“

„Ich weiß es nicht. Es ist noch so lange hin.“ Schwach lächelte er. „Lesley Han könnte es Euch sagen.“

„Ich möchte es von dir hören. Deine Wünsche, deine Träume. Wie kannst du erwarten, Mimoun helfen zu können, wenn du selbst nicht weißt, was du willst?“

„Ich weiß es!“, fuhr Dhaôma auf und zuckte zurück. Dieser Ton gehörte sich nicht gegenüber dem Ältesten. „Ich weiß es. Ich will den Ort finden, an den ich gehöre. Einen Ort, an dem ich mich nicht so fühle, als wäre ich eingesperrt.“

„Was wäre, wenn es so einen Ort nicht gäbe?“

„Wovon redet Ihr?“ Entsetzt rappelte sich der Braunhaarige auf. „Das wäre schrecklich! Furchtbar!“ Laut hallte seine Stimme durch den Raum. „Das wäre... katastrophal! Das würde bedeuten, Mimoun wäre sein Leben lang dazu verdammt, herumzuwandern, niemals Ruhe zu finden und…“

„Aber für dich wäre es nicht so schlimm?“

Wie erstarrt verharrte Dhaôma, seine Augen ins Nichts gewandt. Nein, für ihn wäre es nicht schlimm, wenn er so darüber nachdachte. Im Grunde war er gern auf Reisen, vermisste es sogar jetzt schon.

„Dhaôma, rede mit ihm. Versuche, eure beiden Leben zusammenzufügen. Vielleicht könnt ihr eine Lösung finden, die alle zufrieden stellt. Eine reisende Familie, Kinder, die auf Lulanivilay mitfliegen, eine Insel, auf der Mimoun Vater sein kann, während du ihn immer besuchst. Aber so etwas könnt ihr nicht planen, wenn ihr nicht redet. Und du kannst es nicht erreichen, wenn du es nicht schaffst, eure beiden Wege zumindest parallel zu stellen, damit sie sich immer wieder berühren. Es ist nicht damit getan, dich zurückzunehmen und zu warten. Genauso wenig ist es gut, wenn er dir immer hinterher rennen muss, weil er sonst Angst haben muss, dich zu verlieren. Es muss einen Mittelweg geben. Und den müsst ihr gemeinsam finden, so schwer es auch ist.“ Dhaômas Entsetzen belustigte ihn. „Schwierig für einen Anfänger wie dich. Aber der Ausgang lohnt die Mühe, also streng dich an. Oh, ich glaube, Eloyn ist da. Halt ihr doch bitte die Plane auf.“
 

So ganz war Mimoun nicht bei der Sache. Das bemerkte Asam schnell und nutzte es auch gnadenlos aus. So hielt sich das Geplänkel der beiden Freunde gut in der Waage. Die Kinder, die zwischenzeitlich eigentlich zum See sollten, kamen schnell von ihrer Aufgabe ab und waren begeisterte Zuschauer, die auch wenig hilfreiche Kommentare dazwischenriefen.

„Also. Was ist los?“, wollte der Ältere schließlich wissen, als er den Drachenreiter einmal in den Würgegriff bekam. Er ließ seinem Gegner gerade genug Luft, um überhaupt antworten zu können.

„Wie schaffst du es, Leoni immer glücklich zu machen?“

Überrumpelt von dieser Frage flog Asam über den Buckel seines Freundes hinweg und landete unsanft auf dem Rücken. Vielleicht hätte Mimoun das nicht fragen dürfen, denn von einem Augenblick zum anderen war der Kampf vergessen und der zukünftige Anführer geriet ins Schwärmen. „Ich sage ihr jeden Tag, dass sie die Sonne meines Lebens ist, dass ich sie mehr liebe als irgendetwas sonst. Ich sage ihr immer wieder, wie glücklich es mich macht, dass sie die Mutter unserer Kinder ist.“

„Hast du jemals etwas getan, was sie ernsthaft verärgert hat?“, präzisierte Mimoun sein Anliegen und setzte sich unter dem Protest ihrer Zuschauer neben seinen Freund, der sich ebenfalls aufgesetzt hatte.

Dieser zuckte nur bezeichnend mit den Schultern. „Hast du gestern etwa schon wieder vergessen?“, kam die Frage zurück.

Mit einem Seufzen legte Mimoun seinen Kopf auf seinen Knien ab. Wie könnte er? Das war doch der Ursprung allen Übels. Die gestrigen Geschehnisse hatten doch alles erst an die Oberfläche geholt.

Ein leichter Tritt vors Schienbein riss ihn aus seinen Gedanken und er blickte Asam an. „Du hast dich entschuldigt. Lass es gut sein.“, kam dessen Rat. „Wenn du dich noch immer selbst quälst deswegen, wird ihm das nicht gefallen. Lach wieder. Sei wieder wie früher.“

„Nein.“, fuhr Mimoun lauter auf als nötig. „Ich will nicht wieder so sein wie früher. Ich habe ihn doch ständig nur verletzt, ohne es zu merken.“

„Ständig?“, hakte Asam ungerührt nach. „Wäre es so, wäre er nicht mehr bei dir. Er hat nun seinen Drachen, das, was er ursprünglich wollte. Er ist nicht mehr auf dich angewiesen. Dennoch ist er immer noch bei dir. Es kann also nicht alles schlecht gewesen sein.“

Unfähig etwas zu sagen, nickte Mimoun nur. Wenn es so war, was waren dann seine guten Eigenschaften? Was musste er tun, was vermeiden, um Dhaôma wirklich glücklich zu machen?

„Das kann nur er dir sagen.“

Verwundert sah Mimoun auf und erkannte, dass er laut gedacht hatte. Asams Blick glitt an ihm vorbei und zur Hütte. „Ich hab keine Lust mehr, Eloyn blockiert deinen Schatz und die Kinder waren immer noch nicht im Wasser. Tu deine Pflicht.“

So war Mimoun die nächste halbe Stunde damit beschäftigt, die Kleinen zum Baden zu überreden. Er bekam mehr und mehr den Eindruck, dass man ihm die Plagen absichtlich aufhalste. Im Gegenzug boten sie aber auch eine gute Ablenkung und Beschäftigung.

Nach dem Bad schüttelte er sich das überschüssige Wasser vom Körper, sah noch einmal nach Lulanivilay. Mimoun überzeugte sich davon, dass der Freund es kuschelig hatte und auch schon gegessen hatte und kehrte dann in die Hütte des Ältesten zurück. Um nicht übermäßig zu stören, trat er leise ein und sah sich um.
 

Alle drei Anwesenden sahen auf und grüßten. Sie hatten einen Teil des Bodens frei geräumt, auf welchem Dhaôma nun Pflanzen wachsen ließ, hübsch kontrolliert von Tyiasur, damit seine wertvollen Samen keinen Schaden nahmen. Die alte Frau und ihr Anführer waren mit Feuereifer dabei, zu lernen, was sie aus den Briefen nicht hatten verstehen können. Bei der Gelegenheit zeigte Dhaôma ihnen auch gleich noch mal, wie man Salbengrundlage herstellte.

„Mimoun ist sehr begabt darin, Pflanzenteile zu zermörsern. Sogar mit einem Arm und Fieber macht er das sehr akkurat und fein.“ Ein leichtes Zwinkern zu Mimoun, gerade als Fiamma aufquietschte und zu dem Schwarzhaarigen zu wackeln begann.
 

„Viel Zeit, Bewegungsverbot und ein gehöriges Aggressionspotenzial taten ihr Übriges.“, seufzte Mimoun auf. Er ließ sich auf die Knie sinken und streckte die Arme in Richtung des kleinen Blondschopfs aus. „Hallo, mein Winzling.“, begrüßte er sie und hob sie hoch, drückte seine Nase in ihren Bauch. Das Quietschen wiederholte sich und kleine Hände krallten sich in seine Haare. Nach einem leisen Umrangieren saß das Kind auf seinen Schultern und er setzte sich in eine Ecke. Sie schienen noch nicht fertig zu sein, da wollte er nicht weiter stören.
 

Das Gespräch ging weiter, aber je länger es dauerte, desto unkonzentrierter wurde Dhaôma. Was Addar gesagt hatte, Mimouns Anwesenheit und die Dauer des Gesprächs beeinträchtigten sein Denkvermögen, bis Eloyn schließlich aufstand und lächelte.

„Vielleicht solltest du den Rat in die Tat umsetzen, mein Junge, bevor du vor Nervosität anfängst, deine Hose selbst zu zerrupfen.“

Dhaômas Augen weiteten sich. Rat? Hatte sie etwa gehört, worüber er mit Addar gesprochen hatte? Wie viel? Und was? Nur den Rat am Ende? Ein kurzer Blick zu Addar zeigte ihm die Möglichkeit auf, dass es mehr war als nur ein wenig. Es würde auch erklären, warum er ihn gebeten hatte, ihr die Planen aufzuhalten. Um ihr ein Zeichen zu geben, dass sie nun nicht mehr störte.

Seufzend nickte er. „Danke.“ Und begann im nächsten Moment zu lächeln. „Ich gebe mir Mühe, alles zu klären.“ Weich erhob er sich und blieb vor seinem Freund stehen. „Magst du mitkommen? Dann stören wir hier nicht.“

Zwei vereinbare Wege

Kapitel 66

Zwei vereinbare Wege
 

Klären? Unsicher wanderte Mimouns Blick zwischen den Anwesenden hin und her. Nur knapp konnte er sich davon abhalten, Fiammas Beinchen fester zu umfassen, die er stützend gehalten hatte. Es war also wirklich noch nichts in Ordnung. Dhaôma war also noch sauer. Aber warum lächelte er dann?

Kurz fuhr seine Zunge über seine plötzlich trockenen Lippen und er nickte abgehakt. „Und wohin?“ Noch während er das fragte, hob er die kleine Magierin von seinen Schultern und setzte sie auf den Boden. Verständnislos sah sie ihn an, doch er erhob sich, die ausgestreckten Ärmchen ignorierend.
 

„In die Drachenhöhle? Irgendwie betrifft es unsere beiden Freunde ja auch.“ Sachte streichelte er Tyiasur über den Kopf, der immer wieder Mal in seinem Nacken saß, um warm zu bleiben, wenn er der Aufgabe nachkam, Dhaômas Magie einzusperren. Es schien ihm leichter zu fallen, wenn er ihn berührte. Vorsichtig trat er näher und strich ihm über die Wange. „Keine Angst. Es ist nur reden.“

Unterdessen begann Fiamma zu schreien, weil sie ignoriert wurde, aber Addar winkte sie hinaus. Um dieses Problem würde er sich kümmern.
 

Kurz schlossen sich seine Augen, als er sich in die kurze Berührung seiner Wange lehnte. Nur reden? Das war es, was ihm Angst machte. Dhaôma wurde nie handgreiflich. Es waren immer nur Gespräche, die ebenfalls schmerzhaft und verletzend sein konnten.

Mit einem Nicken wandte er sich um. Ihm war egal wo. Jeder Ort war ihm Recht. Mimoun hielt seinem Freund die Plane auf und folgte ihm zur Unterkunft Lulanivilays. Dort angekommen, stand er unschlüssig im Raum. Sollte er sich setzen? Durfte er sich setzen? Wo sollte er sich setzen?
 

Die Blumenpracht vom Vortag war vergangen. Viel davon gefressen, der Rest welk. Es war warm und feucht, genau wie der Drache es mochte.

„Vilay? Hör bitte auch zu. Du auch, Tyiasur. Wenn euch etwas einfällt oder es euch nicht gefällt, was wir sagen, sagt es bitte. Es betrifft euch genauso wie uns.“

„Ich weiß.“, sagte Tyiasur, war er vorher schließlich die ganze Zeit anwesend gewesen.

„Von mir aus.“, war Lulanivilays schläfrige Antwort. Er zog seinen Schwanz aus der Mitte zurück, damit sie mehr Platz zum Sitzen hatten. Dhaôma nahm die Einladung an und sah dann fragend zu Mimoun auf. Er war schon wieder unsicher. Warum?

„Mache ich dir Angst?“, fragte er. Seine braunen Augen sahen von unten direkt in Mimouns. „Bist du deshalb so atemlos?“
 

Mimoun wich diesem Blick aus. Rastlos suchten seine Augen irgendetwas in diesem Raum, nur damit sie ihn nicht ansehen mussten. „Nicht du.“ Kurz schnaubte der Geflügelte. „Wie könntest du auch? Du würdest mir nie Schaden zufügen. Es ist nur… diese Situation. Ich wollte dich nie verletzen. Ich will dich nie verletzen. Ich möchte mich ändern und habe dennoch das Gefühl weiterhin alles falsch zu machen.“
 

„Deswegen reden wir. Addar sagte, dass ich versprochen habe, zu helfen. Aber ich habe auch einen Fehler gemacht, auch wenn ich mir noch nicht ganz sicher bin, was für einen. Er hat so was gesagt.“ Seine Stirn legte sich in Falten, als er versuchte, nachzudenken, was mit berührenden Wegen gemeint ist. „Aber es ist wichtig, dass wir reden, damit ich dich nicht verliere. Auch das hat er gesagt. Willst du nicht?“
 

Energisch schüttelte Mimoun den Kopf. „Du hast nichts falsch gemacht. Es ist alles meine Schuld. Weil ich so blind bin.“ Hoffnungsvoll sah er zu seinem Freund. Nun endlich ließ er sich ebenfalls auf dem Boden nieder. „Wenn wir geredet haben, kann es dann wieder wie früher werden?“
 

„Das hängt davon ab, zu was für einem Ergebnis wir kommen.“ Traurig zuckte er die Achseln. „Es ist längst nicht mehr wie früher, aber ich hoffe, dass es wieder so wird.“ Dann straffte er sich. „Fangen wir an. Ich habe Addar beichten müssen. Irgendwie hat er gemerkt, dass etwas nicht stimmt und ich weiß auch nicht, woher er all die Informationen zu unserem Streit hatte, aber er hat Recht mit seinem Rat. Du wolltest Hilfe, also helfe ich. Mimoun, ich fühle mich schrecklich, wenn du mich bei jeder Kleinigkeit fragst, ob es mir Recht ist, was du tust. Das hast du früher nicht getan, das ist auch jetzt unnötig. Ich bin niemand, der für jemand anderen entscheiden sollte, was er tun soll, denn ich mag es nicht, jemanden kurz zu halten oder Macht auszuüben.“
 

„Gut.“, erwiderte Mimoun, um zu zeigen, dass er begriffen hatte. Dennoch drängte sich ihm ein Problem auf. „Wenn ich wieder mache, was ich will, ohne dich zu fragen, wie kann ich sicher sein, dass ich dich nicht mehr einenge?“
 

„Das ist schwieriger.“, gab Dhaôma zu und seufzte tief. „Addar sagt, ich muss es schaffen, dass unsere Wege sich berühren. Er meinte, ich wolle separate Leben leben, aber das ist so nicht ganz richtig. Ich möchte frei sein und ich möchte, dass du frei bist. Aber das darf nicht bedeuten, dass wir unabhängig voneinander leben. Deswegen wird es sehr schwer. Und er hat gesagt, dass wir reden müssen, um dieses Problem zu lösen.“ Hoffnungsvoll sah er Mimoun an.
 

Und der Alte war natürlich unfähig es so auszudrücken, dass Dhaôma verstand, was man von ihm wollte. Und nun hatte Mimoun das Problem zu verstehen, was Dhaôma da eigentlich sagte.

„Ich bin frei.“, begann er das Feld von einer Seite aufzurollen. „Es ist meine freie Entscheidung, dir überall hin zu folgen. Und damit du wieder frei sein kannst, werde ich mich weiter anstrengen.“, versprach er erneut.
 

Die braunen Augen betrachteten ihn, wie er ernst erneut erklärte, was Dhaôma schon wusste. Mimoun hatte nicht verstanden. Aber wie brachte er es ihm näher? Warum war es mit Mimoun schwerer zu reden als mit Leoni oder Addar? Und warum wussten die beiden überhaupt immer, was sie sagen mussten?

Er wich vom Thema ab. „Mimoun, was willst du später mal machen? Wenn der Krieg vorbei ist, wenn du keine Verpflichtung mehr hast.“
 

Verständnislos betrachtete Mimoun seinen Freund lange. „Mein einziger Wunsch ist es, an deiner Seite bleiben zu können. Egal, wohin dein Weg dich führt. Ich werde dich begleiten.“
 

Sprachlos öffnete sich Dhaômas Mund, dann schloss er sich wieder.

„Das führt zu nichts.“, kommentierte Lulanivilay das Gespräch und schloss die Augen desinteressiert.

„Das darfst du nicht sagen!“, bat Dhaôma. „Es ist mir wichtig. Es muss zu etwas führen.“

„Sicher.“

Resigniert wandte sich Dhaôma ab. Von Lulanivilay kam also keine Hilfe. So typisch. Und es schien, dass auch Mimoun wenig hilfreich war. Oder er war einfach genauso begriffsstutzig wie er selbst. Vielleicht sollte er Addars Taktik nutzen. „Und was sind deine Wünsche? Deine Träume?“
 

Mimoun schloss die Augen und lauschte in sich hinein. Bei Dhaôma zu bleiben, war sein Wunsch. Sein vorrangigster Wunsch sogar. Reichte das seinem Freund etwa nicht? Was noch?

„Das Ende des Krieges.“, kam es leise von ihm. Aber das war ein Ziel, das sie sich schon gesetzt hatten. Das konnte der Magier auch nicht meinen. Was also sonst noch? Was wünschte er sich noch? „Fiamma aufwachsen sehen. Sehen, wie sie die Welt erkundet. Sehen, wie sie ohne Angst überall hin gehen kann.“ Angestrengt runzelte Mimoun die Stirn. „Ich weiß es nicht.“, gab er offen zu. „Ich habe mir noch nie wirklich Gedanken über sonstige Wünsche gemacht, weil du alles bist, was ich mir erträume.“
 

Errötend nickte Dhaôma. Es freute ihn, das zu hören, obwohl er das unbestimmte Gefühl hatte, dass es eben nicht alles war. „Dann werde ich jetzt versuchen zu erklären, was mein Eindruck ist, ja?“, tastete er sich vorsichtig heran. „Wenn ich falsch liege, darfst du es mir anschließend gerne sagen. Sei einfach ehrlich.“ Seufzend schloss er kurz die Augen, bevor er zusammenzufassen begann:

„Du bist jemand, der impulsiv ist, hilfsbereit und aufopferungsbereit. Jemand, der beschützen will, ein Familienmensch, der liebe Menschen um sich versammelt, um bei ihnen zu sein, mit ihnen zu lachen. Du kannst ja auch gut mit Kindern umgehen, nimmst gern an großen Veranstaltungen teil, genießt es, wenn viele Menschen mit dir an einem Ort sind, und misst gerne deine Kräfte mit anderen. Dennoch habe ich dich, seit wir uns kennen, immer wieder von diesem Weg abgebracht, habe dich von ihnen fortgelotst und dir den Weg in diese Richtung versperrt, indem du mir gefolgt bist. Ich habe mich gefreut, dass du mich über die anderen gestellt hast, dass du mir gefolgt bist, obwohl ich egoistisch meinen Weg gegangen bin. Ich dachte, ich würde es auch ohne dich tun, dass es keinen Unterschied macht, wenn du dich irgendwann anders entscheiden solltest, aber seit einiger Zeit hat sich das geändert. Ich warte so oft auf dich, weil ich ohne dich eben gar nichts mehr tue, weil ich dann einsam bin und es nicht mehr ertrage, alleine zu sein. Ich tue es, damit du mich nicht verlässt, um dir deine Freundlichkeit, mich zu begleiten, zurückzugeben. Aber es läuft jedes Mal darauf hinaus, dass ich auf dich warte. Weil du zu deiner Schwester fliegst, weil du zu deiner Mutter fliegst, weil du zum Kämpfen zu Kaley oder zu den Rekruten fliegst. Du unternimmst viel allein, weil es dir wichtig ist. Und das ist auch in Ordnung. Du hast alles Recht der Welt dazu. Aber es verdeutlicht mir, dass ich dich in ein Leben der Rastlosigkeit zwinge, zu dem du nicht geboren bist. Du bist ein sesshaftes Wesen, dessen Herz an Orten hängt. Und weil ich nicht dazu in der Lage bin, einen Ort zu finden, an dem ich mich zuhause fühle, und dein Herz auch an mir hängt, zerreiße ich dich.“
 

Mimoun schwieg lange, so dass es beinahe wirkte, als würde er gar nichts dazu sagen wollen.

War das so? War er so? Ja. Er war gern mit Menschen und vor allem seinen Freunden zusammen. Auf Jashar hatte er es gespürt. Er hatte sie vermisst, aber Dhaôma war da gewesen, bei ihm, hatte die Lücke in ihm gefüllt. Und dann waren noch Lulanivilay und Tyiasur dort gewesen.

Viel wichtiger waren zwei andere Dinge. Zum einen, dass Dhaôma immer auf ihn wartete. Einerseits war das ein tolles Gefühl, bedeutete es doch, dass er Dhaôma wichtig war. Andererseits war warten sicher kein angenehmes Gefühl.

„Tut mir Leid, dass du immer warten musst.“, begann der Geflügelte schließlich leise. „Ich würde euch so gerne mitnehmen. Aber es gibt so viele Dinge, die quer schlagen. Der Winter, der sowohl dir als auch den Drachen schadet. Und dann ist da meine Schwester. Sie mag dich nicht und ich möchte nicht, dass du ihrem Unmut ausgesetzt sein musst, nur weil ich meine Familie sehen möchte.“, schob er als Erklärung gleich mit hinterher. Er zog seine Beine an den Körper und bettete sein Kinn darauf. Sein Blick hing fest an dem letzten bisschen Farbe, das verzweifelt ums Überleben kämpfte.

Dann war da noch die zweite Sache. Wenn Dhaôma sich bis jetzt an keinem der Orte, an denen sie waren, wirklich heimisch gefühlt hatte, wie weit mussten sie reisen, um solch einen Ort zu finden? „Warum kannst du dich hier nicht wirklich zuhause fühlen?“, fragte Mimoun leise und hatte schon im selben Moment einen Verdacht. „Weil du nicht ohne Hilfe von hier weg kannst. Weil du nicht gehen kannst, wohin du willst, nicht wahr?“
 

Da hatte er seine Bestätigung. Mimoun würde ihn nicht mitnehmen zu seiner Heimatinsel. Er würde sein Versprechen wieder nicht halten können und… Dhaôma stockte. Was tat er hier? Da versuchte er, etwas zu ändern und fügte sich schon wieder bereitwillig ins Warten.

„Dann sage ich dir mal was. Ich fange gleich an damit, dorthin zu gehen, wohin ich will. Ich werde mitkommen, ob du es möchtest oder nicht. Ich möchte nicht warten. Ich möchte Haru und Elin und Ramon wieder sehen. Ich möchte Cerels Grab besuchen und die Kirschbäume ansehen. Ich muss meine Eiche überprüfen, ob sie noch genug Wasser bekommt. Sie haben es gesagt, ich darf zurück, darf sie besuchen kommen, wenn ich das möchte. Und ich möchte. Außerdem wäre ich dann bei dir und müsste nicht warten.“ Jetzt, wo er es ausgesprochen hatte, fühlte er sich erfrischt. Es tat so gut, endlich einmal gesagt zu haben, was er dachte!
 

Fassungslosigkeit sprach aus dem Gesicht des Geflügelten. Es kam wahrlich selten vor, dass Dhaôma so bestimmt seine Meinung kundtat. Und dann wollte er sich dieser auch noch freiwillig in die Reichweite Silias begeben. Kurz machte sich Sorge in ihm breit bezüglich der bevorstehenden Situation, sie wurde aber schnell verdrängt von der unbändigen Freude, die ihn ergriff.

„Danke.“ Mehr konnte er gerade nicht sagen. Dhaôma würde ihn begleiten. Er musste nicht tagelang auf seinen Freund verzichten. Dabei gab es noch so viel zu klären. Gerade jetzt, wo Dhaôma ihn begleiten würde.
 

„Es hilft mir auch.“, gab Dhaôma zurück und lächelte. Innerlich hatte er schon den Atem angehalten, auf einen Widerspruch gewartet, aber nun konnte er sich ein wenig entspannen. Seufzend stützte er sich auf seine Arme und sah zu den dunklen Lederbahnen hinauf, die vor Regen schützten. „Ich kann dir nicht sagen, warum ich keinen Ort finden kann, an den ich gehöre. Würde ich mich entscheiden, an einem Ort zu bleiben, wäre ich frei, weil die Entscheidung von mir kommt. Es spräche also im Grunde nichts gegen einen Ort, an dem ich mich niederlasse. Wahrscheinlich wäre auch diese Insel hier in Ordnung oder deine oder die der Drachen. Aber die Unruhe macht es mir unmöglich zu ruhen. Es geht ein paar Tage gut, dann sehne ich mich wieder danach, anderes zu sehen, Neues zu erfahren, neue Orte zu finden.“ Sein Gesicht begann zu leuchten und er blickte Mimoun wieder an, lehnte sich aufgeregt vor. „Das Gefühl, etwas völlig Unbekanntes vor dir zu haben, neue Pflanzen und Tiere zu sehen, neue Landschaften zu erkunden und neue Herausforderungen zu haben, ist wunderbar! Die Welt ist so groß! Unendlich groß! Und wir kennen nur so wenig von ihr! Was ist, wenn es irgendwo anders noch andere Menschen gibt? Vielleicht welche mit Flossen oder Hörnern!“ Vergnügt lachte er und wurde dann schlagartig wieder ernst. „Das heißt nicht, dass ich nicht gerne an bekannte Orte zurückkehre. Es fällt mir nur eben schwer, dort auch zu bleiben.“

„Er ist neugierig.“, war Lulanivilays trockener Kommentar. „Ich gehe mit. Ich will sehen, ob es Fische gibt, die größer sind als ich.“ Für ihn stand schon fest, dass sie wieder reisen würden. In seinem Inneren spürte er das gleiche Ziehen, das auch Dhaôma empfand, aber das war nicht weiter verwunderlich, immerhin waren sie Reiter und Drache. Irgendworin mussten sie sich gleichen.
 

Das war es, was sein Herz erwärmte. Dieses begeisterte, kindliche Lachen. Es wirkte ansteckend und auch Mimoun lächelte. Aber es war nicht von Freude gezeichnet.

Der Geflügelte spürte leises Bedauern. Zu den Halblingen hatten sie schon Wochen gebraucht. Wie sollte es erst werden, wenn sie noch weiter reisten? Wo würde ihr Weg sie hinführen? Auf welche Gefahren würden sie stoßen? Wann würden sie wieder zurück können?

Mimoun hatte es Dhaôma versprochen. Er würde seinen Freund überall hin begleiten. Aber niemals bleiben zu können, niemals Ruhe zu finden? Der Geflügelte wusste nicht zu sagen, ob das gut war.

Da er nicht wusste, was er erwidern sollte, ließ er sich ins welke Grün sinken und rollte sich zu dem Magier herum, bis er mit dem Kopf gegen dessen Bein stieß.
 

„Ich habe Recht, nicht wahr?“, fragte Dhaôma leise und strich durch die schwarzen Zotteln. Mimouns Haare waren lang geworden. Wenn er sich anstrengte, konnte er sie in einen Zopf hinter dem Kopf bändigen. Ob früher seine Mutter sie geschnitten hatte? „Du möchtest hier nicht fort, oder?“
 

„Das ist es nicht.“, wich Mimoun aus, korrigierte sich aber sofort: „Nicht unbedingt. Es ist an sich nicht schlecht zu reisen. Aber niemals einen Ort zu finden, an dem man verweilen kann…“ Ein Seufzen beendete den Satz. Müde schloss er die Augen, konzentrierte sich völlig auf die Berührungen. „Dann bleibt Fiamma wohl Einzelkind.“ Das war sie nicht, denn Seren war ihre Schwester, doch Mimoun würde kein weiteres Kind aufnehmen können, da er sich für so ein kleines Geschöpf eine gefestigte Umgebung wünschte.
 

„Aber wir könnten Kinder mitnehmen.“, sagte Dhaôma leise. „Addar meinte, eine reisende Familie wäre nicht das Schlechteste und möglich. Eloyn hat sogar erzählt, dass euer Volk früher Nomaden waren, die immer gezogen sind. Aber das ist schon viel länger her, als der Krieg dauert. Doppelt so lang.“ Dann schwieg er lange. „Oder du lebst hier und ich reise nur im Winter. Den Sommer würde ich dann hier verbringen, um bei dir zu sein. Wenn du mich dann noch haben willst.“
 

Mit einem schnellen Griff und einem kräftigen Ruck zog Mimoun seinen Freund nach unten und brachte sich mit einer Rolle seitwärts über ihn.

„So. Und nun hörst du mir zu.“, knurrte er dunkel. „Ich liebe dich. Mein Herz hat sich für dich entschieden. Ich werde nicht den ganzen Winter getrennt von dir verbringen, denn das würde ich nicht verkraften. Und das habe ich schon zu häufig getan. Unser Weg wird uns ab jetzt gemeinsam führen.“ Sein Gesicht wurde sanfter, als er seinen Kopf gegen Dhaômas Hals drückte. „Zweifel nie meine Gefühle für dich an.“
 

Das kitzlige Gefühl an seinem Hals verdrängte den Schrecken über die plötzliche Aktion. Weich versenkte er seine Finger wieder in schwarzem Haar. „Ich habe sie nicht angezweifelt. Es waren Möglichkeiten, die Addar genannt hat, wie man Beziehungen führen kann. Ich möchte dich nur nicht zwingen, ein ruheloses Leben zu führen.“ Sanft lächelnd drückte er ihn an sich. „Es würde mir schwer fallen, dich zu verlassen, auch wenn es nur für einen Winter wäre.“, murmelte er. „Und vielleicht kann ich irgendwann lernen, an einem Ort zu bleiben. Vielleicht habe ich irgendwann genug davon, zu reisen.“
 

Hoffen wir es, dachte Mimoun und kam sich ein wenig schäbig vor. Es war irgendwie gemein, so etwas zu denken, auch wenn es der Wahrheit entsprach.

„Wenn du es lernen musst, ist es nicht der richtige Ort für dich.“, bestimmte Mimoun und stütze sich nur noch minimal ab, damit Dhaôma nicht von ihm zerquetscht wurde. „Du musst es fühlen, gleich, wenn du – nein, wir – dort angekommen sind, hörst du? Zwinge dich zu nichts, nur um mir einen Gefallen zu tun, denn damit tust du mir erst Recht keinen Gefallen.“

Im Hintergrund war sich ein blauer Wasserdrache nicht sicher, ob er sich einmischen sollte. Einerseits wichen sie vom Thema ab und andererseits blieben sie genau bei dem entscheidenden Thema. Sie tanzten nur wieder um die entscheidende Frage herum. Wie sollte es jetzt weiter gehen? Wie sollten sie ihre unterschiedlichen Lebensweisen miteinander verbinden?

Wenigstens schien die angespannte Atmosphäre verschwunden zu sein. Es war ein Anfang, dass sie überhaupt begannen, über Gefühle und Wünsche zu reden. Am besten, sie lernten es langsam und Stück für Stück.

Die Ohren gespitzt für alle Eventualitäten, formt sich Tyiasur zu einem Haufen Blau in der Armbeuge Lulanivilays und schloss die Augen. Es lag an ihnen, ihre Zukunft zu gestalten. Seine war an der Seite seines Reiters.
 

Nachdenklich blickte Dhaôma wieder zur Decke, während seine Finger rastlos über Mimouns Kopf strichen. Hatte ihm Mimoun gesagt, dass er egoistisch sein sollte? Dass er machen konnte, was er wollte, ohne Angst haben zu müssen, dass Mimoun ihn verließ? Auf Dauer würde das dem Schwarzhaarigen sicherlich nicht gut tun, denn immerhin hatte auch er Bedürfnisse und Wünsche. Er konnte unmöglich verlangen, dass er selbst sich nicht zurücknahm, während er Mimoun es immer und überall tat.

„Unter einer Bedingung.“, sagte er schließlich mit einem Lächeln in der Stimme. „Du musst mir sagen, wenn es nicht mehr geht. Es ist nicht einfach, Kompromisse zu finden, aber wenn wir es schaffen können, gewinnen wir etwas Großes daraus.“ Auch wenn er nicht wusste was, irgendwie hatte er das Gefühl, dass es stimmte.
 

„Versprochen.“, stimmte Mimoun nach einer kurzen Pause zu. Diese Beziehung hatte nur Chancen, wenn sie Kompromisse eingingen.

Dort wo sein Kopf noch immer war, an Dhaômas Hals, platzierte der Geflügelte einen hauchzarten Kuss und ließ sich ein wenig zur Seite fallen. Nun lag er nicht mehr völlig auf dem Magier, hatte aber dennoch größtmöglichen Körperkontakt.

„Ich weiß, der Tag ist noch jung. Aber können wir noch eine Weile hier so bleiben?“, fragte der Geflügelte leise. Er hatte sich zwar nicht ausgepowert bei dem kleinen Kämpfchen vorhin, dennoch war ihm jetzt nach Nichts-Tun und Kuscheln.
 

„Gerne.“ Schwer legte er seinen Arm ab und nahm die Beschäftigung wieder auf, an Mimouns Haaren zu zupfen. Sie waren wirklich lang geworden. „Willst du sie wachsen lassen?“, fragte er irgendwann halb unbewusst.
 

Träge hob sich eine Hand und zuppelte ebenfalls an dem schwarzen Haar herum. „Eigentlich nicht. Die Fransen vorne stören langsam.“ Eigentlich störten sie schon länger, aber Unlust, Motivationslosigkeit und verpasste Gelegenheiten kamen ihm da immer wieder dazwischen.
 

Ja, früher hatten sich die Haare auch irgendwie lustiger angefühlt. Sie waren noch störrischer gewesen. „Wer hat sie dir früher geschnitten? Cerel? Silia? Jadya?“ Jadya hatte oft den Männern die Haare geschnitten, einmal hatte er dabei zugesehen, weil er wissen wollte, wie sie es machte.
 

Ohne sich großartig von der Stelle zu rühren, zuckte Mimoun mit den Schultern. „Je nachdem, wer mich in die Finger bekam und befand, dass es mal wieder Zeit sei. Was das angeht, bin ich wohl ein wenig faul.“ Nun hob sich der Kopf des Geflügelten doch, um Dhaôma anzusehen. „Möchtest du sie kürzen?“
 

Träge schüttelte Dhaôma den Kopf. Es war ihm eigentlich egal. „Allerdings wirst du sie dir selbst wieder kürzer wünschen, wenn du bemerkst, wie spaßig es Fiamma findet, an langen Haaren zu nuckeln oder zu ziehen.“ Er kicherte weich. „Aber wenn es Silia wirklich stört, sind sie in ein paar Tagen ohnehin wieder kurz.“
 

Da war es wieder. Das leidige Thema.

„Wie machen wir das eigentlich? Lulanivilay wird ohne Fiamma nicht lange durchhalten. Sollte er mitkommen wollen, wird es für ihn schwierig, denn ich weiß nicht, ob wir sie mitnehmen können. Eher nicht, da wir garantiert die ganze Familie im Schlepptau hätten. Außerdem sind die Halblinge auf seine Unterstützung angewiesen. Auch wäre es schön, wenn er Addar ein wenig helfen würde. Zumindest was den Flug angeht.“ Er ließ seinen Kopf auf Dhaômas Brust sinken und lauschte dem Herzschlag seines Freundes. „Fliegen nur wir beide?“
 

„Ich bleibe hier bei dem Feuerkind.“, beschloss Lulanivilay unmotiviert und Dhaôma lachte.

„Da hast du’s.“, meinte er. „Wir werden wohl ein wenig für uns sein. Obwohl, ich hoffe, dass du mitkommst, Tyiasur, sonst kommt Mimoun nackt bei seinem Dorf an.“
 

„Und das wollen wir ja alle nicht.“

Ein trockenes Stück Ranke wurde wenig motiviert in die Richtung des kleinen Blauen geworfen. Aus der liegenden Position Mimouns war es zum Glück für den Wasserdrachen unmöglich, vernünftig zu zielen. Das Wurfgeschoss flog ein gutes Stück zu weit. „Werd nicht frech.“, lachte der Drachenreiter aufgrund des süffisanten Tonfalls seines Drachens. „Ist ja nicht zu fassen.“
 

Auch Dhaômas Lachen erklang, danach redeten sie über andere Dinge. Die Hauptthemen waren Fiamma und Seren und der Winter und der nahende Frühling.

Spät am Abend streunten die beiden zurück ins Haus des Anführers, um dort mit allen gemeinsam zu essen. Bei dieser Gelegenheit offenbarten sie auch gleich ihren Plan, Mimouns Familie zu besuchen, was bei Leoni einen verwirrten aber gleichzeitig auch glücklichen Ausdruck hervorrief. Amar war damit absolut nicht einverstanden, schließlich wurde er der Möglichkeit beraubt, mit Dhaôma zu spielen. So lange hatte er darauf verzichten müssen und jetzt wollte der Magier einfach gehen. Glücklicherweise war er ziemlich handzahm, als seine Mutter ihm unterbreitete, dass jeder das Recht hatte, seine Familie zu besuchen. Unwillig verschränkte er die Arme vor der Brust und murmelte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart. Er wusste immerhin, dass Silia gemein zu Dhaôma gewesen war.

Dhaôma bat ihn daraufhin, sich um Lulanivilay zu kümmern. Er sollte sich darum kümmern, dass dem großen Grünen nicht zu kalt wurde und er genug aß. Von Asam bekam er die Erlaubnis, mit seinen beiden Baby-Cousinen bei dem Drachen zu sein, von da an, war er nicht mehr halb so unleidlich.

Xaira, Volta und Juuro segneten den Vorschlag auch ab. Sie hatten hier eine Menge zu lernen und keine Sorge, dass sie unterbeschäftigt sein würden. Und wenn Lulanivilay sie später zum Treffpunkt trug, würden sie sich ja wieder sehen. Sie sollten also ruhig so etwas wie Flitterwochen machen, veräppelten sie die beiden spaßhaft.
 

„Unmögliche Bande.“, maulte Mimoun scherzhaft. Aber es war gut zu wissen, dass ihrer Reise nichts im Weg stehen würde.

Es wurde ein lustiger Abend, der hauptsächlich auf ihre Kosten ging. Als sich schließlich einer nach dem anderen zur Nachtruhe verabschiedete, bekamen sie die Kleinen wieder in den Arm gedrückt und nicht nur Kitty schlich sich spät in der Nacht wieder zu ihnen in den Raum. Amar suchte Anschluss an seinen ungeflügelten Freund. Es gab eine Balgerei und Geschrei, denn dort, wo er liegen wollte, lag bereits das Pelztier, welches weder mit Störung noch mit einer Räumung ihres Platzes einverstanden war. Mimoun fing sich ebenfalls einige Kratzer ein, als er verhinderte, dass Kitty über die Winzlinge flüchtete. Kratzer waren aber nichts, was Dhaôma nicht heilen konnte.

Ruhe fanden die Freunde erst, als unnachgiebig bestimmt und geklärt wurde, wer wo schlafen durfte. Was einen großen Abstand zwischen Dhaôma und Mimoun hervorrief. Aber so gaben sie wenigsten Ruhe.

Gern wäre Mimoun schon am nächsten Morgen los geflogen. Da es aber zu sehr nach Flucht und Drängelei ausgesehen hätte und einige Dinge für die Reise vorbereitet werden musste, übergab Mimoun seinen Magier den fürsorglichen Händen einer quirligen Rasselbande und kümmerte sich lieber um die Zusammenstellung von Proviant und Wasser.

Gelegentlich warf er einen Blick zu Dhaôma und überzeugte sich von dessen Unversehrtheit. Nicht dass die Kleinen zu rau mit ihm umgingen.
 

Amar war es besonders, der sein Recht einforderte, mit ihm zu toben. Jetzt, da klar war, dass Dhaôma schon wieder gehen würde, überredete er ihn zu einem Wettlauf und Dhaôma musste erstaunt feststellen, dass Amar ihm beinahe ebenbürtig geworden war. Diesmal kam er nur knapp hinter ihm an der Wand an. Sein Training war durch das Fliegen wirklich vernachlässigt worden.

Da es noch immer zu kalt dazu war, Pflanzen wachsen zu lassen, zogen sich die beiden Freunde den Rest des Tages in die Drachenhöhle zurück. Fiamma und Seren waren dabei, Amar, Juri und Yaji. Die beiden Mädchen hatten sich sehr zurückgehalten bei den Kämpfen, aber nun kamen sie an und wollten Fakten über Bienen und ihre Völker wissen. Sie fragten so gezielt und so ausführlich, dass Dhaôma gar keine Ahnung hatte, was er noch antworten sollte. So gut kannte er sich damit nun auch wieder nicht aus.

Irgendwann gesellten sich auch Leoni und Asam dazu und als irgendjemand meinte, es wäre beinahe wie ein Familienausflug, holte man den Rest auch noch. So hatte man weder Janna noch Karo gesehen, denn die Anwesenheit des großen Drachen machte sie deutlich befangen. Dieser kümmerte sich kaum um die vielen lauten Menschen um sich herum. Einmal stand er auf, schüttelte sich, so dass Amar von seinem Hals fiel, bevor er sich wieder zusammenrollte und weiterschlief.
 

Fast die ganze Zeit über hatte Mimoun Dhaôma vor sich sitzen und die Arme um dessen Bauch geschlungen. Es war eine beruhigende Geste, eine versichernde und gab ihm die Nähe, die er brauchte.

Bald war die Zeit gekommen, wo er sich kaum noch an der kleinen Feier, zu der dieses gemeinsam Sitzen ausgeartet war, beteiligte, sondern sich nur noch von der Anwesenheit aller berieseln ließ. Davon ließ sich keiner stören und erst weit nach Dunkelheit zogen sich alle zum Schlafen zurück.

Mimoun bot seinem Freund an, diese Nacht bei Lulanivilay zu verbringen. Schließlich würden sie sich einige Tage nicht sehen. Er wusste selber, wie einsam es manchmal ohne den vertrauten Gefährten sein konnte. Also wurde noch einmal richtig angeheizt und Decken und Felle wechselten das Gebäude. Man befand, dass es besser war, Fiamma in der Hütte des Ältesten schlafen zu lassen, damit auch dieser es warm hatte in der Nacht. Dafür bekamen die älteren Quälgeister die offizielle Erlaubnis bei den großen Freunden zu bleiben. Mit dem Ergebnis, dass sie recht früh geweckt wurden, damit man noch ein wenig Zeit hatte, bis sie losflogen.
 

Kitty hatte sich schnell adaptiert. Schlief sie eben in einem anderen Haus, solange Dhaôma da war. Was kümmerte sie es. Und offenbar hatte sie verstanden, dass sie weiterreisen würden, denn plötzlich wich sie nicht mehr von Dhaômas Seite. Als die Kinder das zum Anlass nahmen, mit ihr spielen zu wollen, gab es einen kurzen Kampf mit Tyiasur, den sie von Dhaômas Schulter vertrieb. Dhaôma schimpfte, was sie Pfote schleckend ignorierte. Hier oben war sie von den Kindern sicher und das sahen alle ein, so dass Tyiasur sich zu Mimoun verzog.

Sich versichernd, dass Lulanivilay allein zurecht kam und genug Aufmerksamkeit und Ausflug bekam, was ihm Leoni gern versprach – würde sie eben die nächsten Tage mal mit auf die Jagd gehen, auch um Asam zu zeigen, dass sie das konnte – verabschiedeten sie sich von allen, als die Sonne endlich vollständig aufgegangen war. Das Wetter war perfekt klar und dementsprechend eiskalt. Dhaôma bekam von Addar mit einem verschwörerischen Augenzwinkern eine zusätzliche Decke, in die er sich einwickeln konnte.

„Passt auf euch auf.“, hieß es von vielen.

Und Lulanivilay stupste die beiden Freunde mit seiner großen Nase an. „Geht endlich. Es ist kalt draußen.“

Lachend kratzte ihm Dhaôma ein letztes Mal über die Nase, bevor er seine Arme um Mimouns Hals legte und sich hochheben ließ. Kitty nahm die Gelegenheit direkt wahr, um unter den Pelz zu gelangen, an Dhaômas Bauch und möglichst weit weg von Mimoun.

„Tyiasur braucht da auch Platz, also arrangier dich mit ihm.“, mahnte der Braunhaarige und tatsächlich akzeptierte sie es. So kam Tyiasur zwischen ihr und Mimoun zu liegen, die wärmste Stelle an der gesamten Reisegesellschaft.
 

Unglücklich runzelte Mimoun die Stirn. Die kleine Kratzbürste mitnehmen? Na das konnte was werden, wenn die Kinder seines Heimatdorfes auf ihren lang vermissten Freund zustürmten. Wahrscheinlich würden sie damit nicht einmal warten, bis er gelandet war.

Bevor er sich aber damit auseinander setzen musste, galt es erst einmal die Strecke zu bewältigen.

Dafür brauchten sie mehr als die drei Tage, die Mimoun bei seinem letzten Flug dorthin gebraucht hatte, was nicht zuletzt dem Gewicht zuzuschreiben war, das er nun tragen durfte. Dhaôma stand ihm so gut es ging mit seinen Fähigkeiten bei, aber sie hatten nun einmal eine große Strecke zu bewältigen.

Die Nächte verbrachten sie auf den Ebenen unten. Die Nächte waren empfindlich kalt, aber erträglicher als auf den Inseln oben. In den Abendstunden flog Mimoun oft noch weite Strecken, um genügend Brennholz zusammen zu sammeln, und bot sich Nacht für Nacht selbst als hervorragende Wärmequelle an.
 

Es tat gut, einmal wieder unterwegs zu sein, ohne ein Ziel zu haben, von dem das Geschick der ganzen Welt abhing. Dhaôma hatte Mimoun so gut wie für sich, was zusätzlich zu seiner Stimmung beitrug, die nahe an absoluter Zufriedenheit grenzte.

Lange Zeit hatte Dhaôma mit Nachdenken verbracht und sich daran erinnert, dass Mimoun ihm schon früher, bevor er in ihn verliebt gewesen war, angeboten und versichert hatte, dass er ihn niemals alleine lassen würde, dass er ihn überall hin begleiten würde. Dass seine Familie ein Ort war, an dem er sich gerne aufhielt, aber dass an seiner Seite sein Platz war, an dem er sein wollte. Es hatte es ihm enorm erleichtert, mit der Situation und seiner Unsicherheit fertig zu werden. Er hatte es akzeptiert. Mimoun war einfach so. Jetzt konnte er auch annehmen, was er ihm anbot, denn er konnte aus der Vergangenheit sagen, dass Mimoun schon sagen würde, wenn er nach Hause wollte.

Am dritten Tag kamen sie aus großer Höhe auf die Insel zu, um sie zu überraschen, was nicht zuletzt aus Mimouns Furcht entsprang, dass Kitty sich wehren würde, wenn die Kinder kamen. Sie wurden natürlich entdeckt. Wie hätte es anders sein können. Viele Hanebito erhoben sich in die Luft und flogen ihnen entgegen. Oft genug hatten sie sehen können, wie ein Geflügelter aussah, wenn er jemanden trug, und Mimoun war der einzige, der Dhaôma auf Dauer tragen konnte. Ein lang Vermisster kehrte zurück und brachte einen seltenen Gast, da musste jeder zur Begrüßung kommen.

Haru war der erste, der sie erreichte. Seit er Mimoun hatte fliegen sehen, hatte er geübt, möglichst schnell zu fliegen und so alle überholt, die sich lieber Zeit ließen. Stürmisch flog er seinen beiden Freunden um die Hälse. Es Fauchte, Schrie und gab Gezeter und Kitty schoss unter den Fellen hervor, um sich wie tollwütig auf den Angreifer zu stürzen.
 

„Weg.“, herrschte Mimoun den Jungen heftiger als nötig an und schob ihn mit einer Hand von sich, so dass er wieder alleine fliegen musste. Nun war also eingetroffen, was Mimoun befürchtet hatte.

Die zweite Hand griff fester in die Decke, damit Dhaôma nicht verloren ging, während die Katze eingefangen wurde. Durch die Decke hindurch hatte sie nicht sehen können, dass sie sich viele hundert Meter über dem Erdboden befanden und dass ihre Aktion böse hätte enden können.

Der Griff im Nacken, um sie ruhig zu halten, passte ihr so gar nicht. Sie drehte sich in ihrem eigenen Fell und ging auf den Geflügelten los, der sie nun ziemlich angefressen in die freie Luft hängte.

„Sei still, halte still und verschwinde wieder unter der Decke.“, befahl er der verwandelten kleinen Magierin unnachgiebig und löste als Vorwarnung bereits zwei Finger, bevor er sie Dhaôma wieder auf den Bauch setzte, damit sie seinen Anweisungen Folge leisten konnte.

Haru ließ sich nicht von der Aktion stören, fand sie im Gegenteil sehr interessant und kam schon wieder näher um besser sehen zu können. Er hängte sich an Mimouns Arm und nur wenige Augenblicke später spürte der Drachenreiter ein Gewicht auf seinem Rücken.

„Wer ist das denn?“, wollte Elin wissen.

Na toll. Und schon war er wieder der Lastenträger für alle. Nur dass die Kleinen mittlerweile ziemlich groß und vor allem schwer geworden waren.

„Runter. Ich bin müde.“, verlangte er also. Nur widerwillig ließen sie ihn los und drängten ihn zur Landung. Nur zu gern zeigte er sich damit einverstanden.
 

Das zitternde Bündel im Arm, das sich möglichst eng an ihn schmiegte, lachte Dhaôma. Sie war so schlagfertig.

„Hört mal, ihr beiden. Ich habe einen empfindlichen Gast dabei, also lasst mir Zeit, sie in Sicherheit zu bringen, bevor ihr uns überfallt. Danach sind wir voll und ganz für euch da.“ Und um Elins Frage zu beantworten strich er über die Beule an seinem Bauch. „Das hier ist Kitty und sie ist sehr verängstigt.“

„Ein Baby!“, quietschte Elin und landete ein wenig vor allen auf der Insel. „Mimoun hat wieder ein Baby gefunden.“

„Es war eine Katze!“, widersprach ihr Haru und schaute böse, was den Rotschopf nur zum Lachen brachte.

„Ja, ein Katzenbaby.“

Man bot Mimoun an, Dhaôma zu übernehmen, aber wie immer schaffte er es ganz allein, seinen Freund auf den Boden zu stellen. Jadya ließ dem Schwarzhaarigen genau so viel Zeit, um sich wieder aufzurichten, dann umarmte sie ihn stürmisch. Und Ramon fiel Dhaôma um den Hals, so dass es Kitty genug wurde und sie sich zu den Bäumen flüchtete.

„Da war das Katzenbaby!“

„Ai, hier geblieben!“ Reflexartig packte Dhaôma Elin am Kragen und zog sie in die Arme. „Lasst sie einfach in Ruhe, sonst erlebt ihr was.“

Unsicher sahen ihn die Kinder an. Das war sonst die Drohung der Eltern, damit sie gehorchten. Das machte doch der Magier normalerweise nicht. War ihm die Katze so wichtig? Sie konnten auch nicht ahnen, dass Dhaôma sie nur warnen wollte, dass die Katze gewalttätig sein konnte, wenn sie wollte.

Und dann ging die große Wiedersehensfreude in die nächste Runde, als auch alle anderen Aufmerksamkeit wollten und die beiden Reisenden begrüßten.

„Du bist wirklich wieder gekommen.“, meinte Oldon. „Ich muss zugeben, da du dich so lange nicht hast blicken lassen, hatte ich schon befürchtet, du hättest es nur gesagt, um höflich zu sein.“

Weich lächelnd verbeugte sich Dhaôma vor dem Ältesten. „Ich verspreche nie etwas, das ich nicht zu halten gedenke.“

„Es ist gut, dich wieder zu sehen.“, schmunzelte der Grauhaarige, dann wurde Dhaôma auch von Jadya umarmt und dabei beinahe umgerissen.

„Du trägst unser Geschenk noch!“, freute sie sich. „Alles andere ist neu, aber den Poncho hast du noch!“

Am liebsten hätte er es ihr gleich erklärt, aber der Trubel war einfach zu groß. Es war beinahe wie bei Addar auf der Insel. Er war hier willkommen und das ließ sein Herz vor Freude überlaufen.

Kitty, Silia und Jadya

Kapitel 67

Kitty, Silia und Jadya
 

Mit einem glücklichen Lächeln stand ein Geflügelter inmitten derjenigen, mit denen er aufgewachsen war. Sein Blick ruhte allein auf Dhaôma. Die Freude, mit der dieser die Dorfgemeinschaft begrüßte und mit der er begrüßt wurde, war herzerwärmend.

Für diesen Anblick war er jedoch nicht gekommen, auch wenn sich ihre Anwesenheit gerade dafür lohnte. Als er für einen kurzen Moment unbeobachtet war, zog er sich aus der Gruppe zurück und streunte über die Insel. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, war seine Schwester nicht bei der Begrüßung dabei. Und zu ihr führte ihn sein Weg nun.

Mimoun konnte die junge Frau auf den ersten Blick nicht auf dem Dorfplatz ausmachen und auch sonst nirgends zwischen den Hütten, also wandte er sich seiner alten Heimstatt zu. Es war ungehörig, da er dort schließlich hinausgeworfen worden war, dennoch trat er ohne zu klopfen ein.

Der Vorraum war beinahe leer. Hier hatte jemand gründlich auf- und umgeräumt, während er nicht da war. Nur ganz hinten, zwischen mehreren Fellen und Decken stand ein kleiner Korb. Bevor er sich diesem jedoch nähern konnte, hörte er hinter sich die Plane aufgehen und spürte die Berührung eines warmen Körpers an seinem Rücken. Lange Zeit sprach keiner von beiden ein Wort, bis die Bewegungen in dem Korb hektischer wurden.

„Er spürt, dass jemand da ist.“ Silia seufzte schwer und löste sich von ihrem Bruder. „Naruby fordert viel Aufmerksamkeit.“

Ein Junge also. Die junge Mutter strich dicht an ihm vorbei und hockte sich neben den Korb und hob das kleine Bündel heraus. Sie sah erschöpft aus, ein wenig mager. Es war sicher schwer, sich ohne Partner um so ein kleines Geschöpf kümmern zu müssen.

„Isst du genug?“

Sie schnaubte belustigt. „Muss ich ja. Sonst schadet es meinem Kleinen. Jayan wäre sicher böse, wenn er seinen Sohn so schnell kennen lernen würde.“

Mimoun konnte sich nicht erinnern, bei seinem letzen Besuch hier den Namen des Verschollenen gehört zu haben. Es war ein Fortschritt, dass sie ihn nun wieder nannte. Bedauerlich war nur, dass sie ihren Gefährten für tot hielt, obwohl er nur als vermisst galt. Sollte er ihr sagen, dass er noch am Leben sein könnte? Sollte er falsche Hoffnungen schüren und sie dann zerstören? Er würde mit Dhaôma reden müssen. Dieses Thema sollte hier vielleicht besser nicht angeschnitten werden. Die Frage war nur, ob Silia sauer werden würde, wenn sie Erfolg haben sollten und mit ihm heimkehrten. Aber damit würde er zurechtkommen. Wäre ja nicht das erste Mal.

Der Drachenreiter trat neben seine Schwester und schaute auf das Bündel, strich vorsichtig mit den Fingern über den dunklen Flaum. Sofort erklang ein Schreien und Silia fing an zu lachen. „Und er mag keine Fremden.“, erklärte sie amüsiert und beruhigte ihren Sohn mit zärtlichem Geflüster.

„Ich bin froh, dass es dir gut geht.“, murmelte Mimoun und zog sie in eine Umarmung.

Sie nickte und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. „Danke, dass du hier bist.“ Wieder vergingen scheinbar endlose Minuten in Schweigen, denn auch der Säugling hatte wieder Ruhe gegeben, bis Mimoun seine Schwester von sich schob.

„Ich habe mich gerade fort geschlichen. Ich muss schauen, ob sie ihn schon erdrückt haben.“, erklärte er und wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln ab.

„Die Hütte ist ziemlich groß und leer nur mit mir und Naruby.“ Silia hatte sich abgewandt und legte genanntes Baby wieder in sein Körbchen.

Es vergingen einige Sekunden, bis Mimoun darauf kam, dass es eine Einladung zur Übernachtung war. Missmutig runzelte er die Stirn. „Ich werde Dhaôma nicht allein…“

„Ich weiß.“, unterbrach sie seinen Satz, drehte sich noch immer nicht zu Mimoun um. „Das weiß ich nur zu gut.“
 

Auf dem Dorfplatz wurde es kälter, als ein schneidender Wind zu wehen begann. Lachend über sein Zittern zogen sie den Braunhaarigen zu den gespannten Planen, damit es erträglicher wurde. Dann musste er erzählen. Allen war aufgefallen, wie sich Mimoun abgesetzt hatte, jeder wusste, dass er wieder lange Zeit bei Silia bleiben würde, wahrscheinlich mehrere Stunden, also holten sie sich die Informationen, die sie begehrten von Dhaôma. So wurde ein Feuer entzündet und man tat ein wenig der Beute der letzten Tage über die Flammen, um es für Dhaôma zu rösten, während er von ihren Abenteuern erzählte. Er begann auf ihren Wunsch hin bei seinem Aufbruch von dieser Insel und gab einen kurzen Abriss der Ereignisse. Da er mehrere Tage zu bleiben gedachte, konnten sie später Einzelheiten erfragen, wenn es sie interessierte.
 

Nach einigen Augenblicken des Schweigens verließ der Drachenreiter die Hütte. Hatte sie gerade gestattet, dass Dhaôma auch dort schlafen konnte? Sein Blick glitt über den Dorfplatz. An ihrem Landeplatz ließ sich keine Meute mehr ausmachen, dafür der Schein des Lagerfeuers ein wenig zentraler. Lächelnd streunte er zu ihnen hinüber und setzte sich auf seinen Stammplatz. Direkt hinter Dhaôma, damit dieser sich anlehnen konnte.
 

Es löste Erstaunen aus, aber sie hießen ihn willkommen. Scherzhaft zogen sie ihn auf, dass er es tatsächlich geschafft hatte, sich loszueisen, während Dhaôma sich beruhigt gegen seinen Freund lehnte und nach dessen Hand griff. Mimoun sah nicht erschöpft aus. Das war gut.

Nach einigen Minuten erzählte er weiter, war gerade bei der Begegnung mit Aylen im letzten Spätherbst. Natürlich hatten sie schon gehört, dass es ihren Familienmitgliedern gut ging, aber als er lachend darlegte, wie sich Aylen gegen alle verteidigte und ihren Mann stand, riss er sie dennoch mit. Neuigkeiten von den Todgeweihten wurden immer gerne aufgenommen.

Die Kinder kamen schließlich auf den Gedanken, dass sie draußen essen konnten und bereiteten wirbelnd alles vor, damit die Geschichte nicht endete, gerade als Dhaôma von den Halblingen erzählen wollte. Es dauerte nicht lange, da hatte jeder etwas zu Essen und zu trinken. Und gerade wollten sie beginnen, da gellte ein hysterischer Schrei durch den Wind, eindeutig Silia.
 

Alle horchten auf. Und bevor sein Verstand registrierte, was los war, war Mimouns Körper bereits zu der Hütte geeilt, die er vor nicht allzu langer Zeit verlassen hatte. Die Plane knirschte bedrohlich, als er hindurchstürmte.

Das Baby schrie, Silia zeterte und versuchte ein ockerfarbenes Pelztier von ihrem Nachwuchs zu vertreiben. Bevor sie wirklich handgreiflich werden konnte, packte Mimoun seine Schwester an den Schultern und zog sie zurück.

„Ganz ruhig. Das lässt sich einfach regeln. Kitty ist harmlos, solange man sie nicht bedrängt. Also bleib ruhig.“ Nach dieser Erklärung ließ er sie los und trat halb aus der Plane heraus. „Dhaôma. Kannst du bitte kurz helfen?“
 

„Ai?“ Der Magier schob sich durch die neugierige Menge nach vorne. „Was ist los?“ Aber im Grunde ahnte er es. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch trat er vor. Er hatte nichts tun wollen, das Silia störte oder gegen ihn aufbrachte, aber so wie es aussah, hatte er es wieder einmal geschafft. Ein kurzer Blick zu Mimoun und er trat ins Haus, ließ eine murmelnde Menge zurück.

Der Anblick zeigte genau das, was er befürchtet hatte. Kitty stand zwischen Mutter und Kind und verteidigte den Säugling. Offenbar hatte sie irgendwas falsch verstanden. Als würde irgendjemand seinem Nachwuchs schaden. Nicht einmal Silia traute er das zu.

„Kitty.“ Seine Stimme war leise und ließ die Ohren zucken. „Lass Silia zu ihrem Baby.“ Der Blick aus den grüngoldenen Augen war derartig abschätzend, dass Dhaôma nur den Kopf schütteln konnte. „Was willst du hier überhaupt?“

Sie gab ihre Angriffshaltung auf und sah demonstrativ zu dem Baby.
 

Nur widerwillig war Silia an ihrem Platz geblieben. Noch immer war ihr Blick auf die Katze gerichtet, die zwischen ihr und ihrem Baby stand. Mimoun trat wieder neben die junge Mutter und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung.“, redete er beruhigend auf seine Schwester ein, ohne Effekt. Sie stand noch immer angespannt da, die Hände geballt, bereit jeden Augenblick auf den Störenfried loszugehen. Entweder bekam sie Dhaôma wirklich nicht mit, was Mimoun einfach nicht glauben konnte, oder er war pure Luft für sie.
 

„Also wolltest du mit dem Baby Freundschaft schließen? Das gibt dir aber nicht das Recht, die Mutter zu vertreiben. Ein Baby braucht seine Mutter, das sollte dir klar sein.“

Kittys Ohren zuckten, dann sah sie direkt zu Silia. Sie fing deren Augen ein und hielt sie fest.
 

Nun lagen die starken Männerhände nicht mehr zur Beruhigung auf den schmalen Schultern, sondern um sie von Dummheiten abzuhalten.

„Verschwinde von meinem Baby.“, presste sie mühsam zischend hervor, den Blick starrsinnig und wütend erwidernd.

Mimoun sah schon die nächste Katastrophe folgen, aber dieses Mal konnte er sie nicht einfach wegschieben, nach draußen befördern. Es ging hier schließlich um ihr Kind.
 

Die Katze wartete einen Tick zu lange, bevor sie gerade so weit zur Seite ging, dass der Weg frei war. Erleichtert wollte Dhaôma zu ihr gehen, um sie hochzuheben, aber sie wich aus, machte klar, dass sie das nicht wollte. Noch immer fixierte sie Silia und Dhaôma meinte, eine gewisse Nachdenklichkeit in ihrem Blick zu sehen.
 

Nur den Bruchteil einer Sekunde später ließ Mimoun seine Schwester los und sie eilte zu dem Säugling. Fest drückte sie das noch immer schreiende Bündel an sich, versuchte es mit Streicheln und gemurmelten Worten zu beruhigen. Die Katze ließ sie dabei nicht einen Augenblick aus den Augen.

Mimoun trat ohne Rücksicht an Kitty heran, um sie nach draußen zu befördern. Nicht mit gutem Zureden und Überreden. Er plante es mit einem entschiedenen Griff.
 

Sie sah es kommen. Ein kreischendes Fauchen und ihre Zähne versenkten sich in seiner Handwurzel, bis sie auf Knochen stießen, dann flüchtete sie sich zu Silia, schien jetzt sie gegen Mimoun verteidigen zu wollen. Ihr Schwanz war doppelt so dick wie sonst.
 

„Verfluchtes Mistvieh.“, fluchte Mimoun ungehalten und hielt sich die Hand. Was auch immer sie erwischt hatte mit ihrem Biss, es schmerzte höllisch. Er wirbelte wütend zu der Katze herum, legte sich schon den perfekten verbalen Anschiss zurecht, und sah nur noch wie Silias Fuß den Körper des kleinen Tieres traf.

„Raus mit dir.“, kreischte sie und machte damit ihre eigenen Bemühungen zur Beruhigung Narubys zunichte.
 

Das reichte. Dhaôma konnte Gewalt nicht ausstehen. „Komm nach, Mimoun, dann heile ich dich.“ Er nahm die Katze auf, sein Gesicht eine einzige Maske. „Du hättest nicht beißen sollen.“, sagte er zu ihr, während er die Hütte verließ, weder Mimoun noch Silia einen weiteren Blick schenkend. „Du hättest nicht einmal zu ihr gehen sollen, bevor dich jemand vorstellt.“ Seine Wangen leuchteten, weil er unter seinen Finger fühlte, dass eine Rippe gebrochen war. Es war nicht so einfach. Nie zuvor hatte er versucht, ein Tier zu heilen, das keine Echse war.

Die Menschen vor dem Zelt sahen ihn neugierig an, schweigend um Antwort bittend. Sollten sie sie bekommen. „Kitty hat die furchtbare Gabe, sich immer die falschen Freunde zu suchen und diese verteidigen zu wollen.“, meinte er nur. Die Katze ließ die Ohren hängen. War sie traurig? Und war Mimoun in Ordnung. Sorgenvoll blickte er zurück, um ihn anzusehen, aber die Plane war wieder an ihrem rechtmäßigen Platz.
 

„Das war unnötig.“, seufzte Mimoun, die verletzte Hand noch immer gegen seine Brust gepresst. Der Blick, den Silia ihm zuwarf, sprach von einer anderen Meinung. Nur mit Mühe schaffte sie es, sich selbst wieder soweit zu beruhigen, dass sie den Säugling beruhigen konnte.

„Geh zu ihm. Du hast Schmerzen.“, forderte Silia eisig, als sich ihr Bruder noch immer nicht von der Stelle gerührt hatte.

„Danke für dein Angebot. Aber da Kitty Dhaôma nachts nicht von der Seite weicht, werden wir uns eine andere Unterkunft suchen.“ Ohne auf eine Reaktion zu warten, verließ er die Hütte. Die wie wild pochende Hand hielt er nun halb versteckt hinter seinem Rücken.

„Wie geht es ihr?“, fragte Mimoun, bevor jemand anderes etwas sagen konnte.
 

„Sie wird wieder. Gib mir deine Hand.“ Er ließ die Katze zu Boden. Sanft zog er an dem Arm, bis er die Hand nehmen konnte. Frisches rotes Blut quoll aus dem Gelenk und hatte Mimouns Kleider getränkt. Erneut leuchteten die Wangen, als er die Bissstellen schloss. „Du solltest das nicht verstecken. Das ist nichts, weswegen man sich schämen müsste. Kitty sollte sich schämen. Aber ich glaube, das tut sie schon.“ Wie zur Bestätigung drückte Kitty ihren Kopf gegen Dhaômas Bein. „Du solltest dich bei Mimoun entschuldigen.“, wies er sie zurecht und sie kauerte sich ganz klein zusammen, bevor sie tatsächlich einen halben Schritt nach vorn tat und ihren Kopf gegen Mimouns Zehenspitzen stupste.
 

„Ich habe mich nicht dafür geschämt.“ Prüfend schlossen sich seine Finger zur Faust und öffneten sich wieder. „Meine Priorität lag aber erst einmal bei Kitty. Ich weiß doch, dass du es nicht magst, wenn ich verletzt bin.“

Mimouns Wut war schon zum Großteil verraucht, als er sah, wie die Kleine verletzt worden war. Nun schmolz auch noch der letzte Rest Unwillen über den Biss dahin. Wenn sie wollte, konnte sie richtig süß sein. „Ich möchte mich auch entschuldigen, schließlich hätte ich nicht einfach versuchen dürfen, dich zu greifen.“ Mit diesen Worten trat er einen halben Schritt nach hinten, um sie nicht zu bedrängen, und hockte sich hin. Nur leicht und locker, ohne Zwang, streckte der Geflügelte eine Hand in ihre Richtung.
 

Sie schnupperte daran. Und traute sich nicht weiter. Kläglich sah sie zu Dhaôma auf und maunzte.

Dieser lachte leise. „Du warst natürlich mutig genug. Aber irgendwann schaffst du es noch, ihn zu mögen. Keine Sorge.“

Oldon erinnerte sie schließlich ans Essen und den Rest der Geschichte, die Kitty mit einbezog, denn schließlich hatten sie von ihr noch nichts gehört. Diesmal ging Kitty mit. Sie warf noch einen langen Blick auf die Lederhäute der Hütte, bevor sie sich abwandte und an Dhaômas Fersen folgte.

Auf dem kurzen Weg zurück zum Feuer fragte Dhaôma Mimoun, ob er etwas dagegen hatte, wenn sie woanders übernachten würden als bei Silia. Als dieser den Kopf schüttelte, atmete er erleichtert aus. Noch bevor sich alle setzten, sprach er Jadya darauf an, ob sie bei ihr schlafen könnten, was diese froh bejahte. Seitdem ihre Schwester an der Front war, lebte sie mit ihrer Großmutter alleine und sie hatten genügend Platz. Immerhin fehlten sowohl Aylen als auch Rai.
 

Damit war auch Mimoun einverstanden, auch wenn es ihm ein wenig Magenschmerzen verursachte. Dhaôma hatte mehr als einmal erwähnt, dass sie Gefallen an ihrem Jugendfreund gefunden hätte, und er wusste aus eigener Erfahrung wie schmerzhaft es sein konnte, den Liebsten vor der Nase und doch nicht haben zu können. Das ließ sich aber bedauerlicherweise nicht ändern. Gefühle konnte man nicht einfach an- und wieder abstellen.

Aber es gab ein wichtigeres Thema, das Mimoun beherrschte. Jayan. Unauffällig tippte er Tyiasur an, der sich halb unter dem Pelz und halb auf Dhaômas Schulter befand und deutete ihm an, dass er die Gedanken seines Reiters lesen sollte. Nur für wenige Sekunden lockerte der kleine Drache den Bann über dem Magier, um dem Wunsch nachzukommen und übermittelte anschließend Dhaôma die Bitte Mimouns.

„Bitte versuch die Sache mit gefangenen Geflügelten heraus zu lassen. So sehr ich auch hoffe, ich möchte Silia nicht mit zerstörten, falschen Hoffnungen verletzen.“
 

Nachdenklich betrachtete Dhaôma seinen Freund. War es wirklich richtig, dieses Detail auszulassen? Es war immerhin ein wichtiger Bestandteil ihrer Entdeckung. Und Addar wusste auch schon Bescheid. Andererseits konnte er Mimouns Beweggründe gut nachvollziehen. Letztendlich nickte er und lächelte. Sachte legte er seine Hand hinter Mimouns Kopf und zog ihn zu sich.

„Sicher.“, versprach er ihm und gab ihm einen sanften Kuss, bevor er sich vor dem Feuer setzte. Er wurde mit teils ungläubigen, teils amüsierten, teils erleichterten Blicken konfrontiert. „Was?“, fragte er irritiert, als Jadya keck die Augenbrauen hob und breit grinste.
 

Die Blicke blieben auch Mimoun nicht verborgen. Ihn amüsierte das offensichtliche Unverständnis Dhaômas über diese Reaktionen. Er ließ sich wieder hinter seinem Freund nieder und zog ihn an seine Brust.

„Ebenso wie alle anderen werden sie nicht damit gerechnet haben, dass wir zusammengefunden haben.“, säuselte Mimoun seinem Liebsten leise ins Ohr und strich mit einer Hand dessen Seite entlang, bevor sie auf dem Bauch des Magiers zur Ruhe kam. Unmissverständlicher Besitzanspruch.
 

„Ihr seid also zusammen.“, stellte Aulee fest, dann lächelte sie. „Wann ist denn das passiert?“

„Bei den Halblingen. Xaira war böse und hat…“

„Wie wäre es, wenn du weitererzählst, wo du aufgehört hast, damit wir nicht den Eindruck haben, nichts zu verstehen.“, schlug Oldon vor. „Und ihr solltet endlich etwas essen. Ihr habt eine lange Reise hinter euch.“

Dhaôma erklärte sich einverstanden. Nahtlos begann er da, wo er geendet hatte, erzählte von der Begegnung mit den Halblingen und beschrieb ihre Lebensweise. Dann kam Mimouns Reise, gefolgt von Xairas Ausraster. Er ließ den Zauber weg, schämte sich zu sehr dafür. Die Scham war mit der Erkenntnis gekommen, dass er seine Magie in etwas gezwungen hatte, was sie nicht tun wollte. Es tat ihm Leid und ihm war es lieber, wenn das keiner erfuhr. Also fuhr er damit fort, dass drei der Halblinge sie zu den Magiern begleitet hatten, um die Informationen zu verbreiten, die sie durch die Halblinge erfahren hatten. Diese Etappe beschrieb er ein wenig genauer, weil er wollte, dass sich seine Freunde ein Bild von den Magiern machen konnte. Genauso wie er beschrieb, wie Kitty zu ihnen gekommen war, die inzwischen auf seinem Schoß schlief. Er verriet ihnen auch, wer sie war, dass sie nur Kinder und Tiere mochte und Angst vor Erwachsenen hatte, aber niemand genau wusste, warum eigentlich, da sie nicht sprach. Weiter ging es mit den Soldaten, die von Dhaômas Bruder angeführt wurden, die ihnen aufgelauert hatten, weswegen sie den strategischen Rückzug zu den Hanebito angetreten hatten, um dem Rat zu erzählen, was sich tat, und Rat zu holen.

Als er in Schweigen verfiel, brach Stimmengewirr los, alle redeten durcheinander. Es wurde diskutiert, was man tun könnte, wie man handeln würde und vieles mehr. Von einem Überraschungsangriff auf die Soldaten bis hin zu einer Umgehung derselben, um an ihnen vorbei zu den Halblingen zu gelangen, war alles dabei.
 

Bei der Diskussion bezüglich eines Angriffes ging Mimoun sofort dazwischen. Als Drachenreiter war es seine oberste Pflicht, für Frieden zu sorgen. Da würde er keinen geplanten Angriff gegen Magier führen oder dulden. Auch diese würden irgendwann zur Vernunft kommen.

Während Dhaômas Erzählungen war Tyiasur einmal aus dem wärmenden Pelz gekrochen und hatte kurz geschnuppert. Mimoun dachte, sein kleiner Freund hätte ebenfalls Hunger gehabt, doch nach einem kurzen Blick zu den Häuten, die sie vor dem Wind schützten, hatte er sich wieder verkrochen. Mimoun war nachdenklich dem Blick gefolgt und es dauerte einen Moment, bis er hinter den sich leicht wölbenden Planen einen Schatten ausmachen konnte. Da sie nicht gesehen werden wollte, tat Mimoun so, als hätte er nichts mitbekommen. Es war ihre Entscheidung. Mit einem leichten Streicheln bedankte er sich bei seinem Drachen und bettete wieder seinen Kopf auf Dhaômas Schulter.

Lange konnte er so jedoch nicht bleiben. Die Erwachsenen waren zufrieden gestellt mit Geschichten und Diskussionen. Die Kleineren konnten damit noch nicht viel anfangen und es blieb noch eine knappe Stunde Tageslicht. Der Magier war zu lange nicht hier gewesen. Rausrücken wollte Mimoun sein Kuscheltier jedoch nicht.
 

Als die Kinder das verstanden, war der Plan klar. Mimoun ablenken und Dhaôma entführen. Dabei möglichst die Katze meiden, denn sie hatten mitbekommen, wie Mimoun geblutet hatte, der Beweis dafür war noch immer an dessen Kleidern zu sehen. Ihre Taktik war simpel: Sich auf Mimoun stürzen und diesen kitzeln, während Ramon Dhaôma wegziehen sollte. Falls sich das Opfer weigern sollte, wurde auch er gekitzelt, bis er aufgab.

Der daraufhin ausbrechende Kampf wurde von den übrigen Mitgliedern des Dorfes zunächst mitleidig betrachtet, als dann jedoch nach und nach klar wurde, dass die beiden Spaß daran hatten, bezogen die Zuschauer immer mehr Partei. Viele feuerten die Kinder an, sie sollten mehr rechts oder links kitzeln, einige gaben den beiden Reisenden gute Ratschläge, wie sie sich die Plagen vom Hals halten könnten. Am Ende lagen die Kinder und die Gäste erschöpft übereinander und es gab keinen Sieger und kaum noch Tageslicht. Dhaômas Hand strich immer wieder durch Elins wirklich wirre Haare, wirkliche Aktivität konnte man das im Grunde aber nicht nennen.
 

Nach einigen Augenblicken des Verschnaufens stemmte sich der Drachenreiter mehr schlecht als recht in die Höhe. Mit einer einfachen Berührung zeigte er dem Magier, dass dieser weiter dort liegen bleiben konnte und nahm seinen kleinen Drachen nach langer Zeit wieder einmal an sich. Wohin sich Kitty geflüchtet hatte, konnte er nicht mehr sagen. Nur ihren rasanten Abgang hatte er noch miterlebt. Danach lag seine Konzentration auf der Abwehr von Zecken.

So gerüstet wandte er sich an Jadya. Es war besser, wenn sie die Lager herrichteten, solange man überhaupt noch etwas sehen konnte. Zwar bot sie an, das auch zusammen mit der Großmutter zu erledigen, aber er wollte nicht unhöflich sein und schlug dieses Angebot dankend aus. Mimoun wollte helfen und sie ließ es schlussendlich zu.

Es nahm nicht viel Zeit in Anspruch und auf dem Platz hatte sich nicht viel verändert. Die Kinder lagen noch immer erschöpft auf seinem Magier. Lächelnd ließ er sich vor dem Haufen auf ein Knie herab.

„Wir sollten schlafen gehen. Es war ein langer Tag.“, riet er sanft und schob bereits seine Hände unter Schultern und Kniekehlen seines Freundes, bereit ihn in die Hütte zu tragen.
 

Reflexartig umschlang Dhaôma Mimouns Hals und Ramon flüchtete von seinem Bauch. Die Kinder wurden nun auch von ihren Eltern gerufen, was besonders Elin ärgerte. Sie machte einen Höllenaufstand, dass sie bei den beiden Heimkehrern bleiben wollte, wie sie es schon einmal hatte tun dürfen, Aulee blieb dennoch hart. Ihre Kinder schliefen in ihrem eigenen Bett.
 

Eigentlich hatte Mimoun mit Widerspruch gerechnet. Aber gut. Er hatte ihn die letzten Tage zwar genug getragen, aber die paar Meter schaffte er auch noch. Lächelnd bedankte er sich noch einmal bei den beiden Hausdamen, bevor er Dhaôma auf die Felle bettete und bei sich nur noch die Schwerkraft arbeiten ließ. Mit leichten Bewegungen wurde eine winzige Positionsänderung durchgeführt und der Arm wieder über Dhaôma ausgebreitet. Ja. So war es bequem. Schneller als sonst, begann Mimoun wegzudämmern.
 

Am nächsten Morgen überraschte Kitty ihren Beschützer, indem sie aufmerksam ohne Angst ihre Gastgeberin anhimmelte. Jadya machte gerade Frühstück, als Dhaôma in den Raum kam, und Kitty saß neben der Tür, ohne Anstalten zu machen, ins Freie zu flüchten.

„Guten Morgen.“, begrüßte der Magier sie. „Habt ihr Freundschaft geschlossen?“

„Sie starrt mich immerzu an.“, lachte Jadya und legte das Frühstück auf den Tisch. „Ich weiß nicht, aber irgendwie erinnert sie mich an ein kleines Kind.“

„Das liegt daran, dass sie eines ist. Das habe ich gestern versucht, zu erklären.“ Er sah sich in dem dunklen Raum um und ließ dann seine Macht in das karg vorhandene Leuchtmoos fließen. Sofort wurde es in dem Raum heller, so dass die beiden Mädchen besser zu sehen waren. „Kitty, du könntest ihr zeigen, wie du wirklich aussiehst. Du warst jetzt schon seit Wochen kein Mensch mehr, nicht dass du vergisst, wie das ist.“

Abschätzig betrachtete sie ihn, dann wandte sie sich wieder ab. Sie sprang auf den Tisch, nahm sich ein wenig von dem in Streifen geschnittenen Fleisch und verschwand damit ins Freie. Unglaublicherweise passierte sie die blonde Geflügelte nur Zentimeter von ihr entfernt, als wäre es selbstverständlich. Staunend sahen sie ihr nach.

„Sie scheint dich zu mögen. Welch seltenes Privileg.“

Jadya lachte nur. Dann gab es Frühstück, bis die Kinder Dhaôma abholten, um mit ihnen zu spielen.
 

Der Abgang der Katze verwunderte auch den zweiten Gast, der weit nach Dhaôma aus den Fellen gekrochen war. Anfangs hatte er gedacht noch ein wenig länger die Wärme des Nachtlagers genießen zu können, aber diese hatte sich schneller als ihm lieb war mit dem Magier verflüchtigt.

Aus dem Spiel der Kinder hielt sich Mimoun unauffällig heraus. Er genoss es, eine ganze Zeit lang, den Rackern zuzusehen, hoch oben auf einem Gebäude sitzend. Als er einmal kurz drohte, mit hineingezogen zu werden, zog der Geflügelte sich zurück und streunte zu den Bäumen hinüber. Kahl waren sie. Wie damals, bevor Dhaôma hier aufgetaucht war. Im Gegensatz zu damals, lag es dieses Mal am Winter.

Sachte strichen seine Finger über die Rinde der einzelnen Bäume, umkreiste sie schweigend und blieb unschlüssig vor der Baumhöhle stehen.

„Die Kinder nutzen sie häufig.“ Erschrocken wirbelte Mimoun herum. Er hatte Oldon nicht kommen hören, war zu sehr in seinen Gedanken woanders. „Sie hofften wohl, Dhaôma so ein Stück näher zu sein.“

Kichernd blickte Mimoun über die Schulter zurück zu seinem Freund. „Sie holen nach, was ihnen so lange verwehrt blieb.“, schmunzelte er.

Gelassen hatte der Alte ein Fell in der Höhle ausgebreitet, das er eben noch über dem Arm getragen hatte, und ließ sich darauf sinken. Lächelnd setzte sich Mimoun daneben. Während sein Blick nun häufiger wieder zu seinem Freund glitt, ließ er sich einige Kleinigkeiten aus dem Dorfleben berichten.
 

Das Spiel mit den Kindern war auf angenehme Weise wärmend, aber irgendwann gewann die Kälte die Oberhand. Besonders schlimm wurde es, als auch noch Wind aufkam und es zu schneien anfing. Da hatte Dhaôma endgültig genug. Er wollte ins Warme. Egal, wo das auch sein mochte. Nur, wie er das sah, musste dort viel Platz sein, da die Kinder dabeibleiben wollten. Wie löste man dieses Problem nur?

Letztendlich suggerierte Tyiasur, er solle ein Eiszelt errichten, das den Wind und den Schnee abhielt. Und mit Erlaubnis des Dorfes errichtete er es auf dem Versammlungsplatz direkt über dem Feuer. Es hatte ein Loch, durch die Dampf und Rauch abziehen konnte und nur einen Eingang, war groß genug für alle Dorfbewohner und hoch genug, dass jeder stehen konnte. Nachdem die allgemeine Begeisterung der Kinder über das durchsichtige Gebilde sich gelegt hatte, verlegten sie das Spiel in diesen Raum, bis es Zeit wurde, zu schlafen. Wieder gab es Diskussionen, dass die Kinder in diesem spannenden Gebäude bleiben und dort schlafen wollten, und diesmal gewannen sie. Felle wurden geholt und sternförmig unter der Kuppel verteilt. Kopfschüttelnd ließen die Erwachsenen sie, zumal auch von ihnen einige diese Erfahrung als wünschenswert erachteten, so dass am Ende auch andere dort schliefen. Jadya, Dhaôma und Mimoun waren dabei, weil die Kinder sonst mit dem Jammern gar nicht mehr aufgehört hätten. Dank der vielen Leiber wurde es auch ziemlich schnell warm.

Kitty gewöhnte sich innerhalb eines Tages an Jadyas ausgeglichenes, ruhiges Wesen und akzeptierte sogar deren Großmutter in ihrer Nähe. Die alte Frau war blind und damit ohnehin nicht gefährlich.

Was waren alle erstaunt, als die blonde, junge Frau am Mittag mit einem Magiermädchen auf dem Arm in den Kreis der Spielenden trat. Kitty hatte sich zurückverwandelt und klammerte sich nun an Jadya, wie jedes normale Kind es bei seinen Eltern tat. Verschüchtert versteckte sie ihr Gesicht unter blonden Locken am Hals.

Es gab einen Aufschrei aus Aufregung und bis Dhaôma um Ruhe bat einen schier höllischen Krach, der das Kind noch mehr verschreckte. Jadya lächelte nur und strich über den schmalen Rücken.

„Ich wollte es ja nicht glauben, aber sie ist einfach zu süß.“, schwärmte sie.
 

„Also hat unsere Kleine endlich eine Mama gefunden.“, flüsterte Mimoun erleichtert und lächelte glücklich. Vielleicht würde sie ja nun endlich ein wenig zugänglicher werden.

Doch seine Miene verfinsterte sich schnell. Was sollte nun mit ihr werden? Wieder mit Dhaôma zurück und sich von Jadya trennen? Wer wusste, ob die Kleine das machen würde. Hier bleiben und wie Dhaôma damals auf der Insel gefangen sein? Das konnte sie auf Dauer nicht wollen. Es blieben zum Glück noch einige Tage, bis diese Entscheidung fällig wurde. Die Positionen für die Nachtruhe wurden so gelegt, dass Kitty zwischen Dhaôma und Jadya liegen konnte. Neugierig und aufdringlich waren die Dorfkinder trotzdem allemal.

Den nächsten Morgen verbrachte Mimoun am Badesee. Das Wasser war gefroren und nur die Stelle, die zum Baden genutzt wurde, war entsprechend dünn. Eigentlich hatte der Geflügelte gehofft, seinem Drachen einen Fisch daraus holen zu können. Aber die Wassertemperatur würde dem Blauen nicht gut tun.

Hilfesuchend wandte er sich an Dhaôma. „Kannst du in deinen Wasserblasen auch Fische einfangen?“
 

„Das wäre mal was Neues.“, freute sich der Braunhaarige über diese Aufgabe und überprüfte schon mal, wie weit das Eis hinabreichte. Bei weitem nicht tief genug, um bei seinen mageren Fähigkeiten der Wassermanipulation, einen Fisch zu ergreifen. Also verstärkte er die Eisdicke, bis es ihm leichter fiel. Dennoch benötigte er viel Zeit und Konzentration, in der ihn Mimoun warm halten musste. Und weil er vorhatte, das Wasser wieder einigermaßen bewohnbar zu machen und das Eis zurückzuziehen, bemühte er sich darum, für Tyiasur gleich drei Fische zu fangen, damit dieser die nächsten Tage auch noch etwas zum Essen hatte. Zum Glück blieben die Fische bei diesen Temperaturen frisch bis gefroren.
 

Tyiasur verzog sich mit seiner Beute wieder in Jadyas Hütte und unter einen Berg von Fellen. Es fiel ihm dort bedeutend leichter, seine Betriebstemperatur zu halten. Der Körper seines Reiters reichte bei den hier oben herrschenden Temperaturen leider nicht vollständig aus.

Darüber war Mimoun nicht sonderlich erstaunt. Ihm war von vornherein klar gewesen, dass es dem Schuppentier ohne Fiamma oder ausreichende Mengen an Feuer schwer fallen würde, sich zu bewegen. Umso dankbarer war er ihm für seine Unterstützung und Hilfe.

Erstaunlicher war ein anderes Bild, was sich den beiden Drachenreitern bot, als sie ihren Fuß wieder in das Dorf setzten. Silia gönnte sich und ihrem Sprössling frische Luft. Mimoun stellte seinen Freund ab und überließ es diesem selbst, ob er sich hier in ihrer Nähe aufhalten wollte oder auf Abstand ging. Er selbst blieb unschlüssig stehen. Er stand nicht provokativ zwischen den beiden, aber auch nicht ganz außerhalb.

„Ich hätte es wissen müssen.“, rümpfte die junge Mutter die Nase. „Wann hast du je etwas anderes als Magier bei uns angeschleppt.“ Dass sie schon am frühen Morgen auf Konfrontationskurs schien, behagte dem Drachenreiter ganz und gar nicht. Aber er erwiderte auch nichts darauf. Er wollte keinen Streit.
 

Dhaôma hörte ihre Worte, dann drehte er sich um und ging. Sie war unwichtig. Ihre Meinung zählte nicht mehr. Er hatte für sich beschlossen, dass sie weniger als Luft war. Da sie so uneinsichtig war, so ablehnend gegen alles, was fremd war, tat sie ihm im besten Falle nur noch Leid.

Aber im Gegensatz zu ihm war Jadya nicht ganz so nachsichtig mit der schwarzhaarigen Schwester des Reisenden. Sie holte einmal tief Luft, dann baute sie sich vor ihr auf. „Du bist schrecklich!“, fauchte sie. „Ich kann es nicht mehr hören! Wieso machst du ihm Vorwürfe? Willst du, dass er nie wieder kommt? Ist das dein Ziel? Warum trittst du seinen Traum mit Füßen? Was ist an Frieden und Einigkeit so schrecklich, dass du sie einfach nicht akzeptieren willst? Möchtest du deinen Sohn irgendwann in den Krieg schicken? Ist es das, was du willst?“ Ihre Stimme hallte wütend von den Wänden wieder, ihr Gesicht war gerötet, die Fäuste geballt, während der Wind an ihren Haaren und Kleidern zerrte. Nie zuvor hatte man dieses Mädchen so laut brüllen gehört. „Warum impfst du Naruby schon jetzt deinen Hass gegen Magier ein? Willst du, dass er damit aufwächst? Findest du das Gefühl so berauschend, dass du deinem eigenen Sohn wünscht, dass er es in sich trägt?“
 

Beschwichtigend hob Mimoun die Hände. Dass nun Jadya für ihn einsprang, war auch nicht der richtige Weg. Einschreiten konnte er aber nicht. Etwas hielt ihn ab, da nun dazwischen zu geraten und seine Hände sanken wieder an seine Seiten hinab.

„Und wenn ich das will? Wenn ich will, dass er nicht zurückkommt? Was dann? Was willst du tun?“ Unruhig strichen Silias Finger über den Kopf ihres Sohnes. Ihr Rücken hatte sich versteift und sie baute eine Mauer aus Aggression um sich auf, mit der Folge, dass Naruby unruhig zu werden begann. „Sie alle haben mich verlassen. Vater, Mutter, Jayan. Mimoun kommt doch auch nur noch hier her, weil er mich als Verpflichtung ansieht. Er kommt nur, um wieder zu gehen. Zu ihm.“ Energisch wies ihr Finger in die Richtung des genannten Magiers.

Mimoun stand hilflos daneben. Seine Hände hatten sich wieder ein Stück gehoben. Dennoch wusste er noch immer nicht, was tun. Gerade diese Offenbarung traf ihn zutiefst. Lieber verzichtete Silia ganz auf ihn statt die wenigen schönen Tage seines Besuches zu genießen.
 

„Glaubst du, Pflichtgefühl würde jemanden dazu bewegen, so weite Strecken für nichts und wieder nichts zurückzulegen? Du tust mir so Leid. Du versinkst in Selbstmitleid, kapselst dich von jedem ab, der dir nahe stehen möchte, vergraulst alles, was dir etwas wert ist. Deine ganze Welt besteht nur aus Schmerz und ich habe das unmissverständliche Gefühl, dass du das so willst. Was willst du erreichen? Mitleid? Isolation? Sind wir dir überhaupt irgendwas wert? Was glaubst du, warum wir uns immer um dich kümmern? Weil wir es als Pflicht ansehen? Es könnte niemandem hier egaler sein, wenn jemand, der unbedingt allein sein will, alleine ist, aber wir sorgen uns um dich. Ich, er, selbst Dhaôma ist gekommen, damit er dir notfalls helfen kann, falls du es nötig hättest. Aber du siehst es immer nur als Angriff. Egal was! Alle wollen dir nur etwas Böses! Du siehst immer nur das Schlechte, nie das Gute! Als gäbe es nichts Gutes für dich! Das ist so ätzend! Selbstmitleid ist das allerletzte und du hast dich sosehr darin gefangen, dass du nicht einmal erkennst, dass du geliebt wirst! Aber wenn du so weitermachst, dann ist das auch bald vorbei. Ich jedenfalls habe längst die Schnauze voll von deinem Gejammer, dass alle dich verlassen. So ist das Leben, dass jemand geht, dass andere zurückbleiben, aber es geht weiter. Man muss positiv bleiben, um nicht daran zu zerbrechen. Begreife es endlich, dass es auch noch gute Dinge gibt, bevor du endest wie deine Mutter, die depressiv ausharrte, bis sie starb. Willst du vielleicht, dass Naruby das gleiche Schicksal erleidet? Außerdem hast du Mimoun überhaupt nicht verloren! Er ist immer noch am Leben! Warum kannst du darüber nicht glücklich sein?“ Ein Schluchzen entrang sich Jadyas Brust, dann schrie sie einmal auf. „Denk endlich mal auch an die positiven Dinge, die dir widerfahren sind!“
 

„Die da wären?“, fragte Silia bitter. „Mimoun ist lebend zurückgekehrt, nur um mit einem Magier für Jahre fort zu ziehen. Ich habe Jayan kennen gelernt, nur um ihn kurz darauf wieder zu verlieren. Ich habe sein Kind in mir getragen. Einen Jungen, der früher oder später in diesem Krieg sterben wird. Wahrscheinlich weit vor mir. Sag mir, was daran positiv sein soll?“
 

Jadya starrte sie ungläubig an. „Begreifst du nicht? Du hast Jayan nur kennen gelernt, weil du Mimoun, der gerne reist, gefolgt bist. Dein Bruder versucht Frieden zu schaffen, damit Naruby friedvoll aufwachsen kann, damit du ihn eben nicht sterben sehen musst. Du hast zumindest die Möglichkeit, deinen Bruder zu sehen, im Gegensatz zu so vielen anderen, die es nicht mehr können!“ Schmerzlich presste sie die Augen zusammen, bevor das aus ihr heraus brach, was ihr schon lange auf dem Herzen lag. „Und du hast wenigstens ein Kind von demjenigen, den du liebst! Du hast etwas, das dich an ihn erinnert, dich an ihn bindet, egal ob er lebt oder nicht!“ Ihre blauen Augen blitzten zornig, als sie sich schlagartig wieder öffneten. „Du widerst mich an, dass du nicht schätzen kannst, was du hast, dass du den anderen ihr Glück übel nimmst.“
 

Silia sank in sich zusammen und umklammerte ihren Sohn, den heiße Tränen benetzten. Unaufhörlich strichen ihre Finger über seine dunklen Härchen. „Ich bin nicht du!“, schrie die junge Frau nun zurück. Bisher hatte sie sich bemüht, die Stimme nicht zu sehr zu erheben. Nun mischte sich das Brüllen eines Babys in den Streit der Freundinnen. „Ich kann nicht mit einem Lächeln darüber hinweg sehen, wie meine Familie in den Krieg rennt. Jedes Mal, wenn Mimoun geht, befürchte ich, dass er nicht mehr hierher zurückkommen kann. Da ist es mir lieber, wenn er von Anfang an sagt, dass er nie wieder kommen wird. Dann muss ich nicht mit der Ungewissheit leben!“
 

Das war der Punkt, an dem Dhaôma endgültig ging. Er konnte einfach nicht mehr. Irgendwie konnte er sie verstehen, aber dass sie sich so gehen ließ und allen anderen damit auf die Nerven ging, weckte Aggressionen in ihm, die er nicht haben wollte. Ein wenig tat ihm das Baby Leid, das ihre Launen ertragen musste, bis es groß genug war, um sich dagegen zu wehren.

„Das ist bei weitem kein Grund, warum du Mimouns Freunde so ungerecht behandelst!“, ließ sich Jadya nicht beirren. „Warum du gegen jeden Fremden Stunk machst oder dich an nichts beteiligst, was wir hier im Dorf so tun. Wenn du so viel Angst davor hast, verlassen zu werden, dann zieh doch auf eine einsame Insel und werde Einsiedlerin. Dann wirst du nie wieder Probleme damit haben, dass dich jemand verlässt! Dann kannst du klagen ohne zu leiden!“ Erbarmungslos starrte sie auf die vor sich kauernde Frau. „Werd endlich erwachsen!“
 

„Du stellst es dir so einfach vor, aber das ist es nicht. Ich bemühe mich, aber das wollt ihr nie sehen. Weil es euch nicht in den Kram passt. Weil ihr einen Sündenbock braucht, dem ihr eure eigenen schlechten Gedanken zuschieben könnt. Für euch werde ich doch immer die Böse sein. Weil ihr jemanden braucht, auf dem ihr herumhacken könnt.“ Silia war wieder größer geworden, kauerte sich nicht mehr zusammen. Wut und tiefer Schmerz war aus ihrem Blick zu lesen, aber auch der Entschluss, der langsam in ihr zu reifen begann und der jede Zurückhaltung ihrerseits brach.
 

Bei Jadya brach auch etwas und das war ihre Geduld. Sie hatte sich bis jetzt zurückgehalten. Das ging jetzt nicht mehr. „Sündenbock? Du siehst nicht, wie viel Geduld wir mit dir haben! Wie wir versuchen, dich zu unterstützen, damit du nicht zerbrichst! Wir lassen dir deinen Freiraum, weil du ihn brauchst. Und du behauptest, wir hacken auf dir herum? Stures, uneinsichtiges Kind! Niemand hat dich Böse genannt. Niemand projiziert seine schlechten Gedanken auf dich. Das haben wir nicht nötig. Wir können unsere Dämonen schließlich nur selbst besiegen.“
 

Silia hatte sich wieder auf ihre Füße erhoben. „Siehst du. Das meinte ich. Ich bin schon lange kein Kind mehr. Du siehst es nur nicht. Du bist blind, ihr alle seid es.“ Ihre Stimme war ruhig, fast sanft, als wäre es Jadya, die das uneinsichtige Kind war. „Ihr hattet Geduld?“ Ein kurzes Kichern. „Ich glaube nicht. Seit dieser Magier hier war, habt ihr ständig versucht, meine Meinung mit Gewalt zu ändern. Sei nicht so stur. Du verhältst dich falsch. Sei nicht so uneinsichtig. Das sind die Sätze, mit denen ihr mich tagein, tagaus traktiert habt. Nennt man das Geduld? Nennt man das Verständnis? Jayan war der Einzige, der jemals versucht hat, meine Gefühle zu verstehen. Und das hat ihm nur den Tod gebracht. Vielleicht hast du Recht. Vielleicht wäre es wirklich an der Zeit von hier zu verschwinden.“
 

Jadya wollte gerade wütend etwas erwidern, da legte sich ihr eine Hand auf den Arm. Ihre Großmutter schüttelte den Kopf. Sie sah die Gefahr, die sich hier anbahnte.

Die Alte begann zu sprechen. „Bist du dir sicher? Hast du das durchdacht? Kannst du dein Kind wirklich allein ohne das Dorf großziehen, ohne zu erfrieren oder zu verhungern? Ohne dein Kind dir unbekannten Gefahren auszusetzen? Oder ist es die Wut, die aus dir spricht?“ Ihre Stimme war genauso sanft wie die von Silia, aber weitaus weniger schneidend.
 

Sie schwieg. Den Kopf in trotzigem Stolz hoch erhoben, sprach sie kein Wort. Doch Mimoun lief es kalt den Rücken runter. Er kannte sie. Dieses Mädchen war schließlich seine Schwester.

„Du hättest ihn nicht mitgenommen, nicht wahr?“, fragte der Drachenreiter leise in die Stille hinein und trat näher zu ihr. „Du wärst alleine gegangen.“

Nun wieder ganz das verstockte Kind wandte Silia den Kopf ab, um ihren Bruder nicht ansehen zu müssen. Erst als seine Hand auf ihrem Arm zur Ruhe kam, begann sie sich wieder zu regen, strich dem noch immer weinenden Säugling über den Kopf.

„Ich bin eine Mutter. Ich bringe doch nicht Jayans einzigen Sohn in Lebensgefahr. Haltet mich verdammt noch mal nicht ständig für ein unreifes, unsensibles Kind. Das bin ich nicht. Ich bin hier aufgewachsen, hier fühle ich mich wohl. Es gibt keinen besseren Ort für ihn. Ich möchte, dass er hier in Sicherheit aufwachsen kann. Aber ich kann hier nicht mehr bleiben.“
 

„Du möchtest also, dass dein Sohn das gleiche erlebt, das du und Mimoun erleiden musstet.“, stellte die Alte traurig fest.

Hinter ihr öffnete Jadya den Mund, dann schloss sie ihn wieder. In ihr war noch immer die Wut, aber nun auch große Traurigkeit. Sie würde ihre zweite Freundin auch verlieren? War das ihre Schuld? Sie trat vor. „Bitte, Silia, geh nicht. Wir können die Probleme zwischen uns doch sicher lösen.“
 

„Und wie?“ Silia schüttelte bitter den Kopf. Sie wäre wohl auch einen Schritt nach hinten gegangen, hätte dort nicht plötzlich Mimouns Hand gelegen. „Wie sollen wir Probleme lösen, wenn ihr nicht mal versucht, mir zuzuhören.“ Die junge Mutter beugte sich über ihren Sprössling und flüsterte so leise, dass nur Mimoun sie hören konnte. „Und ich weiß, du hättest die beste Mutter bekommen, die man sich vorstellen kann.“
 

„Dann lass es uns versuchen. Lass uns vernünftig reden, damit wir verstehen können, was dir so zu schaffen macht. Was bekommen wir denn davon mit? Du redest ja nie darüber, sagst nicht, was dir wehtut. Immer sehen wir nur die Abneigung.“

Großmutter lächelte und nickte, bevor sie anfügte: „Wenn wir nicht bereit waren, zuzuhören, dann warst du es ebenfalls nicht. Also versuchen wir, einander zuzuhören, um zu verstehen.“

„Bist du damit einverstanden?“, fragte Aulee. Sie war nicht die einzige, die gekommen war. Beinahe das ganze Dorf war anwesend, alle angelockt von den lauten Stimmen. In beinahe jedem Gesicht stand geschrieben, dass sie es versuchen wollten.
 

Verstockt sah die Angesprochene zu Boden. Dass nun alle anwesend waren, behagte ihr gar nicht. Und dass viele von ihnen sorgen- und hoffnungsvoll zu ihr herüber blickten, war ihr unangenehm bis peinlich. Da fühlte sie sich gleich wieder, als das Kind, als das sie abgestempelt worden war.

„Ich wäre traurig, wenn ich nach Hause kommen würde und du wärst nicht mehr da.“, versuchte Mimoun sie sanft in die richtige Richtung zu drängen.

„Ich habe dich rausgeworfen, vergessen?“

„Nein. Aber wie du schon so treffend gesagt hast: Ich bin hier aufgewachsen, hier fühle ich mich wohl. Ich fühle mich hier zuhause. Auf dieser Insel. Nicht nur in dieser kleinen Hütte dort drüben.“

„Diese Hütte ist nicht klein.“

„Dann solltest du deinen Haushalt mit einem anderen zusammenschmeißen. Mit jemanden, der genauso viel Platz übrig hat.“ Sein Blick wanderte nicht umsonst bezeichnend zu Jadya.

Silias Blick blieb lange an der Freundin haften, die Lippen noch immer zusammengepresst. Bis sie sich schließlich mit einem Seufzen entspannte, knapp nickte. „Gut. Ich werde es versuchen.“

Mimoun lächelte erfreut und nahm ihr den Säugling aus dem Arm, bevor sie richtig registrierte was er tat. „So. Und du kleiner Schreihals warst jetzt lange genug in der Kälte.“, bestimmte er und wandte sich ab.

„Passt du auf ihn auf?“, wollte Silia hinter seinem Rücken wissen.

Mit leichter Enttäuschung sah Mimoun zu dem Eishäuschen und Silias Heim hin und her.

„Dort ist völlig in Ordnung, wenn es warm genug ist. Ich möchte sowieso lieber mit Jadya unter vier Augen reden, wenn das okay ist.“, willigte sie mit leichtem Zähneknirschen ein.

Noch strahlender als vorher verschwand Mimoun mit dem Schreihals in dem weißen Gebilde. Er sah nicht mehr, wie sich Silia ihrer Behausung zuwandte, ohne darauf zu achten, ob Jadya ihr folgte oder nicht.
 

Jadya sah das und wusste nicht, ob sie wieder wütend werden sollte über dieses Verhalten, aber sie entschied sich dagegen. Kurz sah sie zu ihrer Großmutter und bedankte sich bei ihr, dass sie ihren Wutausbruch gestoppt hatte, bevor sie Silia seufzend folgte. Das würde sicherlich lang und anstrengend werden.
 

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*in gedanken Kuromikan toben sieht*

Wenn Holzköpfe aufeinandertreffen, nutzt man am allerbesten einen Ofen oder sowas...

Kriegsrat

Kapitel 68

Kriegsrat
 

Im Iglu lag Dhaôma auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Kitty saß neben ihm, in ihrer menschlichen Gestalt, und starrte ihn an. Ihre grünen Augen schienen etwas zu wollen, aber sie sagte keinen Ton. Und obwohl Dhaôma wusste, dass sie da war, bewegte er sich nicht. Ihm war, als wäre ihm alle Energie zur Bewegung abhanden gekommen, allein dadurch, dass er versuchte, diese unerfreuliche Szene aus seinem Kopf zu streichen, indem er an die intakte Familie dachte, die ihm versichert hatte, dass es nicht an ihm lag, dass Familien zerbrachen.
 

Kummer überzog das dunkle Gesicht, als er seinen Freund dort so liegen sah. Mimoun ließ sich neben seinem Freund nieder, auf der anderen Seite von Kitty. Der Schreihals auf seinem Arm, der spürte, dass seine Mutter fern war, lief nun rot an, weil er gar nicht mehr aufhören wollte.

„Keine Angst. Der Sturm ist vorbeigezogen.“, versuchte er sich unsicher in einem Lächeln. „Es sind nur noch die Auswüchse ruhig zu stellen.“ Der Geflügelte versuchte es mit leichtem Schaukeln, ohne nennenswerten Erfolg. Der Kleine wollte sich einfach nicht beruhigen lassen.
 

Es brachte Dhaôma zum Lächeln. Allein, dass Mimoun da war, ließ ihn sich leichter fühlen. Letztlich öffnete er die Augen. Kitty starrte jetzt das Baby an, auf ihrem Gesicht der eindeutige Wunsch, es zu berühren. Warum rührte sie sich bloß nicht?

„Hast du Angst, du wirst wieder angeschrieen?“, fragte er freundlich, verzog im gleichen Moment den Mund. „Mimoun, es wird wieder Geschrei geben, wenn sie sieht, dass du ihn hierher gebracht hast.“
 

„Sie hat es gestattet, auch wenn du mir vielleicht nicht glauben magst.“ Nicht nur das Gesichtchen des Babys war unglücklich. Mimoun war es unbegreiflich, warum der Kleine so eine Abneigung gegen ihn hatte. Das war neu für ihn. Irgendwie fiel es ihm schwer, damit umzugehen. „Hier. Versuch du dein Glück.“ Und damit streckte er den kleinen Jungen Dhaôma entgegen.
 

In diesem Moment ergriff Kitty ihre Chance. Ihr tat das kleine Geschöpf Leid, jetzt stützte sie sich auf Dhaômas Bauch ab und drückte ihre Nase gegen die Wange des Schreihalses. Ihre Zunge fuhr über seine Haut und brachte ihn vor Schreck zum Verstummen.
 

Verblüfft blinzelte Mimoun bevor er mit einem leisen Lachen den Kleinen in Richtung der Magierin hielt. „Und damit wurde die heutige Babysitterin gekürt. Ich schlage vor, wir tauschen. Ich bekomme Dhaôma und du das Baby.“
 

Zufrieden kletterte das dunkelblonde Mädchen über Dhaômas Bauch und nahm das Kind entgegen. Ihre grünen Augen leuchteten vor Glück und er starrte fasziniert-entgeistert zurück. Endlich kletterte sie von Dhaôma herunter, der sich stöhnend aufsetzte. „Die hat aber auch spitze Knie.“, murrte er, dann grinste er und kam näher zu Mimoun. „Ich gegen das Baby? Heißt das, ich hab dich jetzt für mich allein?“

Hinter ihm ließ sich Kitty auf den Boden fallen und begann das Baby zu wiegen, wie es eine echte Mutter machen würde. Aufmerksam und ernst erfüllte sie ihre neue Aufgabe.
 

„Sieht wohl ganz so aus.“, schnurrte Mimoun und zog seinen Magier in einen sanften Kuss. Doch schon im nächsten Augenblick musste er diese Aussage innerlich wieder revidieren, denn einige lautstarke Gören kamen in die Eiskuppel geplatzt, nachdem die Aufregung sich draußen gelegt hatte. „Ist doch nicht wahr.“, murrte er leise an Dhaômas Hals, an den er seinen Kopf gelehnt hatte, nur um durch den plötzlichen Anprall eines warmen Kinderkörpers an seiner Seite abzurutschen und der Länge nach hinzufallen. Und wenn der große Böse schon mal lag, musste man ihn auch unten halten. Nicht nur Elin saß plötzlich auf seinem Rücken. Mimoun wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
 

Dhaôma konnte jedenfalls nicht anders als zu lachen. Vor allem, als sich Kitty fauchend mit dem Baby auf einen unscheinbaren Eisvorsprung direkt unter die Decke zurückzog. Das Baby fand das lustig. Die anderen auch, da sie ohnehin neugierig auf das Katzenkind waren. Sie wollten zu ihr hinauf fliegen, aber zum Glück konnte Dhaôma das verhindern.

„Ihr werdet die Babysitterin ihre Arbeit machen lassen und euch anderweitig beschäftigen.“, bestimmte er und so wurde eben er beschäftigt. Während Mimoun kämpfen musste, sollte Dhaôma ihnen ein neues Spiel beibringen, so wie früher, wenn sie hatten lernen können. Etwas Lustiges sollte es sein, etwas wie Ofenbauen oder Ball zu Fuß oder Pflanzen verbuddeln und Erde draus machen. Also zeigte Dhaôma den interessierten Kleinen, nachdem sie Mimoun genug gequält hatten, wie man Schmuck aus Holz machen konnte. Ihre Fingernägel waren dabei sehr hilfreich, dass Xaira ihm ein Messer geliehen hatte ebenfalls.
 

Leise grummelnd rollte sich Mimoun hinter seinem Freund zusammen. Seine Mimik zeigte deutlich seine Abneigung zu der momentanen Situation. Er empfand diese Plagen derzeit als mehr als störend. Er hatte ein wenig mit seinem Magier kuscheln wollen. Aber das war hier wohl genauso unmöglich wie auf jeder anderen Insel. Überall wollten die Kinder mit Dhaôma spielen oder Sachen von ihm gezeigt bekommen. So blieb ihm derzeit nichts anderes als der leichte Körperkontakt, als er wieder die Rückenstütze für seinen Freund spielte.

Obwohl der Geflügelte der auserkorenen Babysitterin vertraute, entspannte er sich nicht völlig, sondern schielte immer wieder zu ihr hinauf. Es behagte ihm gar nicht, dass sie da auf blankem Eis hockte. Er wollte die Kleine aber weder zurechtweisen noch sie sonst in irgendeiner Form stören. Schließlich ging es nicht mehr. Nachdem Mimoun zum vielleicht zehnten Mal innerhalb weniger Minuten dort hoch geschaut hatte, löste er sich und schnappte sich eines der Felle.

„Hintern hoch und ich will weder dumme Kommentare hören noch Krallen sehen.“, stellte er gleich mal klar und zeigte ihr die wärmende Unterlage. „Das ist weder für dich, noch für das Baby gesund.“
 

Sie musterte ihn misstrauisch, aber nach einem kurzen Blick auf das Baby, das inzwischen wieder schlief, vermutlich aus Erschöpfung, nahm sie das Fell entgegen. Ungeschickt wickelte sie es um das Baby. Sie wollte schließlich nicht, dass es fror oder nicht gesund war.
 

„Du auch. Und drauf setzen.“, bat er seufzend. Das konnte doch nicht wahr sein, dass sie die Gesundheit des Babys über ihre eigene stellte. „Sitz bitte nicht auf dem kalten Eis.“

Mit einem Lächeln zog er sich wieder zurück und trollte sich zu Dhaôma zurück. Mit mehr Langeweile als wirklich Lust und Laune nahm er eines der Holzstückchen und kratzte mit seinen Krallen darauf herum. Hier ein wenig weg, dort einen Splitter entfernen. Nun war sein Feuereifer geweckt. Ihm war eine Idee gekommen. Mit einem diebischen, vorfreudigen Grinsen setzte er sich vernünftig hin und begann völlig vertieft an dem Holz herumzusäbeln, brach einmal ein falsches Teil ab und fing mit einem neuen Holz noch einmal ganz von vorne an.
 

Währenddessen schaffte es Kitty, sich und das Baby zusammen in das Fell zu hüllen. Immer wieder kamen Menschen herein und betrachteten die arbeitenden Kinder. Diese Ruhe war überwältigend, wenn man bedachte, dass man die kleinen Plagen selten alle gemeinsam zu etwas überreden konnte. Als sie jedoch fragten, was das werden sollte, schwiegen sie sich alle geschlossen aus. Es sollte eine Überraschung sein. Keiner von ihnen wurde an diesem Tag fertig. Es war schwieriger, als es aussah, und bei Feuerschein ohne Tageslicht war es äußerst schwer, das richtige Maß kratzen zu finden, so dass beim Essen alle wieder munter waren.

Man schickte Haru mit etwas zu Essen zu den beiden noch immer redenden Damen. Er kam zurück, berichtend, dass er nicht sagen konnte, was sie beredeten. Er war sehr enttäuscht darüber.
 

Konsequent hatte der geflügelte Drachenreiter dafür gesorgt, dass Dhaôma keinen Blick auf sein Projekt werfen konnte. Da war er genauso stur und schweigsam wie die Kinder. Und als zum Essen gepfiffen wurde, ließ er es in einer Stofffalte verschwinden. Manchmal war er perfektionistisch veranlagt und momentan noch lange nicht zufrieden. Während er mit steigendem Hungergefühl auf dem Fleischstreifen herumkaute, kreisten seine Gedanken um die Weiterbearbeitung.

Bis ihm ein anderer Gedanke kam. Naruby quengelte noch nicht, doch Mimoun konnte sich vorstellen, dass es nicht mehr lange dauern dürfte. Langsam musste sich bei dem kleinen Geschöpf auch der Hunger regen und das würde er lautstark kundtun. Also machte er Kitty den Vorschlag, den Kleinen langsam wieder zu seiner Mutter zu bringen.

„Möchtest du das allein machen? Soll ich mitkommen? Oder soll ich das allein übernehmen?“, stellte er die kleine Magierin vor die Wahl.
 

Sie starrte ihn wütend in Grund und Boden, versteckte sogar das Kind hinter ihrem Rücken, bis es einen Laut von sich gab, der bedeutete, dass es demnächst weinen würde. Geknickt tätschelte Kitty den braunen, seidigen Schopf, bevor sie Naruby aushändigte. Flehend wurden ihre Augen, aber die unausgesprochene Hoffnung verschwand daraus, als sie zu Dhaôma wanderte, sich immer weiter zurückverwandelte und sich schließlich unter seinem Poncho zusammenrollte.

Ratlos zuckte Dhaôma mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte. „Sie überlässt es dir?“, interpretierte er ins Blaue.
 

„Warum hab ich das Gefühl, schon wieder der Böse zu sein?“, seufzte Mimoun gequält.

„Weil du immer der Böse bist.“, stellte Elin gleich mal klar und Ramon nickte bekräftigend. Diese Kinder waren wie so häufig keine Hilfe.

Darüber hinaus spürte das kleine Bündel wohl, dass es nun wieder auf dem Arm des ungeliebten Onkels war. Es wurde wieder unruhiger.

„Komm her, Kätzchen. Ich will mir nicht die Ohren voll heulen lassen.“, gestand Mimoun und hockte sich neben seinen Freund. So könnte sie, wenn sie wollte, einfach auf seinen Arm springen. Unglücklicherweise hatte er nun aber auch ein paar mehr Augen auf sich ruhen. Sie lehnten sich zum Teil so weit vor, dass sie vornüber zu kippen drohten.
 

„Ich glaube nicht, dass du der Böse bist.“, meinte Dhaôma lächelnd. „Sie will wohl einfach nicht in das Haus oder zu seiner Mutter. Vielleicht hat sie sogar Angst, dass sie den Kleinen gar nicht mehr anfassen darf, wenn du ihn zurückgibst. Immerhin hatte Silia eine Menge schlagkräftiger Einwände.“ Seine Hand streichelte die Beule unter seinem Poncho. „Trotzdem hat sie eingesehen, dass Naruby seine Mutter braucht. Das ist ein Anfang.“
 

„Ach, Kleines.“, seufzte Mimoun auf. Er konnte sie verstehen. Bei der Szene von vorgestern war es nur verständlich, dass sie dorthin nicht mehr wollte. Da gab es wohl nur eins zu tun. Ohren zu und durch. „Ich bin gleich zurück.“, versprach er seinem Freund und hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe.

Die kurze Strecke zu der Hütte legte er flatternd zurück, um Zeit zu sparen. Noch bevor der Kleine den vollen Umfang seiner Stimmgewalt präsentieren konnte, rauschte Mimoun ohne anzuklopfen oder um Erlaubnis zu fragen durch die Häute. Beide Frauen brachen mitten im Gespräch ab und starrten ihn an.

„Jetzt ist es offiziell. Er kann mich nicht leiden.“, maulte er und überreichte seinen Neffen an seine Schwester, die sich erhoben hatte. Sanft schaukelnd und mit wenigen geflüsterten Worten schaffte sie es, ihren Sprössling zu beruhigen.

„Hat er etwa die ganze Zeit geweint?“, wollte Silia verwundert von Mimoun wissen und bettete Naruby in seinem Körbchen, das sie nun näher an ihren Sitzplatz zog.

Kurz stockte Mimoun, doch er zuckte nur mit den Schultern. „Kitty konnte ihn innerhalb weniger Sekunden ruhig stellen und er hat friedlich in ihren Armen geschlafen. Sie ist begabt, was Kleinkinder angeht.“, gestand er offen. Zu seinem Erstaunen blieb das Donnerwetter aus. Sie nickte nur leicht abgehakt. Und als sonst keine Einwände kamen, verabschiedete er sich wieder und eilte in den Iglu zurück. Übermütig ließ er sich neben Dhaôma fallen und aß im Liegen weiter, den Kopf auf Dhaômas Schoß gebettet.
 

Der Abend ging friedlich zu Ende. Im Schein des Leuchtmooses mussten Mimoun und Dhaôma noch Tyiasurs Essensspuren beseitigen, da die ganze Hütte nach Fisch stank. Der Drache hatte festlich gespeist. Großmutter lachte nur.

Während sich alle für die Nacht fertig machten, wartete Kitty an der Eingangstür und starrte zu der Nachbarhütte hinüber, in der sie Jadya und Naruby wusste. Dhaôma wuschelte ihr einmal durch das Haar.

„Magst du sie?“

Ein feines, kaum wahrnehmbares Nicken war die Antwort. Sie hatten ihren Blick nicht abgewendet.

„Sie mag dich auch gerne. Jadya ist ein liebes Mädchen.“

Wieder dieser Hauch eines Nickens, dann sah sie verloren zu ihm auf. Sah er da Angst in ihren Zügen?

„Ich denke, sie ist in Ordnung. Silia wird ihr nichts tun.“ Hoffte er. Genau sagen konnte er es nicht. Silia neigte dazu, jeden zu verletzen, der nicht nach ihrem Geschmack war. „Und sie kommt irgendwann wieder da raus, dann kannst du zu ihr.“

Schüchtern griff sie nach Dhaômas Hemdsärmel und drückte ihn gegen ihre Stirn. Ihre Schultern bebten.

Dhaôma lachte weich und hockte sich zu ihr. „Natürlich kannst du mitkommen. Ich habe nichts gegen deine Gesellschaft. Und Mimoun auch nicht, also legst du dich zu uns, in Ordnung?“

Sie nickte verstockt, dann folgte sie ihm in den Teil des Hauses, in dem die jungen Männer schliefen. Großmutter wünschte ihnen eine Gute Nacht, dann wurde es still. Das Katzenkind rollte sich in Dhaômas Rücken zusammen, während dieser sich an Mimoun kuschelte. Diese Zeit des Tages genoss der braunhaarige Drachenreiter am allermeisten. Die Freunde, die ihm viel bedeuteten, bei ihm, Ruhe, Frieden. Schade, dass Lulanivilay nicht dabei sein konnte.
 

Der nächste Morgen begann friedlich. Ein gemütliches Erwachen in den Armen Dhaômas. Konnte es etwas Besseres geben? Mit einem glücklichen Lächeln beschloss Mimoun für sich, dass die Antwort auf diese Frage Nein lautete.

Nach dem Frühstück waren die beiden Drachenreiter die meiste Zeit damit beschäftigt, die Kinder zu beschäftigen. Mimoun ließ es sich jedoch nicht nehmen gegen Nachmittag das Grab seiner Eltern zu besuchen. Dies kündigte er auch Dhaôma an, denn wenn er sich recht entsann, wollte dieser dort ebenfalls hin.

„Möchtest du immer noch meine Eltern besuchen?“ Ein wenig war er nervös. Er wusste mittlerweile viel über Magier, aber wie sie mit ihren Toten umgingen, hatte er bisher noch nicht erfahren. Es hatte ihn auch nie interessiert. Der Tod war etwas, dem er nicht gerne begegnete. Wie würde es also für Dhaôma werden, in den Grabhöhlen zu stehen.
 

„Sicher möchte ich. Hatte ich ja gesagt.“

So flogen sie los, ließen zeternde Kinder zurück. Kitty war wieder bei Jadya. Die junge Frau war spät in der Nacht zurückgekehrt, hatte ernst und müde gewirkt, aber auch zufrieden. Kitty war sofort zu ihr gekommen, hatte bei ihr geschlafen und sie gestreichelt, um sie zu trösten. Nun half sie ihrer neuen Freundin dabei, Leder zu verarbeiten, sprich, sie sah ihr dabei zu.
 

Tyiasur kam nicht darum herum mitzufliegen. Er ließ sich aber nicht dazu bewegen, unter dem wärmenden Poncho Dhaômas hervor zu kriechen. Die ganze Zeit über blieb er dort und rührte sich nicht mehr.

Der Flug des Geflügelten führte in höhere Luftschichten und damit kältere Zonen. Auch ohne in der Zwischenzeit dort gewesen zu sein, konnte er sich denken, dass in der kurzen Zeit des Herbstes die Verwesung nicht weit fortgeschritten sein konnte und nun durch die eisige Kälte hier oben die Körper eher gefroren sein würden. Das war auch das Erste, worauf er Dhaôma hinwies, als er auf der kleinen, porös wirkenden Insel landete. Mimoun setzte nicht vor dem Spalt auf sondern stellte seinen Freund auf dem oberen Plateau des kahlen Felsens ab und machte ihn mit den darin herrschenden Gegebenheiten vertraut. So blieb es ihm überlassen, mit dort hinein zu gehen oder da oben auf seinen Freund zu warten. Kleine Nischen voller Knochen oder Puppen. Oder im Fall seiner Mutter ein noch fast vollständig erhaltener Körper.
 

Es bereitete dem Braunhaarigen deutlich Mühe, hier oben überhaupt zu atmen oder sich zu bewegen. Der Wind war schneidend kalt und dünn, fast wie auf dem Gipfel der Wolfberge. Nur dass es im Gebirge zu dieser Zeit nicht mehr mitten im Winter gewesen war.

Das Zähneklappern unterdrückend kletterte er zu dem Spalt hinunter, bevor er sich hineinwagte. Seine Gänsehaut war nun nicht mehr nur der Kälte geschuldet, sondern auch dem Anblick hier unten. Knochen. Überall. Teilweise sah es aus, als wären die Skelette nicht mehr vollständig. Fast wie auf den Wolfsbergen. Ob alle geflügelten Wesen solch einen Ort zum Sterben bevorzugten? Kalt und möglichst luftig?

Mimoun führte ihn zu der Stelle, an der Cerel lag. Sie sah so alt aus. Und trocken. Dhaôma schauderte es erneut. Wie konnte man das gut finden? War es nicht schöner, einen Toten so im Gedächtnis zu behalten, wie er zu Lebzeiten war, anstatt ihn im Tod zu erinnern? Dennoch sagte er nichts, dachte über ihren Tod nach, über die Zeit, die er sie gekannt hatte. Sie hatte ihm viel beigebracht. Und ein verlustreiches Leben geführt. War eine Mutter gewesen, die anwesend war, ohne da zu sein, weder für ihre Kinder noch für andere. Er hatte sie zuerst gemocht, dann nicht mehr, aber traurig war es schon, dass sie gegangen war.

Irgendwann wandte er sich um und kletterte wieder hinauf auf das Plateau. Er musste dringend verhindern, dass Mimoun auch an solch einen Ort kam. Und er wollte nicht, dass er selbst so endete.
 

Unsicher blickte Mimoun seinem Freund nach. Er sah, dass Dhaôma die Kälte zu schaffen machte. Und es war deutlich, dass das nicht sein einziges Problem war. Es bereitete ihm Sorge, ob sein Freund in diesem Zustand die Felsen überhaupt erklimmen konnte.

Noch einmal glitt sein Blick über den Leib seiner Mutter. Sanft strich er über ihr Haar, hauchzart, beinahe ohne es zu berühren, da es durch die Kälte sicher brüchig war. „Ich hab euch lieb und vermisse euch.“, flüsterte Mimoun leise und strich auch über den weißen Schädel auf ihrem Schoß. Schließlich wandte er sich ab. Hier waren schon genug Verstorbene. Es sollte nicht noch einer hinzukommen.

Bei Dhaôma angelangt, schlang er Arme und Flügel um diesen, um ihm ein wenig Wärme zu spenden, bevor sie sich auf den Rückweg machten. Oder sollten sie besser gleich tiefere Luftschichten aufsuchen? „Sollen wir zurück?“
 

„Bitte, bitte.“, nickte Dhaôma. Automatisch wickelte er seine Arme um Mimouns Hals, dann flogen sie zurück, um wieder warm zu werden. Das Feuer kam ihnen dabei sehr gelegen, besonders Tyiasur.

Am nächsten Tag hieß es Abschied nehmen. Sie mussten zur Ratsinsel, die einige Luftmeilen entfernt lag. Das Treffen des Rats wurde schließlich wegen ihnen abgehalten. Überraschender Weise klammerte Kitty an Jadya und heulte Sturzbäche, bis diese ihr anbot, bei ihr zu bleiben. Leuchtende Kinderaugen waren das Resultat. Was für ein unfassbarer Anblick.

Also verabschiedete sich Dhaôma auch von ihr und bat sie, zu versuchen, mit den Kindern des Dorfes Freundschaft zu schließen, damit sie jemanden zum Spielen hatte. Sie nickte zögerlich.
 

Derweil nahm sich Mimoun die anderen Kinder zur Brust. Sie sollten Kitty gefälligst nicht bedrängen und ihr die Entscheidung über möglichen Kontakt lassen. Auch ohne ihre Gesichter zu sehen, wusste er, dass es gerade bei ihnen zu einem Ohr rein und zum anderen wieder raus ging. Elende Bande. Gnadenlos ergriff er eines von ihnen am Ohr, die anderen waren zu schnell aus seiner Reichweite.

„Wenn ich irgendwelche Beschwerden von ihr oder Berichte über schlechtes Benehmen von euren Eltern zu hören kriege, werdet ihr mich mal wirklich wütend erleben.“, unheilte Mimoun in einem Ernst, der sie tatsächlich dazu bewog, gutes Benehmen zu versprechen.

Anschließend wandte er sich seiner Schwester zu. Sie war gestern und auch jetzt viel draußen und unter den anderen Dorfbewohnern gewesen. Die junge Mutter schien sich tatsächlich integrieren zu wollen. Mimoun wusste selbst, wie schwierig es war, sein ganzes, mühsam antrainiertes Verhalten ändern zu müssen. Er wünschte ihr alles Glück für ihr Vorhaben. Sie schien ein wenig unsicher. Um ihr das zu nehmen, zog er sie einfach in eine Umarmung.

„Es ist mir egal, wie du das siehst. Du bist noch immer ein Teil meiner Familie und ich werde immer wieder hierher kommen.“, versprach der Drachenreiter ihr leise.

„Danke, dass du hier warst.“, kam es nach einigem Zögern aus ihrem Mund und sie schob ihren Bruder wieder von sich. Es gab noch etwas anderes, das sie erledigen musste. Etwas, was ihr absolut nicht behagte, aber sie hatte es Jadya versprochen. Silia trat mit zusammengekniffenen Lippen und stocksteif an den Magier heran. Lange rang sie mit sich, bevor sie ein Danke ein wenig zu aggressiv ausspuckte, auf dem Absatz umdrehte und innerhalb weniger Augenblicke in der Menge verschwunden war, die die Reisenden verabschieden wollten.
 

Sie ließ Dhaôma völlig verwirrt zurück. Egal, was er bisher erlebt hatte, so etwas kannte er nicht. Oder eigentlich kannte er es zu gut. Ihr Verhalten passte nicht zu ihren Worten. Seine Familie war auch so. Aber anders. Sie waren freundlich, um ihr wahres Wesen zu verstecken. Sie war… undurchschaubar. War das gerade eine Herausforderung gewesen? Eine Entschuldigung? Ein Dank, dass er endlich ging?

Oldon zwinkerte ihm nach ein paar netten Worten einmal zu und riet ihm, öfter zu kommen, damit er mehr Übung darin bekam, mit Menschen beisammen zu sein. Natürlich war es ihm aufgefallen, dass der junge Mann noch immer bevorzugt mit den Kindern beschäftigt war anstatt mit seinesgleichen älteren Menschen.
 

Mimoun war genauso irritiert. Das war so das Letzte, womit er gerechnet hatte. Aber auf eine unerklärliche Art war es auch beruhigend.

Seiner Schwester nachblickend, schlug er sich zu Dhaôma durch und schlang ihm einen Arm um den Bauch. „Komm. Wir müssen langsam los.“ Seine Hand glitt über die Stelle unter Dhaômas Poncho, unter der sich Tyiasur befand. Der Flug würde entspannter sein, als auf der Hinreise mit Kitty. Viel weniger Krallen. Dabei fehlte ihm der scheue Fellball jetzt schon.
 

Anderthalb Tage waren sie unterwegs bis zur Ratsinsel und kurz vor dem Ziel wurden sie von Lulanivilay, der Addar, Fiamma und die Halblinge trug, Asam und Leonie und einigen anderen abgefangen. Jeder wollte wissen, wie es gelaufen war, ob das Baby lebte, ob es allen gut ging. Besonders Leoni interessierte sich dafür. Die junge Frau flog mit Seren auf den Bauch gebunden, während ihr besorgter Mann über sie wachte.

Es war ein lustiger Flug und außer ihnen sammelten sich noch andere, die von dem Rat gehört hatten oder daran teilnahmen. Viele derjenigen, die Lulanivilay noch nicht kannten, hielten respektvoll Abstand.

Gegen Mittag landeten sie alle auf der großen Insel. Man hatte die Grasbüschel stehen lassen, wusste, dass der Magier nicht einmal einen Bruchteil so lang brauchen würde wie sie, so war es das letzte, das getan werden musste, bevor ein paar Momente später der Hohe Rat zwischen die Lederplanen trat und sich von den anderen absonderte. Mimoun und Dhaôma waren ausnahmsweise von Anfang an dabei, die Halblinge sollten erst später dazukommen. Diesmal bot der gebrechliche Älteste Addar einen noch beeindruckenderen Anblick als sonst. Auf seiner höchsten Säule sitzend, die Babys im Arm, sah er zwar im Grund genommen nicht sehr erhaben aus, aber dass sich der große, gefährlich wirkende Drache um ihn herumrollte und die Nase direkt unter seinen Füßen platzierte, machte dann doch etwas her. Dhaôma hätte fast gelacht, als er bei einigen der beim letzten Treffen anwesenden Hanebito Ehrfurcht im Blick erkannte. Diejenigen, die Lulanivilay schon kannten, hinderte es trotzdem nicht daran, Addar dafür zu bewundern, dass er sich mit den Kleinkindern so nah an den Drachen herantraute.
 

Zwar war sein Weg einer der weitesten gewesen, dennoch hatte es sich auch Kaley nicht nehmen lassen zu kommen. Schließlich brachten die beiden Drachenreiter bei jedem ihrer Besuche wichtige Neuigkeiten und Informationen.

Gekonnt wich Mimoun dem scharfen Blick des Veteranen aus, ertrug fast stoisch das bohrende Gefühl in seinem Rücken. Er wusste genau, dass sein nächtlicher Abgang noch Konsequenzen haben würde, da er irgendwie gegen den direkten Befehl Kaleys gehandelt hatte. Und dann hatte der Drachenreiter es nicht einmal für nötig befunden, auf den Brief zu reagieren.

Momentan stand aber ein anderer Punkt ganz oben auf der Tagesordnung. Die Halblinge. Addar riss kurz den Grund für die Zusammenkunft an, bevor es an den beiden Reisenden war ihre Eindrücke von ihrer Wanderung und dem Zusammentreffen mit den Halblingen wiederzugeben. Dann erst wurden die drei vor den Planen Wartenden herein gebeten. Diese waren in der Zeit von Neugierigen umlagert worden, hatten aber Rückendeckung und so was wie Schutz durch Mitglieder aus Addars Dorf erhalten. Nun war es wieder an ihnen zu berichten. Und das taten sie.
 

Im Rat entstanden während der Zeit gemischte Gefühle. Man konnte es anhand der Gesichter oder Haltungen erkennen. Besonders Dhaômas gescheiterter Versuch, mit Soldaten zu reden, wurde zur Kenntnis genommen und danach nicht weiter beredet, aber auch so erkannte Dhaôma, wie bei einigen die Hoffnung sank. Es machte ihn fast wütend.

Xaira als extrovertierte junge Frau war es, die beinahe die gesamte Rede hielt und alle Fragen beantwortete. Juuro schwieg die ganze Zeit und beobachtete die Ratsmitglieder, diejenigen, die am meisten zu sagen hatten. Und Volta war bis in die Knochen eingeschüchtert von all den Verletzungen, die diese Anführer davongetragen hatten, ohne dass sie darunter zu leiden schienen. Besonders der Einäugige machte ihm Angst, da er Mimoun so bohrend anstarrte, als wolle er ihn am liebsten töten.

Am Ende aller Berichte wurden dutzendweise Fragen gestellt und daraus kristallisierten sich einige wichtige heraus: Wie hoch schätzten sie die Wahrscheinlichkeit ein, gegen die Halblinge in der Burg zu gewinnen und wie wollten sie es tun? Wann in etwa rechneten sie mit einem Übergriff der Armee und konnten sie sich dagegen verteidigen? Und am wichtigsten für sie alle: Würden sie es trotz der widrigen Umstände schaffen, die Magier zu beruhigen?

„Ja.“, lächelte Dhaôma den dicken Mann an, der das gefragt hatte. Ganz offen begegnete er dem Blick. Der Magier hatte sich wirklich ziemlich verändert, stellte Addar schmunzelnd fest. Bei seiner ersten Begegnung mit dem Rat hatte er sich hinter einer Maske aus Hochmut versteckt und hatte nur das winzige bisschen von sich preisgegeben, das ihn mit seiner Magie zeigte, inzwischen saß er entspannt im Kreis, wartete ab und zeigte keine Angst mehr. Nur die Art, wie er ehrlich antwortete, ohne um den Heißen Brei herumzureden, hatte sich nicht geändert. „Warum denn nicht? Wir haben doch gerade erst angefangen, sie zu überzeugen. Da kann man nicht erwarten, dass alles gleich glatt läuft.“ Eine wichtige Lektion, die er von Mimoun gelernt hatte. „Außerdem hättet Ihr sehen müssen, wie sehr sie von dem Gedanken an Frieden angetan waren. Sie haben genau die gleiche Hoffnung wie Ihr und ich.“

„Und die wäre?“, wollte der Dicke widerwillig wissen.

Dass er das fragen musste. „Dass niemand mehr sterben muss. Dass niemand mehr trauern muss, weil einer aus dem Kampf nicht zurückgekommen ist.“, kam die freundliche Antwort und dem Dicken verschlug es unwillkürlich die Sprache, als er in das lächelnde Gesicht sah. Er hatte Dhaôma nur ein einziges Mal gesehen und zwar an dem Tag, als er von ihnen gefangen genommen worden war. Da war er abgerissen und schmutzig gewesen, klein und unbedeutend. Und nun saß der gleiche Junge hier, herangewachsen zu einem Mann, im Grunde nur ein wenig größer als damals, und schien die Zuversicht in Person zu sein, die für sie alle den einzig wahren Traum lebte und ihm Gestalt gab. Wie lange war es her? Zwei Jahre? Drei?

Der mondgesichtige Mann seufzte einmal und gab sich dann geschlagen. Es beruhigte ihn, dass es jemand in die Hand genommen hatte, für alle zu kämpfen und nicht nur gegen eine Partei. Und offenbar funktionierte es ja auch. Wenn man sich die Gruppe so ansah, konnte man es fast glauben. Ein Hanebito, ein Magier, drei Halblinge, anderthalb Drachen und ein tiefes Vertrauen, dass sie es schaffen konnten. Was benötigten sie schon mehr?

„Was ist nun mit der Armee?“, stellte Kaley die für ihn relevante Frage erneut. „Werdet ihr sie umgehen? Beruhigen? Ausschalten?“

„Das wird sich zeigen.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Ich hoffe eigentlich immer noch, mit Radarr reden zu können, damit er einsichtig wird. Ansonsten wird uns etwas anderes einfallen. Auch Soldaten, die ihr Leben lang gekämpft haben, können den Wunsch verspüren, damit aufzuhören. Wir haben so jemanden kennen gelernt.“

„Das ist kein handfester Plan.“, knurrte der Mann. „Du bist immer noch zu weich.“ Es gab leises Gekicher. Natürlich hatte es sich herumgesprochen, wie begabt Dhaôma im Training gewesen war. Es war zu einer beliebten Geschichte geworden. Kaley fand sie im Grunde nicht lustig. „Was passiert, wenn ihr wegen deiner unglaublichen Naivität in eine Falle rennt, weil er dich glauben macht, dass er sich geändert hat? Wenn er euch in den Rücken fällt, wenn ihr ihm vertraut, dann ist eure Mission vorbei.“

„Dafür haben wir Tyiasur.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Er wird uns schon warnen.“

Abfällig schnaubte der Mann. „Als ob euch das etwas gegen eine Armee von ausgebildeten Soldaten helfen würde. Es braucht nur wenige, die eure Flügel angreifen, schon seid ihr hilflos in ihren Reihen gefangen.“ Das wäre es, was er machen würde, müsste er sie ausschalten.

Darüber dachte der Braunhaarige einige Zeit nach, bevor er nickte. „Wir denken daran, uns nicht zwischen sie zu wagen.“

„Du könntest sie einfach uns überlassen. Dann wären sie abgelenkt.“

Entsetzen spiegelte sich auf dem Gesicht. Er wollte kämpfen, um sie abzulenken? „Wollt Ihr unbedingt noch vor Kriegsende sterben und Eure Männer verlieren, nur damit wir vorankommen? Wir schaffen es auch ohne so ein Aufgebot an Gewalt!“

Kaley schnaubte abfällig und sein eines Auge zeigte ganz eindeutig, dass er davon nicht ausging.
 

„Sollten wir mit einer Armee dort auftauchen, ist das so ziemlich das Gegenteil von dem, was wir die ganze Zeit predigen und umzusetzen versuchen. Das muss für die Magier wie blanker Hohn wirken und würde alle Bemühungen zunichte machen.“, mischte sich erstmals Mimoun in das Gespräch. Bisher hatte er schweigend gelauscht und wie Juuro die Anwesenden und ihre Reaktionen beobachtet. Jetzt endlich wandte sich Mimoun dem erfahrenen Kämpfer zu und erwiderte seinen Blick ruhig, aber mit unbeugsamer Entschlossenheit. „Ich dulde keine gezielten Angriffe. Meidet Kämpfe, lasst ihre Versuche ins Leere laufen. Nur so könnt ihr uns effektiv unterstützen.“
 

„Du verlangst also, dass wir sie nicht angreifen, jegliche ihrer Handlungen ungesühnt lassen?“, wollte ein jüngerer Hanebito wissen, der zwei Plätze von Kaley entfernt saß. Man konnte Kaleys Unmut über die Einmischung in dieses Thema sehen. Der Jungspund war mutig. „Wie soll das gehen? Wir können kaum alle Krieger zurückhalten. Sie warten jetzt schon darauf, dass es wieder losgeht und sie die Magier abschlachten können.“

Kaley erhob sich wütend. „Schweig, Palt!“, donnerte er. „Sprich nicht von Dingen, die du nicht begreifen kannst, wenn du deine eigene Meinung für die der anderen hältst!“

Ängstlich zuckte der Jüngere zusammen und warf unsicher einen Blick in die Runde. Viele der Blicke, die auf ihm ruhten, waren missbilligend, und schüchterten ihn weiter ein.

„Mimoun, hältst du diese Taktik wirklich für die Beste?“, fragte der Veteran eisig und die Halblinge schrumpften unter diesem bohrenden Blick. „Ausharren und Abwarten? Sich versteckt halten? Wie lange glaubst du, geht das gut, wenn sie es begreifen? Sie werden übermütig werden. Sie werden aus ihren Löchern kommen und uns an Stellen angreifen, die sie sonst meiden. Im schlimmsten Fall erreichen sie die Ebenen, auf denen wir jagen müssen.“
 

Seufzend schüttelte Mimoun den Kopf. „Ich weiß, dass es noch immer zu Kämpfen kommen wird, solange wir unsere Aufgabe noch nicht erfüllt haben. Wie ich gerade sagte: Lasst ihre Versuche ins Leere laufen. Wenn sie angreifen, bleibt oben auf den Inseln. Achtet auf Eis- und Wettermagie, die vielleicht von oben kommen könnte. Aber solange ihr oben ausharrt, können sie euch nicht erreichen, können euch nicht schaden.“ Er wandte sich wieder Kaley zu. „Natürlich müssen wir jagen. Das ist noch immer eine Angriffsfläche von uns. Nun mehr denn je, da wir wissen, welche Gefahren da noch auf uns lauern. Vergrößert die Jagdgesellschaften. Mehrere Dörfer sollten sich koordinieren und in großen Gruppen ausschwärmen. Es müssen mehr Späher die Umgebung im Auge behalten. Ich weiß, dass es nicht einfach ist und nicht einfach sein wird. Aber jemand muss den Anfang machen. Wenn wir immer nur Vergeltung üben, wird von keinem der beiden Völker zum Schluss jemand übrig sein.“
 

Am liebsten hätte Dhaôma seinen schwarzhaarigen Freund umarmt und geküsst. Diese Worte waren so klug und so logisch! Wenn erst einmal alle das begriffen hatten, dann würde es keine Kämpf mehr geben. „Vielleicht können die Soldaten auch beim Jagen helfen. Damit würden sie ihren Dörfern etwas Gutes tun und könnten sie gleichzeitig beschützen, falls sie in die Verlegenheit geraten sollten, angegriffen zu werden.“, schlug er vor.

Unterdessen nickte Kaley. Eigentlich hatte er Mimoun gar nicht herausfordern wollen. Er hatte ihn testen wollen, ob er verstand, was sie im Begriff waren zu tun. Aber offenbar hatten die beiden das ziemlich gut durchschaut. Einer musste nachgeben und sie erhofften sich vom Hohen Rat, dass sie einsichtig waren, dass sie den ersten Schritt machten und sich zurückhielten. Im Grunde hatte er nichts dagegen. Sollten sie mal machen. Ihm wäre es wahrlich lieber, er müsste keine Kinder in den Kampf schicken. Wenn das hieß, dass er sich im Hintergrund halten sollte, würde er das machen. Außerdem stimmte es. Wenn er seine Soldaten ein wenig aufteilte und sie den Jagddelegationen zur Seite stellte, wären sie besser geschützt.

„Und euer Plan für die nächste Zeit?“, fragte ein kleiner, untersetzter Mann mit schwarzen, runden Augen. Dhaôma meinte sich daran zu erinnern, dass er auch beim letzten Mal schon dabei gewesen war, aber im Grunde waren ihm die Mitglieder nie wirklich vorgestellt worden. „Was habt ihr vor, wenn dieser Tag endet?“
 

„Ist doch klar.“, grinste Mimoun gut gelaunt. „Frieden bringen.“ Dem jungen Drachenreiter war klar, dass das nicht als Antwort genügen würde. Ernster fuhr er fort: „Bei den Magiern haben wir noch viel zu tun. In mehreren Städten und Dörfern konnten wir schon mit den Menschen reden und Unterstützung, sogar so etwas Ähnliches wie Freundschaft finden. Aber uns steht noch ein langer Weg bevor. Wir müssen die Soldaten mit unseren Worten erreichen. Das ist schwierig, solange wir nur mit einfachen Menschen reden. Hier ist das anders. Ihr seid die obersten Anführer. In eurer Hand liegt es, ob unsere Bemühungen gelingen. Nur eure Taten werden entscheiden, ob es jemals Frieden geben wird oder ob dieses Land unwiderruflich mit Blut überzogen wird. Es liegt an euch, ob die Krieger in den Kampf ziehen oder nicht. Ihr seid unsere Rückendeckung.“

Langsam hatte sich Mimoun im Kreis gedreht, während er in die Mitte gegangen war, jedes Ratsmitglied eindringlich angesehen, so dass jeder von ihnen sich angesprochen fühlen musste. Beim letzten Satz hatte er sich wie zufällig und doch absichtlich Addar und seinem Nachfolger zugewandt.
 

Asam grinste schlecht verhalten, Addar nickte ihm bestätigend zu, dann brach Stimmengewirr

aus. Sie begannen zu diskutieren, was Addar mit einer Bewegung unterbrach. Schweigend richteten sich aller Augen auf ihn.

Es war Dhaôma, der übernahm, indem er sich zu Mimoun stellte. Seine Haltung war wieder so wie damals, vorbildlich gerade. „Im Grunde müssen wir es schaffen, die Menschen zum Denken zu bewegen. Alte Bräuche und Vorurteile müssen überdacht und revidiert werden. Das benötigt Zeit, zumal es bei den Magiern kein so schnelles System der Nachrichtenübermittlung gibt wie hier. Keiner dort kann fliegen. Propaganda braucht viel mehr Zeit. Dazu ist es nicht so einfach, klassenübergreifend eine einheitliche Meinung zu provozieren. Ihr habt eine viel bessere Möglichkeit, euch untereinander zu verständigen. Solange wir nur Zeit haben, werden wir es schaffen. Wenn wir mehr wären, ginge es schneller, aber da wir eben nur eine Gruppe sind, brauchen wir Geduld.“ Auch wenn er darüber sprach, Lulanivilays Blick sagte ihm, dass er selbst keine Geduld hatte. Er drängte vorwärts und wusste das auch. Um dem Gefühl zu entkommen, keine andere Wahl mehr zu haben.

Wieder sprachen alle durcheinander, einige waren empört, was den jungen Mann zum Lachen brachte. Er hatte sie provoziert, zwinkerte nun Mimoun zu, den er auch einst zum Denken gebracht hatte. Die Mühe hatte sich doch gelohnt.
 

Kurz glitt Mimouns Blick über die Versammelten. Gut. Sie waren in Diskussionen verstrickt. Sanft und mit einem amüsierten Grinsen zupfte er an Dhaômas Ohr. „Frechdachs.“

Es war schließlich wieder Addar, der das Stimmengewirr unterbrach. „Ich denke, wir haben genug von euch gehört. Wenn erst einmal keine weiteren Fragen bestehen, würde ich euch bitten, draußen zu warten.“ Suchend glitt der Blick des Ältesten über die Versammelten. Keiner sprach ein Wort. „Gut.“ Mit einer einfachen Handbewegung, die von Fiamma und dann auch Seren nachgeahmt wurde, bat Addar die Reisenden hinaus.

Mimoun trat zu Dhaôma und nahm diesem endlich Tyiasur ab. Seine Fähigkeiten reichten auch bis vor die Planen. Da konnte das kleine Schuppentier gut und gerne auch hier drin im Warmen bleiben. Gern folgte der kleine Wasserdrache dieser Einladung und schlängelte sich zu Lulanivilay, nur um mit zwei fordernden Kleinkindhänden konfrontiert zu werden.

Das Ende der Aktion sah Mimoun nicht mehr, denn er folgte seinen Freunden nach draußen, wo er zu lachen anfing. „Du bist keine große Hilfe, Volta, wenn du schon bei ihrem Anblick vor Angst unter der Grasnabe verschwinden willst. Selbst Dhaôma hatte sich bei seinem ersten Treffen hier besser geschlagen.“
 

Das Lachen hatte auch Dhaôma und Xaira ergriffen. Die Kleinen hatten die Gesten Addars kopiert, als er sie hinaus bat, danach hatte Addar die der Kinder kopiert, als sie ihnen gewunken hatten. Irgendwie ging dem alten Mann damit eine gehörige Portion seiner natürlichen Autorität verloren.

„Das wird jetzt ein wenig dauern. Sie reden immer viel.“

„Mimoun!“, brüllte da jemand von links und als sie sich umdrehten, sahen sie Aylen auf sich zulaufen. Die junge Frau steckte in einer Rüstung, die wohl extra für sie gemacht worden war, denn sie bot Platz für den Busen. „Dhaôma! Ihr seid tatsächlich wieder da. Ich wollte ja nicht glauben, dass sie den Rat wegen euch einberufen.“ Sie erreichte sie und zog sie in die Arme. „Es ist langweilig ohne euch auf der Exerzierinsel. Zumal so viele inzwischen zu anderen Stellen gerufen wurden.“

Hinter ihr tauchten Rai und Einel auf. Die beiden jungen Männer wirkten nicht sehr gut gelaunt, aber auch sie begrüßten die beiden Wanderer. „Interessanten Besuch bringt ihr uns da.“

Und dann wurden Grüße ausgetauscht und ein wenig Geschichten erzählt, bis der Rat sie wieder hereinrief. Seren und Fiamma schliefen inzwischen in Lulanivilays krallenbewehrten Händen, dicht an seinen Hals gekuschelt, Tyiasur wie eine Kette um sie herum gelegt. Die hohen Herren wirkten zufrieden und teilweise ruhiger als zu Anfang. Bei zwei oder dreien meinte Dhaôma so etwas wie Wut zu erkennen, aber das störte ihn im Moment nicht weiter. Asam war aufgestanden, um ihnen mitzuteilen, dass sie beschlossen hatten, ihren Vorschlag zu befolgen. Sie würden die Magier erstmal nicht angreifen, wenn es sich vermeiden ließ. Stattdessen würden in regelmäßigen Abständen Posten abgestellt, die die Grenze zu den Ebenen beobachten sollten, um rechtzeitig zu warnen. Letztendlich bot Asam mit einem lockeren Zwinkern an, dass man sie notfalls auch um Hilfe bitten konnte, wenn Kampfkraft benötigt wurde.
 

Dieses Ergebnis nahm Mimoun mit gemischten Gefühlen entgegen. Zum einen war er erleichtert, dass sie die volle Unterstützung des Rates hatten. Es ersparte ihnen eine Menge Ärger und Aufwand. Zum anderen bedrückte es ihn aber auch. Es hieß Abschied nehmen. Nun, da der Rat Bescheid wusste, nun wo dieser Teil der Angelegenheit schon mal geklärt war, mussten sie weiter. Besser sie vergeudeten keine weiteren Minuten.

Mimoun bedankte sich mit einer höflich-zurückhaltenden Verbeugung und hockte sich dann neben die schlafenden Kleinkinder. Sanft strichen seine Finger über die weichen Haare seines Findelkindes. Es schmerzte, sie nun lange Zeit nicht mehr sehen oder im Arm halten zu können.
 

Auch Dhaôma bedankte sich und während die hohen Herren von ihren Steinsäulen herunterkletterten und sich in Grüppchen einfanden, um noch einmal eingehend über alles zu reden, hockte er sich neben Mimoun. „Heute noch loszufliegen, wäre keine sehr gute Idee. Und Addar muss zurück zu seiner Familie.“

„Macht euch um mich mal keine Gedanken. Auch wenn es sehr komfortabel ist, auf Lulanivilay zu reiten, Asam und Janna werden mir schon helfen. Außerdem sollte ich meine eigenen Flügel auch mal wieder gebrauchen.“ Zweifelnde Blicke trafen ihn, was ihn amüsierte. Sie machten sich einfach zu viele Gedanken. „Ihr habt doch etwas vor, nicht wahr?“

„Schon. Aber wir wollen Euch auch wieder sehen, wenn unsere Aufgabe erfüllt ist.“

„Werdet ihr. Macht euch keine Sorgen, ihr beiden. Ich bin hier und warte auf eure frohe Botschaft.“

Dhaôma seufzte, dann nickte er. „Können wir die Nacht über noch hier bleiben?“ Es war schon spät und würde bald dunkel werden.
 

„Fiamma muss sowohl für die Drachen als auch für Addar da sein können. Die umliegenden Dörfer bieten meines Wissens nach keinen passenden Unterschlupf für unseren Großen.“, erwiderte Mimoun und kraulte besagtem Drachen die Nase. Sein Blick wanderte prüfend über die Lederbahnen. „Vielleicht können wir die Bahnen hier enger und als doppelte Wand aufbauen als zusätzlichen Wärmespeicher und Windschutz. Und aus den Dörfern leihen wir uns Felle und Decken.“ Schwerfällig erhob er sich und stemmte die Hände lässig in die Hüften. „Das könnte für eine Nacht reichen. Weit würden wir wirklich nicht mehr kommen.“

„Dann ist es abgemacht.“, erklärte Addar und wandte sich nach Richtung Ausgang, um alles Nötige in die Wege zu leiten. Sein Nachfahre war schneller.

„Darum kümmern wir uns.“, bestimmte Asam und eilte nach draußen. Zum einen gewährte er Leoni und Janna Eintritt, damit die sich um die Familie kümmern konnten, zum anderen organisierte er die Umstellung der Planen.

Löwenzahn

Kapitel 69

Löwenzahn
 

„Ich werde helfen.“, bot Mimoun an, blieb aber noch bei Dhaôma stehen und küsste ihn. Nun da der Rat beendet war, ließ er sich nicht mehr von Konventionen und Regeln aufhalten. „Vielleicht kannst du dir Winzling ausleihen und mitkommen. Aber ich werde meine Arme brauchen und kann dich nicht tragen.“
 

„Wenn Vilay tragen helfen würde, ginge alles viel schneller.“, suggerierte der Braunhaarige mit einem Blick auf seinen Drachenfreund. Dieser blinzelte, dann erhob er sich, die Babys an ihren Decken zwischen den Zähnen hochhebend.

„Wenn es schneller geht, gut. Himmel, beeil dich.“ Dhaôma bekam die Kleinkinder in den Arm gedrückt, während er sich schwerfällig zum Ausgang bewegte. Die Ratsmitglieder, die das gesehen hatten, standen stocksteif und schreckschweigend da, waren teilweise einen Schritt zurückgewichen, weil er in ihre Richtung kam. Der Drache ignorierte sie, überließ es Dhaôma, mit ihm Schritt zu halten und gleichzeitig die Babys irgendwie zu sortieren. Draußen stellte er sich in sein Geschirr und trieb Volta dazu an, es zu befestigen, damit er möglichst viele Decken tragen konnte. Leoni kam aus dem Lachen nicht mehr heraus, als plötzlich alle hektisch begannen, dem Drachen aus dem Weg zu springen, weil er schlecht gelaunt schien, während Asam wortreich selbst dafür sorgte, dass seine Töchter nicht fallen konnten, indem er sie Dhaôma auf den Rücken und Bauch band. Ganze viermal überprüfte er ihren Halt, bevor Lulanivilay ihn mit einer Pranke hochhob und einen Meter weiter wieder zu Boden setzte.

„Wir sind gleich wieder da. Warte.“, waren die erbarmungslosen Worte, dann startete er, sobald Dhaôma auf seinem Rücken saß und die Besucher der nächsten Insel voraus flogen. Solange es darum ging, sich selbst warm zu halten, opferte er gerne seine Zeit. Und einfach, weil es sich gerade anbot, machte er noch einen kurzen Zwischenstopp auf der Ebene, weil er im späten Licht ein paar Tiere gesehen hatte. Die wilden Pferde hatten kaum eine Chance zu entkommen, weil er sich auf sie drauflegte. Zwei weitere fielen seinen Klauen zum Opfer. Es war Tyiasurs Aufgabe, denen oben zu sagen, sie sollten das Essen holen, während er die Helfer einholte.

Als sie nach knapp einer Stunde zurückkamen, schien alles soweit fertig. Außer Addars Familie fanden noch ein paar andere an der Idee Gefallen, unter den Sternen in einem improvisierten Lager zu nächtigen. Aylen hatte sogar Kaley zum Bleiben überredet. Offizieller Hintergrund: Mimoun austesten. Inoffizieller: bei Freunden sein und quatschen.
 

Damit waren seine ganzen Hoffnungen zunichte. Insgeheim hatte Mimoun gehofft dem Veteran durch die Aktion entgehen zu können. Nun konnte er sich auf einen langen Abend einstellen. Na danke aber auch.

„Ist das wirklich notwendig?“, wollte der Drachenreiter frustriert wissen, als der alte Meister das letzte Licht des Tages nutzen wollte. „Ich hab einen riesigen Drachen als täglichen Begleiter.“

„Der lieber schläft, als dir das nötige Training zu geben.“, konterte Kaley unbarmherzig und ließ Mimoun keine Zeit mehr für Widerspruch. Er griff an. Schnell wurde klar, dass der Ältere nicht ernst machte. Es war nur ein kleiner Test. Das Ergebnis war niederschmetternd. Wenn Mimoun seine Magie und seinen Kraftvorteil nicht ausnutzte, lag er häufiger am Boden, als ihm lieb war. Seine Ausdauer war geblieben, aber der Drachenreiter hatte nachgelassen. Na super. Was nützte es ihm, redegewandter zu werden, wenn er dabei anderweitig nachließ?

Mimoun entwarf für sich im Geiste einen kleinen Trainingsplan, den er jetzt jeden Abend vor dem Schlafen durchziehen würde.

Der Abend verlief gesellig. Lange wollte keiner schlafen. Nur die Kleinen schlummerten friedlich wieder an den großen Drachen gekuschelt. Es wurde gelacht und geredet. Mimoun machte Aylen begreiflich, dass sie nun so etwas wie eine Tante war und bereitete sie schon einmal auf den scheuen Familienzuwachs vor, der sie erwarten würde, wenn sie und ihr Gefährte nach Kriegsende nach Hause zurückkehren würden.
 

Die fröhliche junge Frau steckte alle an mit ihrem Lachen. Auch die anderen aus Mimouns Dorf fanden Gefallen an den Geschichten, die Mimoun zum Besten gab.

Und währenddessen redete Dhaôma noch einmal mit Juuro, Addar und Asam. Die vier hatten sich ein wenig abseits gesetzt, weil Dhaôma darum gebeten hatte. Natürlich wusste er in etwa, was sie machen würden, wenn sie zu den Magiern gingen, aber er wollte wissen, ob sie noch Vorschläge hatten. Zumindest Addar hatte einen Rat parat. Er meinte, es wäre vielleicht sinnvoll, junge Leute auf ihre Seite zu ziehen und ein Symbol des Friedens zu entwerfen, das die Nachricht schneller verbreiten würde. Auf Dhaômas irritierte Nachfrage, ob er eine Flagge basteln sollte, schüttelte der Alte nur den Kopf.

„Du erinnerst dich an das, was du auf unserer Insel getan hast, als ihr zurückgekommen seid im letzten Herbst?“ Gespanntes Nicken. „Mach das, denn es erfreut die Herzen. Ein erfreutes Herz ist weit, ein weites Herz schöpft Hoffnung, Hoffnung bringt Bewegung in die Geister.“

Das verstand Dhaôma, dann schlug Asam vor, dass er nicht immer so förmlich sein sollte, weil das irgendwie zu magierartig wäre. Und er sollte aufhören, sich selbst zu der Familie zu zählen, die er verachtete. Wenn er unbedingt einen familienbezogenen Namen bräuchte, sollte er Drachenreiter nehmen, damit er beeindruckte. Für sich beschloss der Braunhaarige, diesen Vorschlag zu ignorieren. Er war, wer er war, das änderte sich nicht. Und er wollte mit seinem vollen Namen zeigen, dass jeder es schaffen konnte, mit jedem Hintergrund einen neuen Weg zu wählen.

Irgendwann wurde es ruhiger. Einer der ersten, die schliefen, war Dhaôma, der seinen Kopf einfach auf Mimouns Schoß gebettet hatte. Später trug ihn Mimoun zu dem Drachen.

Und am nächsten Morgen brachen sie unter viel Winken und noch mehr Abschiedsgrüßen auf. Sie alle hatten die Pause genossen und neuen Mut geschöpft. Irgendwie schien es so, als hätten sie nun genug Kraft, auch die Magier zu überzeugen, nachdem es bei den Hanebito so gut gelaufen war.
 

Lange Zeit, selbst als die Insel schon lange nicht mehr zu sehen war, sah Mimoun noch immer regelmäßig zurück. So schwer war ihm bisher noch kein Abschied gefallen. Warum? Weil er sie nicht wieder sehen würde, bis sie Erfolg gehabt hatten? Der einzige Trost war das Versprechen des Rates.

Der Weg führte die kleine Gruppe nun dem Weg der Sonne folgend. Zwei Wochen benötigten sie, bevor die Wanderer die Wälder und damit das Magierterritorium erreichten. Sie verloren ein wenig Zeit in einigen Dörfern der Geflügelten. Wo sie schon einmal da waren, konnten sie auch die Beschlüsse des hohen Rates weiterreichen. Es sorgte für Erleichterungen. So würden weniger Tote zu beklagen sein. Vielleicht wurden sogar die Söhne und Enkel in die Heimatdörfer entsandt, um zu unterstützen und zu schützen.

Es war kurz vor Mittag, als die Waldgrenze in Sicht kam. Und die Sonne war nur wenig weiter gewandert, als die Gruppe das Ende der Ebenen erreichte. Die Erschöpfung hielt sich in Grenzen und eigentlich war eine Pause noch lange nicht notwendig. Mimoun ließ es sich trotz allem nicht nehmen zu landen und im Schatten der ersten Bäume stehend zu den kahlen Wipfeln empor zu sehen.
 

Es war ein seltsames Gefühl, das Dhaôma hatte. Sie hatten die Wälder schon zuvor überflogen, aber irgendwas war jetzt anders. Es fühlte sich viel vertrauter an, machte ihn irgendwie froh und vermittelte ein angenehmes Gefühl. Lange dauerte es, bis er begriff, dass es der Geruch war. Es roch nach feuchter Erde und tauendem Eis. Es roch nach Frühling.

Wie lange hatte er darauf gewartet? Wie hatte er es jetzt übersehen können? Und warum hatte er das nicht kommen sehen? Natürlich waren die Wälder schon weiter als die Inseln, er hätte es doch erwarten müssen! Schließlich wartete er schon seit Monaten darauf.

„Tyiasur.“ Tief atmete er ein und fühlte seiner Magie nach, als der Drache den Bann löste. Überall konnte er die Antworten der erwachenden Pflanzen spüren, fühlte es in den Fingerspitzen, wie es kribbelte und sich wand.

„Was ist denn mit ihm?“, fragte Volta irritiert, der die gespannte Haltung misstrauisch beobachtete. Die bebenden Schultern wirkten schon ein wenig alarmierend.

„Nichts.“ Lulanivilay streckte sich. „Er bekommt Frühlingsgefühle.“

„Frühlingsge…“ Sprachlos starrte Volta ihn an, was den Drachen nicht davon abhielt, sich zusammenzurollen.

„Ich würde da weggehen.“, sprach Lulanivilay ihn ihren Köpfen weiter, da wurde die Umgebung auch schon von bläulichem Licht erhellt.

„Mimoun! Schneeglöckchen!“, rief Dhaôma begeistert, als diese überall aus dem Boden schossen. Sie waren bei weitem nicht das einzige. Die Bäume und der Boden, alles in Dhaômas unmittelbarer Umgebung folgte dem Ruf der Magie, die durch Lulanivilay hemmungslos verstärkt wurde, weil der Drache seinem Freund die Freude nicht nehmen wollte.
 

Die Freude des Magiers und die sich immer weiter ausbreitende Blütenpracht vertrieben die aufkommende Düsternis aus seinem Herzen. Gab es etwas Schöneres als Dhaôma inmitten seiner geliebten Pflanzen?

Vorsichtig, um nicht zu viele der Pflanzen zu beschädigen, schritt er zu seinem Freund hinüber. Sanft strichen die Finger einige Strähnen aus der Stirn und fuhren an seiner Wange entlang, begleitet von einem verträumten Lächeln auf dem Gesicht des Geflügelten. Die Finger wanderten weiter den Rücken hinab und zogen den Magier an sich.

„Du bist einfach wundervoll.“, flüsterte Mimoun und küsste seinen Geliebten zärtlich. „Was würde ich nur ohne dich tun.“
 

„Ohwo.“ Xaira ging in Deckung. Sie hatte Dhaômas Beutel mit den Samen und irgendwie spürte sie, dass sich darin etwas bewegte. „Ein Kuss und alles wird noch übertriebener.“ Auch die später blühenden Pflanzen begannen sich aus der Erde zu schieben. „Ob alle Magie so sehr von Gefühlen beeinflusst wird wie bei Dhaôma?“

Ratlos zuckte Volta mit den Schultern. Er kannte ja nur den einen Magier so genau. „Wenn es so ist, dann will ich nicht erleben, dass er wütend wird.“

„Was soll er denn machen?“

„Das, was passiert ist, als er Keithlyn verändert hat? Alle waren ohnmächtig, erinnerst du dich?“

Wie könnte sie nicht. Dennoch glaubte sie nicht, dass das passieren würde. Eine so grausige Macht passte nicht zu diesem Menschen.

Die beiden Turteltauben beendeten ihren Kuss und sie beschlossen, auf der Lichtung zu bleiben, nachdem Dhaôma seine Magie wieder versiegeln ließ. Noch mehr durfte er nicht wecken, weil sonst die Bienen später Probleme bei der Nahrungsbeschaffung hatten. Es reichte aber auch. Im Umkreis von einem Kilometer blühten die Frühjahrsblüher, als wäre es bereits seit ein paar Wochen Frühling. Und seine Kraft war bei weitem noch nicht erschöpft. Natürlich war es anstrengender diese Magie zu wirken, ohne den Boden direkt zu berühren, aber es war möglich. Das war es, was er hatte probieren wollen. Addars Vorschlag hatte den Haken gehabt, dass er offensichtlich Magie einsetzen musste, wenn er es tun wollte. Diese Art war viel beeindruckender und Dhaôma hatte sehen wollen, wie gut es funktionierte.
 

Den freien Nachmittag, den sich die Wanderer geschaffen hatten, wurde für eine Aufstockung ihrer Nahrungsmittel genutzt. Warum auch immer Mimoun gerade so sentimental wurde, er wollte einen Hauch Vergangenheit spüren und die Wälder zu Fuß durchstreiften. Mit einem Lächeln und einer dargebotenen Hand fragte er seinen Freund, ob dieser ihn begleiten wollte. Ein wenig Ruhe finden vom ganzen Reisen und mit hohen Menschen reden.
 

Am nächsten Morgen flogen sie schon früh los. In Dhaôma hatte sich etwas geändert. Irgendwie waren seine Gefühle anders. War er zuvor unsicher gewesen, spürte er in sich nun eine Sicherheit, die ihn nicht mehr schwanken ließ. Es fühlte sich beinahe so an, als hätte er die Kontrolle über eine Magie gelernt, die zuvor nur wild zu seiner Verfügung stand, nur dass es keine spirituelle Macht war, die ihn so fühlen ließ. Es war Zuversicht. Mit der Zustimmung des Rates hatte sich in ihm ein Knoten gelöst, der Zweifel beinhaltete. Diese Zweifel waren versunken, überlagert von Selbstvertrauen und dem Gewissen, dass alles seinen richtigen Weg finden würde.

Juuro bemerkte es, als sie die erste Stadt anflogen. Es war eine mittelgroße Siedlung mit der typischen Struktur, die Magierstädte aufwiesen; der innere Hof, der Ring und die Randgefilde. Dhaôma war sonst immer in den innersten Kern geflogen, weil dort die Einflussreichen saßen, diesmal jedoch wählte er einen anderen Ort für seine Landung. Als der Braunhaarige Lulanivilay tiefer lenkte, änderte sich die Körperhaltung, die Juuro spüren konnte, da er den jungen Mann um die Mitte umarmte, um sich halten zu können. Zuerst konnte er nicht sagen, was sich änderte, aber als er die Kursänderung bemerkte, wusste er es. Die übliche hochherrschaftliche Haltung, die Arroganz, die Dhaôma an den Tag legte, wenn er es mit Magiern zu tun bekam, zeigte sich nicht.

Für Lulanivilay bedeutete es einen enormen Kraftaufwand, sanft zu landen. Trotzdem gab es kaum eine Erschütterung, als er neben dem alten Brunnen auf einem Platz landete, der aus festgetretenem Lehm bestand. Die Magier hier sahen anders aus als die, denen sie bisher begegnet waren. Ihre Kleider waren einfacher und praktischer, die Ärmel nicht so weit, die Hemden nicht so lang wie bei Dhaôma. Auch die Reaktionen waren anders. Juuro sah Angst bei einigen, Respekt bei anderen, wieder andere zeigten eine tiefe Zuneigung in ihren Gesichtern. Und dazwischen gab es immer wieder diejenigen, die ungläubige Freude empfanden.

Neben einem kleinen, baufälligen Haus erklangen einige Töne auf einer Laika und Juuro lief es kalt den Rücken hinunter. Er kannte diese Melodie, hatte sie bereits einmal gehört. Das war vor dem Winter gewesen. Er hatte sie in seinem Kopf gehört, in seinem Herzen und es hatte ihn bewegt. Auch jetzt bewegte es ihn wieder, wenngleich auch nicht in selbem Maße. Also hatten nicht nur die Halblinge dieses Phänomen beobachtet.

Dhaôma ließ sich von Lulanivilays Rücken gleiten und trat neben diesen. Seine Augen huschten zu dem Laika-Spieler, der das Lied der Glocke wiedergab, das damals Mimoun beschrieben hatte. Breit lächelte er, dann gab er Tyiasur das Signal, dass er ihn freilassen sollte. Für einige Zeit konnte er sich selbst kontrollieren und sie mussten rechtzeitig gewarnt werden, falls sie nicht in Sicherheit waren.

„Friede sei mit euch zwischen Himmel und Wasser. Wir sind gekommen, um Unterstützung zu suchen!“, rief er den sich sammelnden Leuten entgegen.

„Die Drachenreiter.“, wisperte eine junge Frau und schlug ihre Hände vor den Mund. Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Sie sind auch zu uns gekommen.“

Ihre Worte lösten einen Sturm von Willkommensrufen aus. Hier war es vollkommen anders als in den oberen Städten. Die Menschen ließen sich nicht von irgendwelchen Regeln einengen. Sie ließen ihren Gefühlen freien Lauf. Sie kannten keine Rangordnung, die es niederen Magiern verbat zu sprechen, wenn höhere dabei waren. Und das Auftauchen der Drachenreiter bewahrheitete eine stille, geheime Hoffnung, die sie seit einem halben Jahr hegten.

Dhaôma trat neben Mimoun und lächelte ihn an. „Wahnsinn.“, hauchte er, dann lachte er. „Wir hätten viel früher hierher kommen sollen.“ Weich ergriff er die raue Hand, zog ihn daran vorwärts zu dem Laika-Spieler, der ihnen so ruhig entgegenblickte, dass man meinen könnte, sie wären alte Freunde.
 

Mit geschlossenen Augen und leicht schief gelegtem Kopf lauschte Mimoun den Klängen des Instrumentes. „Wirklich Wahnsinn.“, wisperte der Geflügelte. „Von nur einem Mal hören eine Melodie so gut wiedergeben zu können ist eine wahre Begabung.“

Zu dem sanften Gefühl von Vertrautheit aufgrund der Musik stellte sich auch eine gewisse Gelassenheit ein. Die Menschen um ihn herum bewirkten das. Dadurch, dass die steife Zurückhaltung hier fehlte, kam er sich eher willkommen vor.

„Kannst du auch die andere Melodie?“
 

Mit einem breiten Lächeln des dunkelhaarigen Mannes floss die Melodie zu der anderen über. Die Menschen kamen näher, vor allem die Jugendlichen schienen keine Scheu zu haben. Sie alle hörten zu, bis die Töne schließlich verklangen.

„Ihr habt es wirklich geschafft, die Drachen wieder zum Leben zu erwecken.“ Das war eine junge Frau mit strahlend blauen Augen, die direkt neben ihnen stand. „Dabei hieß es, sie seien alle gestorben.“

„Und ihr habt den Krieg beigelegt.“

„Noch nicht.“, widersprach Dhaôma. „Bisher sind es nicht viele, die so wie ich unter Hanebito leben.“

„Wie viele sind es? Warum sind sie nicht mitgekommen?“

Dhaôma musste lachen. Von einem Moment auf den anderen waren sie eingeschlossen. Lulanivilay stand außen vor und wurde respektvoll aus der Ferne bewundert, Mimoun wurde nicht einmal angefeindet. „Weil sie noch zu klein sind.“

„Zu klein? Gibt es noch jüngere Drachenreiter als euch?“

Uh? „Nein. Wir sind die einzigen Drachenreiter.“

„Aber du sagtest doch gerade, dass es noch andere Magier gibt, die mit Hanebito leben.“

„Ja. Fiamma und Kitty leben auf den Inseln und werden von den Menschen dort oben aufgezogen.“

„Sind sie deine Schwestern?“

Sie waren einem Missverständnis aufgelegen. „Ich erzähle es euch, in Ordnung? Und damit es viele Leute hören, wird Tyiasur mir helfen.“ Der kleine blaue Drache machte sich auf Mimouns Schulter groß. Untermalt von seinen Erinnerungen erzählte Dhaôma von dem Leben auf den Inseln, dem Frieden, der Welt ohne Krieg, dem Wunsch, endlich ohne Angst und Kämpfe leben zu können. Er erzählte von den Halblingen und der Hütte im Wald, von Magiern, die sich Frieden wünschten, ohne weiter zu töten, bis ihn eine ältere Frau unterbrach.

„Wie kommt es, dass du es geschafft hast, mit einem Hanebito Freundschaft zu schließen? Niemand weiß, wer sie sind, oder was sie denken.“

Dhaômas Gesicht hellte sich auf, als er kurz zu Mimoun sah und vergnügt zwinkerte. „Ist es nicht eher so, dass es bisher noch niemand versucht hat? Wir denken, Hanebito sind böse Kreaturen, die nur kämpfen, um uns das Leben schwer zu machen. Die Hanebito denken, wir sind grausame Wesen, die in Gruppen angreifen, um möglichst viele von ihnen möglichst hinterhältig zu meucheln. Jeder denkt, es sei unmöglich, den anderen zu verstehen, dabei sieht keiner, dass es nur die Vorurteile sind, die uns die Blicke verstellen. Wir sind alle zu blind, um zu erkennen, dass auch die andere Rasse nur Menschen mit den gleichen Bedürfnissen ist wie wir selbst. Familien, Liebe, Kinderlachen. Es ist auf beiden Seiten das gleiche Gefühl von Leben.“

Sprachlos sah sie ihn an, wischte sich die Nässe aus den Augen, die sich dort unwillkürlich sammelte. „Ich habe von dir gehört, Dhaôma en Finochinu en Regelin. Mein Mann war bei denen, die nach dir gesucht haben, als du nicht zurückgekehrt bist. Viele waren davon überzeugt, dass du nicht tot bist, weil sie Hinweise darauf gefunden haben, dass du dich gut selbst versorgen kannst.“ Sie lächelte. „Du hast es tatsächlich geschafft, deinen eigenen Weg zu finden.“

„Ja. Ich habe Mimoun gefunden, ihn gesund gepflegt und mir die Mühe gemacht, ihn kennen zu lernen. Er hat mir sehr viel beigebracht. Es war gar nicht so schwer, obwohl wir am Anfang viele Differenzen hatten, nicht wahr?“, fragte er seinen Freund.
 

Angesprochener zuckte nur mit den Achseln. „Wenn man den Kindern schon von klein auf beibringt, wer der Feind ist und wozu er angeblich fähig ist, und du bist sowieso mehr tot als lebendig, diesem dann hilflos ausgeliefert, sind das eigentlich keine guten Voraussetzungen für freundschaftliche Beziehungen.“ Er lächelte sanft. „Aber die Mühe hat sich gelohnt.“ Auch wenn er bei seinem Magier wahrscheinlich mehr Mühe mit der Verständigung gehabt hatte, als bei jedem anderen seiner Spezies unter den gleichen Bedingungen. „So viele Dinge, die wir erreicht haben, nur weil wir den Schritt aufeinander zu gemacht haben.“ Bezeichnend kraulte er Tyiasur am Kopf.

„So sehr ich auch hoffe, dass Frieden nicht nur ein Traum bleibt, wir hören immer nur Geschichten. Es sind nur Worte.“ Mimoun wandte sich der Sprecherin zu. Sie war noch jung und man konnte die verzweifelte Hoffnung in ihren Augen lesen, aber auch unterschwellige Furcht. „Was sagt uns, dass es nicht nur eine große Scharade von deinesgleichen ist, dass ihr ihn nicht nur ausnutzt?“

Der Geflügelte schwieg einen Moment, bevor er erneut mit den Schultern zuckte. „Ich nutze ihn aus.“, antwortete er lapidar und man konnte ihren Schrecken deutlich in ihrem Gesicht sehen. „Wenn ich genau darüber nachdenke, könnte man es fast so bezeichnen. Ich brauche ihn für meine tägliche Portion Glück und meine regelmäßige Portion Erdbeeren. Dann ist da noch der nebensächliche Effekt, dass er meinem Volk den Frieden erst ermöglicht. So gesehen ist es aber auch exakt umgedreht. Bis auf die Erdbeeren. Die kann ich nun wirklich nicht im Winter herbeischaffen.“, schränkte Mimoun belustigt schnaubend ein. Diese Kinder konnten manchmal aber auch Fragen stellen. „Wenn man den Fakt heranzieht, dass er nahezu ein halbes Jahr in meinem Dorf war, wird es schon schwierig, ein solches Schauspiel überhaupt durchzuziehen. Kinder sind immer ehrlich. Sie hätten es nicht verstanden und sich irgendwann verplappert. Aber du hast Recht. Es sind nur Worte.“ Er verschränkte die Arme und flatterte ein wenig mit den Flügeln. „Die Worte eines Geflügelten, der inmitten eines Magiedorfes steht, umringt von dessen Bewohnern. Ich wäre nicht hier, wäre ich nicht von der Richtigkeit unseres Handelns überzeugt.“
 

„Natürlich kann es noch nicht mehr als Geschichten geben.“, schüttelte Xaira den Kopf. „Wir sind doch erst am Beginn dieser Reise durch die Magierstädte.“ Sie wurde ein wenig irritiert angesehen. Dhaôma hatte zwar von den Halblingen erzählt, aber sie waren dennoch äußerst befremdlich für die Menschen. „Aber sind Dhaôma und Mimoun nicht ein erster Beweis, dass es wirklich funktionieren kann? Sie stehen vor euch und sind keine Ausgeburt einer Geschichte, sondern reine Realität.“

„Was für ein Glück für uns, dass wir Zeuge werden können von dieser Realität.“ Ein junger Mann legte der schwarzhaarigen Frau, die gesprochen hatte, den Arm um die Schultern. Er war vielleicht fünfzehn, aber schon größer als sie und sehr schlacksig. „Wir haben euch vor dem Winter schon einmal gesehen.“

„Ihr seid über unsere Stadt geflogen.“, grinste ein Kind. „Die Soldaten haben so getobt, aber viele haben auch gejubelt. Habt ihr uns gehört?“

Dhaôma nickte, dann lachte er. „Wie wäre es, wenn jetzt Xaira und Volta erzählen, was sie wissen?“ Langsam wurde es für ihn anstrengend, seine Macht zu kontrollieren, da war es ihm ganz recht, dass jemand anderes die Aufmerksamkeit auf sich zog. Fließend übernahmen die beiden Halblinge, während Dhaôma sich vertrauensvoll gegen Mimoun lehnte. Er schloss die Augen und horchte auf die Umgebung und die Pflanzen, die er zu rufen gedachte, bevor er mit Lulanivilays Hilfe seine Magie initiierte. Um die Menschen herum, zwischen den Häusern, auf den Dächern, in den kleinen Gärten und selbst am Fuß des gemauerten Brunnens spross junges Grün aus der Erde. Schlanke Pfahlwurzeln bohrten sich in die Erde, erstarkten, lockerten den Boden, gezahnte Blätter schoben sich rosettenförmig über den Boden, während Knospen sich gen Himmel reckten. Sonnengelb erblühte überall in der Stadt der Löwenzahn, gab der Stadt einen neuen Anstrich, während in den Köpfen der Menschen Xairas Geschichte sich entfaltete. Immer mehr Menschen bemerkten diese Veränderungen, bis die Neuigkeit sich Bahn brach, als Xaira zum Ende kam. Aufregung breitete sich aus und Freude über den verfrühten Frühling.

Ein Kind hatte sich zu ihnen nach vorne gewühlt und stolperte zwischen den Beinen einiger Alten hervor. „Da kommen Soldaten!“, zeigte es in die Richtung, in der sie sie gesehen hatte. „Sie sehen böse aus.“ Flehendlich sah es zu Dhaôma auf, zog an seinen Kleidern. „Braucht ihr noch lange, damit sie aufhören?“

Weich lächelnd ließ sich der Braunhaarige zu ihr hinabsinken und strich ihr liebevoll über den Kopf. „Wir geben uns große Mühe, damit es schnell vorbei ist. Aber ihr müsst auch helfen.“

„Und wie?“

„Indem ihr euch für den Frieden und gegen die Rache entscheidet. Lernt, einander zu verstehen und zu vertrauen. Lernt zu verzeihen. Auch wenn es nicht leicht ist. Damit hilfst du jedem Menschen, der dir begegnet, nicht wahr?“

Die braunen Augen der Kleinen strahlten. „Ich gebe mir große Mühe, das zu machen!“, versprach sie enthusiastisch in den Ohren hunderter von Menschen und löste ein noch größeres Echo aus als Dhaômas Worte oder die Blumen. Beinahe alle stimmten ihr zu und beteuerten ihre Hilfe.

„Dann werden wir jetzt gehen. Ich möchte keinen Kampf.“, entschied Dhaôma weich und schob das Kind von sich.

Sie machten einen Weg frei zu Lulanivilay, der inzwischen wieder stand und die Blumen fraß, die am Brunnen erblüht waren. Volta und Xaira kletterten in ihre Körbe, Juuro stieg auf den breiten Rücken. Der Braunhaarige grinste und klopfte seinem Freund auf die Flanke, seine Arme erglühten heller als vorher, als er mit dem Fuß aufstampfte und die Hälfte der gelben Blumen in seiner näheren Umgebung zu weißen, zerbrechlich wirkenden Gebilden wurden. Er schwang sich auf den Rücken seines Drachen, der mit wilden Flügelschlägen abhob und die Pusteblumen aufwirbelte, dass die Menge vor ihm in einer Wolke der zierlichen Samen stand.

„Unkraut vergeht niemals!“, rief Dhaôma lachend und winkte. „Es kommt immer wieder zurück, so wie wir!“
 

„Ein Feld voller Tyiasur.“, lachte Mimoun ausgelassen und drehte sich mit ausgestreckten Armen in dem wirbelnden Weiß um die eigene Achse. Er fing ein paar der tanzenden Samen ein und dann erst stieß auch er sich ab, schwang sich in die Lüfte. Ausgelassen folgte der Geflügelte dem großen Drachen und seiner Last.

Nur die schnelle Warnung seines eigenen Gefährten bewahrte ihn vor Schaden. Im letzten Augenblick warf er sich herum und entging so dem brennenden Geschoss. Es war dennoch so knapp, dass er die Hitze des selbigen auf seiner Haut spüren konnte.

„Ich war abgelenkt, entschuldige. Ich habe es jetzt unterbunden.“, erklärte ihm Tyiasur.

Der Blick des Drachenreiters durchstreifte die Stadt. Natürlich. Ein Kind hatte sie gewarnt. Natürlich waren die Soldaten näher, als ihnen lieb gewesen wäre. Und natürlich waren die sich entfernenden Gestalten am Himmel noch immer ein ausreichendes Ziel. Fraglich war nur, ob der Eingriff des Wasserdrachen noch nötig war. Vielleicht um größere Schäden zu verhindern, aber so wie es aussah, wollten sich die Stadtbewohner um das sichere Verschwinden ihrer Hoffnungsträger kümmern. Auch wirkten einige der Soldaten unentschlossen. Damit hielten sich die Ausschreitungen in Grenzen und die kleine Gruppe gewann schnell Abstand zu der Stadt.

„Manchmal können eure Truppen wirklich anstrengend werden.“, maulte Mimoun und brachte sich über Dhaôma, ließ Tyiasur überwechseln. „Ich hoffe nur, dem Spieler passiert nichts. Er konnte unsere Melodien so wunderschön wiedergeben.“

Der Wasserdrache verkroch sich unter den Pelz des Magiers und lugte durch den Halsausschnitt. Mit einem zufriedenen Laut, der fast an ein Schnurren erinnerte, rieb er seinen Kopf an der Wange des Freundes.
 

„Hat dir das gefallen? Ich dachte, es könnte unser Wahrzeichen für Frieden werden.“, tätschelte Dhaôma sanft den schmalen Kopf des Blauen, bevor er sich Mimoun zuwandte. „Er wird schon klarkommen.“, ließ er zuversichtlich verlauten. „Ein Musiker ist selten ungern gesehen. Selbst Mutter hatte ab und zu einen bei sich.“ Sein Blick ging zurück zu der Stadt, die selbst von hier oben noch gelblich leuchtete. Es sah toll aus.

„Diese Leute waren beeindruckend offen.“, bemerkte Xaira und lehnte sich ein wenig zur Seite, um die drei über dem Drachen besser sehen zu können. „Vielleicht sollten wir uns eher an das einfache Volk halten. Sie sind nicht so anstrengend wie die hochgeborenen Magier.“

„Beides ist wichtig.“, antwortete Dhaôma. „Aber mir wäre es lieber, nach diesem Krieg gäbe es keine hochgeborenen oder niederen mehr. Es wäre wirklich toll, wenn alle gleich wären, aber das ist vielleicht eine Aufgabe, die man lieber in Zeiten angeht, wo nicht so viele andere Probleme wichtiger sind.“

„Auf jeden Fall.“, knurrte Juuro zustimmend. „Eins nach dem anderen.“

„Mimoun!“ Dhaôma schien das Gespräch nicht zu kümmern. Wie er jetzt in den Riemen stand und zu seinem Geliebten hinaufsah, wirkte er wieder mehr wie der Träumer, als den sie ihn kennen gelernt hatten. „Du warst toll da unten!“
 

„Ich bin immer toll. Aber ich will trotzdem eine Belohnung.“, forderte dieser frech und landete halb auf Lulanivilay, halb schwebte er selbst noch in der Luft und raubte sich einen Kuss. Das hier war viel besser als Erdbeeren als Belohnung.

Ein Ruck an seinem Fuß zwang ihn schneller als ihm lieb war auf Abstand zu gehen. „Ja, ja, du warst toll, aber lass mich bitte aus dem Spiel.“, lachte Volta unsicher, der sich ein wenig zusammengekauert hatte, um nicht von den Flügeln oder einem Fuß getroffen zu werden.
 

Sie feierten diesen Erfolg wenige Meilen weiter an einem schmalen Fluss, in dem sich Tyiasur Fisch fangen konnten. Sie waren in einer Art Hochstimmung, weil es so aussah, als hätten sie endlich etwas erreichen können.

Was waren sie überrascht, als Hufgeklapper zu hören war und wenig später zwei Pferde mit Reitern durch die Büsche preschten. Wiehernd, eines davon steigend kamen sie zu einem plötzlichen Halt, als ihre Reiter an den Zügeln zerrten. Von den Drachen verängstigt scharrte das eine mit den Hufen, während die kleine Reisegruppe alarmiert und bewaffnet den Menschen entgegenstarrten, die sprachlos schienen.

„Ich hatte ja keine Ahnung, dass er so groß sein würde!“, brachte der eine Reiter atemlos hervor. Anhand der Stimme konnte man erkennen, dass sie weiblich war, denn die Kleider, in die sie sich vermummt hatten, verhüllten ihre Körper hervorragend. Außer den angstvoll geweiteten Augen konnte man nichts von ihrem Gesicht erkennen.

Der andere war da pragmatischer. Er parierte sein Pferd durch, stellte sich in die Steigbügel und rief: „Wir kommen in Frieden! Wir wollen nur reden!“ Anhand dieser Stimme konnte keiner von ihnen sagen, ob Männlein oder Weiblein. Sie war vollkommen neutral.
 

„Und das zeigt ihr, indem ihr in voller Geschwindigkeit heranprescht?“ Mimoun entspannte sich wieder und klappte die Flügel an. „Ein wenig unüberlegt, nicht wahr?“ Noch immer ein wenig misstrauisch musterte er die beiden Neuankömmlinge. Mit einem abschließenden Achselzucken und einem Lächeln deutete er einladend auf den Platz, an dem er kurz zuvor noch gesessen hatte. Selbst wenn sie böse Absichten hegen sollten, was Tyiasur mittlerweile gelesen haben müsste, so war die Reisegruppe den beiden Reitern zahlenmäßig weit überlegen. Eine solche Aktion wäre dumm und selbstmörderisch.
 

Dhaôma kicherte, als die Frau ihre Augen endlich von dem großen Drachen abwandte, während der andere Reiter vom Pferd stieg. „Friede sei mit euch zwischen Himmel und Wasser.“

„Ihr seid Dhaôma.“, bemerkte die Frau, dann sprang sie aus dem Sattel und lief zu ihnen herüber. „Ich habe schon von Eurer seltsamen Begrüßung gehört, aber ich hätte nie gedacht, dass Ihr sie wirklich sagen würdet. Was bedeutet das?“

„Mei!“ Der andere hatte geistesgegenwärtig nach den Zügeln des Pferdes gegriffen und band sie nun an den Baum. „Sei höflich.“

„Ja, ja.“ Sie lachte und zog sich dann ihren Schal vom Kopf. Hervor kam ein lockiger Rotschopf mit strahlenden Augen und rundem Gesicht. „Ich bin Mei. Gestern bin ich siebzehn geworden. Ich freue mich so, euch zu sehen!“ Sie schüttelte Dhaôma die Hand, wirbelte dann weiter zu den Halblingen und Mimoun, wo sie diese Prozedur wiederholte. Fasziniert blieb sie vor dem Hanebito stehen. „Du hast geniale Augen, weißt du das? Und Muskeln!“ Zum Beweis drückte sie auf seinem Oberarm herum.
 

Völlig überfahren starrte Mimoun die junge Frau an. Ein personifizierter Wirbelwind. Wenn er sie so beobachtete, konnte er sich gut vorstellen, was aus Fiamma und Seren später werden würde. Der Geflügelte kicherte belustigt. Während sie Dhaôma noch höflich ansprach, verkam ihre Ausdrucksweise ihm gegenüber eher zu Ebenbürtigkeit. Sie gefiel ihm jetzt schon.

„Also, wenn das deine Art der Höflichkeit ist…“, ließ er den Satz unbeendet, umfasste ihre Hüften, die unter den vielen Schichten nur zu erahnen waren, und demonstrierte ihre letzten Worte, indem er sie hochstemmte. „Du bist ziemlich leicht.“, stellte er fest. Verwunderlich war es nicht, schließlich war der Winter gerade erst vorüber.

„Mei.“, kam es wieder ermahnend von dem zweiten Reiter, der nun ebenfalls sein Gesicht zeigte. Auch jetzt ließ sich nicht bestimmen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Weiche Gesichtszüge von halblangen dunkelbraunen Haaren umrahmt. Zu weich, als dass man einen Mann dahinter vermuten würde und dennoch ein wenig zu kantig für eine Frau.

Mimoun stellte Mei wieder auf ihre eigenen Füße und machte erneut eine einladende Bewegung. Im Sitzen war es angenehmer zu reden. Nacheinander stellte er sich und die noch immer ein wenig perplexen Halblinge vor, was mit einem simplen Nicken des zweiten Reiters zur Kenntnis genommen wurde, während die Rothaarige schon wieder am Wirbeln war. Sie hatte sich Juuro als Nächsten rausgepickt, denn dieser bot ebenso ein beeindruckendes Bild mit seinen exotischen Fellen.
 

„Mein Name ist Paluard.“, stellte sich der Braunhaarige vor und Dhaôma war erleichtert, dass er jetzt wusste, dass es ein Mann war. Wenn er ihn so sah, wusste er, wie schwer es für die Kinder gewesen sein musste, als sie ihn das erste Mal gesehen hatten. Es folgte eine formvollendete Verbeugung, was Dhaôma gleich das nächste über ihn verriet. Er war ein Adliger. „Wir kommen von den Rebellen, um die Drachenkrieger einzuladen, sich unserem Kampf anzuschließen.“ Er wirkte sehr eifrig und dienstbeflissen. Wie alt er wohl war?

„So ist das. Setz dich zu uns, dann kannst du erzählen.“

Gesetzt und mit eleganten Bewegungen tat er, was Dhaôma vorgeschlagen hatte, setzte sich neben Mimoun auf den Platz, den dieser ihm gewiesen hatte. Mei bewunderte noch immer die fremden Tierfelle, die Juuro trug, der das mit stoischer Miene über sich ergehen ließ. So wie er sie einschätzte, würde sich ihr Interesse sowieso schnell wieder etwas anderem zuwenden.

„Wer sind denn nun die Rebellen?“, wollte Xaira wissen. Sie hielt den Gästen etwas zu Essen hin.

„Habt ihr noch nichts davon gehört? Wir sind der Untergrund, der junge Leute davor bewahrt, in den Krieg eingezogen zu werden, und Deserteuren hilft, sich zu verstecken.“

„Wir haben davon gehört.“, lächelte Dhaôma ruhig. „Eine gute Sache.“

„Aber mir reicht das nicht. Ich will mehr wissen.“, würgte Xaira diesen Satz ab. „Was macht ihr genau? Was meintest du mit Kampf?“

Der dunkelhaarige Mann lehnte seine Unterarme auf seine Knie, bevor er zu berichten begann. Die Initiative bewegte sich auf dünnem Eis, da man eigentlich nicht wusste, wie man gegen die Armee vorgehen sollte. Krieger waren kaum bei ihnen und die ausgebildeten Krieger der Armee waren bei weitem stärker und organisierter als sie. Sie hatten gehofft, mit Hilfe der Drachenkrieger könnten sie ihre Situation festigen.

Dhaôma runzelte die Stirn. „Das hat mich vorhin schon gewundert. Wir sind keine Drachenkrieger. Wir sind Drachenreiter. Friedensbringer.“ Ungläubig wurde er angestarrt. „Und wir haben auch nicht vor, zu kämpfen. Nicht so, wie du es dir vorstellst.“

„Was heißt das?“ Aus seiner Stimme hörte man heraus, wie eng seine Kehle war.

„Dass wir versuchen, ohne Kampf diesen Krieg zu beenden.“

„Das ist Blödsinn!“, fuhr er auf und seine Haare wippten, als er sich ruckartig aufsetzte. „Ihr könnt doch nicht erwarten, dass man so einen Krieg beenden kann! Die kriegerischen Elemente müssen ausgemerzt werden, damit die Kämpfe aufhören!“

„Möchtest du damit sagen, ich soll dich hier und jetzt töten?“, fragte Dhaôma milde. „Denn wie du dich anhörst, bist auch du ein kriegerisches Element.“ Seine Augen waren ins Feuer gerichtet, das flackernd brannte und immer wieder krachte.

„Nein, das…“

„Ihr wollt den Krieg beenden und greift automatisch nach dem einzigen Mittel, das ihr kennt.“, unterbrach der Braunhaarige den Mann. Seine Fingerspitzen strichen sachte gegeneinander. „Ihr habt euch keine Gedanken darüber gemacht, was es in denen auslöst, die eure Meinung teilen. Euer Ziel ist nobel, aber rechtfertigt es weiteres Töten? Was sollen jene denken, die sehen, dass ihr den Hass, den ihr zuvor auf die Hanebito gerichtet habt, nun auf die Soldaten richtet, auf Menschen eurer eigenen Rasse? Sie sehen, ihr kämpft. Sie mögen es gut finden, bis sie begreifen, dass es die Kämpfe nicht beendet hat, dass sie fortbestehen, dass es sogar schlimmer ist als zuvor, weil der Sinn ihnen verschlossen bleibt.“ Seine Augen fanden die des fremden Mannes, die wie schwarze Kohlen aussahen im Feuer. „Es mag länger dauern, wenn man redet. Es mag dumm wirken, dass wir beinahe unbewaffnet in feindliches Gebiet kommen, aber die Menschen sehen so, dass wir nicht mehr kämpfen wollen. Wir haben lange darüber nachgedacht. Gewalt ist keine Lösung. Und wenn viele Menschen das verstehen, werden die Kämpfe über kurz oder lang beendet.“
 

„Feuer kann man nicht mit Feuer bekämpfen.“, fuhr Mimoun fort. Seine Finger näherten sich dem Feuer, berührten es aber nicht. „Wenn man es versucht, entfacht man nur einen Flächenbrand. Das müsste doch selbst euch bewusst sein, wenn ihr euch die Jahre des Krieges gegen mein Volk anschaut. Was haben sie gebracht außer Schmerz und Verderben?“

Paluard setzte dazu an etwas zu sagen, doch er schloss den Mund wieder, ohne dass ein Ton hervorkam. Er sah nur abwechselnd zwischen Mimoun und Dhaôma hin und her. „Wir können nicht herumsitzen und nichts tun.“, beharrte er schließlich.

„Natürlich nicht.“, pflichtete der Geflügelte dem Gast bei. „Die Verantwortung für die Zukunft aller sollte nicht nur auf den Schultern von uns Sieben liegen. Jeder soll tun, was auch immer in seiner Macht steht. Aber Kampf ist eine Form, die wir verabscheuen und nicht einzusetzen gedenken.“
 

„Aus diesem Grund lehnen wir euer Angebot ab.“, schloss Dhaôma und Xaira nickte zufrieden. Mei sah jedoch enttäuscht aus. Sie hatte endlich von Juuro abgelassen, stand bebend in ihrer Mitte.

„Ablehnung?“, flüsterte sie. Ihre Stimme war wie Rauch im Wind. „Das geht nicht! Wir haben so lange auf euch gewartet. Ohne euch wird unsere Sache nicht vorangehen. Wir brauchen eure Unterstützung!“ Sie wurde mit jedem Wort lauter, bis sie beinahe schrie. Ihre Augen waren kalt auf Dhaôma gerichtet, der nur den Kopf schüttelte.

„Was ihr wollt und braucht, ist ein Wappentier, das ihr hochhalten könnt, um den Kampf zu rechtfertigen.“ Sein Lächeln brachte sie zum Brodeln. „Du hast nicht zugehört, nicht wahr?“

Als sie losstürmte, um sich auf den unverschämten Hänfling zu stürzen, war Xaira zur Stelle und hielt sie an einer Schulter unnachgiebig fest, Lulanivilays Schwanz peitschte vor ihr zu Boden und ließ Funken auffliegen, und Juuros Dolch war an ihrem Hals, bevor sie noch einen Schritt gemacht hatte. Dhaôma schüttelte den Kopf und zog seinen schwarzhaarigen Geflügelten zurück neben sich, da auch dieser aufgesprungen war, um ihn zu beschützen, und ihm damit die Sicht versperrte. „Denk nach, bevor du handelst.“, sagte er.
 

Mimoun bedachte das Mädchen mit einem missmutigen Stirnrunzeln. Sich in Anwesenheit Lulanivilays auf seinen Reiter zu stürzen, zeugte von kindlicher Impulsivität und Naivität.

„Mei.“ Nur mit ihrem Namen brachte Paluard die Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Du erreichst noch weniger, wenn du deinen Gefühlen freien Lauf lässt.“

„Selbst wenn sie nicht so kopflos handeln würde, würde das nichts an unserer Entscheidung ändern.“, wies Mimoun den Rebellen wieder auf die Kernaussage an. „Wir werden euch nicht unterstützen; nicht auf diese Art.“

„Nicht auf diese Art?“, wiederholte Paluard verwundert.

Mimoun lächelte kurz und nickte bevor er antwortete. „Wir werden weder an eurer Seite noch für euch kämpfen. Aber da uns die Soldaten folgen, können wir um Gebiete, in denen ihr euch bevorzugt aufhaltet, einen Bogen machen, um die Gefahr für euch zu mindern. Wir müssten nur einen Überblick über eure Verbreitung bekommen.“
 

Der dunkelhaarige Mann dachte kurz darüber nach, dann befahl er Mei zu sich, die nicht wieder zu ihrer überdrehten Art zurückgefunden hatte. „Wir werden das mit unseren Leuten besprechen und euch dann Bescheid geben.“ Sein Lächeln war gezwungen, aber irgendwie auch echt. „Es ist ein komisches Gefühl, von euch zurückgewiesen zu werden, obwohl wir für die gleiche Sache kämpfen.“, gestand er und schüttelte sein Haar aus der Stirn. „Wir wünschen euch gutes Gelingen.“ Damit erhob er sich. Mit Mei auf den Fersen ging er zu den Pferden.

„Ihr könntet auch über Nacht hier bleiben.“, schlug Dhaôma freundlich vor, was ein leises Lachen auslöste.

„Ich fürchte, das wäre keine gute Idee, solange sie sich nicht beruhigt hat. Ihre Magie ist nicht sehr stabil und es ist euer Glück, dass sie sich noch nicht gezeigt hat.“

Oder Tyiasurs Werk. Ihrer Reaktion zu urteilen, wusste sie einfach nicht zu sagen, warum sie sich so bedrängt fühlte und warum ihre Magie sich nicht gezeigt hatte.

„Ich wünsche euch eine gute Heimkehr.“, winkte der Braunhaarige.
 

Erst nachdem die beiden wieder zwischen den Bäumen verschwunden waren, seufzte Mimoun auf. „Irgendwie hätte ich schon gern gewusst, welche Magie sie beherrschte.“ Kurz dachte er über seine Worte und die von Paluard nach und fügte hinzu: „Oder eben auch nicht.“

„Sie kann Metall formen. Je nach Gefühlslage würde es alle angreifen, die sie hasst oder auf die sie wütend ist in dem Moment.“, erklärte Tyiasur entspannt und rollte sich auf dem Schoss seines Reiters zusammen.

Wie sollte man denn gegen so etwas ankommen? Seine Hand fuhr dankbar über die Schuppen des kleinen Drachens und sein Blick fiel dabei auf die Klingen an seinen Armschienen. Plötzlich war er um einige Nuancen blasser und seine Finger schlossen sich um die letzten Erbstücke seines Vaters. Auch sie bestanden aus Metall und wären wahrscheinlich ihrer Magie zum Opfer gefallen. Fahrig wischte er sich über die Augen. Manchmal war es besser, Dinge nicht zu wissen.

Zwei Fronten

Kapitel 70

Zwei Fronten
 

Man beschloss, am nächsten Morgen weiterzureisen, ohne auf die Rebellen zu warten. Diese würden sie schon wieder finden, zumal sie von sich ja behauptet hatten, dass sie über das ganze Land verstreut waren. Und längere Zeit an einem Ort zu bleiben, war zu gefährlich. Es könnte die Armee zu nahe an sie heranlassen. Dhaôma hinterließ nur einen Brief: ‚Überlegt, welche Möglichkeiten ihr außer kämpfen habt, vielleicht kommen wir dann auf einen gemeinsamen Nenner.’

Einen halben Tag später landeten sie in der nächsten Stadt. Diesmal rief Dhaôma die gelben Blumen, kaum dass seine Füße die Erde berührten. Zu diesem Zweck hatte er extra die Schuhe ausgezogen, weil das seine Magie effektiver in die Erde um ihn herum leitete. Sie hatten diesmal die Mittelschicht gewählt, um ihre Überzeugungsarbeit zu leisten, und waren auf Widerstand gestoßen. Diese Leute wollten nichts davon wissen, Frieden mit den Hanebito zu schließen. Als sie Hals über Kopf aus diesem Chaos flohen, waren es diesmal die Wachen, die sie verteidigten. Die Männer, die die Stadt beschützten, stellten sich mit einigen aus den Armenvierteln gegen jene, die ihre Hoffnungsträger angriffen, und verhalfen diesen damit zur Flucht. Grinsend beobachtete Dhaôma das aus der Luft, bevor sie weiterflogen. Überall keimte der Same, den sie pflanzten. Es war schön zu wissen, dass er in jedem Menschen eine Chance hatte.
 

Es zeigte aber auch, dass ihnen noch immer ein langer Weg bevorstand. Dennoch ließen sie sich nicht von solch einem Zwischenfall aufhalten. Schon die nächste Siedlung flogen sie wieder an. Eigentlich wollte die Gruppe erst eine Stadt später wieder mit Magiern reden, aber der bunte Fleck in der Mitte des kleinen Dorfes machte sie neugierig.

Es hatte sich herumgesprochen über welche Arten von Magie Dhaôma verfügte und die Bewohner wollten ihre Unterstützung den Drachenreitern gegenüber demonstrieren, indem sie Unmengen an blühenden Pflanzen zusammengetragen und arrangiert hatte. Schließlich waren Pflanzen Dhaômas erste Kraft gewesen.

Begeistert sah sich Mimoun um. Von seinem Freund war er ja einiges gewohnt, aber was diese Leute hier ohne die entsprechende Magie aufboten, verschlug ihm den Atem.
 

Volta begann zu lachen, als die Menschen auf sie zuströmten, jubelnd und den bekannten Namen rufend, weil das Dhaôma erröten ließ. Er hatte das nicht erwartet und wich zurück, bis er gegen Juuro stieß, der hinter ihm abgestiegen war.

„Keine Angst.“, brummte der in Felle gehüllte Mann und schob ihn zurück, so dass sein Anführer zu allererst von dem Chaos verschluckt wurde. Aber diesmal machten die Menschen auch vor den Halblingen oder dem Hanebito nicht halt. Nur Lulanivilay war noch immer furchterregend genug, dass man ihm nicht zu nahe kam.

Jemand bot ihnen Kuchen an, der sogar noch warm war, es gab Milch und Wein. Dhaôma sah sich genötigt, mit einigen von ihnen anzustoßen. Schon oft hatte er Wein trinken müssen, um seiner Familie keine Schande zu machen, und diese Erziehung zog nun. Und wie schon damals bemerkte er den Alkohol recht schnell, als er ihm zu Kopf stieg. Es besserte seine Laune, öffnete ihn gegenüber den Menschen. Volta begann gerade, mit einem Mädchen zu tanzen, als Dhaôma schwindelig wurde. Vielleicht wurde ihm aber auch von dem Gedrehe schwindelig.
 

Das Gebräu schmeckte ungewohnt und ein wenig seltsam. Aber die Wärme, die in dem Geflügelten aufstieg, war angenehm. Kein Grund also damit aufzuhören.

Nicht nur der Wein versetzte ihn in eine Hochstimmung. Die Magier hier zeigten keine Berührungsängste, was seine gute Laune noch weiter steigerte. Mit gelöster Zunge und redseliger als sonst unterhielt sich Mimoun mit den Menschen um sich herum.

Vielleicht war es der Instinkt des Geflügelten, vielleicht auch nur eine Erfahrung aus jahrelangem Zusammenleben, der Mimoun verriet, dass es Dhaôma schlecht ging. Schneller als es ihm gut tat, trat er einen Schritt auf seinen Freund zu und fand sich plötzlich auf dem Boden wieder. Verdutzt blinzelte der Drachenreiter in die Runde und fing aus unerfindlichen Gründen an zu Kichern. Der Rest seines Becherinhaltes ergoss sich über sein rechtes Hosenbein.

„Oh je.“, murmelte er amüsiert und mit schwerer Zunge. „Das war wohl nichts.“ Er hob den Becher, um sich nachschenken zu lassen, aber Xaira nahm ihm das Trinkgefäß mit gerunzelter Stirn ab.

„Du hattest definitiv genug.“, bestimmte sie und winkte Juuro, der dem noch immer am Boden Sitzenden hochhob und wie eine Puppe auf die Füße stellte. Die Hände ließ der Halbling noch auf den Schultern ruhen, um im Notfall nachzugreifen, doch fürs Erste stand der Geflügelte halbwegs sicher. Die Frau drückte ihm einen Becher mit klarem Wasser in die Hand. „Du kannst mir später danken.“

Mimoun verstand nicht. Aber es lag auch nicht in seinem derzeitigen Ermessen, das zu hinterfragen. Ihm fiel wieder ein, dass er nach Dhaôma hatte sehen wollen und er näherte sein Gesicht ganz dicht dem seines Freundes. „Alles gut?“
 

Dhaôma lächelte verkrampft. „Zu viel Wein.“, erklärte er, grinste im nächsten Moment. „Genau wie du.“

Hinter Mimoun seufzte Xaira auf und viele um sie herum lachten. Das Straßenfest, in das die Begrüßung ausgeartet war, verlief fröhlich und ausgelassen. Die Menschen feierten nicht nur die Ankunft der Drachenreiter, sondern gleich den Frühlingsanfang mit, der gerade hier in der Luft lag. Außer Dhaôma hatten auch andere Pflanzenmagier damit begonnen, Löwenzahn wachsen zu lassen. Die Bedeutung war für die meisten Menschen einleuchtend, nachdem Xaira einen der neugierigen aufgeklärt hatte, dass Dhaôma die Freiheitskämpfer als widerstandsfähiges Unkraut bezeichnete, das immer wieder kam, egal wie man es zu vernichten gedachte. Und weil ihnen der Gedanke gefiel, wollte jeder helfen, indem auch er Löwenzahn beim Wachsen unterstützte. Ihre Magie wurde unbemerkt von Lulanivilay um ein Vielfaches gestärkt. Die meisten schoben das dem neuen Freiheitsgefühl und der Hoffnung zu.

Ein hellblondes, zwölfjähriges Mädchen, das mit ihrer Macht bisher unzufrieden gewesen war, weil sie nichts großartiges bewirkte, schloss derweil mit Lulanivilay Freundschaft, der sie dazu überredete, die Pflanzen vor seiner Nase wachsen zu lassen, damit er nicht so weit laufen mussten, um sie zu fressen. Es war für sie äußerst erstaunlich, dass ihre Kraft so viel stärker war als sonst, deshalb machte es ihr umso mehr Spaß, dabei zuzusehen, wie ihre Werke von dem Drachenmaul zerrissen und gefressen wurden. Es bedeutete, dass wieder Platz für neue war.

Eine ganze Gruppe Musiker spielte auf, so dass der Tanz des Halblings mit inzwischen vier Mädchen und einem Kind umso wilder wurde und sich auch noch andere anschlossen. Man brachte mehr Getränke und Essen, einige machten zwei große Feuer an, damit die Kälte nicht mehr so leicht zu spüren war. Zwei junge Männer luden zum Würfeln und Wetten ein, ein paar Kinder jagten ein Ferkel durch die Menge. Und in all diesem Tohuwabohu schlossen sich die Augen Dhaômas und er fiel fest schlafend in die Arme seines überraschten, geflügelten Freundes.

Tyiasur war sofort hellwach und suchte nach einer Ursache, einer Droge, einem dunklen Gedanken, konnte jedoch nichts finden. Offenbar war der Braunhaarige wirklich nur eingeschlafen.

„Nie wieder Wein für Dhaôma.“, murrte Xaira seufzend.
 

Mit einem ebenso erstickten wie erschrockenen Aufschrei war Mimoun unter dem Gewicht Dhaômas zu Boden gegangen. Unruhig und fahrig strich der Geflügelte immer wieder eine Haarsträhne seines Freundes aus dessen Gesicht, die genauso hartnäckig wieder zurückfiel.

Juuro kniete sich neben die beiden, um den Schlafenden an einen ruhigen Ort zu bringen, doch unversehens sah er sich mit einer Klinge konfrontiert.

„Nisch.“, nuschelte Mimoun. „Nisch wechnemn. Is mena.“ Beschützend legte er Arme und Flügel um Dhaôma und begann langsam vor und zurück zu wippen. Nur mit sehr viel gutem Zureden ließ er schließlich zu, dass Dhaôma zu Lulanivilay gebracht wurde. Mimoun selber strauchelte mehr schlecht als recht hinterher, immer darauf bedacht, nicht zu viel Abstand zu haben. Der Magier wurde an die Flanke des Drachens gebettet und in eine Decke gewickelt. Der Geflügelte hockte sich wie ein Hund daneben und starrte auf die entspannten Gesichtszüge. Schließlich dämmerte er im Sitzen weg und wurde von Tyiasur mit einem sanften Stoß in die Waagerechte befördert.

Der Feier tat das Verschwinden der beiden Hauptgäste keinen Abbruch. Sie ging munter weiter, solange noch jemand stehen und fröhlich sein konnte. Xaira und Juuro waren nun die Redensführer, während Volta eher soziale Kontakte knüpfte.
 

Am nächsten Morgen erwachte Dhaôma, weil ihn jemand rief. Es war die Art Anrede, die er nicht leiden konnte. Sie verursachte ihm Kopfschmerzen. Als er sich aufsetzte, sah er einen alten Mann ein wenig entfernt stehen, der ihn zahnlos anlächelte.

„Pius von den Rebellen, Mylord.“

Seufzend erhob er sich. „Ich bin kein Mylord. Ich besitze kein Land und keine Menschen.“

„Ihr besitzt viele Menschen. Und die ganze Welt.“

Augenrollend wollte er widersprechen, was sich als großer Fehler herausstellte. Ihm wurde schwindelig. „Ich bin frei.“, sagte er und tat endlich etwas gegen seine Kopfschmerzen. Wenn er sich recht entsann, hatte er getrunken. Schwerer Fehler. Würde er nie wieder machen. „Ich bin nicht mehr an Länder oder Menschen gebunden, über die ich herrschen muss.“ Aber das würde zu nichts führen. Alte Menschen dachten anders. „Was willst du?“

„Die Antwort der Rebellen überbringen.“, nuschelte der Grauhaarige und wieder zeigte er seine löchrigen Zahnreihen. „Sie haben beschlossen, Euch zu folgen. Euch und Eurem Gefolge. Kein Kampf, nur Überzeugung. Das haben sie beschlossen. Ihre Augen zu öffnen für neue Wege und friedliche Handlungen.“

Sein Gefolge… Dhaôma unterdrückte ein genervtes Seufzen. „Das freut mich.“ Es ließ ihn sogar lächeln. Sie waren erneut einen Schritt weiter, hatten wieder einige überzeugt. „Richte ihnen meinen Dank aus.“

„Jawohl.“ Eine abgehakte Verbeugung folgte, was Dhaôma lachen ließ.

„Ich bin kein Lord. Ich bin ein Mensch. So wie alle anderen auch. Es besteht kein Grund, sich vor mir zu verbeugen oder mich hochherrschaftlich anzureden. Entspann dich.“

Stirnrunzelnd nickte der Alte. „Wie Ihr wünscht. Wohin werdet Ihr als nächstes gehen?“

„Das wissen wir noch nicht. Lulanivilay wird das entscheiden, da er uns beinahe alle zu tragen hat.“

„Guter Drache.“ Pius machte auch eine Verbeugung vor dem Drachen, dann winkte er zum Abschied und schlurfte davon. Um sie herum erwachte langsam die kleine Stadt und mit ihr die vielen Schnapsleichen auf dem Dorfplatz. Dhaôma wandte sich seiner kleinen, schlafenden Gesellschaft zu und weckte seine Freunde, indem er auch ihnen die letzten Überbleibsel des Alkohols aus den Venen löschte. Volta fehlte und auf Anfrage deutete Xaira hin, dass der junge Mann die Nacht außerhalb verbracht hatte. Offenbar hatte eines der Mädchen sehr viel Gefallen an ihm gefunden.
 

Mimoun war mehr als dankbar für die Hilfe. Das Aufwachen ging nicht so leicht wie sonst vonstatten. Es war eher begleitet von quälenden Kopfschmerzen, die aufgrund der kühlen Finger auf seiner Haut und der damit einhergehenden Wohltat sofort verschwanden. Zurück blieben ein trockener Mund und ein pelziger Geschmack auf der Zunge. Dies ließ sich halbwegs mit jeder Menge Wasser beheben.

Mimoun ließ sich von Dhaôma über Alkohol und seine Wirkung aufklären, solange sie auf den verschollenen Halbling warten mussten, denn finden ließ er sich nicht so einfach. Für sich beschloss er, das Zeug nicht mehr anzurühren. Jedenfalls nicht solange sein Magier nicht in der Nähe war, um ihn vor den schlimmsten Nebenwirkungen zu bewahren.

Sie wurden genauso begeistert verabschiedet, wie sie begrüßt worden waren, wenngleich Alkohol und Kuchen wegfielen und durch ein ausgiebiges Frühstück ersetzt wurden. Musik wurde aufgespielt und den Reisenden einige Blumen als Andenken und Glücksbringer in die Hand gedrückt, die von dem Geflügelten gleich in die langen Haare Dhaômas geflochten wurden.

Volta fiel es schwer, sich von diesem Dorf zu trennen, und selbst als sie schon lange in der Luft waren, glitt sein Blick immer wieder zurück.

„Sobald das hier vorbei ist, kannst du ja wieder zu ihr zurück.“, lächelte Mimoun. Es war eher ein Schuss ins Blaue, aber er traf, denn der junge Halbling ließ sich tiefer in den Korb sinken und grummelte unverständliches Zeug vor sich hin. Nach einem verständnisvollen Schulterklopfen ging Mimoun wieder auf Abstand.

Der Flug des großen Grünen führte sie nicht auf direktem Wege tief in Magiergebiet, sondern wand sich über Tage hinweg in Schlangenlinien über das Land, folgte Flüssen, überflog dichte und unzugängliche Wälder. Der Grundton der besuchten Städte zeigte deutlich die Bereitschaft zum Frieden auf, doch es gab noch immer Leute, die hartnäckig an der Tradition des Mordens festhalten wollten. Es war nicht immer nur der Hass auf Geflügelte, der sie so denken ließ, sondern auch die Angst vor der Zukunft und Veränderung, auch wenn diese Besserung versprechen würde. Aber Mimoun gab die Hoffnung nicht auf, dass auch sie, sollte es dann soweit sein, Gefallen an dem Gedanken des Zusammenlebens haben würden.
 

An einem Tag wurde Tyiasur außerhalb seiner Routine wach. Gerade noch hatte er an Dhaômas Brust geschlafen, eingehüllt in warme Felle und weiche Haut, als er aufschreckte. Er hörte eine Stimme. Eine Stimme, die er nicht kannte, die ihm dennoch vertraut vorkam. Allein ihr Grundton deutete ein hohes Alter an, ihre Worte versetzten ihn in Schrecken.

„Ihr müsst euch weiter Richtung Sonnenuntergang halten. Es ist von unbedingter Wichtigkeit, dass ihr dem Bruder Freiheits dort begegnet. Findet denjenigen, der eure Gesinnung teilt und bringt ihn hierher.“

Tyiasur wusste, wer ihm diese Aufträge erteilt hatte, auch wenn er sie nur ein paar Mal als wirklich kleines Würmchen gesehen hatte. Es war die Mutter der Drachen. Diejenige, die sich sonst immer aus allem heraushielt, deren Wort und Wille unter ihnen Gesetz war. Und sie wollte eine Konfrontation mit Dhaômas Bruder? Das konnte sie unmöglich ernst meinen!

„Es ist von unbedingtem Interesse für eure Sache, dass ihr Lesleys Worten Glauben schenkt. Zögere nicht, es ihnen zu sagen.“, erklang die Stimme wieder in seinem Kopf und unbehaglich gab er ihre Worte an seine Reisegefährten weiter. Lulanivilay hatte eh schon zur Landung angesetzt. Offenbar hatte auch er die Befehle vernommen und konnte sich denken, dass seine zweibeinigen Begleiter erst einmal ausgiebig darüber diskutieren würden – wie sie immer über alles diskutierten.
 

„Beeindruckend.“, war Mimouns erstes Wort, nachdem er sich die Anweisungen noch einmal durch den Kopf hatte gehen lassen. „Das waren für ihre Verhältnisse mal ziemlich genaue Anweisungen. Nach Sonnenuntergang. Radarr treffen, jemanden finden und zu ihr bringen.“, zählte er auf.

„Und wer dieser Jemand ist, wurde nicht gesagt?“, fragte Xaira sicherheitshalber noch einmal nach und erhielt nur ein Kopfschütteln von dem kleinen Wasserdrachen. „Es grenzt an Selbstmord jetzt schon zu unseren Verfolgern zu gehen. Wir sind noch nicht soweit.“ Die Frau schälte sich aus ihrem Tragekorb und ging ein paar Schritte, um wieder in Schwung zu kommen.

Mimoun musste ihr da zustimmen, aber das Wort der Mutter war Gesetz. Das hatte auch er schon auf der Insel der Drachen erleben dürfen.
 

Dhaôma hatte sich ausgiebig gestreckt, bevor er darüber nachdachte, was ihre Aufgabe war. Er hatte sowieso zu seinem Bruder gehen wollen. Weil dessen Macht einfach nicht zu unterschätzen war und sie nicht immer davonlaufen konnten. Radarrs Ambitionen waren höher als die der meisten. Wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihn und seinen Drachen zur Strecke zu bringen, dann würde er sie verfolgen, bis er das geschafft hatte. Also war es nur sinnvoll, ihn möglichst bald zur Raison zu rufen, um ihn nicht irgendwann im Rücken stehen zu haben, wenn man es absolut nicht brauchen konnte.

„Ist es nicht gut, wenn wir von uns aus zu ihm gehen? Dann zeigen wir den Soldaten, dass wir keine Angst vor ihnen haben.“, meinte Volta achselzuckend. „Und wenn eure Mutter der Meinung ist, dass es das Beste ist, dann ist es das. Sie wird euch schon nicht in den Tod schicken.“

Hinter ihnen begann Lulanivilay in der Erde nach Mäusen zu graben. Die Nase pflügte unterstützt von seinen dolchartigen Klauen durch die reichlich vorhandenen Löcher und legte die Tunnel und Höhlen frei, um dann die wegspritzenden Bewohner zu fangen und zu fressen. Dhaôma rollte mit den Augen. Er zeigte ihnen mal wieder auf beeindruckende Art, wie egal ihm das alles war.

„Ich würde auch gern dorthin. Es erleichtert mir die Rückkehr an den Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Wenn er erstmal verstanden hat, dass er nicht gegen uns kämpfen muss, dann kann ich dorthin gehen, um ein paar Dinge abzuholen.“ Ein Erdklumpen traf ihn und aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie der lange Schwanz des aufgeregten Drachen knapp an Juuros Kopf vorbeizischte. Sie sollten ein wenig Abstand gewinnen. Wortlos zog er den großen Mann von dem Drachen weg.
 

„Es ist deine Familie.“ Ein Achselzucken begleitete die Worte des Geflügelten. „Du musst für dich den richtigen Zeitpunkt finden.“ Mimoun bewegte sich langsam von dem grünen Schuppenberg weg, aber nicht aus einem Sicherheitsempfinden heraus, sondern um in Dhaômas Nähe zu bleiben. Er wusste selbst, wie anstrengend Geschwister sein konnten und auch, dass es für manche Dinge einfach keinen richtigen Zeitpunkt geben konnte.

„Lesley hat uns diese Anweisungen übermittelt?“, fragte er in die nur vom Schnauben, Schaufeln und Schmatzen Lulanivilays unterbrochene Stille. Es war eher eine rhetorische Frage und die Antwort blieb dementsprechend auch aus. „Er hat sich also wieder in der Zukunft herum getrieben. Meinst du, seine Voraussage stimmt?“, fragte er den einzigen Menschen, der den Zeitmagier ebenfalls persönlich kannte.
 

„Ich bin kein Zeitmagier.“, lautete die Antwort des Braunhaarigen. „Ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß nur, dass er vermutlich eingegriffen hat, damit seine Voraussage eine höhere Wahrscheinlichkeit hat, einzutreten.“ Seine Stirn zog sich in bekümmerte Falten. „Ich hoffe wirklich, dass er noch bei klarem Verstand ist. Wir sollten ihm wirklich bald einen menschlichen Gefährten vorbeibringen, der ihn davon abhält, in die Zukunft zu sehen, damit er sich nicht doch noch in seinen Visionen verliert.“

„Also steht es fest und wir gehen Richtung Sonnenuntergang?“, wollte Xaira pro forma wissen. Die beiden Anführer ihrer Gruppe schienen diesem Befehl gehorchen zu wollen und Lesley zu vertrauen. Wenn es nach ihr ginge, würden sie die Begegnung mit den Berufssoldaten möglichst lange hinausschieben. „Nur damit ihr es wisst: Ich bin dagegen. Und wie. Aber ich weiß auch, dass wir nicht ewig weglaufen können. Wir…“ Sie unterbrach sich. Lulanivilay hatte aufgehört zu graben und lauschte jetzt. Die Hautstacheln um seinen Kopf zitterten, seine Nüstern blähten sich, sein ganzer Körper wirkte angespannt. „Was ist jetzt?“, wollte sie unzufrieden wissen. „Sag mir jetzt nicht, sie sind schon da.“

„Hanebito.“, war des Grünen einzige Antwort, bevor er zu ihnen trabte, Dhaôma entgegen, der bei der Warnung sofort reagierte und ihm schon entgegenkam.

„Alle aufsteigen!“, wies er sie an, schwang sich auf seinen Platz zwischen Lulanivilays Flügel hinauf und hielt Juuro schon eine Hand hin. Er war der schnellste gewesen, der reagierte.

Volta hielt sich wie immer mit Fragen auf. „Was wollen Geflügelte hier? Die wollten doch erstmal abwarten?“

„Du kannst sie selbst fragen, wenn wir bei ihnen sind!“, rief Dhaôma ungeduldig. „Los jetzt, oder ich lasse dich hier.“
 

Der Einzige, der nicht auf die Hilfe des Drachens angewiesen war, hatte sich längst in die Lüfte erhoben und hielt von weit über seinen Freunden bereits Ausschau nach den Störenfrieden. Nichts anderes waren sie für ihn im Moment. Störenfriede, die vielleicht sogar ihre Mission gefährdeten. Was wollten sie nur hier?

Sie waren noch weit entfernt, so dass man die kleinen schwarzen Punkte gerade so als Angehörige des Luftvolkes erkennen konnte, aber schon jetzt war deutlich, in welcher Stärke sie sich hierher gewagt hatten.

Leichtsinn, purer Leichtsinn, fluchte Mimoun lautlos. Hier über Magiergebiet mit einer Armee aufzumarschieren, grenzte schon an Blödheit. Kurz huschte der Gedanke durch sein Gehirn, dass ihn gerade solch ein blöder Leichtsinn in die Hände von Dhaôma getrieben hatte. Damals wurde der Angriff auch nahe der Hauptstadt geführt. Aber das war Vergangenheit und bekanntlich sollte man aus Fehlern lernen. Nach über vierhundert Jahren Krieg wäre das wirklich langsam mal angebracht.

Unwirsch schüttelte der Geflügelte den Kopf, um weitere unsinnige Gedanken zu vertreiben. Sein Blick wanderte kurz nach unten, wo Lulanivilay gerade startete. Mimoun wartete nicht, bis die Freunde bei ihm angelangt waren, sondern strebte denen entgegen, die nun ein wenig die Richtung korrigierten. Zumindest der Drache war jetzt gesehen worden und die Geflügelten hielten auf ihn zu.

Mimoun flog so schnell er konnte und traf eine gute halbe Stunde später auf die Gruppe. Er korrigierte seine anfängliche Schätzung noch nach oben. Sein Wutpegel stieg noch ein wenig mehr an. Sein Blick glitt über das wahre Waffenarsenal, das sie mit sich führten. Gut, sie befanden sich in Feindesland und mussten sich ja auch verteidigen. Es sprach nur ein Punkt dagegen: Sie hätten gar nicht hier sein dürfen.

„Was tut ihr hier?“ Er gab sich nicht einmal die Mühe, höflich und ruhig zu bleiben, geschweige denn den Befehlshaber dieser kleinen Armee ausfindig zu machen. „Der Rat hatte beschlossen, abzuwarten. Ihr habt hier nichts verloren!“

Mimoun musste sich auch nicht die Mühe machen, den Redeführer dieses Aufgebotes zu suchen. Dieser löste sich ohne weitere Aufforderung aus der ersten Reihe des sich in Halbkugelform um den Drachenreiter ausbreitenden Schwarmes und hielt sich mit der Gelassenheit eines Veteranen vor dem offensichtlich wütenden jungen Mann in der Luft. „Wir haben gute Gründe hier zu sein.“ Unwillkürlich musste Mimoun schlucken, als er seinen Blick angefangen bei dem Kahlkopf über den kurzen Hals weiter hinabwandern ließ. Über die breite Brust, die kurz davor stand, den Harnisch zu sprengen. Die muskelbepackten Arme, die einen Umfang wie Mimouns Oberschenkel zu haben schienen, und sich nun lässig verschränkten, um dem Jungspund Zeit für seine Musterung zu geben. Zwar war der Befehlshaber nicht sonderlich viel größer als sein Gegenüber, wirkte aber allein durch seine Breite ungleich massiger. Jeder Zentimeter seiner Armschienen war mit Dornen anstatt einer Klinge bewehrt, ebenso die Beinschienen.

„Mimoun!“ Der helle Ruf erklang. Eine blasse Gestalt schoss auf Besagten zu und brachte ihn durch die schiere Wucht des Aufpralls ins Trudeln. „Ich hab es geschafft!“
 

Lulanivilay hielt sich ein paar Meter über Mimoun und schlug jetzt mit den Flügeln, dass die unter ihm in der Luft stehenden Geflügelten Probleme hatten, ihre Position zu halten. Ein paar taumelten tatsächlich tiefer, weil sie mit dem Windstoß nicht gerechnet hatten. Er war nicht dafür gemacht, wie ein Falke auf einer Stelle zu bleiben. Unwillig grollte er und Dhaôma ließ ihn aufsteigen, damit er Kreise ziehen konnte. Jeder von ihnen hatte das Albinomädchen gesehen und erkannt, das gerade mit Mimoun zusammen ein wenig an Höhe verlor, weil sie sich gegenseitig die Beweglichkeit nahmen. Keithlyn. Wie war sie nur hierher gekommen? Xaira, Volta und Juuro jedenfalls konnten sich kaum entscheiden, ob sie sich freuten oder wütend sein sollten.

Es war sein Drachengefährte, der ihn darauf aufmerksam machte, dass etwas nicht stimmte, und ihn von dem Geschehen unter sich ablenkte, wo jetzt auch ein paar andere bekannte Gesichter auf den Plan traten. Entgegen seiner Art richtete sich das stille Interesse seines Freundes nicht auf die Geflügelten, sondern immer wieder drehte sich sein Kopf mehr Richtung Sonnenuntergang. Unter ihnen war überall Wald. Es war… Wald. Die Warnung. Sie sollten Radarr hier begegnen!

„Tyiasur. Warne Mimoun, dann hilf mir, sie aufzuhalten!“ Angst schwappte in Dhaôma hoch. Wenn dort unten wirklich die Magierarmee auf sie wartete und hier oben die Hanebito sich sammelten, dann konnte das niemals ohne Blutvergießen enden. Es würde wieder einen Kampf geben. Krieg! Das würde er verhindern. Irgendwie!

Lulanivilay reagierte auf die winzige Berührung der Fußspitze an seinem Hals und der mächtige Drachenkörper drehte ab, beschrieb einen weiten Bogen, fort von den Geflügelten. Beinahe wäre Juuro von seinem Rücken gerutscht bei dem unerwarteten Manöver und er klammerte sich an Dhaôma.

Da, in etwa zehn Kilometer Entfernung, konnte er winzige Gestalten zwischen den noch nicht ganz belaubten Bäumen erkennen, wenn sie sich bewegten. Sie waren tatsächlich da.

Von unten kam ihnen der erste Feuerball entgegen. Die Magier fühlten sich entdeckt und griffen an. Dhaômas Training bei Lesley zog, als er beinahe ohne nachzudenken den Wind bündelte, verdichtete und den Feuerball darin erstickte.
 

Davon bekam Mimoun nichts mit. Er schob das Mädchen auf Armeslänge von sich, damit sie zumindest nicht weiter an Höhe verloren. Auch er schwankte noch zwischen Wiedersehensfreude und Zorn. Kurz gab er sich ersterem hin, zog sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. Schnell schob er Keithlyn wieder von sich und funkelte sie zornig und mit drohend erhobenem Zeigefinger an. „Was tust du hier?“, verlangte der Drachenreiter zu erfahren.

„Euch helfen.“ Der ehemalige Halbling ließ sich nicht in seiner guten Laune beirren. „Ihr habt gesagt, ich kann euch nicht begleiten, weil ich zu langsam bin. Aber das stimmt nicht. Ich hab euch schließlich eingeholt.“

Energisch schüttelte Mimoun den Kopf. „Ich habe aber auch gesagt, dass ich dich holen komme, wenn alles vorbei ist. Willst du uns mit aller Macht Kummer bereiten? Was hast du dir nur dabei gedacht? Selbst in ihrer Begleitung ist es nicht gesagt, dass du alles unbeschadet überstehst.“ Mit diesen Worten deutete er auf die Krieger um sie herum. Für Sekundenbruchteile gewahrte er die Tatsache, dass der Schwarm sich auffächerte. Dann sickerte die Erkenntnis in sein Bewusstsein, dass etwas nicht stimmte. Es dauerte noch Sekunden, bis er sich der Situation, in der sie sich befanden, wirklich bewusst wurde, denn sein Verstand weigerte sich einfach, es als Realität zu betrachten.

„Nein, nein, nein.“ Jedes Wort war lauter und voller Furcht und Verzweiflung gesprochen als das davor. Das durfte nicht wahr sein. Nicht nur, dass die Krieger sich in der Luft verteilten, sie gingen auf kurze, präzise Befehle in den Sturzflug und zum Angriff über.

„Hört auf!“ Mimouns Worte gingen im Rauschen der unzähligen Schwingen unter. „Ihr dürft sie nicht angreifen! Steigt höher, raus aus ihrer Reichweite.“

Es war sinnlos. Falls er gehört wurde, wurde er schlichtweg übergangen. Mochte die Einstellung der Geflügelten auch tatsächlich Frieden sein, so war das hier und jetzt doch eine ganz andere Situation. Sie wurden angegriffen, der Drache und der Friedensbringer wurden attackiert. Mimoun konnte ihnen ihre Reaktion nicht einmal verübeln.

Er spürte eine Berührung am Arm und fuhr herum. In Keithlyns Blick standen Unverständnis und Unsicherheit. Sie war hier in unmittelbarer Gefahr und sie schien noch nicht begriffen zu haben, was nun geschehen würde. Doch er konnte sie nicht weg bringen, wenn er dort unten sein musste, um das Schlimmste zu vermeiden.

Sanft löste er ihre Finger und fuhr herum, ließ sich fallen. Durch seine Magie war es ein Leichtes, den Kriegern zu folgen und einen von ihnen am Kragen zu packen und zurückzureißen. Röchelnd löste sich der Junge aus seiner Formation und funkelte ihn wütend an.

„Bring sie in Sicherheit!“, verlangte Mimoun in einem eisigen Tonfall, der keinen Widerspruch duldete, und deutete auf das Mädchen. Es vergingen wertvolle Sekunden, bis der Krieger sich mit einem Nicken einverstanden zeigte und auf sie zuhielt.

Der Drachenreiter schenkte Keithlyn ein aufmunterndes Lächeln und ließ sich dann wieder Richtung Erdboden fallen, um wenigstens Schadensbegrenzung zu betreiben.
 

Tyiasur hatte die Macht der Magier mithilfe von Lulanivilay unterbunden, kaum dass der erste Angriff erfolgt war. Er hatte keine Zeit gehabt, Mimoun zu warnen. Es waren so viele da unten, dass er seine ganze Kraft darauf konzentrieren musste, Magie einzusperren. Und schon waren die Hanebito um sie herum.

Dhaôma wäre fast verzweifelt. Bitte nicht! Er suchte nach Mimoun mit seinen Augen, konnte ihn auf die Schnelle jedoch nicht entdecken. Und Lulanivilay war zu eingeschränkt mit seiner vierköpfigen Last. Er probierte es mit Rufen, genau wie Xaira, Volta und Juuro, aber die Hanebito hörten nicht. Sie formierten sich drohend. Unter ihnen waren einige, die versuchten, die Befehlshaber umzustimmen, darunter Aylen und Rai, die Dhaôma auf einen kahlköpfigen Muskelprotz einschreien sah, aber ihnen wurde kein Gehör geschenkt. Schon erfolgte der Befehl zum Angriff.

Dhaômas Gedanken begannen vor Angst zu fliegen. Wenn er den Magiern weiter ihre Kraft verbat, waren sie definitiv im Nachteil. Eine solch unfaire Vernichtung aller Krieger würde unweigerlich zu einer Verhärtung der Fronten führen. Wenn er die Magie freiließ, dann waren die Hanebito geliefert. Er musste etwas tun. Irgendwas, damit sie aufhörten. Irgendetwas!

„Tyiasur, halt sie auf!“

„Wie?“

Warum war der kleine Drache nur immer so ruhig? „Sie hören mich nicht. Lass sie mich hören!“

„Alle?“

„So viele du kannst!“

Blaue Augen glommen still, er wusste, dass der Braunhaarige damit auch die Magier meinte, dann blieb Dhaôma keine Zeit mehr, um sich noch etwas zu überlegen. Der schlangenhafte Drache löste den Magiebann, um der Bitte nachzukommen. Beinahe sofort kamen Feuer, Eis, Blitze geflogen. Gegen letztere konnte er nichts tun, gegen erstere…

Lulanivilay war es so sehr gewohnt, mit Dhaômas Launen mitzuziehen, dass er ihm automatisch jede Verstärkung gab, die er konnte. Seine volle Kraft ließ die Luft um die Hanebito erstarren, unbeweglich werden wie zäher Sirup. Feuer erstickte, Eis verlor an Schwung, Blitze trafen. Eine ernüchternde Stille vor dem unausweichlichen Sturm. Und dahinein hallte Dhaômas atemlose, angsterfüllte Stimme.

„Kein Kampf! Hört mich an! Wir sind hier, um für Frieden zu kämpfen, nicht für Blutvergießen. Warum greift ihr an? Wollt ihr alles für immer zunichte machen? Wollt ihr alle unbedingt sterben? Lasst uns um Himmelswillen reden.“

Natürlich konnte keine Antwort kommen, aber zumindest hatten die Magier ihre Angriffe zum größten Teil eingestellt. Noch immer kamen vor allem Funkenregen und Feuerbälle geflogen, aber es war nur noch ein Bruchteil dessen, was an Dhaômas Magie zerplatzt war. Und seine Kraft schwand rapide. Er musste sich etwas überlegen.

„Radarr! Ich will mit dir sprechen. Von Angesicht zu Angesicht.“ Seine Gedanken fuhren Achterbahn, ließen sich nicht klar fassen, so sehr strengte ihn sein Zauber an. „Ich will endlich FRIEDEN!“ Das letzte Wort brüllte er so laut, dass die Menschen, die mit Tyiasur in Kontakt standen, der alles wort- und emotionsgetreu weiterleitete, vor Schreck taumelten. Das Wort dröhnte in ihren Ohren und ihrem Geist nach, während Dhaôma langsam den Wind wieder freigab, bevor die Hanebito erstickten. „Geflügelte, zieht euch zurück. Ich werde nicht zulassen, dass ihr Asams und Addars Worte so schändlich übergeht, die euch sagten, ihr sollt euch zurückhalten.“ Seine Magie versiegte und einige Hanebito sackten ab, fielen. Zwei wurden von aufmerksamen Gefährten aufgefangen, drei weitere verschwanden zwischen den Bäumen. Es waren diejenigen, die von den Blitzen getroffen worden waren.

Bange wartete Dhaôma ab. Würden sie gehorchen? Er fühlte sich schwach. Wo war Mimoun? Und wo Radarr? Er musste das hier irgendwie beenden, egal wie.

„Mimoun ist da drüben.“, zeigte ihm Juuro und erleichtert lächelte Dhaôma ihm entgegen, während er verzweifelt versuchte, die Schwäche nicht zu zeigen. Kurz schloss er die Augen, spürte, wie seine Kraft sich langsam erholte. Viel zu langsam.
 

Taumelnd fand er sein Gleichgewicht wieder. Das hatte Mimoun lange nicht mehr gehabt, dass er inmitten von Dhaômas Verteidigung steckte. Dennoch gab es Wichtigeres zu tun. Eine endgültige Beendigung dieses Kampfes zum Beispiel. Doch wie es anfangen? Derzeit war es ruhig um sie herum, aber wie lange würde es dauern, bis Magier und Hanebito sich erholten und lieber weiter kämpften, als den Worten der Drachenreiter zu lauschen?

Sein Blick suchte Lulanivilay und fand ihn auch auf Anhieb. Er sah Dhaôma, sicher von Juuro gehalten, und lächelte erleichtert. Sein Magier war in Sicherheit. Nun musste er nur noch dafür sorgen, dass das auch für die anderen Magier galt.

„Du musst den Angriff stoppen.“, bat er den Befehlshaber der geflügelten Streitmacht, als er bei diesem ankam.

„Die Magier haben zuerst angegriffen und sie bekommen nur die Quittung dafür!“ Schon hob sich der Arm, um erneut zum Angriff zu rufen, doch Mimoun hielt den Arm fest. Dabei war es schwer, eine Stelle zu finden, die nicht mit Dornen besetzt war.

„Dann sind wir halt die Ersten, die klug genug sind, nicht an Vergangenem festzuhalten. Man kann Feinde auch besiegen, indem man sie zu Freunden macht. Auch Frieden bedeutet den Sieg.“

„Wir müssen uns zurückziehen, bevor es ein sinnloses Gemetzel gibt.“, versuchte Aylen zu helfen, doch Mimoun sah sofort, dass dieser Mann sich nichts sagen ließ. Erst recht nicht von einer Frau.

Also wandte sich der Drachenreiter direkt an die Krieger und redete auf sie ein. Mit gemischtem Erfolg. Es gab solche wie Aylen und Rai, die von Anfang an auf seiner Seite standen und bereits die Botschaft von Frieden in die Reihen der Kämpfer getragen hatten. Und es gab jene, die noch immer an dem alten Hass festhielten. Diese waren nicht bereit, das Feld zu räumen, als sich die Magier wieder zu rühren begannen. Noch hielt Tyiasur sie gut in Schach, aber Mimoun spürte die Erschöpfung seines Drachens beinahe körperlich. Lange konnte es nicht dauern, bis die Magier wieder uneingeschränkt über ihre Fähigkeiten gebieten konnten.

„Machen wir es doch anders.“, schlug Mimoun vor, als ihm langsam die Argumente ausgingen und sich noch immer keine Einigung abzielte. Er ließ sich ein wenig nach unten gleiten und breitete die Arme aus. „Jeder, der den Magiern Schaden zufügen will, muss erst an mir vorbei.“

„Also, das dürfte kein Problem darstellen.“, befand der Muskelberg und ballte schon einmal kampflustig die Fäuste.

Eine Gestalt löste sich aus der Masse der Geflügelten, dicht gefolgt von einer zweiten. Aylen und Rai. Die beiden hielten etwa auf Mimouns Höhe und starrten nach oben, der Armee der Geflügelten entgegen. Es vergingen noch mehrere Sekunden und wieder löste sich eine Gestalt und reihte sich neben dem Drachenreiter ein, dann eine weitere und plötzlich ging es ganz schnell. Der Schwarm spaltete sich auf in solche, die bereit waren, den Krieg zu beenden und die Magier zu schonen, solche, die noch nicht für Frieden bereit waren und noch zögerten, und solche, die vielleicht nie für Frieden bereit sein würden.

Das war so ziemlich das Letzte, was Mimoun hatte bezwecken wollen. Er wollte nicht, dass sich sein Volk spaltete. „Haltet die Stellung, aber vermeidet bitte einen Kampf mit unseren eigenen Leuten.“, bat er seine Kindheitsfreunde.
 

Dhaôma beobachtete, wie sich Mimoun um die Hanebito kümmerte, und beschloss, dass er ihm vertrauen musste. Wenn sie wirklich etwas erreichen wollten, wenn sie diesen Kampf verhindern wollten, dann reichte es nicht, sich auf die Seite der Hanebito zu stellen. Er musste seinen Bruder davon überzeugen, dass dieser Kampf sinnlos war.

„Los.“, knurrte er entschlossen.

Entsetzt starrte Volta zu den Hanebito zurück. „Ist das dein Ernst?“

„Dhaôma. Das kann nicht dein Ernst sein! Ohne Mimoun in die Höhle des Löwen? Er wird wütend werden!“, versuchte Xaira ihn zur Vernunft zu bringen, aber sie sah an seiner Haltung, dass ihre Einwände nichts bringen würden. „Was, wenn sie nicht auf uns hören? Du hast so viel Magie aufgebraucht und Tyiasur sieht auch so aus, als würde er es nicht mehr lange machen.“

„Xaira, sei still.“, ließ sich Juuro vernehmen. „Lass ihn machen.“ Unter seinen Händen spürte er die Anspannung, die den braunhaarigen jungen Mann erfüllte, und er wusste, dass es ihm schwer fiel, überhaupt zu handeln. Er wollte nicht, dass Dhaôma ins Schwanken geriet, denn er war häufig nur dann stark, wenn er von einer Sache voll und ganz überzeugt war, wenn er in sich und seinen Entscheidungen ruhte.

Der Drache zog über die Bäume, nahe genug an den Magiern vorbei, dass sie den Wind seiner Flügel abbekamen. Dhaôma suchte nach seinem Bruder und fand ihn auf einer Art Lichtung, umgeben von einigen Männern, die die traditionellen Kleider seiner Berater trugen. Das Militär war, seit er denken konnte, ein Ort gewesen, an dem man sich profilieren konnte. Diese Männer da unten hatten lediglich starke Magie, aber ihre Persönlichkeiten wollte Dhaôma lieber nicht näher kennen lernen.

Lulanivilay zog eine Schleife, bevor er zur Landung ansetzte. Tyiasur war auf Dhaômas Schultern geklettert, wickelte sich dort um seinen Hals. Die Erde bebte, als der große Grüne seine Schwingen einfach einklappte und sich fallen ließ. Viele der hohen Magier fielen zu Boden. Radarr stand.

„Bruder.“ Dhaôma sah auf den Mann unter sich. Radarr hatte sich verändert. Seine Haare und Kleider waren noch immer genauso gepflegt und überkandidelt wie früher, aber sein Körper hatte sich entwickelt, war muskulöser, sein Gesicht war kälter geworden, seine Miene verdrossen, sein Ausdruck hart.

„Du wagst dich tatsächlich allein hierher.“ Er hatte sich Zeit gelassen, zu antworten, hatte den Anblick seines Bruders in sich aufgenommen, wie dieser auf dem riesenhaften Drachen thronte, einen zweiten Drachen um die Schultern, umgeben von drei krüppligen Hanebito. Egal, was er sagen wollte, Dhaôma wirkte erhaben, wie er dort saß. „Du bist mächtiger geworden, aber noch genauso dumm wie früher.“

„Ich bin nicht allein.“

„Das ist wahr. Du hast die Hanebito mitgebracht, du Verräter. Selbst, die die nicht fliegen können, bringst du hierher.“ Plötzlich war das Gesicht nicht mehr so entspannt, sondern versprühte puren Hass.

„Das ist nicht meine Schuld. Sie sind von allein gekommen. Mimoun hält sie auf. Der Kampf muss ein Ende haben.“

„Das sagtest du vorhin schon einmal. Wie hast du das gemacht, in den Köpfen anderer zu sprechen, sie damit zu betäuben? Ich muss sagen, eine nützliche Form der Magie hast du da entwickelt.“

Nützlich sagte er. Sein Bruder teilte immer noch alles in nützlich und unnütz ein. Er war es leid.

„Hast du nichts zu sagen? Du verkündetest großkotzig, du wolltest mit mir reden. Oder war das vielleicht nur ein Vorwand, um mich umzubringen? Deinen Drachen auf mich zu hetzen?“

Dhaôma seufzte. „Du hast wieder nicht zugehört. Ich will Frieden. Du bist derjenige, der dazu in der Lage ist, Frieden zu befehlen.“

„Und deswegen störst du mich? Um mir so einen Unsinn vorzuschlagen?“

„Tyiasur.“, murmelte Dhaôma leise und der kleine Drache holte sich aus den Gedanken des Freundes die Bitte, die dieser nicht laut aussprechen würde: Übersetze, was er sagt, an jene, die ihm folgen.

„Was bringt uns Frieden mit den Hanebito? Das, was ihr den Leuten aus den Städten erzählt habt? Handel? Felle? Seltene Pflanzen oder Vögel oder geflügelte Plüschtiere? Das ist lächerlich! Wozu brauchen wir so etwas, wenn wir es uns selbst holen können, sobald diese Monster ausgelöscht sind?“ Zustimmendes Gemurmel erhob sich aus dem Wald um sie herum und Radarr wirkte für kurze Zeit irritiert. „Du machst es schon wieder.“, bemerkte er dann mit einem hinterhältig wütenden Glimmen in den Augen, dann riss er die Arme hoch. „Schön, sollen es alle hören: Ich pfeife auf deinen Frieden! Diese Monster haben so viele von uns getötet. Sie verdienen nur den Tod!“ Diesmal erklangen Jubelrufe.

„Und was ist mit denen, die zuhause warten? Die so viele geliebte Menschen verloren haben, dass ihre Herzen zersplittert und zerbrochen sind?“

„Was kümmern mich die? Im Gegenteil, ist doch gut, wenn sie trauern. Vielleicht entschließen sie sich, ihnen in den Tod zu folgen. Wieder ein paar weniger.“

Mitleidig schüttelte Dhaôma den Kopf. „Ich rede nicht von den Hanebito. Ich spreche von deiner Frau. Mutter. Von all den Frauen und Kindern, die zuhause warten, die sehen, wie ihre Männer und Väter und Geschwister in einem Krieg fallen, der nicht notwendig wäre, weil längst beide Seiten Frieden wollen.“

„Niemals! Wage es nicht, mir Worte in den Mund zu legen. Niemals will ich Frieden mit diesen Monstern!“, fuhr Radarr auf. „Sie haben mir alles genommen, was wichtig war. Vater, Larton, Seiya, dich! Ich werde ihnen nie verzeihen!“

Erstaunt blinzelte Dhaôma. Zuerst hatte er nur verachtend auf seinen Bruder herabgesehen, fassungslos, wie verblendet er war, dass er nicht bemerkte, dass der Jubel irgendwann geendet hatte und selbst seine Berater um ihn herum zweifelten, dann hörte er die Worte, die ihm sagte, dass er verletzt war, dass er ihn verlassen hatte. Nie hätte er zu träumen gewagt, dass sein Bruder ihm genügend Gefühl entgegenbrachte, um ihn zu vermissen.

Vorsichtig löste er den Griff Juuros um seinen Bauch, schlug sein Bein über Lulanivilays Hals und ließ sich von dessen Klaue herab heben. Alles nur Schau, denn er konnte genauso gut ohne ihn absteigen, aber es machte immer Eindruck und Lulanivilay hatte Spaß daran, Menschen einzuschüchtern. Kaum berührten seine Füße den Boden, rief er die Blumen. Im Wald gab es keinen Löwenzahn, aber andere gelbe Blumen, die nun zu wachsen begannen, überall um die Soldaten herum. Die Stille verriet Dhaôma, dass sie es nicht bemerkten.

„Weißt du, Radarr, ich bin gegangen, weil ich nicht mochte, wie ihr Hanebito foltert. Weil ich es schrecklich fand, dass so viele Waisen und Witwen zurückblieben, dass begabte Kinder von ihren Eltern getrennt wurden, weil man sie in den Krieg einzog. Es ist also nicht ihre Schuld, dass ich ging, sondern deine.“ Dhaôma sah, dass sein Bruder auffahren wollte, aber er ließ ihm keine Zeit dafür, schnitt ihm mit einer schnellen Geste das Wort ab. „Ich habe es gehasst, wie ihr mich weggesperrt habt, weil ich nur die Pflanzenmagie in mir trug. Wie ihr gesagt habt, dass ich unfähig und ein Schande wäre, weil ich eure Erwartungen nicht erfüllen konnte. Ich habe es gehasst, dass ihr mir verboten habt, mit anderen zu sprechen oder zu spielen. Wenn ich ehrlich bin, war das Leben in diesem Haus einfach nur unerträglich. Nie hat auch nur einer von euch versucht, mich zu verstehen. Genau wie jetzt. Du bist so engstirnig, dass du nicht einmal verstehst, dass du hier mit Diplomatie so viel mehr erreichen kannst als mit Gewalt. Ich habe mich geändert. Ich lasse nicht mehr einfach nur den Dingen ihren Lauf, ich habe mich entschieden, selbst einzugreifen, um die Dinge dem Positiven zuzuwenden. Ich habe erkannt, dass meine Macht stark ist, dass sie nützlich ist, weil sie Leben bedeutet. Es gibt Menschen, die mich dafür mögen, dass ich sie habe. Es gibt Menschen, denen ich Hoffnung bringen ka…“

„Sei still, du undankbarer Wurm!“, brüllte Radarr dazwischen, aber das letzte Wort kam bei Dhaôma nicht mehr an, denn seine Berater unterbrachen wiederum ihn mit lauten Protestrufen. Sie wollten hören, was der Drachenreiter zu sagen hatte.

Der Befehlshaber war empört. Nie hatte man ihn auf so unflätige Weise unterbrochen! Nie aus so einem lächerlichen Grund, dass man lieber den Lügen eines naseweisen Kindes Glauben schenkte als ihm. Wütend jagte er eine Salve Eisnadeln zu den Unverfrorenen, doch sie trafen nicht. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung Dhaômas, der die Arme hochriss, seinen Körper ein wenig drehte. Die Eisnadeln beschrieben einen Bogen, um dann auf ihn zurückzufliegen. Wenige Zentimeter vor ihm bohrten sie sich in den Boden, blieben dort wie die Stacheln eines Igels stecken. Unfähig etwas zu sagen angesichts der für ihn unglaublichen Tatsache, dass es jemand geschafft hatte, seinen Zauber zu brechen und zu modifizieren, dass derjenige auch noch so dreist war, diese Waffe gegen ihn zu richten, drehte er sich um und starrte seinen Bruder hasserfüllt an. Dhaômas ruhige Haltung und das weiche Lächeln schürte seinen Zorn nur noch.

„Das kannst du also auch.“, stellte er eisig fest. „Deine Zeit bei den Monstern scheint wirklich etwas gebracht zu haben.“

„Ja, das kann ich jetzt auch. Hondaran und Lesley Han haben es mir netterweise beigebracht. Aber solltest du es noch einmal wagen, mich zu unterbrechen oder jemanden in meiner Gegenwart anzugreifen, werde ich nicht mehr so nett sein, den Angriff in den Boden zu lenken.“

Radarr wurde weiß vor Zorn. „Du kleiner…“

Mit einem überaus liebenswürdigen Lächeln hob Dhaôma die Hand und formte eine Blase stehender Luft um seinen Bruder. Es war eine Wohltat, die Beschimpfungen nicht hören zu müssen. Und es war befriedigend, dass seine Männer verhalten zu lachen begannen. Einer von ihnen trat vor.

„Erzählt uns mehr. Ist es wirklich wahr, was Ihr den Menschen erzählt, dass eine dritte Partei der Grund für diesen Krieg ist?“

„Blumen!“, erklang da der erstaunte Ruf aus dem Wald und eine Welle von Freude folgte. Sie hatten letztlich seine Botschaft bemerkt.

Auch der Berater Radarrs musste lächeln. „Wir haben wirklich viele Gerüchte vernommen.“, nahm er den Faden wieder auf. „Wir möchten es aus erster Hand erfahren. Was habt Ihr herausgefunden, Dhaôma en Finochinu en Regelin?“

„Wie heißt Ihr?“, stellte Dhaôma die Gegenfrage. Es freute ihn wahnsinnig, dass ein so hochgestellter Mann tatsächlich Interesse für die Wahrheit aufbrachte.

„Genahn, Herr. Genahn en Voka en Gemmon.“ Er vollführte eine ehrerbietige Verbeugung, was Dhaôma zum Lachen brachte. Neben Genahn traten Radarr beinahe die Augen aus dem Kopf. Er konnte nicht hören, was gesagt wurde, wahrscheinlich dachte er, Genahn lief zum Feind über. Dhaôma entließ ihn aus seiner Stille.

„Also hört, was Xaira zu erzählen hat, ein ehemaliges Mitglied der Herrscher aus dem Schloss der Wahren Stimme.“, rief er und half der jungen, braunhaarigen Frau aus dem Korb. Um sie herum traten immer mehr Menschen an den Rand der Lichtung, um dem Schauspiel offen beizuwohnen.

Natürlich hatte Radarr etwas dagegen einzuwenden. „Ein Hanebito aus dem Schloss der Wahren Stimme? Dazu ein krüppliger? Noch mehr Lügen! Erwartest du, dass wir das glauben?“

„Ich erwarte von dir, dass du still bist!“, zischte Dhaôma. Langsam machte ihn sein Bruder wirklich wütend. Dazu kam die Wut der sechzehn Jahre, bevor er weggelaufen war. „Du warst es, der jahrelang die Lügen verwirrter, hasssüchtiger Menschen geglaubt und ihre wahnwitzigen Befehle ausgeführt hat, also halt dich ausnahmsweise mal zurück und versuche einmal im Leben nicht nur deine beschränkte Sichtweise wahrzunehmen, sondern das große Ganze, das du bisher immer ausgeblendet hast!“

Xaira lachte leise. Wenn sie sich vorstellte, wie viel Angst Dhaôma immer vor seinem Bruder gehabt hatte, konnte man diese Situation als große Verbesserung auffassen. Sie richtete sich auf, sah einmal in die Runde, bevor sie sich an Radarr wandte. „Eines wollen wir gleich festhalten: Ich bin nur ein halber Hanebito. Meine Mutter war Magierin.“ Damit begann sie ihre Geschichte. Aus dem Ekel in den Gesichtern wurde schnell Unglaube, Fassungslosigkeit, Zorn. Einer der Berater wandte sich wütend an Radarr, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn.

„Hast du davon gewusst, du Hund?“, schrie er wütend.

Aber Radarr war selbst verwirrt. Er bekam seine Befehle vom König der Magier, der in diesem Schloss wohnte, nicht von hässlichen Halblingen. Xairas Erklärung, dass es ein Magierkind war, das schon in Kindesalter gebrochen und mit Drogen gefügig gemacht wurde, stürzte ihn in Verzweiflung. Ja, ihm war manchmal aufgefallen, dass der König seltsam abwesend oder sogar depressiv-schläfrig gewirkt hatte, wenn er Befehle empfangen hatte, beichtete er flüsternd, vergessend, dass Tyiasur noch immer alles, was gesprochen wurde, an viele Magier weiterleitete. Immer war er davon ausgegangen, dass der König krank wäre und deshalb unpässlich. Aber konnte es wirklich sein, dass er unter Drogen gestanden hatte? Das konnte er nicht glauben. Aber wie war dann zu erklären, dass der König überhaupt keine Diener in seiner Nähe duldete? Dass die Wachen niemals in den Thronsaal gehen durften? Dass der König niemals geheiratet hatte, aber immer wieder Frauen, die er für eine oder mehrere Nächte zu sich rief, verschwanden? Für die lauschenden Magier klang es beinahe so, als wolle ihr Heerführer die Geschichten der Halblingsfrau bestätigen. Sein Berater ließ ihn los und Radarr sank zu Boden, als wäre er plötzlich zu schwach, um zu stehen. Er starrte auf seine Hände, während Xaira berichtete, wie Hanebito und Magier in den Kerkern gehalten wurden, um Nachkommen zu zeugen, und dann dazu überging, zu erzählen, was sie sonst noch wusste. Irgendwann verstummte sie.

„Ich kann nicht glauben, dass das wahr ist.“, murmelte ein Soldat am Waldrand und erschrak, weil Tyiasur auch seine Stimme verstärkte. Und weil er nun eh schon mal die Aufmerksamkeit hatte, trat er vor. „Drachenreiter, könnt Ihr das bestätigen?“

„Um das herauszufinden sind wir auf dem Weg zum Schloss der Wahren Stimme, um dort den Zirkel der Geteilten Geister zu finden, vor dem uns der Zeitmagier Lesley gewarnt hat. Er ist auch Drachenreiter und noch dort, wo die Drachen leben.“

„Angenommen, es wäre so, was gedenkt Ihr dann zu tun?“, fragte ein anderer und wieder waren alle Blicke aufmerksam auf Dhaôma gerichtet.

„Ich möchte mit ihnen reden und sie fragen, ob es wirklich nötig ist, um für die Beantwortung ihrer Fragen einen Krieg am Laufen zu halten. Wenn sie davon absehen, weiter kämpfen zu lassen, ist es gut, wenn nicht, beabsichtige ich, den Kampf auf andere Weise zu beenden.“

„Und welche wäre das?“, wollte Genahn wissen. Er sah misstrauisch aus, aber nicht abgeneigt, alles zu glauben.

Vor Verlegenheit begann Dhaôma zu lachen und kratzte sich hinter einem Ohr. „Das weiß ich noch nicht. Das werde ich dann sehen. Ich will keinen Kampf, soviel ist klar.“
 

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Arg! Ich hasse diesen Querkopf.

Und warum sind nur alle immer so erpicht darauf, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen???
 

Und ja, ich weiß, dass ich das hier geschrieben habe. Zumidnest zum Teil.

Eskalation

Kapitel 71

Eskalation
 

Derweil glitt Mimoun über die Baumwipfel, noch in gebührender Höhe. Sein Blick suchte das unübersehbare Zeichen für Dhaômas Aufenthaltsort: den großen Grünen.

Die Magier schienen nichts von seiner Annäherung gemerkt zu haben. Dafür sprachen die fehlenden Angriffe und die Tatsache, dass sich anscheinend ausnahmslos alle einer Richtung zuwandten, soweit er durch die Bäume erkennen konnte. Dieser folgte er und stieß schnell auf die kleine Lichtung, auf der sich seine Freunde befanden. Zögerlich drehte er einige Runden und noch immer schienen sie mehr auf die Diskussion dort unten konzentriert, als sich um die eigentlich existente Gefahr am Himmel zu kümmern. War das ein gutes Zeichen? Sollte er sich Gewissheit verschaffen, um seinen Leuten Sicherheit zu geben, wo noch immer Zögern herrschte?

Ein Achselzucken, ein hoher Pfiff und schon hatte er die gewünschte Aufmerksamkeit. Er breitete die Arme aus und blieb auf seiner derzeitigen Position zum Zeichen seiner Friedfertigkeit.

„Verzeihung. Darf ich kurz stören oder ist es gerade sehr ungünstig?“, rief er nach unten, bevor jemand wie auch immer geartet reagieren konnte.
 

„Mimoun!“ Dhaôma winkte ausladend. Ihm kam der Gedanke, dass das Auftauchen eines Hanebito bei seinen Leuten immer einen recht unangenehmen Effekt hatte, deshalb hob er augenblicklich die Hände. „Dieser Hanebito ist auch Drachenreiter. Er wird euch nichts tun.“, versprach er und war überglücklich, als einige der Männer vor ihm sogar nickten. Ihre Unsicherheit kümmerte ihn nicht, Xairas mulmiges Gefühl bemerkte er nicht einmal, als er dem Schwarzhaarigen zurief, er solle herunterkommen, damit er alle vernünftig vorstellen konnte.

„Ein unglaublicher Anblick. Ein Hanebito, der sich ganz allein zwischen die Soldaten der Armee begibt.“, murmelte Genahn. Wie viele andere konnte er nicht den Blick von diesem abwenden. Und wie beinahe jeder hier hatte er die Hände bereit zum Angriff gehoben.

Mimoun war noch nicht ganz unten, als es plötzlich laut wurde um sie herum. Feuer tauchte die Lichtung in rötlichen Schein, ein Blitz zuckte über den Himmel. Einige der Magier ergriffen die Gelegenheit und griffen an.

Für Dhaôma blieb die Zeit stehen. Feuer konnte man überleben, einen Blitz niemals!

Die Angreifer wurden niedergerungen, bevor die Magie ihr Ziel erreichte. Männer schrieen Warnungen, Anfeuerungsrufe. Genahn machte eine Bewegung, stieß die Hand schnell von sich, schickte einen Windstoß zu dem Hanebito hinauf, der stark genug war, ihn fortzupusten. Blitz und Feuer gingen ins Leere. Dhaômas ohnehin schwache Kontrolle über seine Macht brach.
 

Ungünstiger Zeitpunkt, sehr ungünstiger Zeitpunkt, befand Mimoun, als der Wind ihn erfasste. Das war wohl mal wieder eine seiner schlechten Entscheidungen gewesen.

Für kurze Zeit sah er blauen Himmel und braunen Boden beinahe ineinander zerfließen, als er herumgewirbelt wurde, dann reagierten seine antrainierten Reflexe und verstärkten den nach oben gerichteten Wind. Bloß aus der Reichweite der Magier.

Anscheinend hatten es seine Freunde dort unten auch nicht einfacher als er mit seinen Leuten. Dabei hätte er doch so gerne Dhaôma gegen seinen Bruder beigestanden.

Der Luftstrom erstarb so schnell, wie er gekommen war, und Mimoun ließ sich wieder in die Waagerechte kippen. In langsamen Schrauben verschaffte er sich einen Überblick über die Situation. Angefangen bei seinen eigenen Leuten. Der Angriff auf den Drachenreiter war natürlich nicht unbemerkt geblieben und nun herrschte hektische Bewegung auf beiden Seiten der nur durch einen dünnen blauen Strich getrennten schwarzen Wolke.

Sein Blick glitt wieder auf die Lichtung. Auch dort schien es zu Rangeleien gekommen zu sein. Wie es schien, bildeten sich hier ebenfalls zwei Fraktionen. Fraglich war nur, welche bei den Magiern die Oberhand hatte.
 

Währenddessen leuchteten Dhaômas Zeichen auf. Wut erfasste ihn, kaum dass er verstand, dass Mimoun außer Gefahr war. Erst die Angst, die ihn vergessen ließ, dass er sich konzentrieren musste, wenn er nicht wollte, dass sie Amok lief, dann der Zorn, dass man seinen Schatz grundlos angriff. Unter ihm wölbte sich der Boden auf, als die Wurzeln der Bäume und das Gras wuchsen, sein Poncho zerfiel zu Staub, dann starben die Pflanzen auf der Lichtung. Die Luft wurde stickig, der Boden vereiste.

Radarr starrte seinen Bruder wie versteinert an. Von den Pflanzen wusste er, vom Wind und dem Eis, von der Heilung, aber Tod? Das auch noch? Wie hatte er je glauben können, dieser Junge wäre unbegabt? Um ihn herum wichen seine Berater zurück, einer stolperte über eine Wurzel, die kurz darauf zerfiel. Unter seinen Füßen verrotteten seine Schuhe. Wie eine Welle breitete sich die Zerstörung aus. Warum fühlte er sich so matt?

„Freiheit, du zerstörst das ganze Essen.“

Die fremde Stimme in den Ohren der verunsicherten Menschen in Zusammenhang mit diesen unsinnigen Worten, machte das Chaos komplett.
 

Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Mimoun spürte es selbst noch hier oben. Vergessen waren seine Leute, die erst einmal so weit beruhigt werden mussten, um einen erneuten und endgültigen Ausbruch der Kämpfe zu vermeiden. Vergessen waren die Magier, die zurückwichen, aber dennoch potenzielle Gefahr für ihn waren.

Der Geflügelte ließ sich fallen, stürzte sich mitten in das Chaos. Nur Sekundenbruchteile später berührten seine Füße den Boden und er stürzte auf seinen Magier zu. Stimmen rauschten über ihn hinweg. Die Halblinge waren zurückgewichen, strauchelten ebenfalls. Tyiasur sah nicht mehr so aus, als könnte er dem Verfall um sie herum Einhalt gebieten. Schlaff und schwer atmend hing die kleine Schlange an Dhaômas Brust herab. Mit letzter Kraft klammerte sich das Schuppentier an der porös werdenden Seide fest und zerriss sie, als er fiel. Mit einem erstickten Schrei gelang es dem Geflügelten gerade noch, seinen Gefährten aufzufangen. Der Schritt, den er dafür machen musste, wirkte unsicher. Was war das? Wirkte sich die Zersetzung von Stoff und Pflanzen nun auch schon auf Lebewesen aus? War Dhaôma schon so weit, so verzweifelt?

Sanft ließ Mimoun den Drachen auf den kalten Boden sinken und murmelte eine Entschuldigung. Er konnte sich jetzt nicht um den Wärmehaushalt seines Freundes kümmern, sonst würde er sich nie wieder um irgendetwas kümmern müssen.

Mit einem letzten mühsamen Schritt war er bei Dhaôma, schlang sanft seine Arme um ihn. „Es ist gut. Ich bin hier. Mir ist nichts passiert.“, murmelte er unablässig und weil er sich nicht anders zu helfen wusste, küsste Mimoun seinen Freund. Das hatte diesen sonst immer auf positive Gedanken gebracht. Bitte, lass es diesmal auch funktionieren.
 

Die warmen Lippen zogen Dhaômas schwindende Kontrolle beinahe sofort zurück und einzig auf diesen einen Punkt. Es kribbelte. Seine Finger kribbelten, sein Bauch, seine Lippen. Seine Knie waren weich, aber in seinem Kopf klarte es auf. Mimoun war in Ordnung und er hielt ihn auf. Das konnte nur bedeuten, dass er nicht wollte, dass er hier wütete. Mimoun wollte, dass er aufhörte. Das war okay. Dann würde er es stoppen.

Weich lehnte er sich in den Kuss, klammerte sich an Mimouns Arm, um nicht zu fallen. Er fühlte sich schwach, schläfrig, müde. Seine Arme juckten, seine Wangen auch, aber darum konnte er sich nicht kümmern. Mimoun war ja da.

Lulanivilay kam in Bewegung. Er hatte die Stimmung gespürt, die von den Magiern ausging, die dieses Schauspiel untätig wie Fische beobachteten. Der Schreck über diese unbezähmbare Macht und jetzt ein Kuss zwischen diesen beiden, das war mehr, als sie verkrafteten. Vor allem der eine, der seinem Freund so ähnlich sah, konnte sich nicht entscheiden, ob er ängstlich, beeindruckt oder wütend sein sollte. Bei dem würde er anfangen.

„Setz dich, Fangzahn, sonst fällst du hin.“

Geweitete braune Augen richteten sich auf ihn, aber noch immer war die Starre nicht gelöst. Wie lästig.

„Finde dich damit ab. Und jetzt sag deinen Freunden, dass sie die Pflanzen zurückholen sollen. Ich bin immer noch nicht satt.“

Radarrs Mund öffnete sich, aber es kam kein Ton heraus, bis Xaira plötzlich zu lachen anfing. Der große Heerführer sah aus wie ein verstörtes, kleines Kind.

„Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn wir weitere Gespräche vertagen.“, meinte sie leichthin. „Jetzt ist ein bisschen viel passiert. Sprecht über das, was gesagt wurde, tauscht eure Eindrücke aus und bedenkt, dass keiner zu Schaden gekommen ist. Zum Glück, wie ich sagen muss. Es wäre wirklich besser, wenn ihr Mimoun in Zukunft nicht mehr angreift. Das letzte Mal, als er so außer sich war, war ein halbes Dorf drei Tage lang bewusstlos. Und er ist jetzt viel stärker als damals.“ Sie lächelte dem entsetzten Radarr entgegen. „Einen schönen Tag noch. Wir werden uns jetzt mal um die Geflügelten kümmern, damit es auch bei einem schönen Tag bleibt.“

Sie wandte sich um und seufzte. Die beiden Männer küssten einander immer noch. „Schluss jetzt. Mimoun, hast du die Situation da oben unter Kontrolle bekommen oder bist du weggelaufen, um Hilfe zu holen?“ Sie klaubte den kleinen blauen Drachen aus dem Staub. „Himmel, Dhaôma, du hast wirklich kein Quäntchen Selbstbeherrschung.“
 

Widerwillig löste er sich Millimeter von seinem Geliebten, um Xaira einen wütenden Blick zuwerfen zu können. Seine Arme hielten noch immer den warmen Körper an sich gedrückt.

„Ich bin nicht weggelaufen, sondern wollte nach dem Rechten sehen. Derzeit hab ich da oben zwei Fronten.“ Ihm fiel wieder die Situation nach dem Anschlag ein. „Oh. Nach dem Angriff auf mich dürften sie gerade dabei sein, sich gegenseitig zu zerhacken.“ Seine Finger suchten und fanden die Wange Dhaômas, strichen vorsichtig daran entlang. Grüne Augen glitten besorgt über die schmale Gestalt. „Alles in Ordnung bei dir? Geht es wieder?“
 

„Ja.“ Zwei sich zerhackende Fronten? „Lass uns hinfliegen, um sie aufzuhalten. Ich…“ Er löste sich von Mimoun, um zu Lulanivilay zu gelangen, aber seine Beine gaben unter ihm nach.

Jemand fing ihn. Groß, breite Schultern, braunschwarzes Haar im Stile der Kriegerklasse getragen. Genahn lachte. „Du bist ziemlich leicht für deine Größe. Und es ist beruhigend zu wissen, dass auch ein Drachenreiter sich schwach fühlen kann, nachdem er gezaubert hat. Ich hatte da so meine Zweifel.“
 

Sollte er jetzt aus Spaß und zur Auflockerung eine Bestätigung und einen dummen Kommentar abgeben? Nein. Man könnte es missverstehen.

„Es ist nicht einfach, so etwas zuzugeben, wenn die Augen aller auf einem ruhen.“ Mimoun schaute den Mann nicht an, sondern hielt seinen Blick auf Dhaôma gerichtet. Dieser brauchte Ruhe. Dringend. Mehr als alles andere. „Ich brauche euer Wort, dass ihr keine weiteren Kampfhandlungen startet. Nur so kann ich meine Leute so weit wieder beruhigen, dass auch sie sich zurückziehen.“ Eigentlich war das hier eher rhetorisch und er gab sich mit dem kurzen Nicken zufrieden. Keiner dieser Männer hier sah so aus, als würde er kämpfen wollen. Der Schreck über das gerade Erlebte saß einfach noch zu tief.

Der Geflügelte warf einen sichernden Blick auf den Mann, der Dhaôma hielt. Juuro war hier, Volta und Xaira. Lulanivilay schien es gut zu gehen. Er musste hier nicht mehr eingreifen, obwohl sein Auftauchen fast eine Katastrophe ausgelöst hatte. Der Wasserdrache kehrte in die Arme seines Reiters zurück und schlief augenblicklich ein, als er mit warmer Haut und Leder in Berührung kam.

„Prüft die Körbe, nicht dass sie beschädigt wurden. Kommt nach, falls ihr könnt.“ Und damit wandte er sich wieder ab, dem letzten existierenden Problem zu.
 

Sie sahen zu, wie der Geflügelte startete, und Dhaôma wurde von Lulanivilay eingesammelt. „Du hast es übertrieben, Freiheit.“

„Ich weiß.“ Der Braunhaarige seufzte tief, ließ sich gegen seinen schuppigen Freund fallen. „Mein Poncho ist hin. Dabei war er ein Geschenk von Jadya und den anderen. Elin wird böse sein. Es war doch ihre erste Beute. Und meine Kleider sehen auch wieder aus, wie schon Jahre getragen.“ Müde schloss er die Augen. „Wir sollten Mimoun folgen. Vielleicht braucht er Hilfe. Sie sollten sehen, dass alles in Ordnung ist.“

„Vielleicht hilft es, wenn ich mitkomme, um ihnen zu versichern, dass wir vorerst nicht angreifen.“, schlug Genahn vor. Er hatte Radarr auf die Beine geholfen und stützte nun seinen Heerführer, der nicht nur seine Schuhe eingebüßt hatte, sondern auch diverse Verletzungen durch gefrorene Haut aufwies. Im Großen und Ganzen sah der Heerführer ziemlich mitgenommen aus.

Xaira zuckte die Achseln. „Das könnte vielleicht helfen. Ich glaube nur, dass Dhaôma nicht mehr stark genug wäre, dich zu schützen, wenn es sein muss.“

„Glaubst du denn, es muss sein?“, fragte der Mann freundlich nach. „Ich habe so ein Gefühl, dass es das Beste ist, wenn sie es aus erster Hand erfahren. Und währenddessen wird Radarr die Soldaten zurückbefehlen und einen Kriegs- beziehungsweise Friedensrat einberufen.“

Der Mann nickte geschlagen, straffte sich endlich und stand kurz darauf wieder auf eigenen Beinen. „Ich muss sagen, Dhaôma, du hast mich überrascht und erstaunt.“

„Das ist nicht zu schlecht.“, gab der Drachenreiter zurück und lächelte. „Denkst du darüber nach, Frieden zu schließen?“

„Hab ich eine andere Wahl? Viele aus unseren Reihen scheinen das längst für Gegeben zu nehmen.“ Er schickte Genahn einen wütenden Blick. „Ich bin immer noch nicht einverstanden. Ich hasse sie immer noch. Dass du dich mit einem von ihnen eingelassen hast, noch dazu mit einem Mann, ist der Gipfel!“

„Er ist mein Leben.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Es ist mir egal, was du oder Mutter dazu sagen. Er hat mir jede Last von den Schultern genommen, mich wirklich frei gemacht. Und er macht mich glücklich.“ Vorsichtig strich er sich die Haare aus der Stirn. „Wie geht es Penny und deinem Sohn?“

Radarr schnaubte. „Meine Söhne haben ihr Training begonnen. Und Penny ist schwanger mit einem dritten.“

„Du hast deine Familie also ausgebaut.“

„Mutter geht es nicht so gut. Sie steht immerzu an der Kante zum Selbstmord.“

„Das wollte ich nicht wissen.“ Leise lächelnd wandte sich Dhaôma ab, stieg auf Lulanivilays Fuß und ließ sich hochheben.

„Du solltest sie besuchen gehen, wenn du sowieso in der Hauptstadt bist. Sie wird dich sicher willkommen heißen, jetzt da du der Heiler bist, den sie sich gewünscht hat.“

„Ich werde ein paar Dinge holen kommen. Ob ich sie besuche, ist eine andere Frage.“

„Sei lieber nicht zu optimistisch, was den Frieden betrifft.“, warnte ihn Radarr. „Du hast hier eine sehr zweideutige Situation geschaffen. Kommst hier mit einer Horde Hanebito an, greifst den Heerführer an, bedrohst seine Berater, das wird nicht gut enden.“

„Es wird gut enden.“, schmetterte Dhaôma seinen Pessimismus ab, dann lachte er. „Aber allen voran, solltest du dir überlegen, was du tun willst. Folgst du weiter den Eingebungen eines Puppenkönigs, der von wahnsinnigen Halblingen gelenkt wird, oder lernst du auf eigenen Beinen zu stehen?“ Xaira und Volta hockten wieder in ihren Körben. Offenbar waren sie noch zu gebrauchen. Er wandte sich an den Berater. „Wollt Ihr jetzt mitkommen?“

„Sicher. Ich bin gespannt.“

„Dann, bitte, seid nicht böse über die Behandlung. Vilay?“

Und der griff sich den Magier und startete mit wildem Flügelschlagen. Vielleicht hätte es Panik und Empörung gegeben, wenn Genahn geschrieen hätte, aber der Mann lachte. Er lachte laut und jubelte, winkte sogar seinen Freunden unter sich.

„Fliegen ist toll!“, rief er Radarr zu. „Probier es nächstes Mal auch!“

Dann gewann Lulanivilay Geschwindigkeit und folgte Mimoun zu den Hanebito.
 

Missmutig gewahrte dieser, dass die Linie, die die beiden Gruppen getrennt hatte, nicht mehr existierte. Und dabei sagte er noch ausdrücklich, keine Kämpfe untereinander.

Wie der Kampf geführt wurde, erstaunte ihn dann doch ein wenig. Waffen und Krallen wurden großteils vermieden. Stürzte dennoch jemand ab, wurde er sofort aufgefangen, egal welcher Partei er angehörte. Sie schienen alle noch genug Furcht vor den Magiern zu haben. Seufzend schüttelte Mimoun den Kopf. Wie ein Haufen Kinder. Dabei konnte man das auch mit Worten regeln.

„Schluss jetzt.“, brüllte er aus Leibeskräften. In dem Tumult konnten ihn schlecht alle hören, aber nach und nach lösten sich die Parteien wieder voneinander. „Sagt mal, geht es euch noch gut, auf eure eigenen Leute loszugehen? Falls sich eure Spatzenhirne wider Erwarten abgekühlt haben sollten, richtet eure Aufmerksamkeit bitte nach unten. Kein Einziger der Magier macht auch nur noch ansatzweise Anstalten uns anzugreifen.“

„Dich haben sie angegriffen.“

Mimoun schnaubte abfällig und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Zwei oder drei. Wenn ihr euch die Menge dort unten anseht, könnt ihr euch ja mal ausrechnen, wie lange sie das unbeschadet überstanden haben. Und einer hat mich durch Wind sogar gerettet.“ Zumindest hoffte er, dass es ein Rettungsversuch gewesen war und nicht ein fehlgeschlagener Angriff. Aber von diesen Gedanken mussten sie ja nichts wissen. „Ich war dort unten und…“ Weiter kam er nicht, denn Lulanivilay kam nun bei ihm an. Verblüfft starrte Mimoun auf die Fracht in dessen Klauen.

„Oh. Hallo. Willkommen bei dem wohl chaotischsten Haufen, den es gibt.“, meinte er lakonisch.
 

Genahn strahlte über das ganze Gesicht. Seine Wangen waren gerötet, seine Haare wild vom Wind. Er wirkte nicht wirklich, als ob er sich fürchtete. „Danke. Hallo, übrigens, Mimoun. Wir wurden einander noch nicht vorgestellt. Ich bin Genahn en Voka en Gemmon, meines Zeichens zweiter Berater des Heerführers der ersten Armee. Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen.“ Weil er keine Verbeugung machen konnte, winkte er einfach.

Unter den Hanebito setzte Gemurmel ein. Ein sehr zerrupft aussehender Einel wagte sich näher heran. „Ein Magier? Was willst du hier oben?“

„Ah? Mit euch reden, natürlich. Vielleicht ist es wirklich möglich, Frieden zu schließen. Es wurden uns viele neue Aspekte unterbreitet und die Männer werden darüber beraten, ob sie dem Glauben schenken wollen oder nicht, aber ich denke, es ist nicht mehr undenkbar, dass die Kämpfe ein Ende haben werden. Also bin ich gekommen, um zu sehen, ob auch auf eurer Seite Frieden gewünscht wird, wie die Drachenreiter berichtet haben.“ Er hatte ein so entwaffnendes Lächeln, dass Einel die Spucke wegblieb.

„Für einen Magier ist er recht gutaussehend.“, meinte Aylen, die ihren Weg wie üblich direkt an Mimouns Seite gefunden hatte. „Beeindruckendes Selbstbewusstsein. Nicht einmal Dhaôma war so locker drauf, als er uns das erste Mal gegenüberstand.“

Und Genahn machte große Augen. „Eine Frau? Das ist wirklich das erste Mal, dass ich die Ehre habe, eine weibliche Hanebito zu sehen.“ Er lächelte breit. „Verzeiht, dass ich Euch nicht gebührend begrüßen kann, aber um ehrlich zu sein, bleibt mir nicht viel übrig, als hier herumzuhängen.“ Dennoch deutete er eine Verbeugung an, was das Mädchen erröten ließ.

Rai räusperte sich, sie lachte. „Macht nichts.“, winkte sie ab. „Ich komm schon klar. Bin es eh nicht gewöhnt, wenn man mich wie eine echte Frau behandelt. Das machen sonst nur Rai und Dhaôma.“
 

„Würdest du dich benehmen wie eine Frau, könnte man dich auch so behandeln.“, wies Mimoun mit einem Fingerzeig hinter sich auf die Tatsache hin, dass sie an vorderster Front einer Schlachtlinie stand.

„Irgendjemand muss ja auf euch aufpassen.“, konterte die Angesprochene gelassen.

Fast wären die Worte eines anderen in ihren untergegangen, doch der Drachenreiter hörte sie trotzdem und sie brachten ihm den Ernst der Lage wieder näher.

„Berater des Heerführers?“ Diese Worte wurden von einem lauernden Unterton begleitet.

Das konnte doch nicht wahr sein. Hatte dieser Narr nicht zugehört? Mimoun wandte sich betont langsam um und maß den Sprecher mit einem Blick aus dem absolute Verachtung sprach. Es verwunderte ihn kein bisschen, sich dabei dem Befehlshaber gegenüber zu sehen. „Denkt nach, bevor ihr handelt.“, wandte er sich statt an den Anführer der kleinen Armee direkt an die Krieger. „Ein hoher Magier begibt sich freiwillig in eure Reichweite und offenbart euch, dass ihre Soldaten nicht kämpfen wollen. Das zeugt doch von Vertrauen uns gegenüber.“ Und die Tatsache, dass er sich in der Obhut eines riesigen Drachens befand, den einige der Anwesenden schon einmal in einem Blutrausch erlebt hatten.
 

Nachdenklich betrachtete Dhaôma den Mann, der wenig entfernt von ihnen in der Luft stand und Lulanivilays Windstöße ausglich. So viele Muskeln. Aber wie er das sah, war seine ganze Kraft in diese gegangen und hatte das Gehirn ein wenig vernachlässigt. Sollte er sich einmischen? Es war nicht so, dass er nichts zu sagen hatte, aber diese Leute würden sicher besser auf Mimoun hören. Und er war irgendwie müde. Und…

„Ihr seid lästig.“ Viele der Anwesenden zuckten zusammen, als der große Drache sich wieder in Bewegung setzte, Schwung holte, indem er sich fallen ließ. „Macht was ihr wollt, aber seid ab jetzt leise.“

In seinen Klauen begann Genahn zu lachen und auch Xaira kicherte leise. Dhaôma streichelte seinen Freund über den schuppigen Hals. „Wenn du schlafen willst, dann flieg doch bitte über den Fluss, ja? So können sich die, die uns folgen, sicherer fühlen.“
 

Vorerst folgte ihnen keiner. Noch immer hielt sich ein Teil der Geflügelten wie eine Schutzschicht zwischen den Unentschlossenen und den Magiern.

„Ich weiß, euch fällt die Entscheidung nicht leicht.“, begann Mimoun seine Litanei wieder von vorne. „Auch mir fiel es anfangs nicht leicht einem Magier zu vertrauen.“ Bei diesen Worten schickte er ein sanftes Lächeln hinter seinem Liebsten her. „Aber bedenkt, dass ihr nicht nur für euch selbst entschieden müsst. Ihr müsst auch an die zukünftigen Generationen denken, an eure Kinder und deren Kinder. Wollt ihr ihnen Schmerz und Tod zumuten oder ihnen eine bessere Welt zum Leben erschaffen?“

„Mimoun!“

Angesprochener sah auf und sah erneut einen weißen Blitz auf sich zuschießen. Rücksichtslos drängte Keithlyn sich dabei zwischen mehreren Männern durch und nicht wenige gerieten dabei ins Trudeln. Er begrüßte sie mit einem sanften Lächeln und einer Kopfnuss, die sie erwischte, wenige Augenblicke bevor sie ihre Arme um seinen Hals schlingen konnte.

„Solltest du dich nicht in Sicherheit bringen?“, verlangte er von ihr zu erfahren, nachdem sie von ihrem Vorhaben abgelassen hatte und sich den Kopf hielt.

„Ich hab es versucht, doch nachdem sie den Angriff auf dich bemerkte…“

„Schon gut.“, unterbrach Mimoun den jungen Krieger, über dessen Gesicht sich Kratzer zogen und der auch sonst ein wenig derangiert wirkte. Sie musste mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften auf ihn losgegangen sein. „Es ist gut. Der Kampf ist vorbei.“

„Ich glaube nicht, dass du das zu bestimmen hast.“, rief der Muskelberg, der es noch immer nicht für nötig befunden hatte, sich vor zu stellen.

Mimoun verdrehte die Augen, kam aber nicht mehr zum Antworten. Jemand anderes war schneller. „Oh doch. Das bestimmt er. Er hat Recht. Wir brauchen jetzt nicht jemanden, der kämpfen, sondern der reden kann.“ Es war einer der noch Unschlüssigen gewesen. Kurze Zeit blieb er noch dort in der Luft stehen und wandte sich dann um, folgte Lulanivilays Route.

Mimoun war sich nicht ganz sicher, wann er das gesagt hatte, aber er beschwerte sich nicht. Der Ansatz gefiel ihm. Und anscheinend auch anderen. Immer mehr schlossen sich ihm an. Und je mehr der Zauderer sich abwandten, desto mehr der Entschlossenen flogen mit ihnen, denn sie wurden nicht mehr benötigt, um eine Konfrontation zu vermeiden.

Diese Entwicklung beobachtete Mimoun mit tiefer Erleichterung. Mit einem kurzen Wink rief er das Albinomädchen näher, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und schickte sie in Begleitung ihres Aufpassers zu Dhaôma und den anderen.

Schließlich blieb nur noch ein kümmerlicher Rest von ganz Verstockten, doch sie sahen ein, dass mit ihrer Anzahl kein Blumentopf mehr zu gewinnen war. Sie drehten nicht aus Überzeugung ab, sondern weil ein weiterer Aufenthalt hier keinen Sinn und keinen Erfolg haben würde.

Als Mimoun endlich bei seinen Freunden landete, reckte er siegreich die Faust in die Luft.
 

Das Flussufer hatte sich immer weiter gefüllt. Zuerst waren die Geflügelten laut am Schnattern gewesen, über die Situation und Mut und vieles andere, aber nachdem Lulanivilay sich einmal lautstark beschwert hatte, herrschte beinahe so etwas wie Ruhe. Sie unterhielten sich immer noch, aber sehr gemäßigt.

Dhaôma lächelte und gesellte sich zu den anderen. Er war erschöpft und müde und eigentlich wollte er nur schlafen, aber er konnte diesen mutigen Magier nicht einfach alleine lassen, der sich so todessehnsüchtig gerade auf Aylen zu bewegte. Diesmal vollführte er eine richtige Verbeugung und küsste ihre Hand, was sie schlagartig erröten ließ. Rai auch – vor Wut.

„Nachdem ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen habe, noch einmal. Ich freue mich wirklich, die Bekanntschaft einer Geflügelten zu machen. Nein, eigentlich freue ich mich, überhaupt die Bekanntschaft von Geflügelten zu machen. Also, dann erzählt mir über euch. Ich möchte mir ein Bild davon machen, wer ihr seid.“

Dhaôma sah Mimoun landen und winkte ihn zu sich. Noch bevor er ankam, gesellte sich das Albinomädchen zu ihnen, die nun auch Dhaôma freudig begrüßte. Er hatte also doch nicht falsch gesehen. Sie war da. „Du hast es wirklich geschafft, uns zu finden. Das ist eine ziemliche Leistung von dir. Auch wenn sich jetzt gerade vermutlich sehr viele Leute Sorgen um dich machen.“

„Sie wissen doch, dass ich bei euch sicher bin.“, strahlte sie.

„Aber sie wissen nicht, dass du uns wirklich gefunden hast. Du hast ihnen Sorgen bereitet. Das solltest du einsehen. Du wirst dich bei ihnen entschuldigen müssen, wenn du zurück bist.“, mischte sich Xaira ein, dann umarmte sie Keithlin. „Ich bin froh, dass du wohlauf bist.“

Immer mehr Hanebito versammelten sich um den fremden Magier, der an Einels und Aylens Lippen hing, die erzählten, wie sie lebten. Immer wieder warf er etwas dazwischen, was zunächst nur einige zum Lachen brachte, dann trauten sich immer mehr, einzustimmen.

Dhaôma lehnte sich gegen Mimoun. „Du warst toll heute.“, murmelte er breit lächelnd, doch das Lächeln verblasste. „Mein Bruder hat vorerst Ruhe gegeben. Ich hoffe wirklich, dass die Magier sich gegen den Kampf entscheiden. Wenn, dann wird es ab jetzt viel einfacher.“
 

„Wenn ich mich grad nicht völlig verrenne, dann ist dein Bruder doch ein sehr angesehener Mann, ziemlich hochrangig und so weiter. Ihn überzeugen zu können, wird uns einen gewaltigen Schritt nach vorn bringen.“ Mimoun war sich insgeheim dennoch absolut sicher diesem Mann niemals mit etwas anderem als tiefer Abneigung und Wut zu begegnen.

Seine Gedanken glitten fort von Dhaômas Vergangenheit und befassten sich mit dessen Gegenwart. Die Erschöpfung des Magiers war ihm anzusehen, zumindest von jemandem, der ihn schon seit Jahren kannte. „Ich glaube, wenn wir unseren neuen Freund warnen, können wir uns alle ein wenig zurücklehnen und ausruhen. Rai sieht nicht so aus, als würde er noch lange Ruhe geben.“
 

„Mein Bruder ist genau das Problem. Er war fertig, aber begeistert war er von der Idee nicht. Ich glaube nicht, dass er ein überzeugter Friedenspatriot wird.“ Traurig schloss er die Augen. „Er sagte, seinen Söhnen geht es gut, aber wie es Penny geht, hat er nicht gesagt. Er hat sie wieder allein gelassen, obwohl sie schwanger ist. Das zeigt seine Prioritäten ziemlich deutlich, oder?“

Diesen Augenblick suchte sich Keithlyn aus, um den neuen Magier kennen zu lernen. Sie hatte ihn ja schon zuvor bemerkt, aber es war wichtiger zu erzählen, was als letztes in ihrem Dorf passiert war. Damit war sie jetzt fertig. Jetzt war er dran. Ohne Scheu stellte sie sich vor ihn hin und betrachtete ihn von oben bis unten.

„Wer ist stärker, du oder Dhaôma?“, wollte sie abschätzig wissen.

Viele der Geflügelten begannen zu lachen. Es war allseits anerkannt, dass Dhaôma überhaupt nicht stark war, wenn man seine Magie außer Acht ließ, aber Genahn nahm die Frage sehr ernst. „Allein von der Kraft, die er in sich hat, ist er viel stärker. Wenn er sie nicht benutzt, hat er keine Chance.“, meinte er. „Aber sage mal, was sucht ein Kind wie du an der Front? Du bist doch sicher gerade mal vierzehn Jahre alt.“

„Ich bin bald sechzehn.“, maulte sie. „Und ich bin wegen Mimoun hier. Ich will ihnen helfen, Frieden zu schaffen.“

„Das ist sehr mutig von dir.“

„Sowieso, aber darum ging es nicht. Wäre es nicht einfach nur schrecklich, wenn ich die beiden nie wieder sehen würde? Sie wollen einen Krieg beenden, dann wollen sie zurück zu den Drachen, um Haru dorthin zu bringen, dann zu den Geflügelten… Sie werden keine Zeit haben, mich zu besuchen. Und mir kann keiner beibringen, wie es ist, eine Geflügelte zu sein, da wo ich herkomme.“

„Da, wo du herkommst? Ich verstehe nicht ganz.“

„Das kommt daher, dass ich noch nicht lange eine…“

In Dhaôma kam Bewegung, richtete sich auf. „Das, Keithlin, wirst du nie wieder in den Mund nehmen!“, grollte er und erschrocken drehte sie sich um. „Diese Sache verlässt niemals das Dorf, in dem sie geschehen ist, verstanden?“

Sie sah ihn an, als wolle sie gleich weinen. Unsicher huschten ihre Augen zu den Hanebito, die um sie herumstanden. Dhaôma war klar, sie wussten es bereits. Was sie davon verstanden hatten, war vermutlich genug, um jeden wütend zu machen, der ihm je begegnet war. Jemand, der es wagte, mit dem Leben zu spielen, den Körper eines anderen zu verändern und zu formen…

„Erwähne es einfach nie wieder!“, presste er heraus und blickte zu Boden.
 

Mitleidig huschte Mimouns Blick über seinen Freund und dann über das Mädchen. Er konnte beide verstehen. Keithlyn war endlich stolz auf das, was sie war, und Dhaôma verfluchte das, was er getan hatte.

„Na komm schon.“ Sanft kraulten Mimouns Finger Dhaômas Kopf. „Wir sollten den Tag nicht mit Trübsinn zu Ende gehen lassen. Wir haben gerade ein Blutbad verhindert.“ Schlagartig wurde er ernst und sein Blick glitt zurück zu der Stelle, an der die Armee der Magier sich befand oder befunden hatte. Der Drachenreiter erinnerte sich an die gefallenen Körper und mit sehr gedrückter Stimmung ließ er von seinem Freund ab und wandte sich Genahn zu.

„Ich weiß, es ist jetzt vielleicht der falsche Zeitpunkt für so etwas, aber auf unserer Seite hat es Opfer gegeben, die noch irgendwo zwischen euren Reihen liegen. Bitte gebt uns die Möglichkeit, unsere Freunde nach Hause zu holen.“
 

Genahn sah ihn an und man konnte sehen, dass auch ihm das Thema nicht gefiel. „Das hättet ihr viel früher sagen sollen. Vielleicht sind sie noch am Leben. Vielleicht kann ihnen noch geholfen werden.“ Entschlossen stand er auf. „Am besten suchen wir sie gleich.“

Viele der Geflügelten wirkten nun nicht mehr ganz so fröhlich. Natürlich hatten sie nicht vergessen, dass drei der ihren gestorben waren. Diese Magier hatten angegriffen und sie hatten sich nicht verteidigen können oder rächen dürfen. Und nun wollte einer von ihnen auf die Suche nach ihnen gehen, weil sie noch am Leben sein könnten?

„Wie hoch ist schon die Wahrscheinlichkeit, von einem Blitz getroffen zu werden und es zu überleben?“, fragte jemand vom Rand und schaute hasserfüllt herüber.

Genahns Blick verriet nichts darüber, ob er verletzt war oder nicht. Sein Gesicht war ruhig. „Wie viele habt ihr gesehen, die vom Blitz getroffen wurden und nicht abstürzten? Waren die noch am Leben?“

Die Hanebito wechselten einen Blick. Die beiden, die sie gefangen hatten, waren noch am Leben. Sie hatten schlimme Verbrennungen, aber sie lebten. Die Frage war nur, wie lange noch.

„Ich habe viele gesehen, die das überlebt haben. Wenn man am Boden steht, ist das eine andere Sache, aber in der Luft fehlt dem Blitz die Erdung. Er geht gar nicht erst rein in den Körper, sondern wandert an seiner Oberfläche entlang. Sie könnten durchaus am Leben sein.“

Sofort stand Dhaôma auf. „Dann suchen wir sie und… woah!“ Er hatte ein wenig zu viel Schwung genommen und nicht genug Kraft, sich abzufangen. Schwach stolperte er auf die Knie.

„Ja, ja, sicher. Du suchst heute niemanden mehr außer den Traumgeist.“, beschloss Xaira. „Überlass das den anderen. Sie haben doch jetzt Unterstützung.“
 

„So ungern ich das zugebe, aber Xaira hat Recht. Du solltest schlafen.“ So vorsichtig wie umständlich holte Mimoun ein blaues Schuppentier unter seinem Hemd hervor. Tyiasur ließ sich davon nicht wecken. Er war einfach zu erschöpft. „Und pass bitte auf ihn auf, solange ich weg bin.“ Sanft drückte er seinem Freund einen Kuss auf die Stirn. „Keine Angst. Uns passiert schon nichts.“

Anschließend wandte er sich wieder Genahn zu und begann nachdenklich auf seiner Lippe herumzukauen. Mit Lulanivilay waren sie schneller dort, konnten die Verletzten einfacher tragen und die Gefahr, doch noch angegriffen zu werden, lag bei einem absoluten Minimum. Aber hinter einem Drachen verstecken konnte sich jeder. Sollten sie im Gegenzug nur mit einer kleinen Schar Geflügelter dort auftauchen, konnten sich die Magier erst Recht bedroht fühlen.

Mit einem Ruck wandte sich Mimoun ab. Drache. Das war im Moment einfach die unkomplizierteste Variante. Oh Mist. Er hatte ganz verdrängt, dass der Große schlafen wollte. Verlegen kratzte sich der Drachenreiter am Kopf. Half nichts. Es war einfach günstiger so.

„Vilay?“ Sanft kraulte er die Nase des Drachen. „Ich brauche noch einmal kurz deine Hilfe.“
 

Ein goldenes Auge öffnete sich, starrte unbewegt den Geflügelten vor sich an. Dann blinzelte er, die durchsichtige Haut des Unterlids schob sich ganz kurz vor die goldene Iris. Der Drache wirkte wütend und die Schar Hanebito versank in ängstlichem Schweigen. Sie hatten seinen Ausbruch schon einmal gesehen, fürchteten nun einen neuen.

Dann schloss sich das Auge, während der massige Körper in Bewegung kam. „Sicher.“ Lulanivilays großer Kopf schwang auf eine akzeptable Höhe über die Köpfe der anderen und die Schwingen öffneten sich. „Weißwasser, komm mit.“

„Yay!“, quietschte Keithlyn und klebte im nächsten Moment an der riesigen Brust. „Darf ich reiten?“

„Sicher.“
 

Nicht nur Mimoun seufzte erleichtert auf, wenn auch aus anderem Grund als der Rest der Anwesenden. Fast hatte er befürchtet, dass Lulanivilay ablehnen würde. Dass das Mädchen mitkommen sollte, ging ihm ein wenig gegen den Strich.

„Du bleibst die ganze Zeit bei Lulanivilay.“, befahl er ihr in dem sicheren Bewusstsein, dass sie doch wieder tun würde, was sie für richtig hielt, statt auf andere zu hören. Mimoun begutachtete nun selbst die Körbe, testete Stabilität und Polsterung. „Und du solltest aufsteigen, bevor unser großer Freund dich wieder in die Krallen nimmt.“, richtete Mimoun seine Worte in höflicherem Tonfall an Genahn, die dieser sofort in die Tat umsetzte.

Er selbst suchte sich noch zwei kräftige Männer, von denen er wusste, dass sie vollständig hinter ihm standen. Trotz allem ließ er sich seine Unruhe nicht anmerken, als er startete und der kleinen Truppe voraus flog.

Schnell fand er die kleine Lichtung wieder, auf der er schon einmal gewesen war. Hier war es für den Drachen einfacher zu landen und am besten meldete man sich erst einmal bei dem Ranghöchsten an, bevor man zwischen dessen Männern herumsuchte.

Mehr aus Respekt vor dem Drachen als vor den Geflügelten wichen die Magier zurück und mehr als eine Hand war in abwartender Spannung erhoben. Und es war wenig verwunderlich, dass sich Mimouns Begleiter dicht an den Drachen drängten.
 

„Sie sehen ängstlich aus.“, meinte Lulanivilay desinteressiert.

Lachend kletterte Genahn aus dem Korb. „Hey, Leute, keine Sorge. Sie sind nur hier, um die Verletzten zu suchen.“

Radarr kam aus einem großen Zelt unter den Bäumen gerauscht. Er war wieder vollständig eingekleidet, seine Frisur saß wie zuvor und er wirkte wütend. „Wo ist Dhaôma?“, fauchte er. „Ich habe ein ernstes Hühnchen mit ihm zu rupfen! Was fällt…“

„Freund, lass gut sein.“ Freundschaftlich legte Genahn einen Arm um seinen Anführer und grinste breit. „Sie sind in Ordnung. Ich habe noch ein paar Geschichten zu erzählen, also lass sie ihre Freunde suchen, ja?“

Radarr hörte nur mit halbem Ohr hin. Er hatte Mimoun entdeckt und seine Wut war grenzenlos. „Du wagst dich hierher? Du, der ihn dazu angestiftet hat, uns zu verlassen?“ Grollend kam er auf ihn zu.
 

Kurz schob sich das Gesicht einer jungen, schwarzhaarigen Geflügelten vor das des Mannes und Mimoun seufzte abgrundtief. Silia hatte etwa dasselbe mit denselben Gefühlen gesagt.

„Mag sein, dass er meinetwegen seine Familie verlassen hat, das streite ich gar nicht ab, aber bedenke bitte eines: Hättest du dich wie ein Bruder benommen und dich deinen Verpflichtungen gemäß um ihn gekümmert, wäre er nie auf die Idee gekommen, mir zu helfen. Du bist derjenige, der ihn in meine Arme getrieben hat.“ Seelenruhig wich der Drachenreiter nicht von der Stelle, sah dem Mann ohne Scheu und Furcht entgegen.
 

„Aiaiai, streitet nicht schon wieder.“, versuchte sich Genahn zwischen die beiden zu schieben, aber er hatte gegen seinen Heerführer kaum eine Chance.

„Pflichten als Bruder? Du hast vollkommen Recht. Hätte ich dich an dem Tag vernichtet, als du vom Himmel kamst, wäre er dir nie begegnet! Ich hätte…“ Seine und viele andere Augen weiteten sich in stillem Schrecken, als der Drache vortrat. Mit weit gespreizten Flügeln stellte sich Lulanivilay vor Mimoun, kaum einen Meter mit seiner Nase von Radarr entfernt.

„Du hattest von Anfang an keine Chance, ihn bei dir zu behalten, Jagmarr. Ich habe ihn gerufen. Ich habe ihn gerufen, wie er mich gerufen hat. Es war sein Schicksal, zu mir zu kommen, da das Band längst geknüpft war. Also gib endlich Ruhe. Du störst.“ Einen kleinen Moment länger als nötig starrten die goldenen Augen ihn an, dann wandte sich Lulanivilay ab.

„Jag…“ Um sie herum breitete sich Stille aus. Diese Beleidigung war ungeheuerlich. Den Heerführer der verlorenen Magie zu bezichtigen, war purer, böswilliger Frevel. Radarrs Zorn über diese Unverfrorenheit färbte seine Wangen weiß. „Ich hatte vor, dich am Leben zu lassen, Drache, weil er es so wollte, aber nun werde ich tun, was mir aufgetragen worden ist!“

Sein Angriff kam schnell und präzise. Ein Schwert, verstärkt mit der zerstörerischen Magie des Eises, wurde gezogen, er sprang vor. Die Klinge bohrte sich in den Oberkörper des Drachen, ein Schrei wie von hundert Messern, die über Teller kratzten, donnerte über die sich duckenden Magier, im nächsten Moment schien die Zeit stehen zu bleiben. Die riesenhafte Echse richtete sich auf, ihre Flügel verursachten laute, knallende Geräusche, während alle im Umkreis von hundert Metern zu Boden geworfen wurden. Er merkte gar nicht, dass er die nahen Geflügelten und Genahn mit dem peitschenden Schwanz traf und wegschleuderte. Dann schlugen armlange, messerscharfe Klauen auf Radarr nieder, ein ohrenbetäubendes Brüllen ließ seine Trommelfelle platzen, nahm ihm die Luft zum Atmen. Blut lief aus tiefen Schnitten aus Armen und Schultern.

Dann endete es. Ganz plötzlich. Reglos und drohend über dem Heerführer aufgerichtet leuchteten Lulanivilays Augen rot in der beginnenden Dämmerung.

„Du hast Glück, Fangzahn. Freiheit wünscht deinen Tod nicht, also lasse ich dich am Leben. Solltest du dein Glück noch einmal herausfordern, wirst du sterben.“ Die Stimme hallte über den Wald, vertrieb die angsterfüllte Stille, nur um sie wiederkehren zu lassen, als sie verstummte. „Ich weiß nun, warum wir Drachen euch aufgegeben haben. Wäre es nicht für ihn, würde ich euch euren sinnlosen Toden überlassen.“ Wütend mit dem langen Schwanz schlagend wandte er sich ab. Radarr blieb reglos liegen. Blut lief aus seinen Ohren und Wunden.

Und kleinlaut meldeten sich einige Magier zu Wort: „Wir haben eure Gefährten gefunden und versorgt.“, piepste ein junger Mann und hob vorsichtig die Hand. „Sie sind soweit außer Lebensgefahr, aber noch immer bewusstlos.“

Schuld

Kapitel 72

Schuld
 

Mimoun nahm endlich die Hände wieder runter, die er schützend über seinen Kopf gehalten hatte, nachdem er von purer Muskelkraft zu Boden geschmettert wurde. Eher geistesabwesend nickte er dem Mann zu, murmelte irgendetwas von „Ist, glaub ich, grad besser so.“ und erhob sich auf die Füße. Wie aus weiter Ferne und als ginge es ihn nichts an, ließ er seinen Blick über das Schlachtfeld wandern. Mimoun hatte noch Glück gehabt, da er dicht hinter dem Drachen gestanden hatte. Ein weiterer Geflügelter war von dem schmalen Schwanzende getroffen wurde, das weitaus mehr Kraft und Geschwindigkeit beim Aufprall besessen hatte. Er rührte sich nicht mehr. Der zweite stemmte sich mühsam in die Höhe und spuckte Blut. Das kurz aufkeimende Entsetzen in Mimouns Bewusstsein wurde schnell besänftigt, als er mit der ihm gerade eigenen Ruhe erkannte, dass der Mann sich nur auf die Lippe gebissen hatte.

Er erkannte Keithlyn, die haltlos schluchzte. Sie hockte auf dem Boden nicht weit von ihm entfernt und umklammerte ihren Arm, der unnatürlich verdreht wirkte. Als Lulanivilay zum Angriff übergegangen war, hatte sie sich nicht festgehalten, sondern versucht aus seiner Reichweite zu verschwinden, und war von den riesigen Schwingen getroffen und zu Boden gedrückt worden.

Aber die einprägsamste Verletzung der ihn Umgebenden, war die Wunde in Lulanivilays Brust. Dieses dunkle Rot auf den grünen Schuppen bannte seinen Blick. Mimoun sah das Blut fließen und ihm wurde kalt. Entsetzlich kalt. „Dhaôma wird mir das nie verzeihen.“, flüsterte er mehr zu sich selbst und plötzlich schlug der Schrecken wirklich zu. Nur mit äußerster Anstrengung schaffte er es, das Zittern, das ihn befiel, nicht zu deutlich werden zu lassen.

„Bringt meine Kameraden bitte hierher.“, bat er den jungen Magier und trat neben Radarr. So viele Beleidigungen, eine zutreffender als die andere, lagen ihm auf der Zunge, doch er sprach nichts aus. Dies gerade war die deutlichste Demonstration dessen gewesen, was geschah, wenn er seine Zunge nicht im Zaum hielt. „Dhaôma hat es mir erklärt. Ich weiß, dass dieses Wort eine üble Beschimpfung für euch ist, obwohl es früher ein gebräuchlicher Begriff für Magier im Allgemeinen gewesen ist. Es tut mir Leid, dass du dich davon verletzt gefühlt hast. Aber Lulanivilay kann nur diese Sprache. Ist es dir nicht aufgefallen? Dass er unsere Namen übersetzt? Er kann es nicht anders.“

Ohne einen weiteren Blick wandte Mimoun sich um und versuchte die nun größere Anzahl an Verletzten irgendwie möglichst schonend so unterzubringen, dass sie bequem und ohne weitere Schäden von hier weg kamen.
 

Ihnen wurde von den Magiern geholfen. Es fanden sich zum Glück genug Mutige, die sich noch einmal in die Nähe dieses grünen Ungeheuers wagten, um die Hanebito in die Körbe zu setzen, alles unter den furiosen Blicken Lulanivilays, dessen Anspannung nur noch an seinem Schwanz wirklich deutlich war.

Genahn tröstete unterdessen Keithlyn. Er redete leise auf sie ein, während er ihr sagte, dass er ihren Arm jetzt schienen würde, damit sich Dhaôma darum kümmern konnte, der vermutlich zuerst seinen Drachen retten musste. Ein Ruck, ein leiser Laut, dann fügten sich die Knochen knirschend wieder zusammen. Sie weinte stärker, gab aber keinen Ton von sich. Das hier war nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die sie damals erlitten hatte. Vorsichtig wickelte er ein Lederband um seinen Dolch und ihren Arm, um die Knochen zu stabilisieren.

„Du bist ein tapferes Kind.“, lobte Genahn sie. „Na los, er wird dich sicher nicht noch einmal abwerfen. Und ihr solltet euch beeilen, damit er nicht verblutet, bevor ihr bei dem Heiler ankommt.“ Damit half er ihr auf den Drachenrücken. „Mimoun.“, rief der Berater nach dem Schwarzhaarigen aus. „Ich hoffe, dass das unsere Friedensverhandlungen nicht negativ beeinflusst. Ich denke, sie alle hier haben genug von den Kämpfen.“
 

Angesprochener duckte sich ein wenig. „Das hier habe ich zu verschulden.“, erwiderte er leise und kaum hörbar. „Es wird keine Rachehandlungen von unserer Seite her nach sich ziehen, ihr habt mein Wort darauf.“

Langsam schritt er um Lulanivilay herum und begutachtete noch einmal die sichere Unterbringung von zumindest drei der Bewusstlosen. Einer musste von Keithlyn zusätzlich noch gehalten werden, da nur jeweils einer in die Körbe passte. Den vierten nahmen Mimoun und der Letzte in ihre Mitte.

„Warte nicht auf uns. Flieg zu Dhaôma. Beeil dich.“, bat der Geflügelten seinen schuppigen Freund und wandte sich noch einmal abschließend an die Magier. „Verzeiht bitte dieses Chaos. Es lag nicht in meiner Absicht etwas Derartiges heraufzubeschwören. Lebt wohl.“ Eine Antwort wartete er gar nicht erst ab. Ein kurzes Nicken und gemeinsam stießen sie sich ab, folgten dem Drachen in immer größer werdendem Abstand.
 

Dhaôma wurde wenig später von einem Stupsen mit einer großen grünen Schnauze geweckt. Das aufgeregte Gequassel um ihn herum machte weiterschlafen auch nicht einfacher, also setzte er sich auf.

„Ich habe Schmerzen. Hilf mir.“

Noch nie zuvor hatte Lulanivilay so etwas gesagt. Es löste so etwas wie Schock und nachfolgende Panik in Dhaôma aus. „Wo?“ Er registrierte im nächsten Moment Keithlyn, die weinte, die Hanebito, die alle nicht ansprechbar waren und dann Lulanivilays Wunde. Er blutete. „Was ist passiert?“, rief er, sprang auf und stürzte hinüber. „Vilay, das sieht furchtbar aus!“ Fahrig zerrte er an dem Geschirr, ließ es aber dann sein, als er merkte, dass er es mitsamt seiner Last eh nicht alleine herunterbekommen würde. „Rai! Hilf mir!“

Mehrere waren sofort zur Stelle, überwanden ihre Scheu vor der seltsamen Stimmung des Drachens und luden ihre Kameraden aus. Währenddessen ließ Dhaôma soviel seiner noch verbliebenen Kraft in den Drachen fließen, wie er konnte. Warum mussten solche schlimmen Verletzungen immer dann passieren, wenn er mit seiner Kraft am Ende war?

„Leg dich hin.“, verlangte er sanft, als endlich das Geschirr von ihm abgenommen worden war. „Was ist mit Mimoun? Ist er auch verletzt?“ In ihm schwelte Angst. Was, wenn er tot war? Was, wenn er von den Magiern getötet worden war, weil er…

„Himmel kommt nach. Er ist zu langsam.“ Der Drache seufzte und legte stöhnend den Kopf auf den Boden. Während sich die Wunde langsam immer weiter schloss, verschwand auch die Anspannung aus dem Körper.

„Du hast viel Blut verloren.“, bemerkte Dhaôma. „Ein Glück, dass du rechtzeitig wieder hier warst. Du hättest genauso gut verbluten können.“

„Mimoun ist wieder da!“, rief ihm Aylen zu und nun entspannte sich langsam auch Dhaôma wieder. Er lächelte.

„Vilay. Ich lasse euch nie wieder alleine zu den Magiern gehen. Versprochen. Ich werde in Zukunft besser auf euch aufpassen.“

„Es ist nicht deine Schuld. Fangzahn war zornig und hat angegriffen. Ich habe ihn zurechtgewiesen. Er ist noch am Leben.“

„Fangzahn? Du meinst… Radarr?“ Besorgnis zeigte sich in seinem Gesicht. „Du meinst, er war das?“

„Er trägt eine mächtige Waffe.“

„Das Drachentöterschwert.“ Die Stirn des Braunhaarigen kräuselte sich. „Das wird er mir büßen!“ Endlich war die Wunde geschlossen und erleichtert ließ er seinen Kopf gegen die nun geschlossene, noch empfindliche Schuppenhaut sinken. Am liebsten würde er einfach wieder einschlafen, so schwach, wie er sich jetzt fühlte. Er hatte sich an diesem Tag definitiv übernommen. „Ich bin froh, dass du das überlebt hast.“

„Geh zu Himmel, damit du ruhiger wirst.“, murmelte der Drache. „Ich will schlafen.“

Lächelnd stand Dhaôma auf. Das war der Hauptgrund, warum er nicht schon längst schlief. „Danke.“ Weich streichelte er über die warme Nase, dann machte er sich auf den Weg zu seinem Geliebten.
 

Vorsichtig wurde auch der letzte bewusstlose Geflügelte in die sorgenvoll ausgestreckten Hände seiner Kameraden übergeben. Bevor Mimoun reagieren konnte, wurde sein Helfer gepackt und verschwand in der Menge und auch er selbst spürte plötzlich fachkundige Hände, die ihn schnell und vorsichtig aus seiner Rüstung schälten und ihn nach Verletzungen absuchten.

„Es geht mir gut.“, wehrte er ab, als etwas zu aufdringlich auf seinen geprellten Rippen herumgedrückt wurde. So miserabel die Rüstung seines Empfindens nach war, so hatte sie es doch geschafft, ihn vor dem Gröbsten zu bewahren.

Als seine Freunde merkten, dass er tatsächlich seine Stimme wieder gefunden zu haben schien, bestürmten sie ihm mit Fragen. Was war passiert? Wer war verantwortlich? Die noch immer existierenden Feinde der Magier nutzten ihre Chance, um gegen die zwischen den Bäumen versteckten Bastarde zu wettern und die Stimmung Richtung Angriff kippen zu lassen.

„Genug.“, donnerte Mimoun in einer Lautstärke, die ihn selbst erstaunte und die seine ohnehin noch schmerzenden Rippen protestierend aufschreien ließ. „Sie sind die Letzten, bei denen die Schuld für das Geschehene zu suchen ist. Im Gegenteil. Sie hatten unsere Freunde gefunden und versorgt, lange bevor es zu diesem Unglück kam.“ Kurz umriss er die Ereignisse inmitten der Magierarmee, seine Provokation gegen Radarr und Lulanivilays ungeschickter Schlichtungsversuch. Welches Wort es war, das den Heerführer dermaßen in Rage versetzt hatte, verschwieg er, um gewissen Querköpfen keine Möglichkeiten in die Hände zu spielen. Mimoun erklärte nur, dass es ein Wort gab, das im Laufe der Jahre seine Bedeutung geändert hatte.

Sein Blick glitt über die unruhig wogende Masse um ihn herum und entdeckte Dhaôma, der sich ihm näherte. Furcht wallte in ihm hoch und gaukelte ihm vor, Anflüge von Wut auf dem Gesicht seines Freundes zu erkennen. Unbewusst wich er einen Schritt zurück, schrumpfte ein wenig in sich zusammen und wartete mit angehaltenem Atem und auf den Boden gerichtetem Blick auf das zu erwartende Donnerwetter.
 

Mimouns Stimme war laut genug gewesen, dass auch Dhaôma verstanden hatte, was sich zugetragen hatte. Lulanivilays Schilderung der Dinge war karg gewesen wie immer. Warum nur sah Mimoun aus, als hätte er alles falsch gemacht? „Gut, dass du nicht gestorben bist.“ Endlich stand er vor ihm, streichelte über die zerschrammte Wange. Sonst wäre es nur ein winziger Moment, bis das geheilt wäre, aber es ging nicht mehr. Selbst diese Geste war anstrengend. „Mimoun, Kopf hoch. Ich werde euch nicht mehr allein zu ihnen lassen, bevor wirklich Frieden herrscht. Das war furchtbar leichtsinnig von mir, darauf zu vertrauen, mein Bruder könnte sich in nur einem einzigen Tag ändern. Eigentlich hätte ich es mir denken können.“

„Keithlyn ist verletzt, Dhaôma. Kannst du sie heilen?“

Mitleidig schüttelte der Braunhaarige den Kopf und lächelte entschuldigen. „Tut mir Leid. Erst morgen wieder. Ich fürchte, ich werde ohnmächtig, wenn ich es auch nur versuche.“

Sofort schüttelte Keithlyn den Kopf. „Ist schon gut. Ich kann das ertragen. Und Genahn hat es auch geschient. Es tut kaum noch weh, wenn ich es nicht bewege.“, versicherte sie ihm stürmisch.

Es entlockte Dhaôma wieder ein Lächeln. Und an die anderen Hanebito gewandt sagte er: „Es tut mir Leid, dass Vilay euch verletzt hat. Sobald ich die Möglichkeit habe, werde ich das wieder gut machen und die Verletzungen heilen.“ Und mit einem Blick auf die Blitzopfer fügte er hinzu: „Ich hoffe nur, dass es dann nicht schon zu spät ist.“
 

„Bis morgen halten sie durch.“, erwiderte Aylen zuversichtlich. „Wir sind nicht so schnell unterzukriegen.“ Aufmunternd hakte sie sich bei ihm ein.

Derweil glitten Mimouns Gedanken in anderen Bahnen. Dhaôma wollte nicht, dass er sich Sorgen machte. Als wäre das sein Problem. Als wenn er Angst vor diesem Aufschneider haben müsste. Radarr war zu dicht dran gewesen, hatte nicht einmal daran gedacht Magie einzusetzen. Mimoun hätte ihn ohne Probleme töten können, wenn er das Bedürfnis dazu gehabt hätte. Nein. Das war das Letzte, worum er sich Sorgen machen würde.

Wort- und beinahe lautlos entzog er sich den sanften Fingern und wühlte sich rückwärts durch die Geflügelten, entfernte sich von Dhaôma. Er schob sich aus der Masse und ohne über seinen Weg nachzudenken, führten ihn seine Schritte zu Lulanivilay. Unsicher ließ er sich vor dem schlafenden Ungetüm auf die Knie sinken und berührte sanft die gerade erst verheilte Wunde. Auch dass Keithlyn und seine anderen Begleiter verletzt worden waren, waren Folgen seiner unbedachten Worte gewesen. Hatte er sich zu sicher gefühlt? Weil Genahn anwesend gewesen war? Und warum hatte er nicht bedacht, dass der große Freund müde gewesen war? Da mochte dieser Verzögerungen und Streitigkeiten noch weniger als sonst.

„Es tut mir Leid.“, flüsterte er fast unhörbar und lehnte seinen Kopf gegen den grün geschuppten Hals. Mochte Kaley so oft behaupten wie er wollte, dass der junge Drachenreiter zu weich war. Mimoun würde wohl nie damit fertig werden, seine Freunde an seiner statt bluten zu sehen.
 

„Es war ein langer Tag.“, tröstete Aylen, als sie Dhaômas Verspannung bemerkte. Auch sie sah, wie Mimoun sich zurückzog. „Lass es ihn verarbeiten. Ihr könnt morgen über alles sprechen.“ Zaghaft nickend stimmte der Magier ihr zu, dann ließ er den Kopf hängen, dass sie lachte. „Kein Trost? Auch er braucht mal ein bisschen Zeit für sich. Gerade nach so einer Geschichte.“

„Ich habe nicht einmal verstanden, warum er mich so ansieht, als würde ich ihn gleich schlagen wollen.“, murmelte Dhaôma und fuhr sich über das Gesicht. Er war wirklich verflucht müde, aber wie sollte er mit dieser Ungewissheit schlafen?

„Vielleicht denkt er, dass es seine Schuld war, dass sie alle verletzt sind. Vielleicht ist es auch so, weil er zu dem geflogen ist, der so sehr gegen den Frieden ist, dass er gleich zweimal am Tag Streit mit euch Drachenreitern gesucht hat.“

„Es ist nicht seine Schuld. Nicht nur.“ Wieder rieb sich Dhaôma über die Augen. „Zum Streiten gehören immer zwei. Und Radarr war schon immer streitsüchtig.“

Lachend strich sie ihm durch das zause Haar. „Du bist wirklich der einzige Mensch, den ich kenne, der immer schlichtet. Du gehst jetzt zu Vilay und legst dich hin. Du musst einfach schlafen. Mit einem wachen Geist sehen Probleme schon nicht mehr so schlimm aus.“

Widerspruchslos nickte Dhaôma und ließ sich von ihr in die Richtung schieben, in der der Drache seinen Platz beanspruchte. Er sah Mimoun dort sitzen, vor seinem Drachenfreund, ein Schatten in der Dunkelheit, aber er erkannte ihn trotzdem. Aber Mimoun wollte offenbar nicht bei ihm sein oder mit ihm reden. Er sollte ihn alleine nachdenken lassen, hatte Aylen gesagt. Sie hatte so oft Recht mit ihren Ratschlägen. Ohne sein Zutun lenkten ihn seine Füße in den Wald, wo er sehr schnell einen Baum fand, den er im Halbdunkel für bequem hielt. Er hatte das schon lange nicht mehr getan, hoffentlich fiel er nicht herunter. In einer Astgabel zusammengerollt gab er sich einem sehr unruhigen Schlaf hin.
 

Schwach aber spürbar drang der regelmäßige Puls durch die dicken Schuppen und berührte die rauen Finger, die an dem Hals des Drachen ruhten. Die Ohren des im Vergleich viel kleineren Wesens lauschten jedem der leisen Atemzüge. Diese beiden Sinneseindrücke vermittelten Mimoun immer wieder, dass alles in Ordnung war, dass der Freund noch lebte. Dennoch wühlte tief in ihm die Angst, sah er vor seinem inneren Auge das Blut Lulanivilays und Keithlyns Tränen. Ah. Ja. Bei ihr musste er sich auch noch entschuldigen. Er hatte sie in Gefahr gebracht. Dabei hätte Mimoun es besser wissen müssen, hätte wissen müssen, wie heikel die Situation vor Ort trotz aller Bemühungen noch immer gewesen war. Sie hätte nie und nimmer mitkommen dürfen.

Hätte, hätte, hätte. Mimoun krallte seine Fingernägel in seine Kopfhaut, um die sich im Kreis drehenden Gedanken zu stoppen. Wie lange hockte er schon hier und dachte dasselbe? Es änderte nichts an dem, was geschehen war. Er würde mit dieser Schuld leben müssen, ob es ihm gefiel oder nicht. Das Einzige, was ihm blieb, war die Möglichkeit sich bei den Betreffenden zu entschuldigen und Radarr nur noch mit äußerster Vorsicht zu begegnen.

Entschlossen sah Mimoun auf, nur um seinen Gesichtsausdruck wenige Sekunden später in Verblüffung zu ändern. Es war tiefste Nacht. Wie lange hockte er schon hier? Die Krieger um ihn herum lagen bereits bis auf wenige Wachen im Gras ausgestreckt und schliefen. Es brannten keine Feuer und durch das kaum vorhandene Mondlicht hoben sie sich nur als undeutliche Schemen vom Untergrund ab. Nur Keithlyn konnte man durch ihre helle Hautfarbe deutlicher erkennen. Zu ihr führte ihn nun sein Weg. Das Mädchen schlief unruhig. Juuro lag direkt neben ihr und hielt sie umschlungen, damit sie sich nicht zu sehr bewegte und sich den Arm vielleicht doch noch mehr verletzte. Vorsichtig strich er ihr über die Haare. Sie seufzte kurz, nahm aber sonst keine Notiz von seiner Anwesenheit. Das war gut. Sollte sie schlafen.

Kurz sah Mimoun noch bei den anderen Verletzten vorbei. Direkt bei ihnen befanden sich ebenfalls zwei Wachen, die den Zustand der fünf genauestens im Auge behielten. Meistens jedenfalls. Jetzt maßen sie den Neuankömmling mit undeutbaren Blicken, unter denen er sich schnell unwohl zu fühlen begann. Man musste ihm seine Gefühle wohl trotz der Dunkelheit angesehen haben, denn sie schüttelten den Kopf und er glaubte sogar die Bezeichnung Volltrottel zu vernehmen. Es steigerte seine Irritation um Einiges, es wurde aber nicht weiter darauf eingegangen. Kurz setzte man ihn über ihren Zustand in Kenntnis und scheuchte den Drachenreiter dann weg, damit die Verletzten Ruhe fanden.

Langsam schlich Mimoun wieder zu Lulanivilay zurück. Er wusste, dass Dhaôma nicht auf seiner Seite des Drachens geschlafen hatte, als er sich zu seinem kleinen Rundgang aufgemacht hatte. Als er nun um den großen Freund herum ging, konnte er den Magier aber auch an keiner anderen Stelle finden. Eisiger Schrecken durchfuhr ihn. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass man am liebsten bei einem Freund war, wenn dieser verletzt war. Dhaôma dürfte es dabei nicht anders gehen. Hatte Mimoun ihn etwa mit seiner Anwesenheit vertrieben? War er etwa wütend, weil der Geflügelte vorhin gegangen war? Nahm er es deswegen sogar in Kauf, nicht einmal bei Lulanivilay zu sein?

Unruhig sah Mimoun sich um, konnte den Geliebten aber nirgends entdecken. Er hatte ihn auch nicht bei den Halblingen gesehen, soweit konnte er sich noch dran erinnern. Sonst hatte er nicht darauf geachtet. Warum auch? Wie selbstverständlich war er davon ausgegangen, dass der Magier bei seinem Drachen schlief.

Frustriert ließ er sich gegen Lulanivilays Flanke sinken und vergrub den Kopf in seinen Händen. Und er wünschte sich, diesen Tag komplett rückgängig machen zu können. Kurz huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Nicht ganz. Genahn war schon in Ordnung.

Erst kurz vor Sonnenaufgang forderte sein Körper endlich sein Recht. Halb an Lulanivilay gelehnt, Tyiasur in seinem Schoss schlief er in sehr unbequemer Haltung ein.
 

Sobald die ersten Sonnenstrahlen durch das lichte Blätterdach glitzerten, wurde das Lager wieder lebendig. Natürlich waren alle irgendwie erschöpft, aber das wog zu gering. Sie hatten einen aufregenden, nervenaufreibenden Tag hinter sich gehabt, davor einen Kräfte zehrenden Flug von mehreren Wochen, seitdem Keithlyn sie erreicht hatte, dann war es ziemlich spät geworden Dank der Suche nach ihren verletzten Kameraden. Dementsprechend schnell fanden alle von Dunkelheit in geistige Klarheit. Man wollte wissen, wie man an diesem Tag weiter verfahren sollte. Und weil man das ja nicht ohne die Drachenreiter entscheiden konnte, ohne sich den inzwischen ziemlich gefürchteten Zorn zuzuziehen, mussten sie wohl oder übel warten, bis diese wach waren. Mimoun hatte man gleich gesehen. Er schlief bei dem Drachen, der geduldig stillhielt, damit sein Freund nicht gestört wurde. Tyiasur war ebenfalls wach. Er tobte durch die Fluten des Flusses, um sich sein Frühstück zu fangen. Und der Magier – war weg. Unruhe wallte durch die Geflügelten, ausgehend von den Besorgten, die um die Verletzten fürchteten. Wo konnte der Braunhaarige hingegangen sein?

Xaira wagte sich leise zu Lulanivilay, um ihn zu fragen.

„Im Wald.“, war die desinteressierte Antwort.

Achselzuckend kehrte sie zurück. Sollte man ihn suchen gehen? Vielleicht brauchte er bei irgendetwas Hilfe. Man entschied, dass einige losziehen sollten, um Dhaôma zu suchen. Die Geflügelten selbst hielten sich vornehm zurück, denn auszuschwärmen konnte von den Magiern als Angriff gewertet werden und durch das dichte Gestrüpp konnten sie mit ihren Flügeln nicht gehen. Wenig später war es Volta, der den Magier fand. Ratlos holte er seine Freunde, die mit dieser Situation auch ein bisschen überfordert waren. Vor ihnen, drei Meter über dem Erdboden, erhob sich eine riesige Kugel aus unterschiedlichsten wehrhaften Pflanzen. Wie ein Kokon, der den Bewohner vor Gefahren beschützen sollte. Sie riefen nach Dhaôma, aber es kam keine Antwort. Die Lösung war einfach: Mimoun musste her. Oder Tyiasur, damit er diese verfluchte Magie stoppte.
 

Es war schwierig. Nur langsam fand Mimoun aus seinem Schlaf heraus. Er fühlte sich zerschlagen, jeder Muskel tat ihm weh und eigentlich wollte er nichts lieber, als weiterschlafen. Warum also war er wach? Erneut hörte er das Geräusch, das in seinen traumlosen Schlaf gedrungen war. Sein Name, wie er nach einem kurzen Moment feststellte. Nur Sekundenbruchteile später rüttelte jemand sacht an seiner Schulter. Doch diese leichte Berührung hatte ausgereicht, ihn vor Schmerz aufstöhnen zu lassen und endgültig aus den Fesseln des Schlafes zu reißen. Die störende Hand verschwand blitzschnell wieder, ebenso der Halt in seinem Rücken, als Lulanivilay sich erhob und streckte. Mimoun war wohl doch noch nicht ganz wach, denn er fand sich in der Waagerechten wieder.

„Na los. Steh endlich auf, Schlafmütze. Die Sonne ist längst aufgegangen.“ Trotz ihres etwas harschen Tonfalls konnte Xaira den Ausdruck von Sorge nicht völlig aus ihrem Gesicht verbannen.

Eine Hand schützend auf seine Rippen gelegt, setzte sich Mimoun auf und ließ seinen Blick in die Runde schweifen.

„Dhaôma ist nicht da.“ Verwundert schaute Mimoun noch immer wortlos zu ihr auf. Erst auf ihre Worte hin wurde ihm bewusst, dass er tatsächlich nur nach seinem Magier Ausschau gehalten hatte. „Komm endlich. Wenn der nicht endlich auftaucht, werden deine Leute nie wieder völlig gesund.“

Mimoun verstand immer weniger, aber für entsprechende Fragen ließ sie ihm keine Zeit und mit Antworten hielt sie sich gar nicht erst auf. Die Frau erhob sich und strebte zielsicher dem Waldrand zu. Mit irritiert gerunzelter Stirn folgte der Drachenreiter ihr nach einigen Sekunden. Tyiasur, nass und mit einem Fisch in den Klauen, wickelte sich um den Hals seines Reiters. Der kleine Drache hatte sich schon zum Großteil aus den Gedanken der Anwesenden die Geschehnisse des vergangenen Abends geholt, als er die unruhige Stimmung gespürt hatte. Nun holte er sich auch die letzten Puzzleteile zusammen. Sanft stieß er seine Schnauze gegen das Kinn seines Reiters, um ihn aufzumuntern, so wie er es als Jungtier getan hatte, als er noch nicht sprechen durfte. Es zauberte tatsächlich ein Lächeln auf die Züge des Geflügelten.

Xaira verschwand zwischen den Bäumen, nachdem sie sich mit einem kurzen Blick über die Schultern davon überzeugt hatte, dass Mimoun ihr tatsächlich folgte. Missgelaunt zischte dieser als er vor der Pflanzenwand stand. Dennoch folgte er ihr. Nur um wenig später erstaunt zu pfeifen, als er das Gebilde sah. Zwar verstand er, warum Dhaôma nicht da gewesen war, aber nicht, wie er hier helfen sollte. Und warum hatte sich Dhaôma ausgerechnet hierher verzogen, anstatt zumindest bei den Halblingen oder bei den anderen Freunden zu schlafen, wenn er schon nicht Mimoun in seiner Nähe haben wollte?

„Also. Was sollen wir tun?“, riss Volta ihn aus seinen Betrachtungen und Überlegungen. Kurz sah Mimoun zu ihm hinüber und wandte sich der ihm gerade wortlos übertragenen Aufgabe zu. Tief seufzte er auf.

„Am besten aus dem Weg gehen.“, antwortete der Drachenreiter und flatterte ein wenig, um Höhe zu gewinnen. Tyiasur blieb bei den Halblingen zurück und es bedurfte keiner Anweisung, damit er Dhaômas Magie zum Versiegen brachte.

„Dhaôma?“, rief Mimoun hinauf, nur um kurz darauf von Volta zu erfahren, dass man das auf die Art auch schon probiert hatte. Ein Blick und Tyiasur löste den Magiebann wieder, um den Ruf seines Freundes direkt in die Träume Dhaômas zu schicken.
 

Als Dhaôma aufwachte, erschrak er nicht schlecht. Er hatte etwas anderes zu sehen erwartet, als er Mimouns Stimme gehört hatte, nicht einen Urwald aus scharfen Blättern und Dornen um ein weiches Mooskissen. Er konnte nicht einmal hinausgucken. Uh, wie war das nur passiert?

Müde streckte er sich. Von draußen hörte er Stimmen. Seinen Namen und ein paar abfällige Bemerkungen über seine streunende Magie. Seufzend rieb er sich das Gesicht. Mimoun. Ob er jetzt bereit war, zu reden? Ob er jetzt davon Abstand genommen hatte, Angst vor ihm zu haben?

Erst dachte er daran, die Höhle, die er unbewusst geschaffen hatte, auszulöschen, aber dann schüttelte er innerlich den Kopf. Er sollte Kraft sparen. Es waren so viele verletzt. Ein kleiner Ausgang musste reichen.

Ein paar Augenblicke später streckte er die Füße durch ein Loch und ließ sich fallen. Geschickt fing er sich ab. Vor ihm standen die Halblinge, über ihm schwebte Mimoun. „Guten Morgen.“, grüßte er freundlich. „Tut mir Leid, dass ich so lange geschlafen habe. Ich mache mich sofort an die Arbeit.“
 

Mimoun ließ sich ebenfalls Kräfte sparend fallen. Er war noch immer ein wenig unsicher, versuchte es aber mit einem Lächeln zu überspielen. Auch dass sein Körper ihm den Aufprall auf den Boden gerade ein wenig übel nahm, versuchte er sich nicht anmerken zu lassen. Wenn Dhaôma ihm sonst alles verzieh, deswegen würde er sicher ein wenig ungehalten werden. Mimoun war aber der Überzeugung, dass zuerst diejenigen versorgt werden sollten, die es nötiger hatten.

„Guten Morgen.“, erwiderte er die Begrüßung. „Dann schauen wir, wie es mit Frühstück und Verpflegung im Allgemeinen aussieht.“ Damit ergriff er Volta bei den Schultern, drehte ihn herum und schob den verblüfften jungen Mann vor sich her, bevor Dhaôma auf die Idee kommen konnte, ihn zuerst zu heilen.
 

Der braunhaarige junge Mann sah Mimoun nach und das fröhliche Lächeln auf seinem Gesicht verschwamm. Neben ihm seufzte Xaira, dann hakte sie ihn unter.

„Hattest du gestern genügend Kraft, um Lulanivilay vollständig wieder hinzuflicken?“, fragte sie und er schüttelte den Kopf.

„Er muss warten. Die Blitzopfer sind Priorität.“

Wie weise. Xaira zog ihn mit sich. Er sah nicht so aus, als hätte er schon sehr viel von seiner Kraft zurückbekommen. Vermutlich nahm ihm Mimoun mit seinem Verhalten noch ein wenig mehr von seiner üblichen Fröhlichkeit. Männer waren so dumm.

Sie erreichten das Lager und kurz hingen Dhaômas Augen an Mimoun, der sich um eine Jagd zu kümmern begann. Letztlich wandte er sich ab und strebte den Verletzten zu. Wie erwartet konnte er nicht viel tun. Seine Kraft war zurück, aber bei weitem nicht genug, um sie alle vollständig zu heilen. Er stabilisierte sie nur ein wenig mehr, suchte nach der Magie, die schon auf sie gewirkt hatte. Nicht einmal für Keithlyn reichte es. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel und lachte es weg. Immerhin konnte er ihr eine vernünftige Schienung angedeihen lassen. Den Dolch Genahns, den er genutzt hatte, vertraute er ihr an. Sie sollte ihn ihm zurückgeben.
 

Es war Tyiasur, der verhinderte, dass Mimoun der Jagdgesellschaft vorstand. „Ich passe auf, dass es zu keinen Zwischenfällen mit Magiern kommt, und du redest mit Dhaôma.“, bestimmte der Wasserdrache und schlang sich um Einels Hals. Unsicher und auch irgendwie stolz hob dieser die Hände, um sie unverrichteter Dinge wieder sinken zu lassen. Er wagte es nicht, das kleine Schuppentier zu berühren. Einen Widerspruch Mimouns ließ Tyiasur nicht aufkommen, würgte ihn schon nach dem ersten Wort ab und befahl den Abflug. Völlig fassungslos blieb Mimoun zurück. Was bitte war mit seinem Drachen los? Er hielt sich doch sonst immer im Hintergrund und führte erst Recht nicht das Kommando.

Unschlüssig stand er noch einige Minuten da, sah den sich entfernenden Schatten hinterher, und streunte zu Dhaôma hinüber, als er sich endlich überwunden hatte. Aber was sollte er sagen?

„Man hat mich anscheinend ausgesetzt.“, rettete er sich in ein verlegenes Lachen und kratzte sich in einer linkischen Geste hinter dem Ohr.
 

Kurz sah Dhaôma auf, dann nickte er. „Du hast andere Dinge zu tun.“, murmelte er. „Und sie brauchen etwas, woran sie ihre Kräfte abreagieren können.“ Dann schwieg er wieder, rieb Kampfer in seiner kleinen Holzschale zu einem grünen Matsch, wie er es seit geraumer Zeit tat. Zwei Geflügelte halfen ihm dabei. Sie hatten schon ordentlich etwas zusammen.
 

Es war als hätte man ihn mit eisigem Wasser übergossen. Dhaôma war wirklich wütend, sonst wäre er nicht so kurz angebunden oder würde ihn so nebensächlich behandeln. Er hatte es doch gewusst, er hatte sich doch darauf eingestellt. Warum schmerzte es dann trotzdem so?

Langsam wich er einige Schritte zurück. Tyiasur hatte von ihm verlangt, dass er mit Dhaôma redete, aber wie sollte er, wenn dieser anscheinend nicht reden wollte?

„Ich habe gehandelt, ohne nachzudenken. Es lag nicht in meiner Absicht, dass Vilay so schwer verletzt wurde. Es tut mir Leid.“ Kurz verneigte er sich und wandte sich zum Gehen.
 

„Wer hat gesagt, dass es deine Schuld ist?“, wollte Dhaôma wissen und hielt in seiner Bewegung inne. Gerade jetzt hielt er sich so stark zurück, dass er beinahe weinte. Er sah, dass Mimoun verletzt war, auch wenn dieser es ihm nicht zeigte. Das tat ihm weh. Und nun entschuldigte er sich bei ihm, ohne zu bleiben. Wollte wieder gehen. Willentlich entspannte er seine Hände, die sich um die Schüssel krampfen wollten. Aylen hatte es ihm gesagt; er musste warten, bis Mimoun mit ihm reden wollte, nicht wahr?
 

„Niemand.“, seufzte Mimoun, der stehen geblieben war, sich aber nicht umdrehte. „Das ist auch nicht nötig. Ich weiß es auch so.“
 

„Ah.“ Betrübt ließ Dhaôma seinen Kopf hängen. „Ist okay.“ Er wollte diese Entschuldigung eigentlich nicht annehmen, aber er konnte sich nicht stoppen. Mit Mimoun zu streiten war das schlimmste, das ihm passieren konnte. Wenn er das vermeiden konnte, würde er das tun. Vor allem, wenn es so etwas Belangloses war, das sie trennte.
 

Okay? „Nichts ist okay!“, rief Mimoun aufgebracht und wirbelte herum. Nur am Rande bemerkte er die beiden Gestalten, die plötzlich höchst konzentriert ihre Arbeit verrichteten. „Durch mich hättest du beinahe deinen Drachen verloren, deinen Traum, deine Freiheit! Wie kannst du das mit einem einfachen ‚ist okay’ abtun?“
 

Zitternd stellte er die Schale ab, ballte die Hände zu Fäusten. „Was hast du damit zu tun? Vilay ist alt genug, um auf sich selbst Acht zu geben! Er ist stark genug. Was könntest du alleine gegen so viele schon ausrichten? Was kannst du dafür, wenn Radarr das Drachentötetschwert bei sich trägt? Gegen diese Waffe könntest du nichts unternehmen, selbst wenn du kämpfen würdest! Nicht einmal Vilay konnte das voraussehen, also tu nicht so, als hättest du es vorher gewusst und nur daneben gestanden und zugesehen! Du hast es Radarr nicht befohlen, also hör auf, dir die Schuld zu geben. Und hör auf, so zu tun, als würde ich dich aussetzen oder schlagen deswegen! Wenn du unbedingt eine Standpauke hören willst, dann lass sie dir von jemand anderem geben!“
 

„Radarr war bereits bei meinem Anblick ziemlich ungehalten.“ Mimouns Gesicht verzehrte sich vor Trauer, als er sich an die Momente zurück erinnerte. „Er machte mir Vorwürfe, dass ich dich deiner Familie weggenommen hätte. Anstatt die Angelegenheit ruhig zu regeln, habe ich ihm geradeheraus gesagt, dass er die Schuld daran in seinem eigenen Verhalten suchen sollte. Ich habe ihn provoziert. Ich trage die Schuld daran, dass Lulanivilay versuchen musste, schlichtend einzugreifen, ob du es nun sehen willst oder nicht. Eine kurze Standpauke und dann die Entschuldigung annehmen. Das würde mir mehr helfen, als ein lapidares ‚ist okay’.“ Er wandte sich wieder ab. „Aber du hast Recht. Vielleicht bist du in dem Punkt wirklich nicht der richtige Ansprechpartner.“
 

„Nein, bin ich nicht.“, antwortete Dhaôma leise, dann nahm er die Schale wieder auf und rührte weiter darin herum. Gerade jetzt brauchte er all seine Kraft, um nicht zu weinen.
 

Seine letzte Hoffnung auf einen Widerspruch war mit diesen Worten dahin. Er drehte sich nicht noch einmal um, richtete nicht noch einmal das Wort an Dhaôma, sondern ging einfach. Obwohl, einfach war es nicht. Mimoun brauchte all seine Kraft und Konzentration, um nicht hier auf der Stelle ins Gras zu sinken, überwältigt von den Schmerzen, die in seiner Seele tobten. Warum war es immer so schwierig, sich mit Dhaôma auszusprechen? Wieso ging dieser jeder noch so kleinen Konfrontation aus dem Weg?

Sein Blick fiel auf Lulanivilay. Nach dem Gespräch mit dessen Reiter gab er den Versuch schon von vornherein auf. Dazu war er ihm zu ähnlich. Auch bei ihm würde er nicht das finden, was er gerade brauchte. Als Keithlyn seinen Blick bemerkte, winkte sie mit einem Lächeln zu ihm herüber, was Mimoun einen zusätzlichen Stich versetzte. Auch sie schien es ihm nicht sonderlich nachzutragen. Was war nur los mit den Leuten in seiner Umgebung? Waren seine Bedürfnisse etwa so unmöglich, so undurchführbar?

Mimoun wandte sich völlig von den Leuten ab und zog sich ans Flussufer zurück, entfernt von allen. Stöhnend ließ er sich ins Gras sinken und legte einen Arm über das Gesicht. Tief und zittrig holte er Atem und konnte doch nicht verhindern, dass eine einzelne Träne gut verborgen vor den anderen über seine Wange rann.
 

Die Stimmung, die Mimoun zurückließ, machte die Männer fertig, die den Kampfer stampften. Viele andere hatten sich bereits zurückgezogen. Sie hatten das ja schon öfter mal erlebt, dass zwischen den beiden irgendwas unausgesprochen war, aber so schlimm noch nie. Es war so einfach für sie zu sehen. Dass Dhaôma darunter litt, dass Mimoun sich fertig machte, für etwas, das er nicht hätte ändern können. Dass Mimoun im Grunde einfach eine Umarmung brauchte, die ihm sagte, dass ihm verziehen worden war. Diese beiden standen sich einfach selbst im Weg.

Xaira raufte sich die Haare. Sie war kurz davor, Mimoun selbst die Standpauke zu geben, als sich unerwarteter Weise der Drache erhob. Mit schwerfälligen Schritten schlurfte Lulanivilay zu dem Schwarzhaarigen. Er wirkte nicht so, als würde er Schmerzen haben, einfach, als wäre er zu faul, seine Pranken hochzuheben. Letztlich ließ er sich neben Mimoun fallen.

„Du bist dumm, Himmel.“, meinte er. „Und du tust ihm weh. Ich mag das nicht. Hör auf damit.“
 

Unauffällig wischte der Arm die Tränenspur fort, als er heruntergenommen wurde. Widerspruchslos nickte Mimoun. Er wusste selbst, dass er sich dumm benahm, aber es fiel ihm derzeit so schwer, sich anders zu verhalten. Mit traurigem Blick maß er den großen Freund, setzte sich endlich auf und berührte die frische Haut, die die furchtbare Wunde verbarg.

„Es tut mir Leid.“ Mimoun lehnte sich vor und verbarg das Gesicht an der breiten, schuppigen Brust. „Es tut mir so Leid.“
 

„Du hast mich nicht gestochen. Und so war es besser. Freiheit wäre traurig gewesen, wenn du gestorben wärst. Vielleicht wären alle anderen auch gestorben.“ Die goldenen Augen folgten den glitzernden Fischen im Wasser, als wäre er an dem Gespräch absolut nicht interessiert. „Das Schwert ist zu kurz für mich. Mit einem Stich kann er mich nicht töten.“
 

„Und ich wäre traurig gewesen, wenn du gestorben wärst. Ich hätte es mir nie verzeihen können, Dhaôma seinen Drachen zu nehmen. Und ich habe gesehen, wie schwer du verletzt wurdest. Ich habe gesehen, wie stark du geblutet hast. Auch wenn es nur ein Stich war. Es hätte dich getötet, wäre Dhaôma nicht gewesen.“, begehrte Mimoun auf, noch immer ohne aufzusehen.
 

„Aber Freiheit war da.“ Die Schwanzspitze schlug auf das Wasser und nachlässig griff Lulanivilay nach dem Fisch, den er getroffen hatte. „Gut und schlecht. Ich hätte ihn wirklich gerne gegessen.“
 

Irritiert blinzelte der Geflügelte und schaute zwischen dem Drachen und seiner Beute hin und her. „Den Fisch oder Radarr?“, wollte er wissen.
 

Der Fisch verschwand in dem großen Maul. Es war nicht einmal genug, um Mimoun satt zu bekommen, aber darum ging es auch nicht. Es ging um den Geschmack. „Fangzahn. Er macht zu viel Radau.“
 

Mimoun kicherte leise. „An dem hättest du dir bloß den Magen verdorben.“ Sein Blick glitt zurück zu dem chaotischen Haufen, der eigentlich die Armee der Geflügelten darstellen sollte. Radarr war nicht der Einzige, der Radau machte. „Ah. Um zu vermeiden, dass man dich noch einmal angreift, solltest du sie nicht mehr als Jagmarr anreden. Ich verstehe zwar nicht wie und warum, aber dieses Wort ist zu einer Beleidigung für sie geworden.“
 

„Wie dumm.“ Fast schien es, als würde er schmollen. „Sie verleugnen, was sie sind.“ Lulanivilay tauchte die Nase ins Wasser und trank, dann blies er Luft aus den Nüstern, dass es brodelte. „Die sollen sich beeilen. Ich hab Hunger.“
 

Welch schlichtes Gemüt, schmunzelte Mimoun. „Niemand ist so schnell wie du. Gib ihnen noch ein wenig Zeit. Außerdem müssen sie ja auch dich satt kriegen. Da wird das noch eine ganze Weile dauern. Also gedulde dich.“ Seufzend lehnte sich der Geflügelte wieder gegen Lulanivilay und schloss die Augen. Dieses Gespräch war nicht das gewesen, was er sich gewünscht hatte, und doch hatte der große Grüne es geschafft, sein aufgewühltes Inneres zumindest im Ansatz zu beruhigen, einfach durch seine unnachahmlich ausgeglichene Art.
 

„Sie brauchen mehr Training.“, murrte Lulanivilay indifferent.

„Da gebe ich dem Großen Recht.“, mischte sich eine Stimme ein, die jedem auf diesem Platz nur allzu bekannt war und von den meisten gefürchtet wurde. Er hatte laut genug gesprochen, dass auch diejenigen, die ihn nicht hatten ankommen sehen, jetzt wussten, dass er da war. Kaley stand da, die Arme vor der Brust verschränkt, wie immer ein Berg stolz getragener, narbenverzierter Muskeln.

„Du auch, Beschützer. Deine Schultern und Knie zittern.“

Kaum fünf Meter entfernt begann Aylen zu kichern, die ihren Meister hatte begrüßen wollen. Sie konnte es kaum unterdrücken. Musste sie auch nicht. Asams Lachen übertönte sowieso alles.
 

Kaley. Asam. Was machten diese beiden denn hier? Der Weg nur zu zweit hierher war gefährlich. Aber zugleich erfüllte Mimoun der Anblick dieser beiden so ungleichen Gestalten mit einer unendlichen Erleichterung. Er hatte sich als Drachenreiter niemandem unterzuordnen, dennoch hatte er das Gefühl, dass die ganze Last und Verantwortung nicht mehr auf seinen Schultern lastete.

Mimoun hatte nicht die Kraft, sich zu erheben, um die beiden Ratsmitglieder gebührend zu empfangen. Mit einem bezeichnenden Fingerzeig auf seine Knie rettete er sich in ein äußerst missglücktes Lächeln, das seine wahren Gefühle nicht verbergen konnte.
 

Das Gesicht Kaleys war recht säuerlich, was fast alle zur Kenntnis nahmen. Schnell wandten sich die Glücklichen, denen Dhaôma welche gegeben hatte, wieder ihren Aufgaben zu, andere sahen sich schnell um, ob sie etwas fanden.

Asam ließ sich schließlich einfach fallen. „Ah, ich dachte wirklich, ich wäre der einzige, der erschöpft ist. Schön zu wissen, dass es nicht nur mir so geht.“ Völlig erledigt streckte er alle Viere von sich. „Was musstet ihr so weit fliegen? Ihr habt hier absolut nichts zu suchen!“ Der Vorwurf war so leidend vorgetragen, dass kaum einer es ernst nehmen wollte, aber dass der Anführer persönlich hier war und ihnen auch noch den Grund gesagt hatte, verschaffte ihnen dann doch ein mulmiges Gefühl, das Amüsement im Keim erstickte. Tja, warum waren sie doch gleich noch mal hier?

„Asam, Kaley.“ Dhaôma war aufgestanden, nachdem es sonst irgendwie niemand für angebracht hielt, etwas zu sagen. Er freute sich, diese beiden zu sehen. Langsam kam er zu ihnen herüber.

„Ah, Magier!“ Kaley steuerte direkt auf ihn zu. „Ist etwas vorgefallen, während wir nicht da waren, oder sind wir noch rechtzeitig?“

Braune Augen trafen auf das eine blaue, das dem Veteran noch geblieben war, dann lächelte er. „Es ist alles unter Kontrolle. Wir hatten ein bisschen Chaos gestern und einige sind verletzt, aber keiner ist gestorben. So, wie die Dinge zur Zeit liegen, ist Frieden vielleicht selbst mit den Soldaten der Magier möglich. Sie schienen gestern gar nicht so abgeneigt, darüber nachzudenken.“ Weich zwinkerte er dem Mann zu, bevor er sich neben Asam hockte und ihm seinen Wasserschlauch anbot. Dankbar nahm der blonde Mann den Segen an. „Genahn hat versprochen, dass wir uns heute noch einmal treffen, um darüber zu sprechen, wie die Stimmung bei den einzelnen Parteien ist.“ Kurz wurde sein Lächeln traurig, bevor er vergnügt dabei zusah, wie Asam das Wasser gierig verschlang. Auch Kaley bekam Wasser. Aylen war aufmerksam wie immer, wenn es darum ging, ihren Meister gnädig zu stimmen. „Gerade jetzt sind einige Männer unterwegs, um etwas zu essen aufzutreiben.“

„Ah, ist das denn in Ordnung, in Magiergebiet zu jagen?“

„Sie werden nicht so leichtsinnig sein, es so nahe bei den Magiern zu machen.“, schaltete sich einer der Anführer der Armee ein.

Kaley schickte ihm einen vernichtenden Blick. „Ihr solltet nicht mal hier sein!“, fauchte er. „Da ist es egal, wie vorsichtig sie sind!“

„Bitte.“, fiel Dhaôma in die Standpauke ein und sein Blick war so flehend, dass Kaley unwillig schnaubte. „Kein Streit jetzt. Sie haben einen großen Fortschritt gemacht, als sie sich gestern gegen den Kampf entschieden haben, obwohl sie so viel haben mit ansehen müssen. Wenn man das bedenkt, dann ist es gut, dass sie hier waren, denn sie haben den Magiern anschaulich gezeigt, welchen Weg sie gehen wollen. Ich bin sicher, das hat viele beeindruckt.“

Seufzend hockte sich Kaley neben seinen Anführer und Dhaôma und trank auch endlich. „Fein. Ich höre mir die Geschichte an, dann entscheide ich, welche Strafe angemessen ist oder nicht. Immerhin haben sie gegen einen direkten Befehl verstoßen.“

„Ja.“, nickte Dhaôma. Er war zufrieden mit dieser Herangehensweise.

„Entschuldigung?“ Eine dünne Stimme meldete sich zu Wort. Und als die beiden Ratsmitglieder aufsahen, stand Keithlyn neben ihnen.

„Wer bist du?“ Kaley schickte Aylen einen misstrauischen Blick, was sie mit hektischen Gesten weit von sich wies. „Was suchst du hier?“

„Ah, ich bin Keithlyn.“, murmelte sie eingeschüchtert. „Und ich bin Schuld, dass sie alle hier sind.“ Ihre Wangen und spitzen Ohren waren flammendrot.

„Ai, Richtig. Das wollte ich eh noch fragen. Keithlyn, wir hatten doch gesagt, dass wir dich besuchen kommen, wenn alles vorbei ist, damit du die Hanebito kennen lernen kannst. Warum bist du allein gekommen?“

„Ich wollte dabei sein!“, rief sie hastig. „Ihr habt gesagt, dass ich dabei sein kann, wenn ich mit euch mithalten kann, jetzt hab ich euch sogar eingeholt! Ihr könnt nichts mehr dagegen sagen, dass ich hier bin. Ich kann auf mich selbst aufpassen!“

„Sicher.“ Auch Xaira war jetzt angekommen. „Dein Arm ist der beste Beweis dafür, dass du das eben nicht kannst.“

„Aber das war ein Unfall!“, verteidigte sie sich.

„Ja und? Du hättest genauso gut sterben können. Und das alles, weil du unbedingt mit an die Front wolltest. Ein unbedachter Schritt und Lulanivilay hätte dich zertreten wie eine Schabe.“

Sie schmollte und Tränen standen in ihren Augen. Schon wollte sie etwas erwidern, da hob Asam die Hand und setzte sich auf.

„Stopp. Allesamt stopp. Alle, die denken, etwas zu sagen zu haben, kommen her, dann reden wir gesittet. Kind, setz dich. Xaira, du auch. Mimoun, komm bitte auch her. Sonst noch wer?“ Er warf einen fragenden Blick auf den Drachen, der wieder begonnen hatte, kleine Fische zu fangen, aber diese Hoffnung war wohl vergebens. Er war wie immer nicht wirklich interessiert.

Es setzten sich noch drei der Veteranen und Aylen in den Kreis, die der Meinung war, dass Xaira und Keithlyn eine weibliche Unterstützung gebrauchen konnten. Dann übernahm Asam das Heft und führte sie durch die chronologische Erzählung. Aylen und die Veteranen erzählten, wie Keithlyn eines Tages aufgetaucht war und nach den Drachenreitern gefragt hatte. Wie sie auf sie eingeredet hatte, bis sich einige wenige dazu bereit erklärt hatte, sie zu ihnen zu bringen. Als sie dabei erwähnten, was sie alles gesagt hatte, um sie soweit zu bekommen, sträubten sich den meisten die Haare. Sie hatte so viel gelogen und handelte sich dafür gleich mehrere tadelnde Blicke ein. Dann die Ankunft an diesem Ort, erzählt von dem Veteranen, der sich Mimoun in den Weg gestellt hatte. Er machte keinen Hehl daraus, dass er mit der Situation, wie sie sich zugetragen hatte, nicht einverstanden war. Mimouns Überheblichkeit ging ihm gehörig gegen den Strich, aber keiner der beiden Machtinhaber ging darauf ein. Also erzählte als nächstes Aylen mit Mimouns Unterstützung, wie sie die Geflügelten aufgehalten hatten, bevor Xaira darlegte, wie Dhaôma die Magier überzeugt hatte. Sie ließ den Kontrollverlust weg, den er wegen dem Angriff auf Mimoun gehabt hatte, bestand aber auf einer ausführlichen Beschreibung des Verhaltens von Radarr. Dann sollte Mimoun noch einmal erzählen, was bei dem Rettungsflug passiert war, aber diesmal drängte sich Keithlyn vor und erzählte es aus ihrer Sicht. Und sie wiederholte nicht nur die Konversation zwischen den beiden Kontrahenten ziemlich wortgetreu, sondern schilderte auch das, was sie von Lulanivilays Rücken aus gesehen hatte, nämlich die Geste, die Dhaôma machte, wenn er Eis rief, ausgeführt vom Heerführer der Magier. Dass der Drache daraufhin dazwischen gegangen wäre und die Wut über seine Verletzung, wäre nicht verwunderlich gewesen. Sie hielt Mimouns Blick kurz fest, bevor sie erzählte, dass ihr Genahn geholfen hatte, ihren Arm zu verbinden, und dass die Magier ihre Freunde gefunden und versorgt hatten. Sie begann von Genahn zu schwärmen, was ihr von Seiten Asams kurz gestattet wurde, bis er ein ungefähres Bild des Mannes zu haben glaubte. Im Abschluss umriss Dhaôma kurz die Situation im Lager und den Zustand der Verletzten. Sie waren gerade fertig, als die ersten Teilnehmer der Jagdgruppe zurückkehrten, zusammen einen großen Hirsch tragend.
 

Gut. Er wusste jetzt, dass die Angelegenheit dramatischer gewesen war, beabsichtigte Radarr schließlich zu zaubern, das minderte seine Schuld aber nicht. Er seufzte schwer. Nach dem Gespräch mit Lulanivilay kam er sich jetzt ein wenig albern vor, so verbissen um Schuldzuweisungen zu betteln. Jeder hatte seine eigene Ansicht der Dinge und theoretisch befanden sie sich noch immer im Krieg.

Sein Blick wanderte zu den Rückkehrern, konnte Tyiasur aber nicht entdecken. Er blieb wohl bis auch der Letzte sicher zurück war. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er an den treuen Freund dachte. Von diesem war ihm aufgetragen worden, sich mit Dhaôma auszusprechen. Zwar hatte er reden gesagt, Mimoun kannte den Blauen mittlerweile aber gut genug. Nun, wo die Aufmerksamkeit nicht mehr in der kleinen Runde lang, rutschte er ein wenig zu seinem Liebsten hinüber und ergriff zögerlich seine Hand.

Mimoun war versucht erneut eine Entschuldigung loszulassen, befürchtete aber, dass Dhaômas Erwiderung darauf ihn wieder in Rage bringen würde. „Danke, dass du es mit einem Trottel wie mir aushältst.“, flüsterte er ihm stattdessen ins Ohr.
 

Bange hatte der Braunhaarige darauf gewartet, was kommen würde, nun holte er Luft, um etwas zu erwidern, aber als er in die grünen Augen sah, stockte er und beschloss, es dabei zu belassen. Wie sollte er ihm je begreiflich machen, dass er inzwischen das gleiche Verhalten an den Tag legte, das er ihm so mühsam ausgetrieben hatte? Weich streichelte er ihm über die Wange, dann lehnte er sich vor und flüsterte ihm ins Ohr: „Es werden noch mehr Situationen kommen wie diese. Versuche einfach, nicht alles auf deine Schultern zu nehmen. Du kannst nicht für alle die Verantwortung übernehmen, nicht wahr?“
 

„Ich sollte als Drachenreiter aber auch die Größe besitzen, für den Frieden einzustehen und nicht stumpfsinnige Idioten – ja, dein Bruder ist einer – noch zusätzlich provozieren, noch dazu, wenn ich in der Unterzahl bin. Wenigstens schaffe ich es, aus Fehlern zu lernen. Beim nächsten Mal wird mir das nicht passieren, versprochen.“ Langsam schlug die Müdigkeit wieder zu. Nach einem anstrengenden Tag und einer nahezu komplett durchwachten Nacht hatte er nur wenige Stunden schlafen können, bevor Xaira ihn geweckt hatte. Seufzend lehnte er sich an Dhaôma an und schloss für einen Moment die Augen. Nur kurz. In Anwesenheit von Ratsmitgliedern ein Nickerchen zu halten, kam Respektlosigkeit ziemlich nahe. Und dafür gäbe es dann wirklich eine Standpauke. Zumindest Kaley würde da wenig Hemmungen haben.
 

„Ist gut.“, lächelte Dhaôma und ließ seine Hand auf der breiten Schulter liegen. Es war gut zu sehen, dass sein Freund sich endlich entspannte. Für ihn kam es Folter gleich, Mimoun sich so zusammenreißen zu sehen.

„Also habt ihr beiden gerade noch so eine riesige Schlacht verhindert.“ Asam war zu ihnen zurückgekommen. In seinen Augen glitzerte es. Er fühlte sich immer ausgeruhter, da wollte er seinen obligatorischen Begrüßungskampf mit Mimoun ausfechten. Gerade auch, weil dieser so schrecklich müde aussah. Vielleicht hatte er da mal eine Chance! Aber gerade, als er sich in Position bringen wollte, schüttelte Dhaôma den Kopf. Nur für einen winzigen Moment gab er dem Bedürfnis nach, Mimoun heilen zu wollen, so dass die Linien auf seinen Wangen leicht bläulich leuchteten, aber er hatte sich für diesen Tag schon so gut wie verausgabt und Mimoun würde böse werden, also zog er die Kraft wieder zurück. Immerhin hatte Asam verstanden.

„Idiot.“ Widerwillig verpasste er dem Schwarzhaarigen eine Kopfnuss.
 

Dieser schrak hoch und blinzelte verblüfft in die Gegend. Irritiert rieb er sich den Kopf und maß Asam mit verständnislosen Blicken. Nur langsam dämmerte ihm, was den Freund so aufgebracht hatte.

„Morgen.“ Mimouns grüne Augen richteten sich für einen Moment auf den jungen Magier und hinter der Stirn begann es zu arbeiten. „Eher übermorgen. Mit geprellten Rippen wäre das kein Spaß.“ Und bevor Dhaôma auf die Idee kommen sollte, ihn heilen zu wollen, hob er die Hand. „Bitte kümmere dich erst um Keithlyn und die anderen. Sie brauchen deine Hilfe nötiger.“
 

„Ich weiß schon.“, antwortete dieser. „Und nächstes Mal werde ich es auch wissen, selbst wenn du mir sagst, dass du verletzt bist.“

Asam sah zwischen den beiden hin und her, dann gab er Mimoun eine zweite Kopfnuss. „Die ist von Leoni. Ich bin sicher, dafür hättest du dir eine gefangen.“
 

Mimoun war sich da auch völlig sicher, das musste Asam aber nicht wissen und so schenkte er dem Freund einen nicht wirklich ernst zu nehmenden bösen Blick.

„Sobald ich wieder fit bin, reden wir noch einmal darüber.“, drohte der Drachenreiter gespielt und wandte sich wieder Dhaôma zu. Mit einem sanften Lächeln drückte er die Hand, die er noch immer festhielt. Er hätte jetzt anfangen können zu diskutieren, wo Kratzer aufhörten und Verletzungen anfingen, aber er kannte den Standpunkt des Magiers. Selbst kleinste Abschürfungen waren für ihn Verletzungen, die sofort behandelt werden mussten. „Ich glaube, mein Ego ist zu groß geworden, schließlich ging ich davon aus, dass ich bei dir oberste Priorität besitze. Oder spätestens an zweiter Stelle komme.“
 

Ein leises Lachen kullerte aus Dhaômas Mund. „Das tust du. Genau deswegen mache ich, was du wünschst. Aber glaube nicht, dass ich dich nicht trotzdem bevorzugen würde, wenn du in Lebensgefahr schweben würdest. Dann ist es mir egal, was andere oder du wünschen.“ Frech streckte er ihm die Zunge heraus, bevor er Anstalten machte, sich zu erheben. „Und weil ich nun mal der Heiler hier bin, werde ich jetzt meinen Pflichten nachkommen und die Behandlung fortsetzen, die ich begonnen habe. Und du bist brav und schonst dich. Immerhin haben wir heute vielleicht noch eine Begegnung mit den Magiern vor uns, falls sie schon dazu bereit sind, mit uns zu reden.“
 

„Würde ich in Lebensgefahr schweben, also wären die Rippen wirklich gebrochen gewesen, hätte ich auch etwas gesagt. Wirklich.“, bekräftigte Mimoun noch einmal, ergriff Dhaômas Hand, schlang einen Arm um dessen Brust und zog ihn wieder zu sich heran. Er ließ die Hand wieder los, suchte den Kopf seines Magiers und zog ihn in einen sanften Kuss. Dhaôma hatte gelacht. Es war also alles wieder in Ordnung. Das Gefühl von Beklemmung wich nun völlig aus seiner Brust, hinterließ nur noch leises, protestierendes Pochen aufgrund der schnellen Bewegung.

„Ich liebe dich.“
 


 

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ich hasse Radarr

Verantwortung eines Anführers

Also nun extra noch mal für unsere beiden Hauptleser Kuromikan und Zebran: Die Diskussion über edle Kleidung.

Enjoy

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Kapitel 73

Verantwortung des Anführers
 

Die Jagdgruppe hatte kaum genügend gefangen, um alle wirklich satt zu bekommen. Zwischen den Bäumen war es nicht so einfach, Wild zu sehen, aber es dann auch zu ergreifen, bevor es im Gestrüpp verschwand, war richtig schwer. Und ihre Pfeile blieben nur allzu oft in den Ästen über den Tieren stecken. Es war einfach zum Haare ausreißen gewesen. Sie hatten keine Übung mit bewaldeten Gebieten.

Lulanivilay wandte sich daraufhin ab. Er hatte so geduldig gewartet! Aber wenn diese Menschen so unfähig waren, dann würde er sich selbst etwas fangen. Nicht wenige sahen ihm erstaunt nach, als er mit eng an den Körper gezogenen Flügeln durch die Bäume brach, immer schön am Fluss entlang.

Als Juuro das Fleisch fertig gegrillt hatte, waren alle Verletzten mit Salben und Heilkräutern versorgt. Selbst Mimoun hatte Dhaôma eingerieben. Die Stimmung wurde bei weitem besser, nachdem klar war, dass ihre Strafe sich später entscheiden würde. Kaley war wütend, aber ihr Verhalten am Vortag hatte sich tatsächlich fürs Erste als richtig erwiesen, also war er gewillt, die Bestrafung auf Zeiten zu verschieben, wo man eben nicht mit Angriffen rechnen musste. Asam dagegen kümmerte sich nicht darum, ob und wer bestraft werden musste. Er interessierte sich für die Menschen und ihre Meinungen. Erst befragte er Aylen und ihre treuen Beschützer, danach einige aus der Fraktion, die noch immer kämpfen wollten. Keithlyn wurde in ein sehr lustig anmutendes Gespräch verwickelt und tatsächlich hielt sie sich daran, Dhaômas Behandlung unerwähnt zu lassen.

Dann kam Lulanivilay zurück. In seinen Pranken hingen einerseits anderthalb Waldschafe, andererseits Genahn, der wie immer über das ganze Gesicht lachte, weil ihn die Situation alle paar Augenblicke wieder in eine Mischung aus Verzweiflung und Amüsement schickte. Beinahe sanft wurde er fallen gelassen, als Dhaôma auch schon auf ihn zu rannte.

„Er hatte sich verlaufen.“, war die kurz angebundene Erklärung, bevor der große Drache begann, seine Beute zu verschlingen.

Der Magier rappelte sich hoch und klopfte sich den Staub von den Kleidern. „Ich habe wohl das Pech, immer auf ihn zu stoßen. Ohne Geschirr ist es echt unmöglich, auf seinem Rücken zu bleiben, wenn er läuft.“

„Nicht unmöglich, aber es bedarf einer Menge Übung.“, stimmte ihm Dhaôma schmunzelnd zu. „Also treffen wir uns nicht, sondern Ihr kommt uns besuchen. Habt Ihr Hunger? Es ist noch Fleisch da.“

„Genahn!“ Keithlyn flog dem überraschten Mann in die Arme. Er fing sie geschickt auf, dabei hatte sie es eindeutig darauf angelegt, ihn umzuwerfen. „Du bist wieder da! Kommst du, um deinen Dolch abzuholen?“

„Hey, was ist das? Dein Arm ist noch nicht wieder heile?“ Sein Blick huschte kurz zu Dhaôma, dann lauschte er ihrer Erklärung, dass andere schlimmer verletzt waren als sie und sie warten würde, um Dhaôma nicht zu schaden. Still nahm er zur Kenntnis, dass Dhaôma sich gestern wohl wirklich übernommen hatte. Kein Wunder, wenn er erst dieses Chaos verursacht und dann auch noch den Drachen geheilt hatte. Dazu die Blumen und Verteidigung, den Stillstand der Luft… Wenn er so mächtig wäre, würde er auch sein Glück versuchen, um Drachen zu finden. Ihm gefiel Lulanivilay und das Fliegen.

Freundlich setzte er sie wieder ab und begrüßte die Geflügelten, die er gestern schon kennen gelernt hatte. „Im Grund komme ich, um euch zu sagen, was in meinem Lager gerade passiert. Ihr werdet erstaunt sein. Dhaôma, Ihr habt viele Anhänger gewonnen mit Eurer unheimlichen Präsentation von Macht.“

„Ai?“ Der Braunhaarige war sich nicht sicher, ob das jetzt positiv oder negativ war.

„Des Weiteren bitten sie Mimoun, etwas zu tragen, was ein wenig auffälliger ist als die Alltagskleidung der Hanebito, damit sie ihn als Drachenreiter identifizieren können. Ihre Vorschläge waren rote Kleider, ein Kopftuch oder Seidenkleider. Also wurde mir aufgetragen, sowohl Euch, Dhaôma, als auch ihm welche mitzubringen.“ Feist präsentierte er einen kleinen Rucksack. Er zwinkerte dem Magier zu. „Wir können nicht verantworten, dass Ihr herumlauft wie ein Bettler.“

„Habt Dank, Genahn.“ Erleichtert nahm Dhaôma den Rucksack entgegen. In der letzten Nacht war es schon ein wenig frisch gewesen, so ganz ohne Oberteil und Kuschelpartner. Außerdem fühlte er sich auch nicht wohl, unter so vielen Menschen halbnackt herumzulaufen.

„Komm, du wolltest etwas essen!“ Keithlyn zerrte an Genahns Arm und dieser ließ sich lachend mitziehen. Ihn schienen die misstrauischen Blicke nicht zu stören. Bei den Halblingen am Feuer angekommen, trafen auch Kaley und Asam ein. Der einäugige Koloss schien wie ein riesiger wachsamer Schatten über seinen Anführer zu wachen.

„Mein Name ist Asam Maral.“, begrüßte der blonde junge Mann den Gast höflich. „Es freut mich, Euch kennen zu lernen.“

„Maral? Anführer? Ihr seid reichlich jung.“ Genahn maß Asam aufmerksam und seufzte dann. „Ah, Charisma und Fürsorglichkeit, dazu stille Weisheit und unterschwellige Härte. Ihr gefallt mir, Maral.“

„Asam ist in Ordnung.“ Die beiden sahen sich an, dann grinsten sie plötzlich gleichzeitig. „Also seid Ihr derjenige, der jetzt die Magierarmee anführt. Ist der Bruder Dhaômas etwa doch gestorben?“

„Nein, nein. Aber unsere Heiler haben Schwierigkeiten, seine Wunden zu verschließen. Er ist noch nicht bei Bewusstsein.“ Und weil Dhaôma geschockt aussah, fügte er hinzu: „Ein paar Kratzer und Verletzungen an den Ohren. Vermutlich eine Erschütterung des Gehirns. Aber obwohl das normalerweise nicht lange dauern würde, diese Leiden zu beseitigen, sprechen sie nicht auf Magie an.“

„Ist das so?“ Beunruhigt kaute der junge Mann auf seiner Unterlippe. So etwas hatte er noch nie gehört. „Vielleicht sollte ich es selbst mal versuchen…“, murmelte er gedankenverloren.

„Ja, macht das, Dhaôma. Sobald sich die Lage gefestigt hat, denn vorher würde er die Gespräche womöglich nur verkomplizieren.“

„Seid Ihr nicht ein wenig zu offenherzig mit Eurer Meinung über Euren Anführer?“, fragte Asam, was lachend abgewunken wurde.

„Nein, nein. Ich habe Recht. Radarr ist mein Freund. Es widerstrebt mir, ihn leiden zu sehen, aber wenn ich ehrlich bin, möchte ich auch, dass der Krieg vorbei ist, dann kann meine Schwester vielleicht endlich mit ihm glücklich werden.“

„Ihr seid…“ Dhaômas Augen wurden groß.

„So ist es. Wir sind so etwas ähnliches wie verwandt.“ Lachend klopfte der dunkelhaarige Mann Dhaôma auf die Schulter. „Penny ist meine Schwester. Meine jüngste, im Übrigen, ich habe noch zwei andere.“

„Penny en Voka en Gemmon.“, flüsterte Dhaôma, dann lachte er leise. „Es hätte mir klar sein müssen.“

„Ja, sicher. Wo Ihr sie schon so oft gesehen habt, dass sie nicht einmal zu sagen wusste, wie Ihr ausseht.“ Genahn schüttelte den Kopf. „Macht Euch nichts draus.“

„Aber dann… Genahn, vielleicht sollten wir in diesem Falle die Förmlichkeiten fallen lassen. Außer natürlich, Ihr besteht darauf, so wie Mutter, dann…“

„Nein, nein, ich freue mich. Ab heute also Du, einverstanden?“ Dhaôma nickte, dann wandte sich Genahn wieder an Asam. „Wie ich bereits sagte: Ich bin hier, um die Lage zu erklären. Werdet Ihr mich anhören?“

„Natürlich. Setzt Euch.“

Und während Juuro Wasser und geröstetes Fleisch brachte, erzählte Genahn ein wenig unglücklich, dass es drei Fraktionen unter den Soldaten gab. Jene, die schon lange die Schnauze voll hatten, jene, die ihre Fahne in den Wind hängten, und diejenigen, die steif und fest behaupteten, dass der Angriff auf ihren Anführer eine neue Kriegserklärung war.

„Ich hätte ihn doch essen sollen.“, flutete Lulanivilays Stimme zu ihnen herüber und Dhaôma starrte ihn entsetzt an. Bei allen, die den Drachen nicht so gut kannten, löste es ein mehr oder weniger unsicheres Lachen aus. Diese Aussage konnte nur als Witz gedacht sein.
 

„Das ist ein Witz.“ Die Worte waren mit solch einer Inbrunst und Überzeugung gesprochen, dass sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden von Lulanivilay zu Mimoun wandte. Dieser hatte sich bisher eher im Hintergrund gehalten, nur mit halbem Ohr gelauscht und aus purer Neugierde den Rucksack an sich gebracht und geplündert. Hey. War sowieso zum Teil für ihn gedacht. Aber was er daraus hervorgezogen hatte, widerstrebte ihm. Gut. Er hatte so etwas schon einmal tragen dürfen, ganz zu Anfang seiner Freundschaft mit Dhaôma, aber auch damals hatte er schnell wieder auf seine robustere Lederkleidung umgestellt. Nun hielt er den tiefblauen Stoff in die Höhe und sah fragend Genahn an. Bevor jemand etwas einwenden konnte, fuhr er fort: „Das Einzige, das in Ordnung ist, ist die Farbe.“ Er drehte das Hemd herum und präsentierte den Rücken. „Bisschen unpraktisch, wenn man mit Flügeln ausgestattet ist.“ Mimoun drehte es wieder herum und griff einen der Ärmel, präsentierte ihn. Er Ignorierte gekonnt den grinsenden Drachen auf seiner Schulter. „Mit den langen Ärmeln würde ich überall hängen bleiben und das Beste kommt zum Schluss:“ Nun hielt er das Kleidungsstück direkt an seine Brust und sah an sich herab. „Ein bisschen groß und lang. Darin sehe ich aus, als würde ich ein Kleid tragen.“ Das Gelächter um ihn herum bestätigte seine Behauptung. Ordnungsgemäß legte er das Oberteil wieder zusammen. „Danke für das Angebot und guter Einwand, aber nein, danke.“
 

„Ich könnte es für dich umnähen.“, schlug Xaira vor. Auch ihr standen Lachtränen in den Augen. „Hier und da ein wenig kürzen, Rücken frei machen und dergleichen. Für den Sommer ist das das Beste, das du tragen kannst. Auch wenn euer Leder leicht ist, Seide wird es niemals übertreffen.“
 

„Das würde dir so passen, oder?“, zischte Mimoun ungehalten. War ja klar, dass von ihrer Seite keine wirkliche Hilfe zu erwarten war. Er schob das verhinderte Kleid wieder in den Rucksack zurück. Ihm widerstrebte es nachzusehen, was sich noch darin verbergen mochte.

„Hier. Such dir was aus.“ Damit hielt er Dhaôma den Rucksack hin.

Aylen war schneller. Sie hatte sich von hinten an ihn herangepirscht und fischte über seine Schulter hinweg das Hemd wieder heraus. „Ich kenne seine Größe.“, unheilte sie und winkte bezeichnend zu Xaira. Und damit war sie aus seiner Reichweite, bevor er herumfahren und das Hemd wieder in seinen Besitz bringen konnte. Seine Rippen verboten es ihm, ihr genauso schnell zu folgen.
 

Dhaôma verstand Mimoun einerseits, andererseits hatte ihm das Hemd gefallen. Es entsprach eben genau der Mode, die Magiermänner trugen. Ob Mimoun früher auch gedacht hatte, er sei ein Mädchen, weil er diese Art Kleider trug? Die Kinder hatten so etwas gesagt. Seufzend erhob er sich. „Ich gehe mich umziehen.“, teilte er ihnen mit, bevor er zu Lulanivilay ging. Alles war besser als diese Lumpen.

Dachte er. Bis er das in der Hand hielt, was sie sich für ihn ausgesucht hatten. Die Hose war ja normal, weit genug und die Beine konnte er umkrempeln, aber das Oberteil? „Genahn, ist das dein Ernst?“, rief er mit angedeuteter Verzweiflung in der Stimme und der Mann sprang erfreut auf.

„Bin gleich wieder da.“, grinste er zwinkernd, dann stromerte er zu Dhaôma, der ihn unglücklich empfing.

„Ich weiß nicht einmal, wie man so was anzieht. Ich bin doch kein königlicher Berater! Konnten es keine normalen Sachen sein?“

„Oh, wir haben es einstimmig beschlossen. Wir stellen es uns sehr eindrucksvoll vor, wenn du mit den weiten Gewändern fliegst. Außerdem stehen sie dir bestimmt.“

„Aber sie sind zu groß.“

„Nicht zu ändern. Radarr ist nun mal ein wenig muskulöser und größer als du.“

„Das sind Radarrs Kleider? Er wird sicher wütend werden, wenn ich sie einfach so nehme.“

„Es wird sich in Grenzen halten, da ihm dieses Gewand eh nicht mehr richtig passt.“, zuckte Genahn mit den Schultern. „Komm, ich helfe dir.“

Finster zogen sich die schmalen Augenbrauen zusammen. „Klasse. Damit kann ich mich dann überhaupt nicht mehr richtig bewegen.“

„Ist das deine einzige Sorge? Keine Angst, sie werden dir stehen. Da, erst das Hemd.“ Und während Dhaôma sich das weiße Seidenhemd über den Kopf zog, hielt er lachend den langen Mantel auf und ließ Dhaôma hineinschlüpfen. Dann band er ihm die Schärpe um, wie es sich gehörte. „Zum Glück bist du auch recht groß, so trittst du unten zumindest nicht drauf. So, lass dich mal ansehen.“

Unglücklich hob Dhaôma die Arme. Er fühlte sich in diesem Gewand nicht wohl. Es hatte weite Ärmel bis über die die Handgelenke, einen weiten, langen Rock, der vorne offen und hinten bis kurz vor den Hintern geschlitzt war, dazu ein Revers und war aus hellblauer Seide gemacht. Dazu war es über und über dunkelblau und weiß schneekristallartig bestickt. Ein Hinweis auf Radarrs stärkste Magie. „Sie werden mich wegen Hochverrat töten.“, jammerte er.

„Ach was. Du bist ein Drachenreiter. Dir steht die höchste Ehre zu, also kannst du auch angemessene Kleider tragen. Allerdings bin ich der Meinung, dass grün und gelb besser geeignet wären, da deine stärkste Kraft die Pflanzen sind, wie ich zu behaupten wage. Und jetzt komm. Ich wette, sie sterben da drüben vor Neugier.“

Seufzend zuckte Dhaôma mit den Schultern, bevor er Genahn folgte. „Wahrscheinlich werden sie lachen. Ich bin für solche Kleider nicht geschaffen. Das ist, als würde ich Prinz spielen.“

„Eher Prinzessin…“, murmelte Genahn, aber zu leise, als dass Dhaôma es hören konnte. Der Drachenreiter trug die ungeschnittenen Haare offen wie eine Frau. Innerlich amüsierte er sich königlich.
 

Das Gejohle war groß und nicht nur einer ließ sich zu einem anzüglichen Pfiff hinreißen. Diese Reaktionen beendeten Mimouns langsame, aber beharrliche Verfolgung der beiden Frauen. Was er sah, ließ ihn sie sogar völlig vergessen. Er bemerkte nicht einmal, dass Aylen sich ihm näherte, fluchtbereit die Flügel gespannt, und am Rande seines Gesichtsfeldes winkte.

„Sehr gut. Den können wir vergessen.“ Grob nahm sie hinter ihrem Jugendfreund stehend Maß von ihm und zog sich dann völlig mit Xaira zurück.

Mimoun starrte derweil noch immer unentwegt Dhaôma an. Dass er nicht mitbekam, was hinter oder neben ihm vor sich ging, bedeutete nicht, dass er nicht sah, was um seinen Geliebten herum geschah. So entging ihm keinesfalls, dass sich Asam dreist vorwagte und dem jungen Magier breit grinsend und mit vollendeter Verbeugung einen Kuss auf die Hand drückte. Schneller als ihm gut tat, war Mimoun dort und schlang einen Arm um den Hals des Ratsmitgliedes. „Flirtest du etwa gerade vor meinen Augen mit meinem Süßen?“ Mimoun wusste selbst nicht so genau, warum er anscheinend eifersüchtig auf jemanden reagierte, von dem er wusste, dass keine Gefahr von ihm ausging.
 

„Ja.“, gab Asam lapidar zu. „Du musst zugeben, er sieht hinreißend aus. Solche Gewänder gibt es bei uns schon Ewigkeiten nicht mehr, aber ich bin sicher, mehr als eine unserer Damen würde so etwas gerne tragen. Ah, ich würde Leoni zu gerne eines geben. Sie würde sich mit Sicherheit freuen.“ Grinsend piekte er Mimoun in die Wange, während Dhaômas Wangen flammend rot waren. Er schämte sich, weil sie alle sagten, er sähe wie ein Mädchen aus.

„Toll gemacht, Genahn. Jetzt ist auch das letzte bisschen Respekt den Bach runter gegangen, weil du der Meinung warst, ich bräuchte Sonderrechte.“ Er löste den Gürtel. „Nimm ihn wieder mit und gib ihn zurück. Das Hemd und die Hose reichen mir.“

„Vergiss es. Ich will sehen, wie sie flattern, wenn du fliegst.“

„Das interessiert mich nicht! Er ist unpraktisch. Die Ärmel werden im Essen hängen, der Mantel schleift im Staub. Ein Patient und er ist voller Blut.“

Genahn grinste. „Na und? Bis dahin habe ich einen Mantel, der auf dich zugeschnitten ist, dann kannst du ihn wechseln.“

Das Gelächter um sie herum brandete in einem Tohuwabohu aus, als einige Zustimmung riefen. Der seltsame Kleidergeschmack des Magiers war bei allen bekannt, das sollte sich nicht ändern. Immerhin waren sie daran gewöhnt. Als Dhaôma auch den Mantel ausziehen wollte, hinderte ihn Volta daran.

„Du wirst damit Eindruck bei den Magiern machen.“, gab er zu bedenken. „Sie kennen die Bedeutung dieser Roben.“

„Ich mache genug Eindruck bei denen mit euch und Lulanivilay und Mimoun an meiner Seite.“ Langsam wurde er wütend. „Lass mich los, ich gehe zu Aylen. Sie soll mir Mimouns Hemd geben.“ Ruppig drückte er Volta den Mantel mit einem gemurmelten „Trag du ihn doch!“ in die Hand.

Und Genahn grinste immer noch. So schade. Es hatte ihm vorbildlich gestanden.
 

„Das Hemd.“ Nun fiel ihm wieder siedend heiß ein, was ihm durch Dhaômas Anblick entfallen war. „Ich fürchte, da kommst du zu spät. Unsere beiden Damen...“ Er sprach das Wort wie eine Beleidigung aus. „...haben es in die Finger gekriegt und sind damit auf und davon. Außerdem war es selbst mir ein wenig zu groß. Da dürftest du doch da drin verschwinden.“ Mimoun war dennoch begeistert von der Tatsache, dass sein Freund den Mantel nicht mehr trug. So kamen die Spinner um sie herum nicht auf den Gedanken, Dhaôma anzuflirten und sei es nur zum Spaß. Er wollte der Einzige sein, der seinen Liebsten so sah.

Und bevor Mimoun es völlig vergaß, verpasste er dem noch immer in seinem Arm hängenden Asam einen Rippenstüber für seine Frechheiten.
 

Das würden sie ja sehen. Besser zu groß als lächerlich. Wortlos machte er sich auf die Suche.

Asam lachte immer noch. Zum Glück war Mimoun nicht wirklich sauer geworden, sonst hätte das vielleicht wehgetan, aber so konnte er es ablachen. „Volta, gib mir das bitte.“ Unsicher wurde ihm der Mantel gereicht und Asam sah ihn sich genau an. „Wisst Ihr, Genahn, Eure Idee hatte schon was für sich. Ihn in feinere Gewänder zu hüllen, hätte sicherlich einen einschlägigen Erfolg, aber hätten es nicht ein wenig männlichere sein können? Ich glaube nämlich, er ist ernsthaft beleidigt.“

„Das sind Kleider für einen Mann. Es sind Radarrs. Und es ist eine Art Ehrengewand für sehr hochrangige Magier.“

„Echt?“ Ungläubig betrachtete der Blonde das Gewand noch mal. „Für mich sah er darin aus wie eine Schneebraut.“

Das die ganze Zeit unterdrückte Lachen brach sich Bahn und Genahn grinste. „Er hat aber auch weibische Gesichtszüge.“

„Nicht wahr? Wisst Ihr, mein Neffe hat ihn anfangs auch für eine Frau gehalten.“ Und schon sprudelten die Ereignisse von jenem Abend aus ihm heraus und die beiden Anführer, die sich eigentlich über einen Lösungsweg aus dem Krieg beraten sollten, verloren sich in Anekdoten aus ihrer Vergangenheit. Die umstehenden Geflügelten lauschten hingebungsvoll. Wann bekam man schon mal so private Geschichten aus dem Leben der Höchsten und Seltsamsten zu hören.
 

Mimoun hielt sich mit der Auskunft, dass jedes Kind Dhaôma anfangs für eine Frau gehalten hatte, zurück. Er musste ja nicht noch Öl ins Feuer gießen, auch wenn das Thema der sich jetzt anbahnenden Unterhaltung nicht anwesend war.

Die beiden verloren sich in ihren Erzählungen und der Drachenreiter zog sich zurück, da er einen Großteil der Geschichten schon kannte. Er hatte noch immer Schlaf nachzuholen und das würde er jetzt tun. Es bedurfte seiner Anleitung oder Einmischung nicht, damit sich hier Friedensverhandlungen in Gang setzen konnten.

Suchend sah er sich nach einer geeigneten Stelle um, aber schlussendlich entschied er sich für das Naheliegendste. Er ging zu Lulanivilay und streckte sich auf dem Boden aus. Es dauerte nicht lange und er schlief tief und fest. Vom restlichen Tag und dem Trubel um ihn herum bekam er nichts mehr mit. Dafür sorgte vor allem Tyiasur, der über seinen Freund wachte und Störfaktoren fernhielt. Erst zum Abendessen holte er Mimoun sanft aus seinen Träumen. Als dieser sich umsah, entdeckte er Genahn, der noch immer in Gespräche vertieft war. Mimoun runzelte die Stirn. Wenn er sich bereits auf dem Hinweg, den er nicht einmal selber zu Fuß zurückgelegt hatte, verlaufen hatte, würde es auf dem Rückweg sicher nicht besser werden. Nicht um die Uhrzeit. Darauf machte er dann auch die Anwesenden aufmerksam, nachdem er zu ihnen hinüber geschlendert war.
 

Dhaôma saß inzwischen ohne den Mantel in den zu großen Unterkleidern zwischen allen. Genahn hatte geschimpft, dass er hier nicht im Unterhemd herumlaufen konnte, aber ein einziger Blick hatte ihn verstummen lassen. Er versprach, einfachere Kleider zu besorgen und betonte noch einmal, dass es wirklich schade war, dass er den Mantel nicht wollte.

Das Essen war amüsant und viele der Hanebito verloren die Scheu vor dem offenherzigen Mann in ihrer Mitte. Er ließ sich einfach durch nichts aus der Ruhe bringen, störte sich nicht an ihren Manieren oder ihren derben Witzen und schien sich mit Asam außerordentlich großartig zu verstehen. Dhaôma hatte versprochen, ihn nach Hause zu bringen, sobald Mimoun wach war, damit dieser nicht durch Lulanivilays Bewegungen gestört wurde. Mittlerweile war klar geworden, dass sein Beraterposten an Radarrs Seite in erster Linie dafür gedacht war, dass er den Anführer von unbedachten Handlungen abhielt. Er besaß keine Angriffsmagie, beherrschte nur den Wind, aber es reichte für eine stabile Verteidigung und effektvolle Auftritte, wie er mit einem Zwinkern hinzufügte. Eine winzige Bewegung mit der Hand und seine Haare bewegten sich leicht, seine Kleider raschelten und ein angenehm süßlicher Geruch stieg allen in die Nase.

Nach dem Essen standen die beiden Magier auf. Lulanivilay stemmte sich ebenfalls hoch, dann flogen sie gemeinsam los. Genahn hatte darauf bestanden, dass sie ohne das Geschirr flogen, weil er sehen wollte, ob es ging. Er war beeindruckt, wie weich der Drache nun flog. Also war es nicht nur Übungssache sondern vor allem Freundlichkeit des Drachens.

Sie landeten ein wenig außerhalb des Lagers der Magier. Kurz überlegte Dhaôma, ob er Radarr helfen sollte, aber gleich zwei Dinge hielten ihn davon ab. Erstens Genahns definitives Nein, zweitens Lulanivilays „Ist nutzlos“.

„Warum ist es nutzlos? Er ist immerhin ein Anführer.“

„Deine Kraft kann ihn nicht erreichen.“

„Meine… Vilay, erklär das.“

„Sein See ist ein Nebel geworden. Der ist überall und lässt deinen Fluss nicht in ihn. Es wird dauern, bis er wieder in den Kreislauf dieser Kräfte zurückkehren kann.“

Als Dhaôma das Verstehen erreichte, wurde er blass. „Du hast ihn… Ai, Vilay, warum?“

„Weil ich ihn nicht essen durfte.“

„Nein, warum? Du hast ihm damit alles genommen, was für ihn wichtig war! Wenn er Pech hat, wird er einer der Sklaven im Schloss!“

„Er wollte Mimoun töten und er hat mich gestochen. Es ist gerecht.“

Dhaômas Hände zitterten, als er vollends begriff was das bedeutete. Sein Drache hatte seinem Bruder die Magie genommen, indem er ihren Zusammenhalt zerstört hatte. Jeder ‚Jagmarr’ hatte so einen Nebel in sich, deshalb gab es solche, die irgendwann wieder zaubern konnten. Wenn die Kraft wieder zu einem See wurde. Außerdem würde es so aussehen, als hätte der Drache den Anführer verflucht. Erst sprach er das Wort, nun wurde Radarr zu einem! Die Magier würden eine Heidenangst vor Lulanivilay bekommen! „Es wäre netter gewesen, du hättest ihn getötet.“, murmelte er.

„Das hätte dich traurig gemacht.“

„Ja, aber das ist so grausam.“

„Dhaôma? Was ist passiert?“ Genahn hatte das für ihn unverständliche Gespräch verfolgt. Irgendetwas war mit seinem Freund passiert. Etwas, das schlimmer war als der Tod.

„Du musst Radarr in Sicherheit bringen. Er ist jetzt einer, der seine Magie nicht mehr nutzen kann, bis er sich erholt. Es tut mir so Leid! Penny wird außer sich sein, wenn sie es erfährt. Und Radarr… Genahn, bitte, gib ihn nicht auf, ja? Er kann wieder normal werden, aber wenn du ihn verrätst, dann holt ihn der Zirkel der geteilten Geister. Und das wäre wirklich fürchterlich!“

Zum ersten Mal seit er ihn kannte, war das Lächeln aus dem Gesicht des dunkelhaarigen Mannes verschwunden. „Ein Jagmarr? Hat der Drache ihn verflucht?“

„Nein. Er hat seine Magie durcheinander gebracht. Es ist… die Kraft muss sich erst wieder ordnen, bevor er sie benutzen kann, aber dazu braucht er Zeit, die er nicht hat, wenn er in die Hände des Zirkels gerät.“ Verzweifelt schüttelte Dhaôma den Kopf, dann rutschte er von Lulanivilays Rücken. „Ich muss ihn mir ansehen, vielleicht…“

Doch Genahn schüttelte den Kopf. „Wenn du das tust, werden sie dir die Schuld dafür geben.“ Vorsichtig strich er dem aufgelösten jungen Mann ein paar Haare aus dem Gesicht. „Ich kümmere mich um ihn. Ich bringe ihn in Sicherheit. Ich hoffe nur wirklich, dass sich damit der Graben zwischen euch nicht noch verbreitert, wenn er erfährt, dass Lulanivilay das verursacht hat.“

„Das…“ Flehend blickte Dhaôma den Drachen an, der mit seiner gewöhnlichen Ruhe den Blick erwiderte. Letztlich ließ er den Kopf hängen. „Bitte, denke nicht, dass Vilay das oft macht. Radarr hat ihn bloß wütend gemacht, deshalb…“

„Ich versteh schon. Ich habe es ja gesehen. Er hat nur beschützt, was ihm wichtig ist.“ Und nach einem kurzen Zögern lächelte Genahn. „Ich werde es keinem sagen. Flieg einfach zurück und vergiss das Ganze. Um deinen Bruder kümmere ich mich.“

Nickend ließ sich Dhaôma auf den Drachenrücken heben, dann startete Lulanivilay.

Als er zu den Hanebito zurückkehrte, hatte sich der Drachenreiter entschieden, seinen eigenen Rat an Mimoun anzunehmen und die Schuld für diese Sache nicht auf sich zu nehmen. Radarr konnte sich selbst heilen, er war nicht tot. Lulanivilay hatte seine Sache gut gemacht und das beschützt, was ihm am wichtigsten war, also gab es nichts, das er ändern konnte oder wollte. Vielleicht war es so sogar das Beste. Wenn er nicht angreifen konnte, dann konnte er auch niemandem mehr schaden.

Mit der Magie, die im Laufe des Tages in ihm gewachsen war, holte er eines der Blitzopfer vollständig aus seinem Koma und heilte die schwelenden Verbrennungen eines anderen. Auch Keithlyns Arm verschaffte er die nötige Stabilität, damit sie die Schienen nicht mehr brauchte. Sie durfte es aber nicht übertreiben, denn geheilt war er noch nicht. Später kehrte er zu Mimoun zurück und schlief recht schnell ein.
 

Durch den Schlaf den Nachmittag über war es diesem ein Leichtes gewesen, wach zu bleiben, bis die Freunde zurück waren. Erst als er sie zurückkehren sah, schwand die leise Beunruhigung, die ihn bis dahin unbewusst erfüllt hatte.

Als Dhaôma dann bei ihm einschlief, war er selbst zu ausgeruht, um weiter zu schlafen. Darum blieb er weiter wach und beteiligte sich von diesem Platz aus an der Wache. Nicht das eine von Nöten gewesen wäre. Die Nacht blieb genauso ruhig, wie die vorhergehende. Von Seiten der Magier drohte ihnen keinerlei Gefahr mehr, dennoch gingen sie noch immer auf Nummer sicher. Erst als die Nacht sich ihrer zweiten Hälfte zuwandte, ließ Mimoun sich zurücksinken und zog seinen Magier in die Arme. Eine Nacht ohne ihn war einsam genug.
 

Der Morgen begann für alle mit militärischer Präzision sehr früh. Kaley war anwesend und duldete keine Verweichlichung. Wieder wurde ein Jagdtrupp los geschickt. Ein anderer Teil durfte sich mit der Jagd nach Fischen beschäftigen. Tyiasur zog es vor zu warten, bis sich die Geflügelten wieder vom Ufer zurückgezogen hatten. So wie die im Wasser herumstocherten, war ihm das für seine eigene Haut zu riskant. Sehnsüchtig sah er auf die Wellen und lehnte sich ein wenig zur Seite, als Mimoun seinen Kopf kraulte. Der Drachenreiter brauchte auch Bewegung, aber solange Dhaôma anwesend war und er selbst nicht völlig ausgeheilt, konnte er sich keiner Jagd anschließen. So blieb ihm nicht viel zu tun, als hier herumzustehen und Tagesplanung zu betreiben.

Wie sollte weiter verfahren werden? Sich mit einer kleinen Armee Geflügelter auf Magiergebiet aufzuhalten, war riskant und kontraproduktiv. Aber wie sollten sie möglichst unbemerkt wieder zurückkehren? Und Keithlyn? Dies hier war nun wirklich kein Ort für ein Kind. Das Problem war nur, dass sie da völlig anderer Meinung zu sein schien.
 

Am Abend waren alle Verletzungen soweit geheilt, dass sie nicht mehr Dhaômas Hilfe benötigten. Für ihn war es gut so, denn die eintönig fleischliche Ernährung machte ihn unzufrieden. Zwar würde er sich bis zum nächsten Morgen gedulden müssen, aber das hielt er schon noch durch. Mimoun und Asam trugen endlich ihren Übungskampf aus, was eine gern gesehene Abwechslung bot. Und langsam aber sicher wurde deutlich, dass sich Kaley ausgerechnet Aylen als persönliche Schülerin ausgesucht hatte. Es war nicht ganz klar, ob das war, weil er sie beschützen wollte, oder weil sie ein herausragendes Können besaß, aber nichts desto trotz forderte er sie jeden Tag hart. Man musste ihr zugestehen, dass sie gut war. Nicht sonderlich stark, aber dafür einfallsreich und wendig.
 

Am nächsten Tag diskutierten die Drachenreiter, Asam und Kaley, was sie am besten mit den Hanebito machen sollten. Irgendwie waren alle der Meinung, dass sie wohl besser zu den fliegenden Inseln zurückkehren sollten, aber obwohl das der offensichtlich beste Weg war, ließ Asam fallen, dass es einige gab, die sich das nicht gefallen lassen würden. Kaley grummelte etwas von sturen Frischlingen, aber beinahe hatte Dhaôma den Eindruck, er würde das nicht ernst meinen.

„Was wäre denn, wenn sie nicht zurückkehren. Dann müssten sie bei uns bleiben, damit wir auf sie aufpassen können, oder?“

„Hältst du das für eine gute Idee, Dhaôma? Wenn ihr noch mehr Menschen bei euch habt, werdet ihr niemals vorankommen.“

Bekümmert nickte der Braunhaarige. Das wusste er. Aber andererseits war es hilfreich gewesen, die Hanebito als Beispiel dabei zu haben, um die Soldaten zu überzeugen. Eine Geflügeltenarmee, die schon vier Tage in Magiergebiet war und noch immer nicht angriff? Etwas Eindeutigeres gab es kaum.

„Asam muss jedenfalls wieder zurück.“, nahm Kaley den Faden wieder auf. „Wir sind nur gekommen, weil man uns sagte, die Armee sei ausgerückt. Ich wollte ihnen den Kopf waschen, was sie hier verloren haben.“

„Ich denke, ich möchte gerne bleiben.“, platzte Asam nachdenklich heraus und stützte sich mit den Händen hinter sich ab. „Es ist so interessant. Die Magier sind wirklich seltsame Wesen. Ich möchte mehr über sie lernen.“

„Das könnt Ihr immer noch, wenn erstmal Frieden herrscht.“, polterte Kaley ihn an. „Wenn Ihr hier sterbt, dann wird es niemals Frieden geben!“

„Ja, das ist wahr. Und ich würde Fiamma und Seren nie wieder sehen. Und Leoni…“ Sein Blick klarte auf. „Ja, beschlossene Sache. Wir fliegen morgen früh zurück.“
 

Ein erleichtertes Seufzen entrang sich seinen Lippen. Mimoun war kurz davor, dem jungen Ratsmitglied Verstand einzuprügeln. Er war Addars einziger Erbe und der zukünftige Anführer der Geflügelten. Sein Platz war nicht an der Front. Auch wenn das nicht der Grund war, aus dem Asam eingelenkt hatte, es war gut so.

„Gut.“ Auch Kaley gab sich damit nun zufrieden und wandte sich an die Drachenreiter. „Und wie sieht euer weiteres Vorgehen aus?“

Mimoun zuckte mit den Schultern. „Eigentlich war nicht einmal geplant, jetzt schon auf Radarr und Anhang zu treffen. Aber Lesley wollte es so. Dadurch sind wir zum Glück ein gutes Stück weiter gekommen. Jetzt bräuchten sie einige Tage, um das Geschehen verarbeiten zu können.“ Mimoun wandte sich Dhaôma zu. „Wolltest du vor oder nach der Auseinandersetzung mit dem Zirkel nach Hause?“
 

Dhaôma lächelte. „Vorher. Dann kann ich noch mit Penny sprechen.“ Er wollte ihr erklären, was passiert war. „Es ist die gleiche Stadt, also ist es nur ein kurzer Abstecher.“ Die Beine anziehend legte er das Kinn auf die Knie. „Vielleicht sollten wir es wagen, jetzt schon dorthin zu gehen. Wir haben jetzt die Armee auf unserer Seite und die Rebellen. Viele Menschen kennen uns schon, obwohl sie uns noch nie gesehen haben. Vielleicht reicht es ja schon mit Vorbereitung. Und wenn es vorbei ist, dann können wir richtig anfangen zu planen, nicht wahr?“
 

Mimoun wandte sich wieder Kaley zu und deutete auf Dhaôma. „Wie er gesagt hat. Unser nächstes Ziel ist die Stadt.“ Mimoun selbst war das einerlei. Dabei gab es einfach keinen perfekten Zeitpunkt. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Mimoun runzelte die Stirn und ließ sich Dhaômas letzten Satz noch einmal durch den Kopf gehen. „Wenn es vorbei ist, brauchen wir auch nicht mehr zu planen. Oder hab ich etwas verpasst?“
 

„Dann muss man planen, wie der Frieden bewahrt werden kann.“, belehrte ihn Dhaôma. „Wenn wir einfach Frieden schaffen, indem die Kämpfe enden, und dann unser Leben so leben wie zuvor, dann wird es wieder zu Kämpfen kommen. So etwas Großes wie Frieden muss gefestigt werden, gehegt und gepflegt. Das ist viel mehr Arbeit, als einfach zu sagen, wir legen die Waffen nieder.“

„Das könnt ihr dann aber uns Anführern überlassen, meinst du nicht?“

„Die Magier haben dann keinen Anführer mehr. Den wollen wir ja stürzen.“, wandte der Magier ein, dann seufzte er. „Ich weiß schon, immer ein Schritt nach dem anderen.“
 

„Wie wird das dann eigentlich bei den Magiern sein, wenn kein König mehr vorhanden ist? Wer übernimmt seinen Platz, wer führt die Magier?“, wollte Mimoun neugierig geworden wissen. Selbst wenn jetzt schon ein Nachfolger existieren sollte, wäre das auch nur eine vom Zirkel manipulierte Puppe. Die Magier würden völlig ohne Führung dastehen. Es dürfte Chaos geben. Voll übler Vorahnung verzog Mimoun das Gesicht. Keine schönen Voraussetzungen für einen jungen Frieden.
 

„Das haben sie selbst zu entscheiden.“, zuckte Dhaôma mit den Achseln. „Sie werden schon jemanden finden, dem sie vertrauen.“ Im Grunde interessierte es ihn nicht sonderlich. „Wenn es soweit ist, könnt ihr ihnen ja sagen, wie das bei euch gemacht wird, dann haben sie zumindest schon mal ein Vorbild. So ein Rat hat schon was für sich.“

„Maral! Es sind Magier auf dem Weg hierher!“ Ein junger Geflügelter mit rotbraunem Haar hastete auf die vier zu. „Es sind viele, aber sie tragen keine Rüstungen.“
 

„Dann beruhigt euch.“, verlangte Mimoun scharf, bevor ein anderer das Wort erheben konnte. Neben ihm waren auch Kaley und Asam aufgesprungen. Sie ließen sich die Richtung weisen und sahen den Magiern entgegen.

Sie waren nicht die einzigen. Unruhe machte sich unter den Kriegern breit und war beinahe greifbar. Während sich Asam in Begleitung Kaleys zur Begrüßung ein wenig vor die Lagernden wagte, lief Mimoun durch die Reihen und zerstreute zu offensichtliche Grüppchenbildung, nahm hier und da einen hastig ergriffenen Bogen aus der Hand, zog einen, der sich in die Luft geschwungen hatte, am Fuß wieder herunter.

„Sie sind ohne Rüstung hier. Sie wollen keinen Kampf.“, schärfte er den Männern immer wieder ein. „Also werdet auch ihr ruhig bleiben. Es gibt absolut nichts, was ihr befürchten müsstet.“

Als die Magier schon ganz nah waren, nahm Mimoun den ihm zustehenden Platz ein. Vorne neben Asam und Kaley. Er streckte den Arm aus und Tyiasur nahm auf der Schulter seines Reiters Platz. Ein Zeichen, damit er als das erkannt werden würde, was er war. Ein Drachenreiter. War doch einfach. Er brauchte dafür keine Magierkleider tragen oder sonst ein besonderes Zeichen. Der kleine Blaue machte den Status des Geflügelten mehr als offensichtlich.
 

Dhaôma hatte die hektische Betriebsamkeit angespannt beobachtet, war zu Lulanivilay gegangen und lehnte nun gegen dessen breiter Brust. Sie standen ein wenig abseits auf halber Strecke zwischen den beiden so unterschiedlichen Völkern. Nur der Fluss war noch vor ihnen. Der Drache präsentierte sich locker, selbst seine Flügel waren bequem angelegt, aber die Muskeln unter Dhaômas Rücken arbeiteten.

„Glaubst du, sie greifen an? Sie brauchen keine Rüstungen, um Magie zu wirken.“, murmelte der junge Mann.

„Nein.“, war die ebenso leise Antwort. Es klang beruhigend und Dhaôma lächelte.

„Was meinst du, was meine Aufgabe hier ist? Ich möchte mich da nicht einmischen.“

„Deine Aufgabe wurde von ihnen längst entschieden.“, prophezeite Lulanivilay gleichgültig wie immer und die dolchartigen Krallen seiner linken Pranke bohrten sich beinahe gelangweilt in den Boden. „Sie suchen nach dir.“

„Was?“ Erschrocken über diese hanebüchenen Worte, zerfiel seine zur Schau gestellte Ruhe.

Und tatsächlich. Die Magier blieben gesammelt stehen und sahen sich um. Unter ihnen waren viele der wenigen Frauen, die den Weg eines Soldaten eingeschlagen hatten. Respektvoll begrüßten sie die Hanebito mit Senken ihrer Köpfe. „Wir kommen ohne böse Absichten.“, verkündete einer. „Wir suchen die Drachenreiter. Dhaôma en Finochinu en Regelin und Mimoun äh…“ Der Mann verbeugte sich, eine Faust an seiner Schulter, vor Mimoun. „Verzeiht, dass wir Euren Namen nicht vollständig nennen können. Es wäre uns eine Ehre, würdet Ihr ihn uns mitteilen.“

Ein anderer Mann in weinroter Kleidung und hellem, braunem Haar tippte den Anführer an und zeigte zu Dhaôma hinüber. Dieser reagierte nicht, sondern wartete auf Mimouns Reaktion.
 

Angesprochener wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Was mussten diese Magier auch so komplizierte Verhaltensweisen an den Tag legen.

„Bei uns sind solcherlei Anreden nicht üblich, so gesehen ist Mimoun mein vollständiger Name.“ Er lächelte nachsichtig. „Mimoun en Cerel en Rahol müsste ich bei euch heißen.“ Damit sich die Ranghöchsten seines Volkes nicht übergangen fühlen mussten, stellte er auch sie der Reihe nach vor, wenn auch nicht auf die komplizierte Art der Magier.

Anschließend wandte er sich nach einem kurzen versichernden Blick zu Dhaôma wieder den Magiern zu. „Was verschafft uns denn die Ehre eures Besuches?“
 

Geduldig hatte er gewartet, dass Mimoun fertig sprach, hatte höflich jeden vorgestellten begrüßt. Jetzt ging die gesamte Horde Soldaten wie ein Mann auf ein Knie herunter. Die eine Hälfte Mimoun, die andere Dhaôma zugewandt, legten sie die rechte Hand zur Faust geballt an die Schulter und neigten ehrerbietig die Köpfe. „Wir schwören Euch, Mimoun en Cerel en Rahol, und Euch, Dhaôma en Finochinu en Regelin, Ergebenheit und Treue bis in den Tod. Euer Anliegen ist das unsere. Verfügt über uns.“, riefen sie wie aus einem Mund.

„Aiaiai.“ Dhaôma war bei der Aktion zusammengezuckt und hatte das dringende Bedürfnis sich hinter Lulanivilay zu verstecken. Es war ihm egal gewesen, dass er nur Unterkleider trug, aber nun wünschte er sich den Mantel. Er hätte ihn wenigstens bedeckt. Vielleicht hätte er sie vertrieben.

Ganz hinten, hinter allen, sah er einen über beide Ohren grinsenden Genahn. Der würde noch etwas zu hören bekommen. Mit Sicherheit hatte er das gewusst und ihm deshalb diese Kleider ausgesucht. Und trotzdem hatte er ihn nicht gewarnt. Mistkerl!

„Siehst du, sie haben längst für dich entschieden.“, erklang Lulanivilays Stimme in seinem Kopf und er schickte dem Freund einen wütenden Blick.

„Fein.“, murrte er und stieß sich von seinem Freund ab. Mit festen Schritten und geballten Fäusten ging er auf die Magier zu. „Was soll das?“, rief er und in seiner Stimme schwang ein wenig von der unterschwelligen Wut mit, die er empfand. „Was sollen wir mit Untergebenen? Ihr schwört uns Ergebenheit? Was, wenn wir die nicht wollen?“ Seine Füße erreichten das Wasser, aber er stoppte nicht, ging einfach darüber hinweg, während das Wasser unter seinen Füßen zu Eis erstarrte. „Haben wir da nicht wenigstens ein Wörtchen mitzureden?“ Schließlich stand er vor ihnen. „Steht auf.“, forderte er. Und sie taten, was er wollte. In ihren Gesichtern konnte er gemischte Gefühle sehen. Plötzlich tat es Dhaôma Leid, dass er sie so anfuhr. „Weder ich noch Mimoun sind darauf aus, Gefolgsleute zu sammeln. Wenn ihr für unsere Sache kämpft, ist das in Ordnung, aber bitte erhebt uns nicht über euch. Wir sind einfach nur Menschen. Reicht das nicht?“

Unsicherheit hatte die Magier ergriffen. Sie sahen einander an und beinahe furchtvoll zu dem gerade noch so wütenden Drachenreiter. Ein paar versuchten visuell wenigstens bei Mimoun Unterstützung für ihren Entschluss zu finden.
 

Wie vom Donner gerührt hatte Mimoun auf die Knienden gestarrt. Nun rieb er sich mit den Händen über das Gesicht. Sie hatten ihn tatsächlich mit dem ganzen Anhang angesprochen. War das denn zu fassen? Hatte er ihnen nicht gerade verständlich gemacht, dass das für Geflügelte unüblich war?

Energisch schüttelte er den Kopf, um sich dem naheliegendsten Problem zu stellen. Zwar musste er seinem Freund Recht geben, aber das Ganze hätte man auch diplomatisch lösen können.

„Danke.“, begann er schlicht. „Es ist schön zu hören, dass auch ihr endlich Frieden wollt.“ Mimoun wandte sich von einem verhalten grinsenden Asam und einem aufmerksam beobachtenden Kaley ab und flatterte die wenigen Meter auf Dhaôma zu, stellte sich an dessen Seite. Durch die Masse der Geflügelten lief eine leichte Bewegung und man spürte die Spannung weichen. Mit Getuschel hielten sie sich aber zurück. Jeder von ihnen wollte hören, was hier geschah. „Und es ist schön zu wissen, dass ihr uns unterstützen wollt. Aber ich gebe Dhaôma Recht. Wir wollen keine Untergebenen. Wir sind nicht als Anführer geeignet. Solange ihr nicht zu den Waffen greift und davon abseht, Magie zum Kampf zu nutzen, helft ihr uns damit mehr, als es die Menschen in euren Städten vermögen.“
 

Die Unruhe unter den Männern wuchs. Schließlich brach sich die Frage Bahn, die wohl jeden beschäftigte. „Weist ihr uns ab? Vielleicht, weil wir Soldaten sind?“

„Ai. Nein!“ Dhaôma hob erschrocken die Hände, denn das, was er hinter der Frage spürte, war aufwallender Zorn. „Nein, bitte. Wir weisen euch nicht ab. Ihr seid uns willkommen, aber lieber als Freunde als als Untertanen.“

„Was heißt das?“, fragte der, der als erster gesprochen hatte, und endlich schaltete sich Genahn ein.

„Ich habe euch gesagt, dass das so nichts wird. Sie werden euch an ihrer Seite und für ihre Sache willkommen heißen, auch ohne dass ihr euch ihnen ausliefert.“

„Das ist es!“, rief Dhaôma erfreut. „Wir brauchen keine Armee, sondern Menschen, die mit Worten und Taten überzeugen, ohne weiter zu verletzen oder zu sterben.“

Die Männer sahen ihn an, dann trat plötzlich einer vor, streifte wortlos seine Jacke ab und legte sie dem braunhaarigen jungen Mann um die Schultern, dass dieser augenblicklich hochrot anlief. „Ihr solltet nicht in Unterkleidern vor uns stehen.“

„Aber dass Ihr ohne Mantel dasteht, ist in Ordnung?“, wollte Dhaôma wissen.

„Ich bitte Euch. Ihr würdet mir einen großen Gefallen tun, wenn Ihr sie tragt.“

„Hm.“ Lange betrachtete Dhaôma den Mann, bevor er seine Arme durch die Ärmel steckte und nickte. „In Ordnung. Dafür versprichst du mir aber etwas, ja?“ Und als der Mann erwartungsvoll nickte, fügte er hinzu: „Du setzt dich bei deinen Leuten dafür ein, dass mich keiner mehr so hochgestochen anspricht. Ich bin Dhaôma, ich bin ein Mensch. Du ist völlig in Ordnung.“

Aus seinem Gesicht wich alle Farbe. „Aber das…“

„Okay, Auszeit.“, mischte sich Genahn ein. „Dhaôma, verlang nicht zu viel von ihnen. Lass ihnen ein wenig Zeit.“

„Meinst du?“

„Ja.“ Die Augen des dunkelhaarigen Magiers glitzerten hoch amüsiert.

„In Ordnung.“, seufzte der Braunäugige, gab sich geschlagen. Warum hatte er auch in diese Familie hineingeboren werden müssen? Kurz sah er zu Asam, eindeutig eine Frage an ihn sendend. Die Geste war eindeutig: Mach, was du für richtig hältst. So hob er die Stimme und breitete Aufmerksamkeit heischend die Arme aus. „Magier. Seid uns willkommen. Setzt euch zu uns, damit wir reden können. Immerhin stehen wir jetzt alle auf einer Seite, da wird es Zeit, dass wir uns kennen lernen, nicht wahr?“
 

„Das wird doch nie was.“, seufzte Mimoun, wohlweislich leise genug, dass man genau hinhören musste, um ihn zu verstehen. Warum mussten Magier immer so geschwollen reden und auf ihre Förmlichkeiten beharren? Und warum verstanden sie ein Nein immer sofort als persönlichen Angriff?

Er wandte sich zu seinen Leuten um und machte mit knappen Gesten klar, dass er die Querköpfe im Auge behalten würde.

Anfangs war da die Unsicherheit. Frieden zu predigen war eine Sache, aber jetzt so umzusetzen für viele eine Herausforderung. Es war Keithlyn, die die wenigste Scheu hatte und sich sofort wieder zu Genahn gesellte. Zur Begrüßung präsentierte sie gleich den verheilten Arm und begann den Mann zuzutexten, wie es ihre Art war. Dass sie dabei umringt von Magiern war, störte sie keineswegs.

Asam war der Nächste, der das Flussufer wechselte und damit mit gutem Beispiel voranging. Danach dauerte es nicht mehr lange und andere folgten. Sie setzten alle knapp hinter der Wassergrenze auf und näherten sich weiter zu Fuß den Magiern. Für die Geflügelten war es nun einmal einfacher, den Fluss zu überqueren. Man brachte auch das wenige vorhandene Essen mit, um die ganze Situation ein wenig aufzulockern. Nur wollten keine Gespräche in Gang kommen. Niemand wusste, wo anfangen.

„Ehrlich, Leute.“ Mimoun raufte sich gespielt die Haare. „Ist doch nicht so schwer. Macht was Nützliches und fangt an zu diskutieren, was für die Wahrung des Friedens notwenig ist. Der Rest kommt von allein.“
 

Sowohl Asam als auch Genahn begannen zu lachen. „Du bringst die Reihenfolge völlig durcheinander, Mimoun.“, schüttelte der Magier den Kopf. „Lass uns mal machen.“

„Genau. Geh spielen, während die Erwachsenen Reden.“, frotzelte Asam, dann steckten die beiden mit einigen anderen die Köpfe zusammen. Dhaôma und Mimoun standen ziemlich hilf- und nutzlos dabei und sahen zu, wie nach und nach das Eis brach. Es ging nicht darum, Frieden zu bewahren, sondern was man tun konnte, um Frieden zu erreichen. Die Magier und die Hanebito hatten das gleiche Problem. Unter ihnen gab es noch immer Menschen, die nicht daran glauben wollten, dass es wirklich möglich war, Frieden zu schaffen. Also brauchte man eine Möglichkeit, auch jene davon zu überzeugen, die noch zweifelten.

Immer mehr Menschen fügten sich in die Gruppe der Diskutierenden ein. Längst war nicht mehr wichtig, welchen Rang einer vertrat, wenn er etwas sagte. So viele Vorschläge wurden gemacht, so viele verworfen und zerredet. Für Dhaôma war das das anstrengendste Gespräch, das er je geführt hatte. Zumal er sich da absolut nicht einmischen wollte. Mit seiner kleinen Gruppe und ihrer selbst auferlegten Aufgabe hatte er wahrlich genug zu tun.

Und dann kam ausgerechnet Keithlyn auf die Idee, die alle überzeugte. „Wie wäre es, wenn wir ihnen bildhaft veranschaulichen, dass die beiden Armeen die Waffen niedergelegt haben?“, fragte sie und stand auf, um aus der Masse großer Männer und Frauen herauszuragen. „Das bedeutet, wir sollten alle gemeinsam zum Schloss der Wahren Stimme ziehen. Jeder würde es sofort erkennen, dass kein Kampf zwischen uns stattfindet. Hanebito und Magier, eins in eins, stehen hinter den Drachenreitern und stehen für Frieden ein. Dann hätten wir auch auf jeden Fall genug Stärke, um gegen sie zu bestehen, falls sie sich für einen Angriff entscheiden.“ Sie wirkte in dieser Umgebung mit ihrer hellen Haut und den weißen Haaren fast unwirklich. Ihr Lächeln und ihre Offenheit gegenüber den Magiern waren wie Balsam auf den unsicheren Gemütern. „Seht euch doch an.“, rief sie. „Ihr sitzt hier eh schon alle gemeinsam, esst, trinkt, beratet, was ändert es schon großartig, wenn ihr dieses Verhalten im Gehen an den Tag legt?“

Xairas Augen wurden schmal vor Misstrauen. „Lass mich raten. Diesen Vorschlag bringst du, damit du nicht mit den anderen zu den Inseln zurückmusst.“

„Aber…“

„Ich finde es vernünftig, was sie vorgeschlagen hat.“ Asam lehnte sich ein wenig zurück und schenkte dem Kind ein dankbares Lächeln. „Eine solche Demonstration von Friedensgeist wirkt mit Sicherheit Wunder. Das hat man bei uns auf den Inseln schon gesehen, als wir Dhaôma aufgenommen haben.“ Sein Blick glitt zu Mimoun und Tyiasur. Er vertraute darauf, dass der kleine Drache ihn warnen würde, falls das eine Falle sein würde. „Wenn niemand etwas gegen diesen Vorschlag einzuwenden hat, dann nehmen wir ihn an. Zeigen wir allen, was unser Traum ist.“
 

Schlagartig hob sich Mimouns Hand. Natürlich hatte er etwas dagegen. Mit zwei Armeen beim Schloss aufzutauchen, konnte von vornherein als Bedrohung aufgefasst werden. Außerdem mussten die Magier laufen und würden zu lange für den Weg brauchen. Und gleich noch einmal, da die Geflügelten ebenfalls laufen mussten und er aus eigener Erfahrung wusste, wie anstrengend das für Ungeübte war.

Bevor diese Geste aber jemand registrieren konnte, schnellte Tyiasur nach vorn, ergriff das Handgelenk und drückte es durch Versteifen des Körpers herunter.

„Sei nicht dumm.“ Mehr nicht. Nur diese wenigen Worte.

Mimoun verschränkte beleidigt die Arme und starrte auf die Menge vor sich und entspannte sich langsam wieder. Er benahm sich wirklich albern. Auch wenn es den Zirkel nicht umstimmen konnte. Eine bessere Demonstration konnte es für die Magier in den Städten einfach nicht geben.

„Jetzt noch die Rebellen mit integrieren und wir haben alle Parteien beisammen.“, seufzte er halblaut und mit einem leicht resignierten Unterton. „Und außerdem haben sie dann ihren Willen bekommen und folgen uns.“
 

Es wurden dann doch noch einige Ideen genannt und wieder verworfen. Am Ende entschied man sich dafür, Keithlyns Vorschlag umzusetzen. Und es wurde deutlich, dass Asam mit dabei sein würde. Sein Argument gegenüber seinen Leuten und Mimoun war: „Wie können wir Frieden erwarten, wenn wir nicht bereit sind, Risiken einzugehen? Wenn ich mich verstecke und in Sicherheit bin, bis alles vorbei ist, können wir auch ein Banner aufspannen: Wir vertrauen euch eben doch nicht. Das ist ganz einfach. Ich bleibe hier.“ Seine Selbstsicherheit und Überzeugung erinnerte viele an Addar und von diesem war bekannt, wie häufig er richtig gelegen hatte, diesem vertraute man.

„Was ist, wenn du stirbst. Was ist mit Leoni?“, fragte jemand.

„Sollte mir etwas passieren, wird es genügend Menschen geben, die sich um die drei kümmern werden.“ Seine Augen huschten kurz zu Mimoun und Dhaôma, dann grinste er breit und voller Tatendrang. „Ihr werdet mich nicht umstimmen. Ich bin dabei, egal, was ihr davon haltet. Wie könnte ich mir ein solches Ereignis entgehen lassen?“ Und nach einem herausfordernden, wenig ernst gemeinten Blick auf die Soldaten und ihre Muskeln fügte er hinzu: „Außerdem kann ein bisschen diplomatisches Geschick auch nicht schaden.“

Genahn war der gleichen Meinung und auch ein paar der Hanebito stimmten ihrem Anführer zu, also holten die Magier eine Karte ihres Landes, um mit deren Hilfe die Route festzulegen, die sie beschreiten wollten. Es würde Wochen dauern, bis sie die Hauptstadt erreichten. Beinahe kam sich Dhaôma in die Zeit zurückversetzt vor, in der er noch auf seine Füße angewiesen gewesen war. Und so wie Mimoun zu jener Zeit würden diesmal viele Hanebito und ein großer Drache darunter leiden, dass die Magier so schrecklich langsam waren.
 

Es wurden noch zwei weitere Tage damit verbracht, zu planen. So vieles wollte besprochen und bedacht werden. Unter anderem der Schutz der Hanebito vor vielleicht revoltierenden Städtern oder angreifenden Uneinsichtigen. In dieser Zeit schlossen sich ihnen noch einige andere Magiersoldaten an, die zu der Einsicht gekommen waren, dass der Krieg vermutlich wirklich vorbei sein würde und ihre Entscheidung keine negativen Auswirkungen auf ihre Karriere oder ihr Leben hätte.

Xaira und Volta waren inzwischen zu einer Art Berater für die beiden Fronten geworden. Juuro hielt sich lieber aus allem raus. Er passte stattdessen auf, dass es keinen Streit zwischen den frisch befriedeten Gruppen gab, der nur allzu oft auszubrechen drohte. Es war eben nicht einfach, zwei so unterschiedliche Lebensstile zu vereinbaren. Seltsamerweise war der sonst so schweigsame Mann wie geschaffen dafür, diese Zwiste mit wenigen Worten zu beenden, ohne dass etwas schlimmeres passierte. Der zweite Schlichter war Lulanivilay, der auf seine Art dafür sorgte, dass keine Handgreiflichkeiten stattfanden. Alles in allem gaben sich alle Mühe, freundlich und verständig zu sein.

Dhaôma verbrachte diese Verzögerung ihrer Reise mit Mimoun und im kritischen Gespräch mit den Halblingen. Immer wieder mussten er und sein geflügelter Freund Rede und Antwort stehen, wenn den Magiern ein bestimmter Teil ihres Vorgehens oder der Reise nicht ganz klar war. An den Abenden wurden auf Asams und Genahns Geheiß hin um große Feuer herum Gesprächsgruppen gebildet, die von den beiden Völkern erzählten. Unterschiedlichste Ansichten und Lebensweisen, Familiensysteme und Erziehungsmethoden wurden dargelegt. Einzige Regel: keiner durfte etwas dagegen sagen. Sie sollten lernen, dass es auch andere Arten gab, ein Leben zu leben, dass nicht nur die eine Art, die sie gewohnt waren, richtig war. Für Dhaôma war das die schönste Zeit, da er mit Mimoun kuscheln konnte und gleichzeitig so viel Neues erfuhr.

Allerdings gab es eine Strömung innerhalb der beiden Völker, die Dhaôma ganz und gar nicht gefiel. Hatte er zuvor bei den Hanebito eine autarke Position innegehabt und bei den Magiern eine, an der man sich orientieren konnte, spürte er, dass es nun anders war. Sie sahen zu ihm auf. Zu ihm und Mimoun. Sie wollten, dass sie ihnen sagten, was sie zu tun hatten, wie sie sich verhalten sollten. Und sowohl Genahn als auch Asam und Kaley machten ihm klar, dass er sich dieser Rolle nicht entziehen konnte. Er war Drachenreiter. Er wollte Frieden. Wenn er es wirklich ernst meinte, dann musste er nutzen, was sich ihm bot. Wenn das bedeutete, dass er vorangehen und die Menschen führen musste, dann musste er das tun, sonst konnte es so wirken, als meine er es nicht wirklich ernst.

„Du kannst dich dem erst entziehen, wenn jemand anderer an deine Stelle getreten ist.“, meinte Xaira, als er sich bei ihr beklagte. Ihr gefiel diese Tendenz mehr, als sie ihm zeigte. Im Grunde hatte sie ohnehin schon damit gerechnet. „Finde dich damit ab.“
 

„Zumindest ist damit gesichert, dass sie keine Dummheiten machen.“, fügte Mimoun hinzu und wandte sich dann wieder der Vorbereitung zu. Die Marschroute stand nun fest. Bei der Anzahl Geflügelter, die dieser Prozession angehörten, war ein direkter Weg durch den Wald kräfte- und nervenzehrender, als gut für die Stimmung war. Der geflügelte Drachenreiter hatte diesen Punkt schon sehr früh in der Planung angemerkt, schließlich hatte er diese Erfahrung selbst zur Genüge gemacht. Sein Volk beherrschte nicht umsonst die Luft.

Ein zweites und schwerwiegenderes Problem war die Verpflegung. Man konnte nach dem Winter schlecht auf die Mithilfe der Städte und Dörfer pochen, die selbst nicht genug hatten, und Dank ihrer Masse war auch nicht damit zu rechnen, dass sie auf große Beute stoßen würden. Dhaômas Macht war zwar groß, aber reichte mit Sicherheit nicht aus, alle zu versorgen. Vielleicht schlossen sich ihnen noch andere an, die Pflanzen wachsen lassen konnten, damit wäre dieses Problem gelöst. Bis dahin mussten sie irgendwie anders durchhalten.

Das kam Lulanivilay gerade recht. Dass er laufen sollte, passte ihm gar nicht. Er konnte also für sie jagen. Flog er einfach ein paar Mal hin und her, während sie sich voranrobbten.
 


 

Heal the world

Make it a better place

For you and for me and the entire human race

There are people dying

If you care enough for the living

Make a better place for you and for me

Create a world

With no fear

Together we'll cry happy tears
 

[Michael Jackson – Heal the world]

Prozession

Kapitel 74

Prozession
 

Ein paar Tage später waren sie unterwegs. Die Magier hatten nicht glauben wollen, dass es den Hanebito so schwer fallen würde, zu Fuß zu laufen, jetzt mussten sie einsehen, dass es länger dauern würde, bis sie ankamen, als gedacht. Die Grundstimmung war heiter bis aufgeschlossen. Waren die beiden Gruppen zu Anfang noch für sich, vermischten sie sich nach dem ersten Tag, bis überall Gespräche zu hören waren, die zwischen unterschiedlichen Völkern gehalten wurden. Immer noch gab es zwischendurch Streit, aber er war bei weitem gesitteter. Sie hatten sich entschieden. Sie wollten Frieden. Selbst die vorherigen Querulanten schienen es sich anders überlegt zu haben. Und das war in dem langen Zug zu spüren, der sich entlang eines Baches Richtung Sonnenuntergang bewegte.

Amüsiert bemerkte Lulanivilay, dass sie, wenn sie sich hinten in Bewegung gesetzt hatten, vorne bereits wieder bereit waren für eine Pause, so lang war der Zug. Spaßeshalber hatte er sie gezählt. Neunhundertzweiundvierzig Menschen hatten sich seinem Seelenpartner und dessen Freunden angeschlossen. Die meisten von ihnen waren Hanebito.

Aber schon am nächsten Tag waren es mehr. Zweitausendvier zählte er nun. Bis die Rebellen sich zu den Drachenreitern durchgeschlagen hatten, kannten sie die Situation und Philosophie der Aktion, die sich ihnen bot, und schlossen sich spontan an. Als sie an einem Haus vorbeikamen, erweiterte sich ihre Zahl noch einmal um sieben Magier, allesamt humusmächtig und so eine willkommene Erweiterung zu ihrem Speiseplan. Tatsächlich stellte sich das Beschaffen von Nahrungsmitteln als ein größeres Problem dar, als sie erwartet hatten. Wie todbringende Ameisen ließ der Zug nichts zurück, was essbar gewesen wäre. Fisch, Beute von Lulanivilay, Pflanzen, Samen, Vorräte – alles wurde vernichtet. Und trotzdem wurden sie kaum satt. Die Anführer waren besorgt.

Bis sie eine Stadt erreichten. Man hätte eine Stimme gehört, die um Nahrungsmittel bat, deshalb hatte man sich zusammengetan. Die früher eher versteckt lebenden Humusmagier hatten sich zusammengeschlossen und erwarteten den Zug mit einem Aufgebot an Früchten und Gemüse. Selbst Brot hatte man gebacken. Dazu gab es Butter, Milch, verschiedene Weine, Wasser und Honig. Die Stimmung im Land der Magier hatte sich erneut gewandelt. Hatte man seit dem Auftauchen der Drachenreiter lediglich Hoffnung geschöpft und darauf vertraut, dass die beiden das Dilemma irgendwie richten würden, hatte der Entschluss der Soldaten und das Auftauchen der Hanebito eine befreiende Wirkung. Plötzlich packten alle mit an, wollten helfen, etwas tun, sich einbringen. Weitere Magier mischten sich unter die Soldaten, brachten Vieh mit, das Lebensmittel und Werkzeuge trug. Waisenkinder, die bisher in den Gossen gelebt hatten, verwahrlost und mutlos, wurden zuerst von Dhaôma, dann von Keithlyn aus ihrem Sumpf geholt. Nachdem sie gewaschen und gesättigt waren, hatte auch kaum jemand mehr etwas dagegen, dass sie durch die vielen Leute tobten. Ihre anfängliche Angst vor den Hanebito wurde ihnen schnell genommen, ließ nur noch ein leichtes Misstrauen zurück, welches Keithlyn dazu nutzte, sich mit einigen von ihnen zu prügeln. Wenige Stunden später hatten die Kinder eine ganz eigene Fraktion. Sie berieten sich die halbe Nacht durch und standen am nächsten Morgen als Leibgarde der Drachenreiter an vorderster Stelle. Lulanivilay zählte sechsundachtzig im Alter zwischen fünf und sechzehn und zwei mit blockierter Magie. Danach hielten er und Tyiasur sich von ihren teuren Freunden fern. Die Kinder waren aufdringlich.

Dhaôma hielt sich an Xairas Rat. Er machte gute Miene zum bösen Spiel. Mit Mimoun beriet er, wie sie gemeinsam auftreten wollten, danach führte er die Menschen. Immer wieder flog er mit den drei anderen über die gesammelte Friedensbewegung, um zu sehen, wo neue Menschen dazu gekommen waren und wo er Hilfe leisten konnte. Mimoun hatte die Aufgabe des Redens übernommen und vermittelte denjenigen, die es immer noch nicht begriffen hatten, mittels Tyiasur den Plan, den sie verfolgten.

Nach zwanzig Tagen Reise waren sie bereits zehntausendvierhundertfünfundsechzig Friedensdemonstranten. Nie hätten sie zu träumen gewagt, dass diese Idee solche Wellen schlagen würde.

„Was denkst du?“, fragte Dhaôma, als sie auf einem Felsen in der Nähe saßen, von dem aus sie beobachten konnten, wie die Lager für die Nacht aufgeschlagen wurden. Dhaôma hatte manchmal das schreckliche Gefühl, in der Menschenmasse einfach zu ersticken, deshalb hatte er sich auf den erhöhten Ort zurückgezogen, was Mimoun selbstverständlich nutzte, um ein wenig mit ihm allein zu sein. Schwach lehnte er sich gegen ihn und betrachtete die vielen lagernden und lärmenden Menschen. „Ist es das, was wir wollten?“
 

Sein Blick glitt über die Massen. Magier und Geflügelte wild durcheinander gemischt. Lachen drang zu ihnen empor. Kinder kreischten ausgelassen und tobten durch das Lager.

„Wir wollten, dass sie sich vertragen, verstehen, dass sie Frieden schließen. Sie fangen an, einander zu respektieren, und lernen voneinander. Also: ja. Das hier wollten wir. Sieh sie dir an. Sie wünschen sich Frieden und sie tun etwas dafür. Sie bürden nicht mehr uns alles auf.“ Mimouns Finger glitten ruhelos über Dhaômas Körper. „Warum also diese Frage?“, wollte er sanft wissen. „Stört dich etwas an diesem Bild?“
 

Einige Zeit musste Dhaôma darüber nachdenken. „Es ist wie früher, als ich mich nicht bewegen konnte. Sie sind mir nicht schnell genug.“, gab er widerwillig zu. Ja, wenn er sich ganz ehrlich fragte, dann war das sein vorrangiges Problem. Er wollte, dass es schneller ging, dass nicht so viel Zeit verging, bis sie wieder tun konnten, was sie wollten. „Aber ich kann mich kaum mit dir davonschleichen, nicht wahr?“
 

Ein leises Lächeln schlich sich auf die dunklen Gesichtszüge und er hauchte seinem Geliebten einen seichten Kuss auf den Hals.

„Für heute Nacht sicher. Tyiasur kann sie ja beruhigen, sollten sie uns tatsächlich suchen. Aber ab morgen wirst du dieses Schneckentempo wieder erdulden müssen. Erinnerst du dich? Ich war auch ungeduldig, damals, als ich nach Hause wollte. Und es hat nur für Rückschläge gesorgt. Langsam ist nicht immer von Nachteil.“
 

„Ich weiß.“, seufzte er tief, dann kuschelte er sich an ihn. „Wenn ich durchdrehe, gehe ich fliegen. Ich warne dich einfach nur schon mal vor.“ Dann schob er seine Hände unter Mimouns Hemd, um sie ein wenig zu wärmen und den Geflügelten zu ärgern. Schalk blitzte in seinen Augen. „Oder ich bilde zur Langeweilebekämpfung die Kinderchen aus, wie sie dir besser auf der Nase herumtanzen können, damit sie sich am Ende mit Haru messen können.“
 

„Dann zieh ich mal andere Saiten auf und werde zum bösen Onkel. Dann verbiete ich ihnen alles und drille sie zu absolutem Gehorsam.“ Kurz zuckte er zurück, als die kühlen Finger seinen Bauch streiften, aber Mimoun ließ ihn gewähren. Stattdessen fingen seine Hände Dhaômas Gesicht ein und küsste ihn. „Dann ist Schluss mit der Gutmütigkeit. Dann wirst nur noch du das können. Mir auf der Nase herumtanzen.“ Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Bring ihnen etwas bei, was ihnen später auch hilft. Vielleicht greifst du auch schon Lesleys Training vor. Drachen dürften die Plagen hier auch interessieren.“
 

„Ich frage mich immer noch, wie wir aus diesem Gewusel da unten denjenigen herauspicken sollen, den die Mutter angefordert hat. Und woran wir erkennen können, welches der Kinder wirklich als Drachenreiter geeignet ist. Nur weil sie es alle werden wollen, heißt das nicht, dass sie da oben auch willkommen geheißen werden. Oder?“ Schwer ließ er sich gegen ihn sinken und unter Mimoun wurde das Moospolster weicher. „Wo sind die Tage, wo mein einziges Problem darin bestand, wie ich dich zu meinem Freund machen könnte?“ Sanft gab er den Kuss zurück, bevor er grinste. „Aber du hast vollkommen Recht. Ich werde ihnen etwas Sinnvolles beibringen. Vielleicht können Vilay oder Tyiasur mir sagen, wer welche Kraft hat, dann können wir sie weiterbilden.“
 

„Gerettet.“, seufzte Mimoun nahezu unhörbar. Es war nicht gut, dass er gegenüber Kindern immer so nachsichtig und es anscheinend auch nicht zu ändern in der Lage war, da musste man ihnen nicht auch noch beibringen, wie sie diese Tatsache ausnutzen konnten.

„Wir müssen uns generell Gedanken machen, wie wir potenzielle Drachenreiter selektieren. Durchhaltevermögen konnten wir unter Beweis stellen auf der Suche nach Jashar. Aber die Bücher mit den Hinweisen sind unwiederbringlich verschollen. Und in unsere Reiseberichte haben derzeit nur Addar und der Rat Einsicht. Die müssten irgendwie allen zugänglich gemacht werden. Den Wunsch nach Frieden trugen wir die ganze Zeit in uns. Wie können wir das aber an anderen erkennen? Gut. Die Menschen hier wünschen sich den Frieden, aber wie stark ist dieser Wunsch? Und war der Hinweis der Mutter auf ein Kind, einen Erwachsenen, Magier oder Geflügelten gerichtet? Es war so einfach, als dieser Zug nur aus der Hälfte bestand. Da war die Auswahl nicht so groß.“ Seine Finger hatten unbewusst wieder angefangen, den an ihn gekuschelten Körper zu streicheln, während seine Blicke über den Himmel wanderten. Es wurde immer rascher dunkel, aber ihm fehlte trotzdem der vertraute Anblick der fliegenden Inseln.
 

„Vielleicht kann man lernen, das zu spüren, aber im Endeffekt hieß es doch, dass man als Drachenreiter die Insel selbst finden muss, also sollten wir es allen selbst überlassen. Außer natürlich, die Mutter sagt uns genau, wen wir mitbringen sollen, dann ist das was anderes.“

Müde schloss er die Augen und entspannte sich endlich vollständig, lehnte vertrauensvoll sein ganzes Gewicht auf Mimoun. „Bleib einfach immer bei mir, dann wird das schon. Da ich sowieso langsam den Eindruck gewinne, dass wir kein Mitspracherecht dabei haben, wie unser Weg aussieht, musst wenigstens du mir erhalten bleiben.“
 

„Immer.“, versprach Mimoun wie schon so häufig davor. „Und sie wird nie eine klare Ansage machen.“ Beschützend schlang er seine Arme um den vertrauten Körper. Um ihre Umgebung ebenfalls auszusperren, faltete er seine Flügel um sie beide. „Aber wir sollten noch ein wenig schlafen. Diese Rasselbande müsste früher wach werden, als uns lieb sein dürfte. So langsam wie sie sind, so laut sind sie auch.“
 

Die Tage zogen sich dahin und ihre Zahl wuchs langsam aber kontinuierlich an. Und ebenso wuchs auch der Hunger, denn es wurde immer schwieriger diese Masse an Menschen zu ernähren, wenn nicht sogar nahezu unmöglich. Sie kamen ihrem Ziel, der Hauptstadt, näher, doch entwickelte es sich immer mehr zu einer Mammutaufgabe.
 

Auch die Unzufriedenheit wurde wieder stärker. Immer öfter gingen die Hanebito doch auf Jagd, um wenigstens ein wenig den Hunger zu verringern. Die Magier waren ihnen dafür dankbar, bis plötzlich einige Magier und Hanebito erkrankten. Es begann mit Magenschmerzen und Durchfall, bis es die ersten Todesopfer forderte. Die entstandenen Turbulenzen riefen die Drachenreiter auf den Plan, die Heiler zusammenriefen, um die noch Kranken zu retten.

Die Heiler und Dhaôma waren sich einig: Diese Menschen waren vergiftet worden. Und der Täter war einer dieser vielen, der unzufrieden mit dem Frieden war.

Tyiasur löste das Problem dann schnell. Mit Lulanivilays Hilfe checkte er die Gedanken der Menschen und fand diejenigen, die angesichts der von Mimoun veröffentlichten Warnung Genugtuung verspürten. Die kleine Gruppe Magier wurde von Dhaôma beiseite genommen, was natürlich nicht unbemerkt blieb. Auf Anfragen wehrten sich die sechs Menschen und rechtfertigten sich lautstark. Es war ihr größter Fehler gewesen. Noch bevor Dhaôma auch nur einen Gedanken fassen konnte, gingen die nächststehenden Magier auf die Leute los. Es war Kaley geschuldet, dass Dhaôma unverletzt aus dem Chaos entkam. Der Einäugige griff den jungen Mann schlichtweg unter den Achseln und erhob sich in die Luft, während die Übeltäter wie unter zwei großen Wogen begraben wurden. Als Lulanivilay wütend dazwischenfuhr und sie auseinander trieb, waren sie bereits tot.

Dhaômas Wut wurde mit Unverständnis aufgenommen. Er versuchte, es ihnen zu erklären, dass sie nicht mehr töten sollten, aber obwohl er zu einigen durchkam, blieben die anderen davon überzeugt, dass sie nichts falsch gemacht hatten, indem sie die Widersacher ausgemerzt und ihre Friedensikone vor deren schlechtem Einfluss gerettet hatten.

Am nächsten Tag gab es eine neue Regel für die Teilnehmer an der Wanderung: Niemand durfte einen Menschen, egal welcher Tat er beschuldigt wurde, auf eigene Faust töten.
 

Das Misstrauen gegenüber dem anderen Volk brandete wieder auf und drückte die Stimmung nach diesem Vorfall. Aber es hatte Opfer auf beiden Seiten gegeben. Es dauerte nur etwas länger als einen halben Tag und schon waren die Menschen wieder in hitzige Diskussionen verstrickt, warum solche kriegswütigen Idioten noch immer existierten.

Immer näher wälzte sich die Masse an Menschen an die Hauptstadt der Magier heran. Nur noch wenige Tage trennten sie von ihrem Ziel, als sich eine weitere Gruppe ihnen anschloss. Da sich die Handvoll Personen von seitlich näherten und kurz hinter der Spitze auf den Zug trafen, marschierten die Vordersten weiter, während hinter ihnen der Zug ins Stocken geriet und großteils zum Erliegen kam. Es dauerte einige Zeit, bis die Rufe und die Nachricht von den Neuankömmlingen bis zu allen durchgedrungen war, aber nahezu sofort wurden Hälse gereckt und Nachbarn als Aussichtshilfe missbraucht.

Mimoun hatte zwar die Neuigkeiten gehört, konnte sie aber nicht wirklich glauben. Erstaunen spiegelte sich in seinem Blick, als er den Neuankömmlingen gegenüber stand, um sie willkommen zu heißen, wie er es bei jedem tat. Halblinge, die inmitten der sie umringenden Menschen ein wenig verunsichert, nervös und vor allem verloren wirkten.

„Lasst ihnen doch Platz.“, verlangte er laut von den Umstehenden. Er konnte sie verstehen. Magier hatten sich immer wieder mal angeschlossen, aber das hier waren Halblinge. Die Neugier war da natürlich groß. Warum waren sie hier? Woher kamen sie? Hatten sie schon immer versteckt irgendwo gelebt und sahen nun ihre Chance oder kamen sie vom Zirkel? Nur widerwillig wurde seinen Worten Gehör geschenkt und darauf reagiert. Mit einem milden Lächeln trat er vor und ließ seine Finger über die kühlen Schuppen seines Drachens gleiten. Immer, wenn er Neulinge begrüßte, war sein Begleiter bei ihm, um sofort ersichtlich zu machen, wer er war.

Neugierig ließ er seinen Blick über die fünf Gestalten wandern und gab ihnen gleichzeitig Gelegenheit ihn eingehend zu mustern. Die zwei Männer und drei Frauen waren noch jung. Älter als Keithlyn, aber es trennten sie wahrscheinlich nur wenige Jahre. Und sie sahen wohlgenährt und gepflegt aus, die Kleidung intakt. Wenn, dann waren sie noch nicht lange unterwegs.

„Friede sei mit euch zwischen Himmel und Wasser.“, begrüßte Mimoun sie und ergötzte sich an den verdatterten Gesichtsausdrücken. So albern er sich jedes Mal bei diesem Satz vorkam, so lustig waren auch die Reaktionen darauf. „Ihr braucht keine Angst haben. Ihr seid hier sicher.“

Der Geflügelte erhielt nur ein knappes Nicken zur Antwort. Kurz darauf huschte ein Ausdruck über das Gesicht des Vordersten, den er nicht einzuordnen wusste, der aber eindeutig durch Xairas Erscheinen hervorgerufen worden war. Es verging nur ein Sekundenbruchteil und der junge Mann hatte sich wieder in der Gewalt.

„Wo ist der andere Drachenreiter?“, fragte neugierig ein Mädchen aus der hinteren Reihe und sah sich aufmerksam um.

„Es ist nicht einfach bei über tausend Menschen ständig und überall Präsenz zu zeigen. Aber keine Angst, ihr werdet Dhaôma auch noch kennen lernen.“, versprach der Geflügelte mit einem gutmütigen Lächeln. „Solange müsst ihr bedauerlicherweise mit mir vorlieb nehmen.“

„Ich kann sie nicht lesen.“, erklang Tyiasurs Stimme in Mimouns Kopf und der Schwanz zuckte leicht nervös. „Ich habe ein ungutes Gefühl.“

Das Gefühl des Wasserdrachens betrog ihn so gut wie nie und so änderte sich die Stimmung des Drachenreiters unmerklich. Er wurde wachsamer, musterte die neu eingetroffenen Halblinge misstrauischer. Und auch wenn sich der Geflügelte Mühe gab, weiter fröhlich und sorglos zu wirken, so fiel es ihnen doch auf. Innerhalb von Sekundenbruchteilen änderte sich das Bild. Hier eine leichte Seitwärtsbewegung, um festeren Stand zu suchen, da ein leichtes Ducken, dort ein vorsichtiges Anspannen von Muskeln. Zeitgleich mit Mimouns Warnruf erfolgte der Angriff.

Hatte der Drachenreiter gedacht, der Vorderste und Stärkste würde sich auf ihn als gefährlichsten Gegner stürzen, war er verblüfft, als dieser abrupt die Richtung wechselte und sich mit einem gezischelten „Verräterin.“ und blitzschnell gezogenem Dolch auf Xaira warf. Stattdessen tauchte ein schmales Mädchen auf, deren Bewegungen hinter dem breiten Rücken des Mannes verborgen geblieben waren. Sie brauchte keine Zeit damit zu vergeuden, eine Waffe zu ziehen, denn sie besaß die scharfen Krallen der Geflügelten, wie Mimoun schnell schmerzhaft feststellte. Nur seinen schnellen Reflexen und der nach hinten gerichteten Ausfallbewegung war es zu schulden, dass die Krallen ihm nur über das Gesicht schrammten, statt seinen Hals aufzuschlitzen. Die anderen Gestalten warfen sich mit ihrem ganzen Gewicht und aller Wut gegen die Umstehenden, um ein Eingreifen ihrerseits wenn schon nicht zu verhindern so doch wenigstens hinauszuzögern.

Viel Zeit konnten sie gegen diese Übermacht nicht schinden. Schon nach wenigen Augenblicken waren sie zu Boden gerungen und auch die beiden, die auf Xaira und Mimoun eindrangen, fanden sich in festem Griff wieder. Die aktuellste Regel der Marschprozession befand sich noch in den Hinterköpfen der Umstehenden, aber der Schrei nach Blut wurde lauter, schließlich wurde hier ein Drachenreiter direkt angegriffen.

Mit wenigen Worten und befehlenden Gesten hatte Mimoun eine Gruppe zusammengestellt, die zeitgleich als Wächter für die gefangenen Halblinge wie auch als Beschützer fungierten.

Wider Erwarten beruhigten sich die Rufe und das Drängeln, auch wenn der Zorn blieb.

Mimoun gestattete sich, tief durchzuatmen, und spürte schon im nächsten Moment eine kühle feuchte Zunge über die Risse in seinem Gesicht fahren. „Alles okay.“, beruhigte er seinen kleinen Gefährten und sah im gleichen Augenblick Xaira neben sich auf die Knie sinken. Erschrocken wandte er sich zu ihr um. Hektisch suchte sein Blick ihren Körper ab. Ja, sie hatte einen Stich abbekommen, hatte sie doch keine Zeit gehabt, ihre bevorzugte Peitsche zu ziehen. Die Verletzung wirkte aber nicht so, als müsste sie sich jetzt derartig gehen lassen.

Mimoun machte einen Schritt auf sie zu, während fachkundige Hände bereits nach ihr griffen. Dieser Schritt war einer zu viel. In seinem Kopf breitete sich Schwindel aus und seine Muskeln weigerten sich, ihn zu tragen. Bevor er wusste, wie ihm geschah, fand er sich selber am Boden wieder. Übelkeit stieg in ihm auf und seine Sicht verschwamm. „Unfair.“, murmelte er mit einem für die Situation unpassenden Lächeln.

Als klar wurde, dass die Halblinge vergiftete Waffen bei sich trugen, wurden sie noch vorsichtiger, noch gründlicher durchsucht und noch sorgfältiger, auch ein wenig ruppiger gebunden.

Durch Tyiasurs Art der Wundversorgung seines Reiters hatte er ebenfalls eine geringe Menge des Giftes abbekommen und benötigte ebenso wie ein Magier Hilfe, der sich schon vorher unvorsichtigerweise einen oberflächlichen Schnitt an einer der Krallen des Mädchens zugezogen hatte. Noch während die Versorgungen stattfanden, wurden alle noch nicht anwesenden Anführer und Dhaôma gerufen.
 

Als Dhaôma ankam, hatte sich bereits der Heiler, der auf Genahn aufpasste, um Mimoun gekümmert, so dass Dhaômas Angst abflauen konnte. Ihm war fast das Herz stehen geblieben, als er von dem Angriff gehört hatte. Die Gewissheit, seinen Freund außer Lebensgefahr zu wissen, versetzte ihn in die Lage, sich fachmännisch um seine Beraterin und den kleinen blauen Drachen zu kümmern. Der andere Heiler erklärte ihm verwirrt, dass er bei dem geschuppten Wesen keinerlei Reaktion auf seine Kraft verspürt hätte – eine Tatsache, die Dhaôma schleierhaft war. Bei ihm hatte es immer funktioniert.

Endlich konnte er sich neben Mimoun hocken, der noch immer benommen war, obwohl das Gift aus seinen Adern bereits verschwunden war. Es war ein Lähmgift gewesen, das extrem schnell wirkte und in einer höheren Konzentration fast sofort tödlich wirkte. Noch immer hatte er den Halblingen keine Beachtung geschenkt, obwohl sie lautstark schimpften und fluchten und Verwünschungen ihm gegenüber ausstießen. Er wusste genau: wenn er den Gedanken freien Lauf lassen würde, dann würde er sie umbringen – sicherlich ein Gedanke, mit dem Lulanivilay schon längere Zeit spielte. Er betrachtete die Halblinge mit für Ungeübte undefinierbarer Stimmung, wirkte desinteressiert und gleichzeitig angespannt. Allein seine vertikalen Pupillen, in dem Gold der Iris kaum noch zu sehen, wiesen darauf hin, dass er vor Hass sprühte. Das und ein unhörbares Sirren, das alle Umstehenden eine unerklärliche Angst empfinden ließ.

Mimouns Blick klärte sich langsam. Er hatte Glück gehabt, da das Gift nur oberflächlich und dank des Arztes nur kurz wirken konnte. Xaira war viel schlimmer dran, weil es zusätzlich ihre Organe betraf. „Geht es wieder?“, fragte Dhaôma besorgt. Er musste sich zusammenreißen, damit seine Hände nicht zitterten.
 

Ein müdes Nicken antwortete auf die besorgte Frage. „Wir scheinen ziemlich Angst und Schrecken zu verbreiten, wenn der Zirkel auf solch hinterhältige Methoden zurückgreift.“ Seine Finger suchten die Dhaômas, drückten einen sanften Kuss darauf. „Es geht mir gut, wirklich.“, versicherte er noch einmal mit Nachdruck und einem liebevollen Lächeln.

Der Geflügelte ließ seinen Blick über die momentane Situation schweifen. Xaira lag auf dem Rücken neben ihm auf dem Boden, der Wasserdrache auf seinem eigenen Schoss zusammengerollt. Unablässig glitten die Finger des Reiters über die kühlen Schuppen und liebkosten all die geliebten Stellen. Der Ball zerfloss und wand sich, bis der Drache halb heruntergerutscht war, aber in der perfekten Position lag, um an der Unterseite gekrault zu werden. Mimouns Blick glitt weiter bis zu den Angreifern, von denen vier in einem sauber umschlossenen Kreis hockten, mit freiem Blick für die Drachenreiter, und einer zu Boden gedrückt werden musste, da er noch immer nicht den körperlichen Widerstand aufgegeben hatte.

„Was machen wir jetzt mit ihnen?“ Sanft drückte er die Finger seines Magiers und wandte ihm wieder den Blick zu.
 

Da war die Frage, die er befürchtet hatte. Jetzt musste er sich zwangsläufig mit ihnen beschäftigen. Dhaôma seufzte und erhob sich. „Wenn du es nicht weißt…“ Ein sekundenlanges Schließen der Augen war das einzige Zeichen seiner inneren Überwindung, bevor er zu den Halblingen hinüber ging.

„Hallo.“, sagte er. „Friede sei mit euch zwischen Himmel und Wasser.“

„Was bist du so freundlich zu ihnen, Dhaôma? Das haben sie wirklich nicht…“

Mit einer unwirschen Geste brachte er den Mann zum Schweigen und ließ sich vor dem Mann zu Boden in den Schneidersitz gleiten. „Er wird dich jetzt loslassen. Sei gewarnt. Solltest du dich auch nur einmal unangemessen bewegen, nimmt Lulanivilay mir die Entscheidung ab, was mit euch passiert.“

Unsicher gab der Mann die Gegenwehr auf, aber selbst für den ungeübten Dhaôma war das Funkeln in den Augen deutlich zu sehen. Seufzend lächelnd bewegte er die Hand, als wäre ihm zu warm. Ein Nicken später war der Mann frei. Kein Angriff erfolgte. Hatten ihn die Worte wirklich eingeschüchtert oder wartete er auf eine bessere Gelegenheit?

„Ist es euch wirklich so sehr zuwider, einfach nur Halblinge zu sein?“, fragte der Braunhaarige schließlich und provozierte einen Wutanfall bei dem gefesselten Mädchen, das Mimoun verletzt hatte. Sich heftig in ihren Fesseln windend keifte sie ihn an. Sie für unwichtig befindend ignorierte Dhaôma sie. Er wartete auf eine Antwort.

„Was weißt du schon?“

„Ich wollte immer Hanebito sein.“ Freundlich zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Aber ich habe verstanden, dass es darauf nicht ankommt. Und wer könnte schon etwas daran ändern, was du bist?“

„Du hast gut reden!“ Der Mann vor ihm spuckte aus, runzelte die Stirn, als der Speichel sein Gegenüber nicht traf, sondern wie an einer unsichtbaren Wand heruntertropfte. Dhaôma hatte einen Schutzschild aus Wind errichtet. „Feigling.“

„Berechtigterweise.“, antwortete Dhaôma gleichmütig. „Aber ich verstehe es nicht. Erkläre mir doch bitte, warum es so schlimm ist, ein Halbling zu sein.“

„Weißt du, wie es ist, wenn man von seiner Mutter verachtet wird und sogar vor ihr geschützt werden muss, weil sie einen töten würde, wenn sie könnte?“

„Ja.“

Sprachlos öffnete er den Mund, schloss ihn wieder, dann öffnete er ihn wieder, bevor er wütend in die Luft neben sich schlug. „Klar doch, der große Magier hatte eine schwere Kindheit! Das ist nichts im Vergleich zu uns! Du hast keine Ahnung, wie es ist, ein Halbling zu sein!“

„Recht hast du. Ich weiß es nicht. Aber warum, frage ich dich, zwingt ihr dann Hanebito und Jagmarr dazu, weitere wie euch zu zeugen, gegen ihren Willen und offenbar auch gegen euren? Ist das nicht kontraproduk…“

Mit Zorngebrüll stürzte sich der Mann auf Dhaôma, gegen diese Logik einfach keine wirksamere Waffe sehend. Erschrocken wich der junge Mann zurück, während um ihn herum jeder auf seine Weise reagierte. Genahn hatte seinen Wind entfesseln wollen, Asams Bogen war zum Schuss gespannt, einige Geflügelte wollten sich auf ihn stürzen und ein Magier schoss bereits den ersten wohldosierten Feuerball ab, als sich Lulanivilays Krallen erbarmungslos durch den Oberkörper des Halblings bohrten. Die Pranke wurde von Flammen verhüllt und der Mann stieß einen erschrockenen, entsetzten Schrei aus, überlagert von dem Schmerzensschrei des Halblings, dessen letzte Atemzüge auch sein Inneres verbrannten.

All das allein war schon Grund genug, dass viele der Zuschauer erschauderten, aber als der Drache seinen langen Hals hinunter bog und dem Mann den Kopf abbiss, wurden selbst den hart gesottenen Kriegsveteranen die Beine weich. Dhaôma drehte es fast den Magen um, denn man konnte sehen, wie der Kopf den langen Hals hinunter glitt.

„Vilay…“

Die goldenen Augen richteten sich auf Dhaôma. „Er war zu laut.“ Gemächlich zog er seine Pranke zurück. Sie war unverletzt. Der Feuermagier ging erleichtert in die Knie. „Und er schmeckt nicht mal.“
 

Dunkel erinnerte sich Mimoun daran, dass dieses gewaltige Geschöpf bereits Kekaras zerrissen hatte. Genau konnte er sich nicht mehr an den Anblick erinnern, zu sehr hatte ihn die Tatsache abgelenkt, dass Dhaôma lebensgefährlich verletzt worden war. Einerseits war es gut zu wissen, dass Lulanivilay seine Freunde gnadenlos beschützte. Andererseits schockte die simple Brutalität, mit der es geschah.

Mit diesen widerstrebenden Gefühlen starrte Mimoun auf den Torso, aus dessen Kleidern noch immer Flammen schlugen und Blut sickerte. Ohne sein bewusstes Zutun bewegten sich seine Füße vorwärts, direkt neben den Feuermagier. Beruhigend legte der Geflügelte ihm kurz die Hand und trat dann zu dem Drachen hin. Unschlüssig wechselte sein Blick zwischen ihm, dem Toten und den verbliebenen Halblingen hin und her. Von den Zirkelmitgliedern waren zwei Mädchen mit einem spitzen Aufschrei ein wenig zurückgesprungen und das dritte starrte den schwelenden Leichnam mit hervorquellenden Augen an. Nur die Haltung des Mannes verriet nun wieder wilde Entschlossenheit und den Willen zu töten. Nicht die Drachenreiter. Die schien er gar nicht zu beachten. Sein Blick war starr und voller brodelndem Hass auf Lulanivilay gerichtet.

Mit einem entschlossenen Schritt versuchte Mimoun den Blickkontakt zu unterbrechen, was bei einem Berg aus Schuppen und Muskeln reichlich schwierig war.

Nahezu zeitgleich senkte sich ein großer Schatten über den verstümmelten Körper. Es handelte sich um eine Decke, die Asam sich aus dem Gepäck eines der Umstehenden genommen und sie über die Leiche gebreitet hatte. Zum einen erstickte er so die letzten Flämmchen, zum anderen verbarg er gnädigerweise den Anblick des ausblutenden Körpers.
 

„Ich denke, wir werden hier gar nichts mehr erreichen.“, mischte sich jetzt Genahn ein. Sein dunkles Haar wehte leicht im kühlen Wind. „Von Kooperation konnte man schließlich nichts sehen, von Einsicht keine Spur. Wenn wir sie töten, wirft das ein schlechtes Licht auf unsere Ziele, lassen wir sie am Leben, müssen wir uns überlegen, wie wir sie mitnehmen, ohne dass sie uns oder sich schaden. Es wird nicht leicht sein, die Menschen daran zu hindern, sie einfach zu lynchen.“ Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust, als er mit Bedauern auf die Decke starrte.

„Sie zu töten kommt nicht in Frage.“, wandte Dhaôma vehement ein. Seit die Leiche bedeckt war, begann sich sein Magen zu beruhigen, schon um die erhitzten Gemüter auszugleichen.

„Wir könnten sie foltern, um zu erfahren, ob sie noch andere Anschläge planen. Es wäre gut zu wissen, ob es einen Drahtzieher gibt, oder ob sie auf eigene Faust gehandelt haben.“

„Folter kommt genauso wenig in Frage!“ Wütend schoss der Drachenreiter einen Blick zu demjenigen, der den Vorschlag gemacht hatte. „Könnten wir jetzt bitte zur Menschlichkeit zurückkehren? Ich dachte, es wäre klar, dass wir den Frieden nicht mit allen Mitteln erzwingen wollen. Gewalt ist keine Lösung!“

Liebevoll wurde durch die braunen Haare gewuschelt, als Asam neben ihn trat. „Pazifist.“ Er wandte sich an die Männer und Frauen, die die Gefangenen bewachten. „Verscharrt die Waffen ein wenig abseits, damit sich keiner daran schneidet. Begrabt den Toten ehrenvoll daneben. Und dann gehen wir am besten weiter. Es ist so schon anstrengend genug, den gesamten Zug am Laufen zu halten.“

„Postiert Wachen rund um den Zug, damit sich eine solche Situation nicht wiederholt.“, fügte Genahn nahtlos an. „Und wechselt euch mit der Wache über die Attentäter ab, damit ihr nicht müde oder unaufmerksam werdet.“ Er sah zu den vier Lebenden, von denen einer noch immer mit brennender Wut Lulanivilay anstierte, eine vor Angst kaum noch stehen konnte, eine jegliche Hoffnung verloren hatte und eine verwundert auf Dhaôma sah. So wie es schien, hatte er zumindest bei einer etwas bewirkt. Er würde das mal beobachten.
 

Die Frage nach Drahtziehern und Motivation war nicht schlecht. Man brauchte aber nicht gerade Folter, um diese Antworten zu erhalten. Prompt schüttelte der Wasserdrache den Kopf. Die Magie, die sein Gedankenlesen blockierte, war immer noch aktiv. Und sie auszuschalten brachte nichts, da Tyiasur nicht gleichzeitig in den Geist der Halblinge eindringen konnte. Verzwickte Angelegenheit. Aber nichts, was sich nicht irgendwann und irgendwie lösen ließ.

Je ein Magier und ein Geflügelter flankierten einen der Gefangenen, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein. Zwar ließ man sie dicht beieinander, doch nicht genug, damit sie sich absprechen oder etwas planen konnten.

Nur langsam setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Der Stau löste sich allen Anstrengungen zum Trotz nicht wirklich. Mimoun nahm seinen Schatz ohne auf Gegenwehr zu achten auf den Arm und flog mit ihm ein wenig abseits des Chaos, um die Eindrücke ein wenig sacken zu lassen und ihre Gemüter abkühlen zu lassen.

„Alles okay bei dir?“
 

Dhaôma nickte. Ihm war der Abstand ganz recht. „Sie haben nicht nachgedacht.“, murmelte er, tief in Gedanken versunken. „Ich glaube kaum, dass sie den Frieden jetzt noch aufhalten können. Es sind inzwischen so viele.“ Unter ihnen erstreckte sich die Schlange aus Menschen über etliche Kilometer. „Es brächte ihnen gar nichts, dich umzubringen.“ Außer vielleicht einen schnellen Tod, wenn er daran dachte, wie er das letzte Mal bei einem Angriff reagiert hatte. Vielleicht war es ganz gut gewesen, dass er nicht dabei gewesen war. „Warum machen sie das?“
 

„Wir bringen ihre Welt durcheinander.“, mutmaßte Mimoun nach einiger Zeit dumpfen Brütens ins Blaue hinein. „Bedenke: Sie wachsen hinter ihren Mauern auf und ihr ganzes Leben ist darauf ausgerichtet, die Frage zu klären, welches unserer Völker das stärkere ist. Und wir vereinen die beiden Parteien.“ Mimoun zog seinen Freund an sich, lehnte seinen Kopf an dessen Schulter. „Wir fordern Frieden, ziehen gegen ihr Schloss. Das sind Faktoren, die nicht in ihrer Planung auftauchen. Sie wissen nicht anders damit umzugehen. Wir machen alles kaputt, woran sie glauben, wonach sie ihr Leben aufgebaut haben.“ Ein abgrundtiefes Seufzen folgte diesen Worten. „Obwohl sie gerade versucht haben, mich umzubringen, kann ich nicht anders, als Mitleid mit ihnen empfinden.“
 

Mimoun hatte wahrscheinlich Recht. Wenn man es von dieser Warte aus betrachtete, dann konnte es wirklich sein, dass sie nur versuchten, sich zu schützen. Aber bringen tat es gar nichts.

„Warum hat dich Tyiasur eigentlich nicht warnen können? War er müde?“ Immerhin war der kleine Drache ständig dabei, irgendwelchen Menschen in den Köpfen herumzugeistern, um unschöne Situationen möglichst schnell im Keim zu ersticken. Sanft strich er dem schlafenden über den Kopf. Das Gift hatte bei ihm irgendwie längere Wirkung.
 

„Er hat mich gewarnt.“, korrigierte Mimoun. „Er sagte, dass er sie nicht lesen könne. Warum sollte jemand, der nichts Böses will, seine Gedanken verbergen?“ Sein Blick glitt über die blau schillernde Gestalt und das Gesicht des Geflügelten drückte plötzlich Kummer aus. „Aber du hast Recht. Ich frage mich schon seit einer ganzen Weile, ob ich ihm damit nicht zu viel zumute. Es sind mittlerweile so viele und auch Tyiasurs Kräfte sind nur begrenzt. Und ich kann nichts tun, um ihn zu unterstützen.“
 

„Und wenn wir anfangen, unsere Menschenkenntnis selbst zu schulen? Vielleicht verlassen wir uns zu sehr auf ihn. Mir hat man schon ein paar Mal vorgeworfen, dass ich kein Vertrauen erwarten kann, wenn ich selbst keines in andere habe. Und im Grunde ist es ein Akt gegen Vertrauen, uns immer versichern zu lassen, dass unser Gegenüber nichts Böses will.“ Auch wenn es kolossal praktisch war, gerade in ihrer Situation. „Es ist eine sehr komfortable Kraft, die er da hat. Aber bevor wir ihn kennen gelernt haben, konnten wir auch selbst entscheiden, wer uns wohl gesonnen war und wer nicht.“ Leise kicherte er, als er an die misstrauischen Hanebito dachte, die er auf den Inseln getroffen hatte. „Auch wenn ich oft daneben lag.“
 

„Au ja.“, lachte Mimoun. „Da ich die Magier ja auch so gut einschätzen kann und du generell ein gutes Gespür für Zwischenmenschliches hast.“ Der Drachenreiter ließ seinen Blick wieder über die sich träge durch das Land windende Schlange aus Leibern gleiten. „Tyisaur wird sich ab jetzt schonen.“, beschloss er laut für sich. „Wenn wir beim Schloss sind, wird jeder von uns seine volle Aufmerksamkeit und Kraft brauchen, fürchte ich.“ Er löste sich von seinem Freund, ergriff dessen Hand und begann langsam in ihre ursprüngliche Marschrichtung zu wandern. Ihn trieb keine Eile, nur das Bedürfnis sich zu bewegen und nachzudenken.
 

Den Händedruck erwidernd folgte Dhaôma. Auf sein Gesicht schlich sich ein weiches Lächeln. Dafür liebte er Mimoun so. Niemals würde er sich selbst über die Gesundheit eines anderen stellen. Und es war auch nicht mehr weit. Bald würden sie da sein. Er konnte es kaum erwarten, wieder tun und lassen zu können, was er wollte.

Wind strich ihnen um die Körper, zauste Haare und Kleider, zerrte an Mimouns Flügeln, als wollte er sie zum Spielen auffordern. In Dhaômas Knochen hallte die Erinnerung an Genahn wieder, der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, mit Hilfe seines Windes immer wieder mal die Situation abzuschätzen. Vermutlich hatte er sich Sorgen gemacht.

Aus dem Zug drang Musik zu ihnen herauf, leise und kaum noch zu hören. Barden hatten sich versammelt, ihre Musik aufeinander abgestimmt und begleiteten den Zug häufig mit ihren Liedern. Manche Texte konnte inzwischen jeder mitsingen; manchmal taten sie es, ein Chor aus unterschiedlichsten Stimmen. Besser konnten sie kaum zeigen, dass sie sich näher kamen.

Am Fluss entlang rannten einige Kinder. Sie spielten Fangen oder Drachenreiter. Allen voran Keithlyn, die dank ihrer Hautfarbe in der Sonne förmlich leuchtete. Ihre Präsenz in diesem Zug war inzwischen legendär. Es war durchgesickert, dass sie einst eine Magierin war, die es vorgezogen hatte, Hanebito zu sein. Vielleicht eine kleine Lüge, aber die Wirkung hatte es nicht verfehlt. Neben Mimouns und Dhaômas Beziehung war sie das zweite Wahrzeichen dafür, dass der Krieg beendet werden sollte.

An der Spitze konnte man Lulanivilay sehen, der inmitten von Magiern stand. Keiner lief noch. Dann brandete Feuer hoch, ließ Bäume verbrennen und Vögel auffliegen. Die Menschen spritzen auseinander, prallten von der immensen Hitze zurück. Leise lachte Dhaôma. Sein großer Freund hatte die Magier hereingelegt und sie hatten viel zu viel Kraft in ihre Feuermagie fließen lassen, die er unangemessen verstärkt hatte. Ungerührt dessen, was diese Menschen von ihm halten mochten, rollte sich Lulanivilay in den Flammen zusammen und schien ein Nickerchen machen zu wollen. Wahrscheinlich würde er dort auf seine drei Begleiter warten.
 

Die Zeit verstrich. In Sichtweite schlenderten die Drachenreiter neben dem Zug einher und warfen dann und wann ein wachsames Auge über die Menge. Sonst blieben die zwei unter sich, wollten ein wenig Ruhe genießen.

Bevor sie sich zu dem großen Grünen gesellten, sahen sie kurz bei Xaira vorbei. Die junge Frau war auf einen Wagen gelegt worden und schlief friedlich. Volta wich nicht von ihrer Seite und hielt ihre Hand. Er schien sich größere Sorgen um sie zu machen, als notwendig war. Wenn man aber bedachte, wie die Halblinge aufwuchsen, war es mehr als verständlich. Sie hatten sonst niemanden.

Kaum befanden sich Mimoun und Dhaôma wieder im Strom, wurden sie mit Fragen bestürmt. Die Marschordnung hatte sich leicht verschoben und die, die hinten nur noch Fetzen der wahren Begebenheiten zu hören bekommen hatten, waren nun nach weiter vorne gewechselt um alles zu hören. Die Wärme und Sorge der vielen Menschen tat gut und es fiel dem Geflügelten leicht mit einem Lachen über die eigentlich gefährliche Situation hinwegzusehen.

Ziemlich schnell löste sich Mimoun wieder aus dem Strom und zog seinen Geliebten einfach hinter sich her. Er führte ihn zu seinem Drachen. Die Erde, auf der er lag, ließ nur noch ansatzweise die immense Hitze der Feuersbrunst erahnen. Mimoun machte es sich sofort neben dem Großen gemütlich. Um die Zirkelmitglieder wollte er sich heute keine Gedanken mehr machen. Und er wollte einen ersten Schritt in Richtung Vertrauen machen und darauf vertrauen, dass man sich angemessen um die Gefangenen kümmerte, und nicht noch einen Kontrollgang zu ihnen machen.
 

Lulanivilay riskierte nicht mal einen müden Blick. Anhand der Schritte hatte er sie erkannt und beschlossen, sie zu ignorieren. Diese Nacht wurde für die vier erwählten Helden eine der ruhigsten, die sie in dieser Periode der Reise erlebten.
 

Ein paar Tage später lagerte die Prozession an einem riesigen See. Magier und Hanebito arbeiteten zusammen, um an Fisch zu kommen. Seit mehreren Stunden regnete es ununterbrochen und ließ die Gemüter erhitzt und unruhig sein, also wollte man die Zeit, in der man nicht weiterkam, sinnvoll nutzen.

Was waren die Menschen verwirrt, als ein dunkles Sirren die Luft erfüllte. Man kannte es von Lulanivilay, dessen Flügel beim Fliegen dieses Geräusch verursachten, aber niemals war es so laut gewesen. In Neugier sahen sie hinauf, doch was sie sahen, ließ sie in Angst erstarren. Drachen flogen über den See und über sie hinweg, begannen nach kurzer Zeit über ihnen zu kreisen. So viele verschiedene, jegliche Formen und Farben. Es waren mehr, als jeder gedacht hatte, dass noch am Leben waren. Wo kamen all diese Monster her?

Und ausgerechnet der hässlichste unter ihnen setzte mitten auf dem Platz der Anführer zur Landung an. Hastig machte man ihm Platz, flüchtete so weit man kam, bevor man auf Menschen traf, die auch nicht mehr zurückweichen konnten, dann beobachteten die verängstigten Menschen eine wirklich seltsame Szene. Der Drache sah sich einige Zeit um, bevor er sich zielsicher an Genahn wandte. Seine roten Augen fixierten den Mann, wobei er nicht besonders freundlich wirkte.

„Die Mutter ist unzufrieden. Vor Wochen hättest du kommen sollen, Jagmarr, was hielt dich auf?“

Genahn war sprachlos. In seinem Magen lag Furcht vor diesem Drachen, den er nicht kannte, der größer war als Lulanivilay und um einiges furchterregender. So viele spitze Dornen und Klauen und Zähne.

„Wir haben keine Zeit mehr zu warten. Es ruft nach dir, also nimm es an und folge deiner Bestimmung.“, redete der Drache ungerührt weiter. Vielleicht hatte er gar keine Antwort erwartet. Mit dem schuppigen, äußerst dünnen Schwanz legte er einen rundlichen Gegenstand vor die Füße des Magiers. „Wage es nicht, es zu vernachlässigen.“ Damit hob er wieder ab und warf mit seinem Wind beim Starten einfach alle Menschen um sich herum um.

Dhaôma erholte sich ziemlich schnell von dem Schrecken, den der Drache unter den Menschen ausgelöst hatte. „Er war das? Und jetzt wird ihm das Ei geliefert?“ Er musste ein Lachen unterdrücken. Genahns Gesicht war einfach unbezahlbar verwirrt.
 

Mimoun rappelte sich wieder auf. Wie schon so oft, wenn er große Mengen an Drachen sah, ergriff ihn Ehrfurcht. Majestätisch zogen diese Geschöpfe ihre Kreise über den winzigen, verschüchterten Menschen. Machte schon Eindruck.

Der Geflügelte wandte seine Aufmerksamkeit dem Gebilde zu Füßen des Magiers zu, das noch immer unangerührt im Gras lag, schutzlos dem Regen ausgeliefert. Es hatte etwa die Größe einer Kokosnuss und die in einem braunen Grundton gehaltene Schale wurde von grauen und grünlichen pockenartigen Auswüchsen übersät.

Mit verschränkten Armen baute sich Mimoun vor Genahn auf und musterte ihn mit finsterer Miene. „Ich finde es hochgradig unfair, dass ich und Dhaôma uns den Allerwertesten aufreißen, mehr als eine lebensbedrohliche Situation überleben und die Insel der Drachen und unsere Begleiter auf eigene Faust finden mussten. Warum bekommst du dein Ei bequem per Bote geliefert? So etwas ist doch nicht gerecht.“ Langsam kamen auch die Menschen um ihn herum wieder auf die Beine. Unsichere Blicke glitten zwischen Genahn, seinem Ei und der Wolke aus Drachen hin und her. „Ich freu mich für dich.“, fuhr Mimoun nach einer kurzen Pause fort und grinste breit. „Na los. Du hast sowieso keine andere Wahl. Lass es schlüpfen und zeig uns dein Baby. Tyiasur. Lulanivilay. Könnt ihr dafür sorgen, dass möglichst viele es auch sehen können?“

Man sah Genahn seine Unsicherheit und Verwirrung noch an, aber auch den Ruck, den er sich gab, um sich hinzuhocken und das Ei mit beiden Händen zu umfassen. Gerade hatte er sich wieder erhoben und sah hilfesuchend zu den Drachenreitern, als das erste Knirschen zu vernehmen war. Wie trockene Erde bröckelten lose Schalenstücke und die Auswüchse herunter als sich schließlich die Schnauze kurz hervor schob. Vor Schreck wurde das zerbrechliche Gebilde fast fallen gelassen. Nicht nur einer zuckte vor, um es aufzufangen.

Mimoun lachte ausgelassen. Die Geburt seines Drachens begann auch mit einem Sturz. Ob das allen Jungdrachen so erging?

Aber dieser hier ließ sich mehr Zeit. Nachdem ein Loch in der Schale war, geschah minutenlang nichts. Erst als Genahn Stücke aus der Schale brach, um beim Schlupf zu helfen, zerbarst die Hülle mit einem lauten Knall. Was sich da so eindrucksvoll aus dem Ei gepellt hatte, rollte sich gleich wieder zusammen und nahm jedem die Möglichkeit, es genauer zu betrachten. Nur kurz hatte man einen breiten, flachen Schädel, vier stämmige kurze Beinchen und einen kurzen breiten Schwanz erkennen können. Nun ähnelte es wieder dem Ei in seiner runden Form und der braun-grau-grün marmorierten Farbe.

„Glückwunsch. Es ist ein Ball.“, offenbarte Asam grinsend mit einem Tonfall, als wäre er eine Hebamme, die gerade bei der Geburt geholfen hatte.
 

„Ich geb dir gleich einen Ball.“, knurrte Genahn. Derzeit fühlte er sich hoffnungslos überfordert. Die vielen Menschen, die alle etwas sehen wollten, so viele neugierige Fragen aus allen Richtungen und einige reichlich unverschämte Kommentare, die von ihm als frischgebackener Mama redeten. „Nimm dein Gesicht da weg, du erschreckst ihn.“

Asam lachte herzlich. „Klar doch. Es muss sich erstmal an Mama gewöhnen.“

Ihn traf ein Fuß am Schienbein und lachend ging er in Deckung.

Inzwischen war Dhaôma näher gekommen. Im Grunde hatte Lulanivilay ihn her geschoben, denn der große Grüne wollte wissen, was das für ein Winzling war, und sein Freund hatte im Weg gestanden. „Er riecht nach Erde.“, sagte der Braunhaarige weich. In ihm kribbelte es. Die Geburt eines neuen Wesens war für ihn jedes Mal wie ein Wunder.

„Eigentlich riecht es nach zersetztem Eiweiß.“, widersprach sein Drache und Dhaôma seufzte. Lulanivilay war immer so direkt.

„Es sieht aus, als wäre es aus Stein.“, mischte sich Asam wieder ein.

„Wir haben solche Drachen schon gesehen. Sie werden riesig. Wir konnten auf einem von ihnen problemlos liegen. Hoffentlich wird es nicht so schnell groß, sonst wird es niemals die Insel der Drachen sehen.“, murmelte Dhaôma. „Außer wir bringen es bald hinauf, bevor es zu schwer wird. Sonst kann Genahn die Glocke gar nicht läuten…“ Dhaôma runzelte die Stirn. Irgendwie bekam er gerade das dumme Gefühl, sie müssten Genahn wirklich hinaufbringen, damit er das Training absolvieren konnte. Aber vielleicht war der Drache danach zu groß, um wieder auf die Erde zurückgetragen zu werden. Dabei wurde Genahn hier gebraucht und konnte nicht einfach verschwinden. Wirklich vertrackte Situation, aber vermutlich hatten die Drachen eh längst andere Pläne. Besser, er zerbrach sich darüber nicht den Kopf. Weich lehnte er sich gegen Mimoun. „Er braucht noch einen Namen, Genahn Drachenreiter.“
 

„Sie.“, korrigierte Tyiasur, schob sich näher an den kleinen Neuankömmling heran und schnupperte erneut. „Ein Weibchen.“, bekräftigte er erneut und zog sich auf Mimouns Schultern zurück, ließ sich halb auch auf Dhaôma nieder.

„Zwing ihr nicht sofort einen Namen auf. Lass dir Zeit. Du wirst wissen wie ihr Name ist, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“, prophezeite Mimoun und schlang seinem Liebsten einen Arm um den Körper. So war es damals bei Tyiasur auch gewesen. Und dieser Name hatte sich als richtig erwiesen.

Genahns Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf das Drachenbaby in seinen Händen, als Bewegung hineinkam und sich die Schnauze ein Stück weit hervor schob, vorsichtig die Lage sondierte. „Hallo Kleines. Keine Angst. Alles in Ordnung.“, redete er beruhigend auf das kleine Schuppentier ein und langsam öffnete es sich wie eine Blume im Sonnenlicht. Die komplett schwarzen Knopfaugen starrten unverwandt dem neuen Drachenreiter ins Gesicht.
 

In dem Ring aus Menschen begannen einige zu kichern, andere jubelten nun. Ein weiterer Drachenreiter war definitiv ein Grund zur Freunde, gerade wenn es sich um diesen Mann handelte, der problemlos Geflügelte akzeptierte und als Vize der Drachenjäger beschlossen hatte, doch auf deren Seite zu stehen. Von jetzt auf gleich hatte die angespannte Stimmung zu Freude und Feierlaune umgeschlagen.

Und während nun jeder nach vorne dränge, um dem frisch gebackenen Vater seine Glückwünsche zu überbringen, stieg Dhaôma auf, um mit den Drachen zu reden. Er wollte wissen, was es für Neuigkeiten gab. Aber erst, nachdem Mimoun ebenfalls angekommen war, rückten die schuppigen Tiere mit der Antwort heraus. Sie sollten sich nicht mehr so viel Zeit lassen, denn in der Magierhauptstadt war die Hölle los. Genaues wussten sie auch nicht, aber allein dass sie gewarnt wurden, war beunruhigend genug. Anschließend ließen die übrigen Drachen ihre Beute fallen. Lesley hatte die Schwierigkeiten vorausgesehen und sie trafen Gegenmaßnahmen. Sie fütterten die Menschen, die dafür sorgten, dass der Krieg ein Ende hatte, bevor sie sich auf den Heimweg machten. Sie hatten nicht vor, länger hier zu bleiben. Ihre Aufgabe war erfüllt.

„Mimoun?“ Dhaôma kam zu ihm, noch bevor sie beide gelandet waren. „Was ist, fliegen wir vor? Was sie da gesagt haben, das klingt furchtbar. Sollten wir nicht versuchen zu helfen?“
 

Mit seinen Gedanken war Mimoun abwesend gewesen. Diese Neuigkeiten waren in der Tat beunruhigend. Doch er nickte sofort zustimmend. „Wir brauchen Kundschafter, die die Lage schnell sondieren können. Dafür kommen nur wir oder die Geflügelten in Frage. Sie können sich im Ernstfall aber nicht ausreichend verteidigen. Also fliegen wir. Warte hier kurz, landen lohnt sich nicht.“

Und schon ließ er sich mitten in die Menge fallen, dicht neben seine engsten Freunde und Vertrauten. Der Geflügelte verlor nicht viele Worte. Kurz umriss er die Botschaft der Drachen. Auch die Gesichter der anderen zeigte leise Beunruhigung und Entschlossenheit.

„Wir schauen uns dort schon einmal um.“, stellte er die Anwesenden vor vollendete Tatsachen und grinste Genahn an. „Den Rest überlasse ich dir. Du bist echt zur richtigen Zeit erwählt worden.“

Mit einem kurzen, versichernden Seitenblick ergriff er Xaira am Arm und startete wieder durch. Das Protestgeschrei überging er dezent und ließ sie unsanft auf Lulanivilays Rücken fallen. „Ihr zwei kennt euch dort besser aus als ich. Ihr werdet gemeinsam mehr erkennen.“

Eile

Kapitel 75

Eile
 

Lulanivilay machte richtig Fahrt, als er all seine Fähigkeiten zusammenrief. Auf seinem Rücken hatte Dhaôma trotz Geschirr Probleme, sich zu halten, zumal Xaira sich mit aller Kraft an ihm festhielt. Aber Dank dieser Geschwindigkeit erreichten sie ihr Ziel recht bald. Aus der Höhe war die Stadt winzig, aber schon während sie näher kamen, wurden ihre ganzen Ausmaße sichtbar. Selbst Dhaôma, der gewusst hatte, dass sie groß war, hatte nicht damit gerechnet, dass sie das gesamte Blickfeld ausfüllen würde. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, sie einmal zu umwandern.

In der Mitte, umringt von mehreren Mauern, die unterschiedlich prachtvolle Häuser beherbergten, stand der Palast. Er allein bot ihrer ganzen Marschgesellschaft locker Platz, der Garten und der Friedhof darum herum sicher noch einmal der doppelten Menge. Und vor den steinernen Mauern und hatten sich die Magier aus der Unterstadt gesammelt und wetterten gegen die massiven Tore. Sie hatten sie noch nicht erreicht, da brachen sie mit einem Steinschlag schließlich durch. Eine aufgewühlte Menge an Menschen ergoss sich auf den Vorplatz, Gartengeräte, Küchenmesser, Äxte wurden geschwungen.

„Mimoun!“, brüllte Dhaôma, um sich über den Lärm hinweg verständlich zu machen. „Sie werden alles ruinieren!“ Und schon vermittelte er seinem Drachenfreund mittels Fußdruck, dass er dort hinunter wollte, um die Menge aufzuhalten.
 

Dessen war sich Mimoun auch bewusst. Es fiel ihm schwer, die beeindruckende Menge an belebten Gebäuden auszublenden. Noch nie war ihm eine solch gewaltige Ansammlung untergekommen. Drangar war zwar beeindrucken, aber es war auch genauso ausgestorben und tot. Dies hier war anders. Doch bevor er sich davon berauschen lassen konnte, gab es wichtigeres zu klären.

Seinem Sturzflug gab er alle Geschwindigkeit, die er besaß, schwenkte erst im wirklich allerletzten Moment herum und kreuzte vor der aufgebrachten Menge. Der Geflügelte streckte seine Hand aus und seine Krallen fuhren über den Boden, rissen eine Spur hinein. Die Vordersten sahen ihn und erkannten möglicherweise auch die Bedeutung dieser Linie, doch die Hinteren drängten weiter vor und überrannten sie einfach.

Mimoun schraubte sich wieder in die Höhe und pfiff lautstark, was in dem Lärm unterging.

„Genug!“, donnerte eine Stimme in allen Köpfen und auch der Geflügelte presste sich die Hände gegen die Ohren. Tyiasur hatte keine Ausnahmen gemacht.
 

Lulanivilay landete unsanft vor dem Eingangstor der Burg. Die Erde bebte und einige fielen zu Boden. Dennoch ging Dhaômas Ruf im Lärm unter. Jeder hatte den Drachen landen sehen. Und kaum begriffen die Leute, wer da angekommen war, begannen sie im Chor die Namen der Drachenreiter zu singen. Der Lärm war ohrenbetäubend und Dhaôma versuchte mittels Tyiasur zu den Menschen durchzudringen, aber irgendwie war die Telepathie abgeschnitten. Einfach ausgelöscht.

„Was geht hier vor?“, brüllte Dhaôma, dabei waren seine Freunde gar nicht so weit entfernt.

Und dann erblickten die Menschen Xaira. Eine Welle der Wut durchlief die ersten Reihen. Wie konnte eine so niedere Kreatur es wagen, sich an ihrem Helden zu vergreifen? Hatten die Halblinge, von denen alle redeten, die Drachenreiter als ihre Geiseln genommen?

Sie griffen an, bevor einer reagieren und sie aufklären konnte. Ein Schwall aus Wasser wusch Dhaôma und Xaira von Lulanivilays Rücken vor die Füße der aufgebrachten Magier, die sofort angriffen. Eine Axt senkte sich Millimeter von Xaira entfernt in den Boden.

Lulanivilay brüllte vor Wut. Er spürte seines Reiters Angst und Schrecken, seine Hilflosigkeit und zog die junge Frau mit seinen Krallen in Sicherheit, während Dhaôma sich aufrappelte und die Arme ausbreitete.

„Haltet endlich ein!“, brüllte der Braunhaarige. Fast wurde er überrannt. Im letzten Augenblick nahm er der Luft vor sich und seinen Freunden die Bewegungsfähigkeit. Er dehnte die Strecke so weit er konnte, als er begriff, dass die Magier trotzdem weiterdrängten, doch sie kamen an den Seiten vorbei. Sie wollten sich nicht aufhalten lassen. Und dann griffen auch noch einige Mimoun an, der noch immer flog.

In Dhaôma explodierte Wut und ließ ihn die Kontrolle über seine Magie abermals verlieren.
 

Wie konnten diese Menschen nur so blind sein? Er trug Tyiasur auf seinen Schultern. Definitiv kein normales Wesen hier unten. Wieso also griffen sie ihn an? Waren sie so gefangen in ihren antrainierten Werten, dass jeder als Feind betrachtet wurde, der ihren Wünschen derzeit im Wege stand?

Der Geflügelte stieg höher. Was konnte er tun? Wie konnte er ein Blutbad verhindern? Alles was er konnte, war ein wenig mit Wind spielen. Tatenlos hatte er mit ansehen müssen, wie seine Freunde angegriffen worden waren. Selbst wenn Tyiasur die Magie blockieren würde, waren die Magier derzeit bereit, mit einfachsten Waffen auf alles und jeden loszugehen. Schon lange hatte er sich nicht mehr so hilflos gefühlt.

Ein sanfter Stoß riss ihn aus dem Strudel aus Verzweiflung, der von ihm Besitz ergreifen wollte. Kurz fuhr seine Hand über den geschuppten Körper und er konzentrierte sich auf seine derzeitige Lage. Höher stieg er hinauf und wandte sich der Burg zu. Sicher waren die Menschen da drin gewarnt bei dem Lärm, aber würden sie einfach stillhalten und abwarten, wie sie es sonst immer taten? Mimoun hoffte es. Er hoffte es inständig und wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinen Freunden am Boden zu.

Gerade wollte er Lulanivilay signalisieren wieder zu starten, als er stockte. Etwas dort unten lief in diesem Moment gehörig falsch.
 

Die Tore hinter ihnen waren längst offen, um Lulanivilay herum lagen bewusstlose Menschen, die es gewagt hatten, ihn und Xaira anzugreifen, die Mosaiken waren überwuchert mit eingefrorenem Gras. Die Menschen wichen immer weiter zurück, viele hielten sich die Beine oder schüttelten entsetzt ihre Schuhe ab. Selbst Lulanivilay zog sich langsam aber sicher vor seinem Freund zurück, der beschlossen hatte, dass es jetzt genug war. Es war das erste Mal, dass er von sich aus angriff, bewusst all seiner Magie freien Lauf ließ, nachdem er verstanden hatte, dass es die Menschen daran hinderte, zu tun, was sie tun wollten. Mit geballten Fäusten und wutverzerrtem Gesicht schritt er auf die Menge zu, alle Linien an seinem Körper hell erleuchtet. Seine neuen Kleider wurden fadenscheinig, obwohl es gute Seide war, entblößten auch den Rücken und die Schultern, seine Haare und Kleider flatterten im selbst kreierten Wind, während sich über ihnen dunkle Wolken zusammenbrauten.
 

Das konnte doch nicht wahr sein. Hin und her gerissen zwischen seinen Gefühlen vergeudete der Geflügelte wertvolle Sekunden. Ja, es war gut, dass Dhaôma seine Magie voll ausschöpfte, um diese blutgierige Meute zu stoppen. Aber er wirkte nicht so, als würde er erkennen, wo die Grenze zwischen Androhung und Ausübung von Gewalt war.

Mimoun landete neben dem Drachen und erkundigte sich nach Xairas Befinden, bevor er sich seinem Magier zuwandte. Nach kurzem Zögern beschloss er, sich von der wilden Magie nicht beeindrucken zu lassen und schritt wie selbstverständlich über vereisten Boden und wucherndes Grünzeug.

„Dhaôma.“, begann er sanft, in der Hoffnung, der Freund würde ihn hören. „Das ist nicht das, weswegen wir hergekommen sind.“
 

Der Braunhaarige fuhr herum, noch immer beherrschte ihn Wut. Gerade jetzt fühlte er sich gestört durch die Unterbrechung und war tatsächlich gewillt, die Kraft auf Mimoun zu wenden. Eine Sekunde lang, verengten sich die Augen, bevor er sich bewusst wurde, was er da tat. Schreck weitete seine Augen, dann presste er sie zusammen.

„Sie haben es verdient!“, schrie er, zeigte mit seiner Hand auf die Leute und löste allein damit einen heftigen Windstoß aus. „Sie wollen dir schaden. Sie greifen Xaira an, sie machen alles kaputt!“ Über ihnen krachte es, als ein Blitz den Himmel zerriss. „Ich habe genug von diesen Menschen. Gerade die, die wir retten wollen, machen alles zunichte, wofür wir kämpfen!“ Als er mit dem Fuß aufstampfte, um seine Worte zu unterstreichen, breitete sich eine spiegelglatte Eisfläche kreisrund um ihn aus. „Sie hören nicht einmal mehr zu!“
 

Äußerlich war ihm nichts anzumerken, aber Mimouns Herz schlug schmerzhaft in seiner Brust, als er sich kurzfristig als Ziel von Dhaômas Wut sah. „Und du versuchst dir durch Gewalt Gehör zu verschaffen. Was macht dich besser als sie? Was gibt dir das Recht, mit Lulanivilay verbunden zu sein, wenn du willentlich und mit voller Absicht Menschen schadest?“ Sein Blick glitt über die Menschen hinter seinem Freund. „Es ist genug. Sie werden uns nun zuhören.“
 

Es war für ihn wie eine kalte Dusche. Frieden. Immer hatte er nur das eine gewollt und jetzt wurde er selbst gewalttätig. Kälte breitete sich in seinem Magen aus. Seine Magie versiegte. Dhaôma starrte auf seine Hände, deren Zeichen nur noch flackerten, während er in die Knie sank. Erst schadete er Menschen, dann wollte er Mimoun angreifen…

„Was habe ich getan?“, flüsterte er, doch es kam kein Ton heraus. Um sie herum tobte das Chaos, doch für Dhaôma war alles still. Kein Laut durchdrang seine Ohren mehr, außer das schnelle Schlagen seines eigenen Herzens.
 

Nur mit Mühe konnte der Geflügelte die Lippenbewegungen entziffern. Hauptsächlich war es ein Raten unterstützt von dem entsetzten Gesicht Dhaômas. „Nichts.“, antwortete Mimoun und kniete sich nach einem scharfen Blick in die Runde ebenfalls nieder. Seine Hand strich über Dhaômas Wange. „Es ist alles gut.“

Das dunkle Gesicht wurde sorgenvoller. Sein Freund reagierte nicht. Das war es nicht, was er mit seinen Worten hatte erreichen wollen. Nun nahm er auch seine andere Hand zur Hilfe und umfasst das geliebte Gesicht. Vorsichtig gab er ihm einen Kuss auf die Stirn und erhob sich.

„Xaira, kümmere dich um ihn.“, bat er mit einem halbherzigen Schulterblick und schob sich selbst zwischen seine Freunde und die unruhig und unschlüssig hin und her wogende Meute. Die Hände zu Fäusten geballt suchte er festen Stand. „Ich sage es nur einmal, also hört gut zu. Wir wollen KEINE Gewalt. Aber wir werden nicht davor zurückschrecken, euch mit allen Mitteln an eurer Wahnsinnstat zu hindern.“

„Aber…“, wurde er unterbrochen, doch ein scharfer Blick ließ den Sprecher wieder verstummen.

„Ich weiß, was der Zirkel getan hat und er verdient durchaus eine Bestrafung. Aber wir wollen Frieden und eine friedliche Lösung. Diese Menschen…“ Er deutete auf die Burg hinter sich. „…sind keine Bedrohung mehr. Sie haben keine Gewalt mehr über mein Volk oder euch. Wir kennen nun die Wahrheit.“ Mimoun erlaubte es sich einmal tief durchzuatmen und seine Gefühle zu ordnen und sich zu sammeln. „Solltet ihr dennoch gewillt sein, die Burg zu stürmen, wird es nicht Dhaômas Zorn sein, den ihr fürchten müsst.“

Das war der größte Bluff seines Lebens. Sollten sie sich für die Gewalt entscheiden, hätte er nicht den Hauch einer Chance. Und er hoffte inständig, dass diese Tatsache den Magiern nicht bewusst war.
 

Währenddessen hatte sich Xaira neben Dhaôma gehockt, der verzweifelt Mimouns Rücken ansah. Er fühlte sich so elend, dass er hätte weinen wollen. Erst verriet er seine Prinzipien und seine Träume und schreckte seinen Drachenfreund ab, dann enttäuschte er seinen Geliebten, so dass dieser ihm den Rücken zuwandte und jetzt allein gegen diese Meute stand. Vor Scham wandte er den Blick ab.
 

Es waren lange Augenblicke, in denen Mimoun um die Sicherheit der Situation fürchtete. Doch der kritische Punkt verstrich, ohne dass einer der Magier die Hand gegen ihn oder seine Liebsten erhob. Nun scheute er sich nicht mehr, ihnen seine sanfte Seite zu zeigen. Mit einem eindeutig erleichterten Seufzen entspannte er sich und lächelte befreit. „Ehrlich Leute, was habt ihr euch nur dabei gedacht?“, wollte Mimoun mit einem leichten Kopfschütteln erfahren.

„Wenn… wenn diese Kreaturen nicht mehr sind, kann endlich Frieden werden.“, brachte jemand stockend hervor und schob sich in die Menge zurück als Mimouns Blick ihn traf.
 

„Hey.“ Eine warme Hand legte sich unterdessen auf Dhaômas Schulter und drückte sie sanft. „Mach einfach das, was du immer tust. Lass Blumen wachsen. Es beruhigt die Gemüter. Und vielleicht solltest du das Gewitter stoppen. Das hat einen schlechten Beigeschmack.“

Kurz fanden seine Augen Xairas, dann schloss er sie. Die junge Frau hatte Recht. Er hatte Panik bekommen und seinen kühlen Kopf verloren. „Ich mache es wieder gut.“, flüsterte er und schon schmolz das Eis auf dem Boden. Kurz darauf rief er den Löwenzahn, wo immer er ihn spürte.
 

„Zuerst einmal verbitte ich mir die Bezeichnung Kreatur. Nicht wenige von den Halblingen zähle ich zu meinen Freunden. Zum anderen mache ich mir ein wenig Sorgen um eure Nachrichtenübermittlung. Die Taten des Zirkels scheinen euch bekannt zu sein, aber dass wir Drachenreiter eine friedliche Durchsetzung von Frieden vertreten, scheint nicht bis hierher durchgedrungen zu sein, was ich sehr bedauerlich finde.“

Betretenes Schweigen antwortete auf seine Worte, das von Erleichterung abgelöst wurde, als die Blumen begannen zu sprießen. Einige der Magier begannen zu murmeln und freuten sich, manche wurden blass und taumelten. Wind kam auf und blies die Regenwolken langsam aber stetig weg von ihnen. Auf dem Vorplatz des Schlosses wurde es still.

Mimoun wandte sich um und ging zu Dhaôma und Xaira hinüber. Vorsichtig ließ er sich neben seinem Freund nieder und strich ihm sanft über die Wange. „Hey, mein Schöner. Geht es wieder?“
 

Die Magier sahen einander an. Natürlich hatten sie davon erfahren und dann gedacht, dass es besser wäre, wenn man den einfachen Weg ging, bevor die Drachenreiter hier auftauchten. Niemand konnte sagen, ob der friedliche Weg einen garantierten Sieg brachte, aber der herkömmliche versprach eine schnelle Wirkung. Zumal es sich nur um ein paar wenige Monster handelte.

Währenddessen lehnte sich Dhaôma gegen Mimoun. „Entschuldige.“, flüsterte er, drückte seine Nase gegen den warmen Hals und sog den beruhigenden Geruch ein.
 

„Schon gut. Auch du hast das Recht wütend zu werden.“ Sanft nahm Mimoun den vertrauten Körper in den Arm, schlang auch seine Flügel um ihn, dass sich ihnen zumindest die Illusion von Zweisamkeit und Ungestörtheit bot. „Tut mir Leid, dass ich gerade nicht für dich da sein konnte, als du mich gebraucht hast.“
 

„Du hattest Wichtigeres zu tun.“, tat der Braunhaarige es ab.

Hinter ihnen begann Lulanivilay damit, seine Klauen tief in die Erde zu bohren und zerstörte damit das kunstvolle Mosaik, weil ihm das Muster nicht gefiel. Der Drache spürte instinktiv, dass die Angriffswelle gestoppt war. Mit seinen goldenen Augen beobachtete er die Menschen, die langsam begriffen, dass ihre Helden tatsächlich direkt vor ihnen standen. Sie freuten sich, während sie sich gleichzeitig seltsam fühlten. Manche waren blass, andere hielten sich an ihren Nachbarn fest, als schwindelte es sie. Jubel brach los, während sich Mimouns Worte wie ein Lauffeuer unter ihnen ausbreitete. Selbst ohne den kleinen blauen Tyiasur wusste innerhalb weniger Augenblicke jeder, was der Drachenreiter gesagt hatte.

Dhaôma erhob sich endlich wieder. Er hatte sich beruhigt und die Wärme der zurückkehrenden Sonne tat ihm unendlich gut. In seinem Kopf arbeitete es, was er den Leuten sagen sollte, um einen erneuten Angriff zu verhindern. Noch immer leuchteten seine Arme, denn er konnte in den weit entfernten Winkeln der Stadt noch schlafenden Löwenzahn erspüren, den er wecken wollte.
 

„Es ist gut.“ Mimoun hielt die Hände Dhaômas umklammert. Die leuchtenden Linien erfüllten ihn mit Sorge, hatte er doch gerade mit seinen Kräften um sich geschmissen. Er drückte einen sanften Kuss auf eine der Handflächen und erhob sich endlich. „Du musst nicht mehr zaubern. Sie haben sich wieder beruhigt.“ Sein Blick glitt zu Xaira hinüber, die in sicherem Abstand zu der Menge und gebührendem Abstand zu dem randalierenden Lulanivilay stand. Seine stumme Frage beantwortete sie mit einem Nicken.
 

„Bist du dir sicher?“ Plötzlich färbten sich Dhaômas Wangen rot vor Aufregung. „Nur noch ein kleines bisschen, ja? Gleich weiß es wirklich jeder. Dass wir hier sind, meine ich. Nur noch einen kleinen Moment länger.“ Er fühlte sich bei weitem nicht müde genug, um einzulenken. Im Gegenteil, nie war er nach einem derartigen Aufgebot an Magie so energiereich gewesen, niemals hatte er sich so schnell wieder regeneriert.

Dann fiel ihm etwas ein, das er machen konnte. „Vilay, heb mich bitte hoch, damit sie mich sehen können.“ Gelassen tat der Drache, was verlangt wurde und hielt dabei sogar still. Dhaôma winkte, bis die meisten Gesichter in seine Richtung sahen. „Ich weiß, dass ihr aus einem anderen Grund hierher gekommen seid, aber ich bitte euch wirklich, den Zirkel der Geteilten Geister uns zu überlassen. Morgenmittag kommen die Menschen an, die uns begleitet haben. Viele Menschen, die Hunger haben werden und einen Platz zum Schlafen brauchen. Es sind Hanebito ebenso wie Magier und Halblinge. Nehmt sie bitte freundlich auf und bereitet ein bisschen was für sie vor, damit sie sich hier ausruhen können, bevor es dazu kommt, den Zirkel zu überzeugen.“

Einstimmig riefen die Menschen ihre Zustimmung. Irgendwie hatten sie es mit Pauken und Trompeten geschafft, die Situation zu retten.
 

Derweil versuchte Mimoun durch Tyiasur eine Entwarnung an den Friedenszug zu schicken, aber der kleine Drache schüttelte nur den Kopf und fuhr sich mit den Krallen am Schädel entlang.

„Hey. Alles okay?“ Ein Kopfschütteln antwortete. Mimouns Beunruhigung wuchs.

„Bist du verletzt?“ Wieder ein Kopfschütteln, ein Stocken, dem ein seitliches Hin- und Herwiegen folgte. „Ich habe keine Lust auf Rätselraten. Kannst du mir nicht einfach sagen, was los ist?“ Erneutes Kopfschütteln war die Antwort. Frustriert seufzte Mimoun. „Also doch Rätselraten.“ Dafür erntete er einen Kopfstoss, der in seiner Heftigkeit über Beruhigung und Aufmerksammachen hinausging. Mehr als irritiert rieb sich Mimoun die schmerzende Stirn und es dauerte noch einen Augenblick, bis es ihm dämmerte.

„Du kannst es mir nicht sagen, weil du nichts sagen kannst.“, brachte der Geflügelte die Situation auf den Punkt. Ein Verdrehen der Augen und ein bestätigendes Nicken folgten.

„Ach Mist.“ Mimoun wandte sich seinem Magier zu. „Jemand blockiert die Telepathie der Drachen. Tyiasur kann sich also nicht mit den anderen in Verbindung setzen. Jemand sollte sie in Kenntnis setzen über den Stand der Dinge, da wir ziemlich überhastet aufgebrochen sind. Möchtest du fliegen oder soll ich?“
 

Stirn runzelnd sah Dhaôma seine beiden Begleiter an, bevor er von Lulanivilay herunter sprang und zu ihnen lief. „Jemand blockiert die Telepathie? Hatte Volta nicht mal so was gesagt? Eine Frau, die dazu in der Lage ist, Telepathie zu benutzen? Vielleicht macht sie es.“ Ihm gefiel der Gedanke nicht, sich jetzt zu trennen. Aber der Tross musste verständigt werden. Und diese Leute konnte man jetzt auch nicht alleine lassen. Aber genauso wenig würde er Mimoun ganz alleine bei den Magiern zurücklassen. Dass sie versucht hatten, ihn anzugreifen, war ihm nicht entfallen. Weich lehnte er seine Stirn gegen die seines Geliebten. „Wenn du gehst, dann können auch wir nicht mehr miteinander sprechen.“, sagte er leise mit bebenden Lippen. „Ich muss mich darauf verlassen, dass du dort unbeschadet ankommst.“ Seine Finger begannen zu jucken und er gab dem Bedürfnis nach, Mimoun seine ganze Kraft zurückzugeben, damit er möglichst schnell fliegen konnte und sich im Notfall verteidigen konnte. „Ich möchte dich nicht gehen lassen, aber du hast Recht, wenn du sagst, dass Genahn und Asam Bescheid wissen müssen. Pass auf dich auf, ja?“
 

„Mein geliebter Dummkopf.“, seufzte Mimoun zufrieden und küsste ihn sanft und lange. „Ich werde immer zu dir zurückkehren. Und es sind ja nur wenige Stunden. Ich gebe ihnen einen Lagebericht und komme umgehend zu dir zurück.“

Tyiasur gab ein würgendes Geräusch von sich und hatte nahezu sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit. Er schüttelte kurz den Kopf und deutete in die Richtung, in die der kurze Trip gehen würde.

„Schon klar. Je eher ich hier wegkomme, desto eher bin ich wieder da.“, murrte Mimoun und zog Dhaôma in seine Arme. Es beunruhigte ihn nicht, Dhaôma hier zu lassen. Die Menge hatte sich beruhigt und Lulanivilay würde schon für Ordnung sorgen, sollte Dhaôma sich beherrschen. Erneut küsste er seinen Freund. „Als Wegzehrung für unterwegs.“
 

Winkend sah er dem jungen Mann hinterher, der wie der Wind davon flog. Den fragenden Magiern erklärte er, dass Mimoun die anderen begleiten würde. Dann sah er unschlüssig in die Runde. Gerade diesen Moment, in dem Mimoun nicht da war, würde er zu gerne dazu nutzen, seine Schwägerin aufzusuchen, aber konnte er diese Menschen unbeaufsichtigt alleine lassen?

„Hast du etwas vor?“ Xaira kannte ihn inzwischen gut genug, um seine Stimmungen zu lesen.

Vorsichtig nickte er. „Ich wollte in mein altes Haus, ein paar Dinge holen und mit Penny reden.“

Sie gab ein glockenhelles Lachen von sich. „Und du willst sie nicht alleine lassen. Spinner.“ Sie wandte sich um. „Dhaôma will nach Hause. Hat jemand was dagegen einzuwenden?“

Es gab Gelächter, Beteuerungen und plötzlich war die ganze Meute geschäftig. Sie wollten die Bitte des Drachenreiters erfüllen und für die Gäste Schlafmöglichkeiten und Nahrungsmittel vorbereiten. Dennoch dauerte es, bis sich alle in Bewegung gesetzt hatten, denn sie verstopften beinahe alle Straßen, bevor sie sich langsam zerstreuten.

„Lass uns also gehen.“, murmelte der Braunhaarige. Ihm war ganz und gar nicht wohl bei der Sache. „Xaira, sei mir nicht böse, aber ich denke, es ist besser, du wartest mit Vilay draußen. Meine Mutter ist so ziemlich die schrecklichste Frau der Welt. Dagegen ist Silia beinahe ein zahmes Lamm.“

Xaira schüttelte sich. „Ich habe Probleme, mir das vorzustellen.“, lachte sie. „Aber wenn du es sagst, dann ist es so. Ich werde warten.“

Dankbar drückte er sie, dann flogen sie los. Von oben war die ganze Stadt gelb, selbst im schwindenden Tageslicht noch. Im Garten hinter dem Haus, inmitten eines Feldes aus Löwenzahn ließ sich Lulanivilay fallen. Xaira hatte beeindruckt gepfiffen bei dem nutzlosen Prunk der Fassade, jetzt fühlte sie sich mit Lulanivilay regelrecht klein. Dhaômas Haus war beinahe größer als die Wasserinsel bei Mimouns Wohnung. Aber für Dhaôma war dieses Haus lediglich eine lästige Ansammlung unschöner Erinnerungen. Als wäre er nie weg gewesen, trat er durch die Gartentür in den feinen, in weiß gehaltenen Salon und von da aus weiter in den Flur. Es war bedrückend still. Wie früher. Er fühlte sich beklommen und zum Weinen zumute.

„Unsinn.“, murmelte er und schüttelte dieses Gefühl der Kindheit ab. Mit festen Schritten ging er die Treppe hinauf. Hier hatte sich einiges getan. Alles war neu renoviert und noch prunkvoller als damals. Offenbar hatte seine Mutter den wachsenden Einfluss ihres Sohnes dafür genutzt, den eigenen Status hervorzuheben. Ganz am Ende der Treppe, oben im zweiten Stock und hinter der letzten Tür fand er seinen Raum. Er war verriegelt. Ein bisschen Magie löste das Problem und das morsche Holz gab nach. Das Zimmer war beinahe unverändert, wenngleich voller Staub. Offenbar hatten sie ihn für tot erklärt und wie bei seinem Vater beschlossen, die Trauer einzusperren. Ein bisschen hatte er darauf gehofft.

Nachdenklich sah er sich um. Die wenigen Bücher, das Bett, der Schreibtisch mit seinen Notizen über Pflanzen und Drachen, der Teppich und die langweiligen Bilder von seinen Vorfahren, alles gehalten in den Farben lila und blau, um seine Heilerkräfte zu fördern. Unwirsch wandte er sich ab und ging zu seinem alten Schrank. Darin waren noch immer all die Kleider, die er sein eigen nennen konnte. Allesamt zu klein. War er wirklich so viel gewachsen? Verdammt. Er hatte gehofft, er würde hier ein paar vernünftige Kleider bekommen können.

Letztlich kehrte er dem Zimmer den Rücken. Hier war nichts, das es wert gewesen wäre, mitgenommen zu werden. Stattdessen ging er ins nächste, ebenfalls verschlossene Zimmer, um sich etwas von seinem Bruder zu holen. Die Kleider passten wenigstens. Radarr würde ungehalten sein, wenn er erfuhr, dass er ohne Erlaubnis eingebrochen war… Aber es war ihm egal. Er nahm sich das erstbeste Gewand, ein dunkelrotes, zog es an, dann suchte er nach Penny. Im zweiten Stock war keine Spur von ihr. Im ersten genauso wenig. Im Erdgeschoß sah er im Wohnzimmer die verhärmte Gestalt seiner Mutter sitzen, die blicklos aus dem Fenster sah.

„Radarr. Bist du endlich zurück?“ Die Frage schwebte dünn durch den Raum, ihre Stimme desinteressiert und emotionslos. „Hast du deinen Vater und deine Geschwister gerächt? Ist der Drache tot?“ Sie hatte sich nicht einmal umgedreht. Wie konnte sie glauben, dass er Radarr war? Sein Bruder hatte ein viel energischeres Auftreten als er. Im Grunde müsste sie wissen, dass nur er sich jemals so heimlich in diesem Haus bewegt hatte. „Sag dieser Frau, dass sie das Kind morgen vorbeibringen soll. Ich habe es schon länger nicht mehr gesehen.“

„Tsk.“, schnaubte Dhaôma, drehte sich um und ging. Sie war das letzte. Sie hatte überhaupt nichts gelernt. Penny als ‚diese Frau’ zu bezeichnen!

„Radarr. Antworte mir!“, rief die Alte, aber er kümmerte sich nicht mehr darum. Unzweifelhaft wusste er jetzt, wo er nach Penny suchen musste. Er kreuzte durch den Garten, vertröstete seine Freunde noch einmal, bevor er das Dienstbotenhaus betrat. Ihm kamen zwei Jungen entgegen, die ihn neugierig musterten. Der ältere von ihnen war jetzt sechs Jahre alt und seine Augen wurden weit, als er ihn sah.

„Wow. Wie auf dem Bild.“ Er begann zu strahlen. „Bist du Onkel Dhaôma?“

„Jokun.“ Sprachlos sah der Drachenreiter seinen Neffen an. Er hatte ihn bisher nur zwei Mal gesehen, immer aus der Ferne. „Du bist wahnsinnig groß geworden!“, freute er sich dann. „Und wer bist du?“

Schüchtern versteckte sich das Kind hinter seinem Bruder, dass dieser lachte. „Keine Angst. Er ist nett.“ Dann fixierte er wieder Dhaôma. Seine braunen Augen waren klar, aufrichtig und stolz. „Sein Name ist Palil.“, stellte er seinen Bruder vor. „Er kennt noch keine Fremden, deswegen ist er so ängstlich.“

Es tat ihm weh, die beiden zu sehen und sich vorzustellen, was für ein Leben sie bisher gehabt hatten, aber dass sie beide gesund waren, erfüllte ihn mit Glück. „Bringt ihr mich zu eurer Mutter?“, fragte er und wurde bei der Hand genommen und ins Haus gezogen.

„Ist der Drache draußen echt?“, wollte Jokun wissen und Dhaôma lachte leise.

„Natürlich. Wenn du magst, kannst du ihn danach kennen lernen. Er ist ein netter, wenngleich wortkarger Geselle.“

Sie erreichten eine Tür und nach einem sachten Anklopfen öffnete der Junge die Tür. Palil sprintete sofort auf seine Mutter zu, die hochschwanger auf einem kleinen Sessel saß und stickte. Sie sah erstaunt auf.

„Mama, wir haben Besuch!“, rief Jokun. „Es ist Dhaôma. Von dem Papa ab und zu erzählt.“

Sie war deutlich überrascht, dann stand sie jedoch auf. Es fiel ihr sichtlich schwer, aber dennoch begrüßte ihn Penny mit aller Sitte und Anstand. Sie war so eingefallen, dass Dhaôma sich um sie sorgte, aber sie meinte, dass es nach der Geburt mit Sicherheit besser würde. Sie vertrug das Schwangersein nicht so gut. Es machte Dhaôma zornig, dass Radarr es ihr trotzdem immer zumutete.

Es wurde ein langes Gespräch mit ihr. Kurz tauschten sie sich aus, was in den letzten Jahren passiert war, bevor Dhaôma ihr von den letzten Ereignissen, seinem Bruder und ihrem Bruder erzählte. Sie nahm es gefasst auf, hatte vermutlich einfach nicht mehr die Kraft, sich darüber aufzuregen. Letztlich hielt es Dhaôma einfach nicht mehr aus. Er legte ihr entschuldigend die Hand auf den Bauch, was sie erschreckte, dann begann er all die Missstände in ihrem Körper zu beseitigen. Sie stöhnte einmal auf, als die drückende Übelkeit sich in ihr löste und verschwand, als die bohrenden Kopfschmerzen endlich nachließen und die Haut nicht mehr so spannte. Dhaôma gewann dabei eine Erkenntnis.

„Es wird in spätestens zwei Tagen soweit sein.“

Sie nickte. „Aber er wird es wieder nicht miterleben. So wie er es immer verpasst.“ Traurig ruhten ihre Augen auf dem kalten Herd. Sie hatte sich damit abgefunden.

„Du isst nicht genug.“

„Die Diener wurden eingezogen. Ich kann nicht gut genug kochen.“

Dhaôma presste die Lippen zusammen, dann lächelte er. „Ich komme morgen wieder zu dir. Ich hoffe, ich kann dir zumindest Genahn bringen. Er ist auf dem Weg hierher.“

„Das sagtest du schon.“, lachte sie leise. „Danke, Dhaôma. Ich wünsche mir wirklich, dass du Erfolg hast. Es wäre wunderbar, wenn Radarr bei mir bleiben könnte, wenn ich keine Angst mehr haben müsste, dass er stirbt und mich für immer allein lässt.“ Ihre Lippen zogen sich zu einem verträumten, breiten Lächeln. „Aber er ist nicht der Typ, der ein ruhiges Leben zuhause führt. Früher habe ich ihn dafür geliebt, dass er wild war, aber jetzt wünsche ich mir nur noch, dass er für mich da ist.“

„Sage ihm das. Ohne Zurückhaltung. Sage es ihm, wenn er wieder da ist. Biete ihm deine Unterstützung an bei seinem Problem, dann zieht aus diesem Haus hier aus. Es tut niemandem gut. Vor allem nicht deinen Kindern. Es ist längst tot.“

Sie nickte. „Sobald ich weiß, wohin ich gehen kann. Weißt du, es ist nicht so einfach.“

„Ich komme auch aus diesem Leben. Glaube mir, ich weiß, wie es ist. Aber du kannst es schaffen. Und ich werde dir helfen.“

Sie strich ihm über die Wange. „Du bist wirklich stark geworden. Kein Vergleich zu dem verstockten Kind von damals, das einen ansah, als wäre man ein lästiger Zusatz zu den einschränkenden Menschen dieses Hauses. Ich wünsche mir, dass meine Kinder auch so werden wie du.“

„Rebellisch?“

„Frei.“, flüsterte sie. „Ungebunden durch Konventionen. Ich glaube, dass du genau der richtige bist, um ihre Zukunft zu gestalten.“

„Du redest, als würdest du morgen sterben. Penny. Du wirst die Geburt überleben.“

„Ich weiß, denn du wirst da sein.“ Dann änderte sich ihr Gesicht zu mitleidig. „Aber du wirst viele Leute heilen müssen, wenn es wirklich zum Kampf kommt, vielleicht bleibt dir dann nicht mehr die Kraft für mich.“

„Ich hatte noch nie so viel Magie zu meiner Verfügung wie heute. Aber selbst wenn. Ich werde mich nicht verausgaben. Ich spare mir etwas für dich auf. Versprochen.“

Penny wuschelte ihm durch die Haare. „Danke. Und jetzt hole deine Freundin herein. Ihr schlaft heute Nacht am besten in diesem Haus, dann friert ihr draußen nicht. Dein Drachenfreund findet sicher Platz im Stall, wenn wir den Pferden die Wiese zur Verfügung stellen.“

Kurz darauf unterhielten sich Xaira und Penny zum ersten Mal, während Dhaôma seinen Neffen Lulanivilay vorstellte. Der Drache hatte schon vorher versucht, eine Nachricht an Tyiasur zu schicken und tatsächlich war sie durchgekommen. Die Telepathieblockade war gebrochen.
 

Immer wieder drehte sich Mimoun um und sah zu den Zurückgebliebenen zurück, auch als diese nicht mehr zu erkennen waren. Zwischenzeitlich nahm er sich auch die Zeit und Muße die Größe und Lebendigkeit dieser riesigen Stadt in sich aufzunehmen. Wie groß war die größte Ansammlung Geflügelter? Hundertfünfzig? Zweihundert? Maximal. Wenn überhaupt. Es gab einfach zu wenige Inseln, um noch mehr seines Volkes darauf unterzubringen, da sie ja auch entsprechend mit Nahrung versorgt werden mussten.

Wie würde es erst werden, wenn sie frei und ungestört die unteren Ebenen besiedeln und bejagen konnten? Einen Moment lang gab er sich seinen Phantasien hin und schraubte sich noch ein wenig mehr in die Höhe. Nicht mehr lange und ihre Träume würden Wirklichkeit werden.

Voll Euphorie und Tatendrang flog er über die angrenzenden Wälder dahin, stieß auf den Fluss und folgte seinem Verlauf. Die Wolken waren noch immer dunkel in seiner Flugrichtung und er hoffte, dass der Regen, der an ihrem Lagerplatz geherrscht hatte, wenigstens nachgelassen hatte, wenn er denn noch immer existierte. Mimoun wollte keine unnötige Zeit verschwenden.

Der Geflügelte war so in seine Gedanken vertieft, dass Tyiasur ihn auf den Punkt in der Ferne aufmerksam machen musste. Bei Beibehaltung der Flugrichtung wären sie an ihm vorbei geflogen. Mit mehr Schwung als nötig flog der Drachenreiter eine Kehre und hielt darauf zu. Mit jeder verstreichenden Minute bestätigte sich die Vermutung, dass sich dort ein Geflügelter näherte. Noch einige Minuten später war auch der Magier in seinen Armen deutlich zu erkennen. Mit einer kurzen Handbewegung bedeutete Mimoun den beiden zu landen und gesellte sich zu ihnen. Teils irritiert, teils schmunzelnd betrachtete der Drachenreiter das junge Mädchen, das zittrig in die Knie ging und sich in den Boden krallte. Der sie begleitende Geflügelte hockte sich neben sie und legte ihr stützend eine Hand auf die Schulter. Zeitgleich und bevor Mimoun nach den Umständen ihrer Anwesenheit fragen konnte, erstattete er Bericht. Seine nicht ganz abgelegte Steifheit zeugte von seiner Jugend und der erst kürzlich überstandenen Rekrutenzeit.

„Mein Name ist Heyle, dies ist Maarit. Wir waren auf dem Weg zu Euch mit einer wichtigen Information. Eine der Gefangenen wünscht sich, dass das Ganze friedlich zu Ende geht. Sie zögerte erst, uns diese Information zu offenbaren, aber ihr war es dennoch wichtiger, dass ihr es erfahrt. Sie befürchtet, dass ihre Freunde in der Burg eher den endgültigen Weg gehen würden, als sich gefangen nehmen zu lassen. Und wenn sie leben wird, wünscht sie sich das auch für die anderen Mitglieder des Zirkels.“ Das war ein wenig komplizierter ausgedrückt, als es Mimoun lieb gewesen wäre, aber er hatte die Kernaussage begriffen, vor allem, weil Tyiasur wieder in der Lage war, Kontakt mit seinem Reiter aufzunehmen, um ihm die nötigen fehlenden Informationen nebenbei zu verschaffen.

„Und die Kleine?“, wollte Mimoun mit einem Seitenblick auf die Magierin wissen, deren hektischer Atem langsam wieder ruhiger wurde.

„Es regnet noch immer am Lagerplatz. Und weder sind die Magier schnell genug zu Fuß, noch kommen wir in der Luft bei Regen vernünftig voran.“

Das Mädchen erhob sich auf ihre zitternden Beine und setzte den Bericht fort. „Man machte den Vorschlag, dass ein Wassermagier einen der Euren begleitet, um den Regen fernzuhalten. Und die Hanebito kannten es ja von Euch, dass Ihr einen der Unseren getragen habt. Ich war die Kleinste und Leichteste mit genug Ausbildung für diese Aufgabe. Aber mir war nicht bewusst, wie hoch es werden würde.“ Sie schlug die Hand vor den Mund und schluckte krampfhaft.

Mimoun lächelte sie aufmunternd an. „Das war eine großartige Leistung von dir, ihn dennoch erfolgreich zu unterstützen. Ich danke dir dafür.“ Schlagartig verschwand ihre Übelkeit und machte leichter Röte und unsicherer Freude über das Lob Platz. „Aber wie es aussieht, trennen sich unsere Wege jetzt wieder. Ich muss wieder in die Hauptstadt, wenn ich unnötige Opfer vermeiden will.“ Mimoun spannte bereits seine Flügel. „Richtet Asam und Genahn bitte aus, dass die Magier versucht haben, die Burg zu stürmen, dass wir das aber erfolgreich verhindern konnten und die Situation sonst unter Kontrolle ist.“ Damit erhob er sich in die Luft. „Und legt den Weg zu den anderen zu Fuß zurück. Maarit zuliebe.“ Und schon verschwand er aus dem Blickfeld der beiden. Es blieb keine Zeit für lange Abschiedsszenen. Die Zeit drängte. Wer wusste schon, ob der Zirkel nur sich oder auch seinen Gefangenen schadete. Die Dunkelheit brach herein, dennoch legte sich der Geflügelte mächtig ins Zeug und flog weiter.

Als sie die Mitteilung Lulanivilays erreichte, bat er umgehend um eine gute Beleuchtung seines geplanten Landeplatzes. Es sei dringend, dass er noch heute mit Dhaôma sprach.
 

Es erwarteten ihn außer Xaira und Dhaôma noch Penny und ein Dienstmädchen. Dhaôma stand mitten auf der Wiese und ließ seine Magie der Pflanzen frei, damit es hell genug war für seinen Freund. Grinsend sah er ihm entgegen. Als er Penny und Filwen, der Dienerin, erklärt hatte, wer kam, waren sie beide aufgeregt gewesen, jetzt aber versteckte sich das junge Ding ängstlich hinter der Schwangeren. Die dunklen Schwingen, die vor dem noch dunkleren Himmel auftauchten, weckten Erinnerungen aus ihrer Kindheit und den schrecklichen Geschichten von den Geflügelten.
 

Ein Feld aus leuchtenden Blumen. So in etwa hatte er sich das vorgestellt, als er seine Anfrage bezüglich Beleuchtung gestellt hatte. Neugierig ließ der Ankömmling seinen Blick über die Umgebung und die Frauen schweifen. Kurz nach der Landung stellte er sich neben Dhaôma, ergriff dessen Hand.

„Verzeiht bitte mein Auftauchen. Es lag mir fern, euch zu ängstigen.“, eröffnete der Geflügelte mit einer leichten Verbeugung. „Aber mein Anliegen ist äußerst wichtig.“ Mimoun wandte sein Gesicht Dhaôma zu. „Ich fürchte, es gibt Probleme.“
 

„Wann gibt es die mal nicht.“, seufzte der junge Mann. Eigentlich hatte er gehofft, dass es einmal problemlos vonstatten gehen würde. „Welche diesmal?“
 

Unsicher fuhr sich Mimoun mit der Zungenspitze über die Lippen und behielt Xaira im Blick. „Es kann sein, dass sich die Zirkelmitglieder umbringen werden, bevor wir ihrer habhaft werden können.“
 

Dhaôma runzelte die Stirn. Wieso sollte jemand so etwas dummes tun? „Woher willst du das wissen?“, fragte er und veranlasste damit die Einmischung der Halblingsfrau.

„Weil sie Gefangenschaft, Mord und Folter fürchten. Sie wissen, was früher mit ihnen geschehen ist, sehen, was sie selbst machen, da haben sie Angst, dass es ihnen auch so gehen könnte.“ Sie rieb sich über den Nacken. „Es gab eine Zeit, da dachte ich genauso.“

Noch immer tat sich Dhaôma schwer damit, das zu verarbeiten. Aber je stärker das Begreifen wurde, desto klarer wurde auch, dass er sich mit der Konsequenz einfach nicht abfinden wollte. „Soll das heißen, sie sind vielleicht alle schon tot?“, fragte er und seine Stimme wurde immer lauter. „Weil sie gestern angegriffen wurden und es schlecht für sie aussah? Jayan etwa auch?!“ Das blaue Licht auf seinen Armen verblasste, als Tyiasur vorsorglich seine Magie einsperrte. „Was soll denn dann aus Silia werden?“

„Hey, ruhig. Es ist nicht gesagt, dass Jayan wirklich dort ist. Und ich glaube nicht daran, dass sie sich die Mühe machen werden, die Gefangenen ebenfalls zu töten. Sie nähern sich ihnen nur im äußersten Notfall.“
 

„Silia kam die letzten Monate auch zurecht. Sie hat liebevolle Menschen, die sich um sie kümmern.“, versuchte Mimoun ebenfalls zu beruhigen. Die Aussage Xairas half ihm selbst enorm, die innere Unruhe loszuwerden, die ihn bei diesem Gedanken schon über längere Zeit quälte. „Und niemand sagt, dass bereits alle tot sind. Wir waren doch auch auf der Suche nach einer Freundin, die zurückblieb. Sie möchte sicher nicht sterben. Es wird auch andere geben. Aber ich fürchte, wir müssen schnell handeln. Je mehr Zeit vergeht, desto weniger können wir vor ihrer dummen Entscheidung retten.“
 

Ein bisschen zitterte seine Hand, sein Bauch befahl ihm, möglichst jetzt gleich zu handeln, jetzt in die Burg zu gehen und sie einfach alle schlafen zu legen, aber Lulanivilay roch den Braten, bevor er etwas sagen konnte. „Du hetzt, Freiheit. Damit erreichst du gar nichts.“

Dhaôma sah ihn an und langsam begann seine Logik wieder zu greifen. Lulanivilay konnte nicht mit ins Schloss, das bedeutete, dass er ihnen nicht helfen würde. Noch dazu würden all die dicken steinernen Mauern ihre Verbindung miteinander und damit Lulanivilays verstärkende Magie dämpfen. Irgendjemand konnte Tyiasur ausschalten, indem er die Gedankenübertragung lahm legte, damit waren er und Mimoun faktisch alleine gegen einige Hundert. Das war nicht zu schaffen, nicht einmal für sie.

„Das heißt also, entweder beeilen sich die anderen, oder wir gehen mit den Menschen aus dieser Stadt hinein, sehe ich das richtig?“
 

„Bei aller Liebe, aber unsere Fußgänger werden morgen Mittag frühestens hier auftauchen. Und so viel Zeit haben wir nicht.“, stellte Mimoun fest und verschränkte die Arme. „Wir sollten also die Stadtbewohner um Hilfe bitten. Erneut. Und damit sie nicht ohne uns und unüberlegt handeln, sollen sich alle, die uns helfen wollen, Gefangene zu befreien und eine Flucht des Zirkels zu verhindern, vor der Burg versammeln. Also los. Die Zeit drängt.“

Bekräftigend nickte er und wandte sich um. Mimoun stockte und hob mit einem undefinierbaren Laut fragend eine Hand, als er sich zurückdrehte. Die leuchtende Wiese ließ die Gegend außerhalb der hellen Grenze dunkler zurück. Hier und da sah man Lichter in den Häusern schimmern, halfen ihm aber nicht bei der Orientierung in dieser für ihn fremden Umgebung. „Nur so mal als Frage: Wo sind wir hier und wo müssten wir lang?“

„Das fällt dir wirklich früh ein.“, stellte Xaira fest.
 

„Du willst das wirklich in Dunkelheit machen?“, wollte Dhaôma wissen. „Die Magier können nachts schlechter sehen als ihr und selbst für euch würde es schwer werden. In der Burg gibt es kein Mondlicht, schätze ich. Und ob sie alles mit Lampen beleuchten, weiß ich nicht.“ Natürlich konnte man jeden mit Leuchtmoos ausstatten, aber das würde nicht so hell sein, wie man es für eine groß angelegte Suche brauchte.

„Tyiasur, starte trotzdem den Aufruf. Mach es in einem Rutsch klar, was wir wollen und warum, damit man dich nicht wieder unterbricht. Versuche vielleicht sogar, die Halblinge aus dem Schloss auszusparen.“, nahm nun Xaira das Heft in die Hand. Sie war auch der Meinung, dass man gleich loslegen sollte. „Was wir vor allem brauchen, sind Heiler.“

Dhaôma sah sie schweigend an. Die Heiler in dieser Stadt hielten sich grundsätzlich für etwas Besseres, weswegen er schon jetzt ahnte, dass sich da kaum jemand melden würde. Abrupt wandte er sich an die beiden schweigenden Zeugen dieses Treffens. „Filwen, kann ich dich dafür gewinnen, bei Penny zu bleiben und darauf aufzupassen, dass es ihr gut geht? Es wäre gut, wenn du mich benachrichtigst, sobald es Anzeichen für die nahende Geburt gibt.“ Das Mädchen nickte eifrig. Das hätte sie sowieso gemacht. „Und sorge dafür, dass uns Jokun nicht folgt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder dazu tendieren, sich in die schlimmsten Situationen zu manövrieren, weil ich dort bin.“

Penny begann zu lachen. Ihrer Meinung nach hatte der Braunhaarige ihren Sohn vollkommen richtig eingeschätzt. „Geht schon. Wir kommen hier zurecht, Dhaôma. Mach dir nicht so viele Gedanken.“

Seufzend nickte er, ließ sie dann stehen, um Lulanivilay aufzuschirren. Im Grunde genommen war das hier eine ziemlich dumme Idee, aber was blieb ihnen anderes übrig, wenn sie möglichst viele retten wollten?
 

Mimoun sah ihm lange und nachdenklich hinterher. „Entschuldigt mich bitte.“, bat er schließlich leise und folgte seinem Freund, ließ die Frauen einfach auf der leuchtenden Wiese stehen.

Als er Dhaôma fand, war nicht mehr viel zu erledigen. Wenn man wusste, was wie zu befestigen war, ging es schnell von der Hand. Der Geflügelte brauchte also hier nicht mehr helfen, aber das war es nicht, weswegen er gekommen war.

„Du hältst es für eine dumme Idee, nicht wahr?“, begann er leise. „Es tut mir leid. Ich kann nicht untätig rum sitzen und warten. Ich bin bereits einmal zu spät gekommen. Ich möchte nicht, dass es noch einmal geschieht.“, versuchte er zu erklären, warum er gerade so drängelte.
 

"Ist schon gut. Ich kann dich verstehen." Dhaôma zog den letzten Riemen fest, dann strich er Mimoun über die Wange. "Ich werde einfach das ganze Schloss hell erleuchten, dann sehen wir auch genug. Und die Magier werden uns schon helfen. Aber ich habe Angst. Dass wir etwas Wertvolles verlieren. Dass alles aus dem Ruder läuft. Ich habe nicht gern so viel Verantwortung." Tief seufzte er. "Können wir nicht einfach ganz alleine dort hineingehen? Das hatten wir doch zu Anfang auch vor, oder?" Er zumindest hatte das die ganze Zeit tun wollen. Seit er sich vorgenommen hatte, Frieden zu bringen, und wusste, wer ihn störte.
 

„Ich würde mich wohler fühlen, wenn wir nicht allein dort hinein müssten.“ Mimoun fing die streichelnde Hand ein und hielt sie an seiner Wange fest, schmiegte sich in die Handfläche. „Allein gegen wer weiß wie viele Zirkelmitglieder und Gefangene unterschiedlichster Rassen, die mit den Nerven am Ende sein dürften und völlig unkontrolliert reagieren werden.“ Er schüttelte sanft den Kopf. „Es wäre Wahnsinn allein dorthin zu gehen. Aber keine Angst. Nicht mehr lange. Heute Nacht, morgen. Nur noch wenige Tage und unsere Aufgabe ist erfüllt. Dann liegt es an den anderen den Frieden zu sichern und zu bewahren. Und wenn wir klare Regeln aufstellen, kann hoffentlich nicht so viel aus dem Ruder laufen. Wir schaffen das schon. Wir sind nicht ohne Grund auserwählt, okay? Hab Vertrauen in deine Fähigkeiten.“ Mimoun blinzelte. „Hach. Das hab ich dir auch lange nicht mehr sagen müssen.“, stellte er fest.
 

"Ich habe Vertrauen in meine Fähigkeiten." In seine eigenen schon. Und in Mimouns. Aber was all die anderen betraf, da sah die Sache schon anders aus. Aber es brachte auch nichts, darüber zu diskutieren. Vor nicht mal einer Minute hatte Tyiasur den Aufruf losgeschickt. Sie sollten sich auf den Weg machen. In seinem Bauch ein Knoten aus Verlustangst und Unruhe lehnte er sich vor, um Mimoun zu küssen. Ganz vorsichtig nur berührte er dessen Lippen. "Sieh nur zu, dass du da lebend wieder herauskommst. Und wenn du verletzt bist - richtig verletzt bis zur Gefahr, dein Leben zu verlieren - dann ruf nach mir. Ich will gar nicht wissen, was ich tue, wenn du von ihnen ermordet wirst."
 

„Mir wird nichts passieren.“, versprach Mimoun leise und strich seinem Liebsten durch die Haare. „Jemand muss doch auf dich aufpassen.“ Sanft zog er ihn in seine Arme und strich seinem Magier über den Rücken. „Keine Angst. Mich wirst du so schnell nicht los. Pass aber bitte auch auf dich auf. Ich will dich genauso wenig verlieren.“

Nacheinander stupste Tyiasur sanft erst seinen Reiter, dann Dhaôma an. „Ihr solltet vor euren Helfern da sein, nicht dass sie wieder allein anfangen.“, riet der kleine Wasserdrache. Starke Finger glitten kraulend über blaue Schuppen. Mimoun lächelte Dhaôma aufmunternd zu. „Es wird alles gut gehen. Mach dir keine Sorgen.“, versuchte er die letzten dunklen Wolken schwermütiger Gedanken zu vertreiben und hielt dann Ausschau nach Xaira. Sie sollte besser mitkommen. Sie kannte sich in dem Gemäuer besser aus als irgendjemand sonst in dieser Stadt.
 

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zerstört der dumme Drache ein kunstvolles, mühevoll gearbeitetes Mosaik, weil ihm das Muster nicht gefällt.

...

Ich liebe Vilay.
 


 

und ich hasse Radarr. Ich weiß, er ist meine Erfindung, aber das ändert nichts daran. Mistkerl. *schmoll*

Verlies

Kapitel 76

Verlies
 

Jeder mit ein paar der Leuchtblumen bewaffnet machten sich die Drachenreiter auf den Weg. Dhaôma ließ seine Samen bilden, bis sie da waren. Tatsächlich waren sie nicht die ersten, die sich auf dem Platz einfanden, aber diesmal war die Stimmung anders. Sie warteten. Geduldig und mit einer gewissen Spannung. Die Magier, vornehmlich Frauen und Jugendliche saßen in kleinen Grüppchen zusammen und erhoben sich, als die Drachenreiter landeten. Bisher waren es vielleicht fünfhundert. Die Telepathie war wieder unterbrochen, also rief Dhaôma leise die Heiler zu sich und jene, die dazu geeignet waren, jemanden zu führen. Er hatte sich etwas überlegt, was den Schaden gering halten sollte.

Ein paar Minuten später waren ein paar Menschen um sie drei versammelt. Nur zwei weitere Heiler waren dazugekommen. Es war genauso, wie er es sich gedacht hatte. Die eitle Oberschicht hatte kaum Teilnehmer.

„Ich möchte, dass ihr Gruppen bildet.“, leitete Dhaôma ein. „Immer zehn Leute zusammen. Jeder passt auf jeden auf, neun folgen einem zehnten, dieser kennt den Plan. Ich möchte nicht, dass jemand stirbt, also bitte seid friedlich, so gut es nur geht.“ Beinahe jeder nickte fest. Sie hatten verstanden, worauf es dem Drachenreitermagier ankam, nachdem sie die Macht der Wut vom Nachmittag gesehen hatten. Keiner wollte das noch einmal erleben. „Es besteht die Gefahr, dass die Halblinge sich umbringen werden, wenn wir sie in die Ecke drängen, also geht behutsam vor und verhindert das. Sie sind Experten mit Giften, also schärft euren Leuten ein, dass sie darauf achten sollen, nicht gestochen oder geschnitten zu werden. Sie sollen auch auf Fallen aufpassen. Wir wissen nicht, wie es dort drin aussieht.“
 

Dem konnte Mimoun nichts mehr hinzufügen. Wehmütig und zugleich unsicher glitt sein Blick über die dunklen Mauern, die sich drohend in die Nacht erhoben. Seine Unsicherheit wuchs. Zu gern würde er sofort in die Kellergewölbe stürzen. Er wollte sich Gewissheit verschaffen über die dort unten gefangenen Geflügelten, wollte ihnen die Gewissheit geben, endlich in Sicherheit und wieder frei zu sein. Aber er konnte dort nicht allein hinunter. Mimoun wusste nicht, in welchem Zustand sie sich befanden und ob sie Magier in ihrer Gegenwart überhaupt zulassen würden. Schweren Herzens entschloss er sich zu warten, bis die Friedensprozession hier eintraf. Nun galt es erst einmal den Zirkel zu überzeugen.

Da fiel ihm etwas ein. „Wie machen wir das? Wir können sie nicht einsperren, ohne uns auf ihr Niveau herab zu lassen. Jeden in seinem Raum unter Bewachung zu stellen, erfordert eine große Anzahl Menschen. Und ob man sie in größeren Gruppen zusammentun sollte, ist auch wieder fraglich.“
 

„Vielleicht schicken wir sie am besten erstmal schlafen.“, schlug eine ältere Frau vor.

„Und wie?“, fragte eine andere gereizt. „Singen wir ihnen Schlaflieder?“

„Ähm…“, stotterte die erste und errötete.

Dhaôma rettete sie aus ihrer Hilflosigkeit. „Ich kenne eine Pflanze, die ein Schlafgift abgibt. Wenn in jeder Gruppe ein Pflanzenmagier mitgeht, dann kann er diese Pflanze kultivieren, während ein Windmagier dafür sorgt, dass die Gruppe selbst davon nichts abbekommt.“

„Windmagier können sie auch erstmal gegen die Wand drücken, damit wir sie entwaffnen können, nicht wahr?“, fragte ein Junge schüchtern.

Und ein Alter mit schlohweißem Haar schüttelte die Faust und schwor, dass er sie eigenhändig bewachen würde. So viele quasselten durcheinander, es gab so viele Vorschläge, dass Dhaôma letztendlich alle zum Schweigen brachte, indem er selbst einen kurzen Windstoß losließ.

„Jede Gruppe entscheidet selbst.“, beschloss er. „Ihr könnt es schaffen. Es ist nicht so schwer. Und jetzt solltet ihr gut gemischte Teams zusammenstellen. Nehmt Menschen, die ihr schon kennt, welche, denen ihr vertraut, das macht es euch einfacher später.“

Sie schwärmten aus und erschöpft lehnte sich Dhaôma gegen Lulanivilay. Er würde ihn zurücklassen müssen. In dem Schloss war er zu eingeengt, um sicher zu sein. „Das wird ganz schön anstrengend.“, murmelte er.

Ein Zupfen an seinem Ärmel ließ ihn hinuntersehen. Da stand ein Kind. Vielleicht neun Jahre alt und auf seinen Wangen hoben sich ganz deutlich die Linien der Heiler ab. „Mutter hat verboten, dass ich komme, aber ich will helfen.“, sagte es, die schwarzen Augen groß und flehend. „Sie will nicht, dass ich Normale heile, aber…“ Es verstummte, sah betreten zu Boden und scharrte mit dem Fuß. „Ich möchte Normale heilen. Am liebsten möchte ich Barran heilen, aber Mutter verbietet es immer.“ Ihr Blick fixierte ihn. „Wenn ihr gewinnt, darf ich dann Barran heilen?“

Mitleidig sah Dhaôma das Kind an. Es stand vor dem gleichen Problem wie einst er selbst. Ausgegrenzt durch ein übertriebenes Klassendenken suchte es sich seinen eigenen Weg hinaus. „Wer ist Barran?“

Es wurde flammendrot. „Ein… Hanebito. Sie haben ihn ins Schloss gebracht, aber da war er schrecklich verletzt.“ Plötzlich wurden seine Augen entschlossen. „Aber er hat mich beschützt, als alle angegriffen haben, also will ich ihm helfen.“
 

Mimoun ließ sich in die Hocke sinken, um mit dem Kind auf einer Augenhöhe zu sein. „Ich würde mich freuen, wenn du ihm helfen würdest und er sich sicher auch. Aber erst einmal müssen wir ihn finden. Und bevor wir uns auf die Suche nach ihm machen können, müssen wir dafür sorgen, dass ihm keinerlei Gefahr mehr droht. Also hab bitte noch ein klein wenig Geduld.“ Vorsichtig hob er die Hand und strich ihr vorsichtig über das Haar. „Morgen, wenn alles vorbei ist, machen wir uns gemeinsam auf die Suche nach ihm, einverstanden?“

Unsicher, aber auch erleichtert und schüchtern zugleich nickte das Kind und nach einem zuversichtlichen Lächeln erhob sich der Geflügelte wieder und sah in die Runde. Noch immer kamen vereinzelte Magier herbei. Diese wurden dann immer gleich mit integriert und über die Vorgehensweise aufgeklärt.

„Gut. Ich würde sagen, wir warten noch maximal zehn Minuten auf Nachzügler und legen dann los. Es dürfte nicht unbemerkt geblieben sein, dass sich hier wieder so viele Menschen versammelt haben.“ Hibbelige Unruhe erfasste den Drachenreiter mit einem Mal und er schlang Dhaôma aus einem Reflex heraus die Arme um den Hals. „Nur noch wenige Stunden und es ist vollbracht. Dann sind wir wieder frei hinzugehen, wohin wir wollen.“ Mit einem frechen Grinsen löste er sich und zeigte seine vor Aufregung zitternden Hände. „Fast geschafft.“
 

„Ja.“, lächelte Dhaôma und strich ihm durch das Haar.

Lulanivilays Kopf ruckte herum. „Es riecht nach Spatz und Sturm und Weißwasser. Es kommen noch andere.“

Dhaômas Lächeln wurde noch ein wenig breiter. „Sie wussten genau, was wir vorhaben.“, kicherte er. „Und sie kommen helfen. Glück für uns.“
 

Spatz und Weißwasser waren ihm mittlerweile vertraute Begriffe in Bezug auf ihm bekannte Personen, aber… „Schön, dass wir Unterstützung kriegen, aber wer bitte ist Sturm?“ Moment. Hatte er Weißwasser gesagt? Mimoun griff sich an den Kopf. „Dieses Mädchen. Sie ist genau wie Aylen. Rennt immer an die vorderste Front. Ich fürchte, ich muss sie irgendwann mal heftig übers Knie legen.“, fluchte er ungehemmt.
 

„Lavendel ist dabei.“, stimmte ihm Lulanivilay zu, während der braunhaarige Magier sich von seinem Geliebten löste und einen Ring aus Leuchteblumen wachsen ließ, groß genug, um von oben gesehen zu werden, aber nicht hell genug, um die im Schloss zu warnen, falls es dazu nicht schon zu spät war. „Sie ist bei Beschützer.“

„Das heißt, wir kriegen wirklich starke Gesellschaft.“, fasste Xaira zusammen.

Die Nachricht, dass einige aus dem Friedensmarsch sich ihnen anschließen würden, sorgte für eine positive Grundstimmung. Insgeheim waren die Magier unsicher gewesen, weil sie nicht für einen eventuellen Kampf ausgebildet waren, aber nun waren da Menschen, die kämpfen konnten, wenn sie wollten. Was waren sie überrascht, als auch Juuro und Volta ankamen, zusammen mit einigen anderen Magiern, jeweils getragen von zwei Hanebito. Insgesamt belief sich die Anzahl angekommener Menschen auf fünfzig.

Asam landete grinsend neben Mimoun und Dhaôma. „Ich wusste, ihr macht wieder Unsinn. Gut, dass wir gekommen sind.“

„Danke dafür.“, antwortete Dhaôma.
 

„Wir machen keinen Unsinn, wir erfüllen die uns übergetragene Aufgabe.“, korrigierte Mimoun gelassen und schlug dem anderen freundschaftlich auf die Schulter. „Es ist schön, euch hier zu haben, dann ist es hier nicht so einseitig Magier belastet, aber bitte verratet mir doch mal, warum ihr Keithlyn mitgebracht habt? Ja gut, hier sind ebenfalls Heranwachsende und Kinder…“ Er nickte zu der kleinen Heilerin, die sich an Dhaômas Hemd klammerte und zu allen empor starrte. „…aber davon konntet ihr nicht ausgehen.“

Asam nahm das gelassen. „Hast du schon mal versucht, sie an etwas zu hindern oder es ihr zu verbieten?“

Der Angesprochene öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn wieder und winkte mit einem ergebenen Seufzen ab. Schon klar. Wenn man sie nicht offiziell mitnahm, würde sie halt heimlich nachkommen. Machte er sich lieber ein Bild davon, wer nun alles hier war und wie man sie am besten verteilte. Mit Asam, Kaley und Genahn war eigentlich die komplette Führungsriege des Friedensmarsches hier versammelt. Die anderen beiden Halblinge als Kenner des Schlosses waren gute Unterstützung. Schlussendlich noch einige starke und geschickte Kämpfer. Für den hoffentlich nicht eintretenden Ernstfall eine gute Entscheidung.
 

„Wir sind bereit.“, meldeten sich die Führer kurz darauf zurück. Die Ankömmlinge wurden neugierig gemustert. Viele zeigten trotz allem ein Gesicht der Unsicherheit. Hanebito waren einfach zu sehr als die Bösen verschrien bei ihnen.

„Gut. Machen wir uns auf den Weg.“, stimmte Genahn fröhlich zu. „Je eher wir fertig sind, desto eher können wir eine Runde schlafen, nicht wahr?“

Dhaôma lachte und vertraute das Kind Lulanivilay an. Schreckstarr starrte es in die goldenen Augen, während sich die Menschen in Bewegung setzten. Mit einer winzigen Berührung öffnete Dhaôma das Tor erneut, das sie von innen wieder verschlossen hatten. Es zerfiel zu Staub. Die Halle dahinter war geräumig und düster. Die vielen Schritte hallten an den Wänden wider und echoten dumpf aus dem hinteren Teil. Es war unmöglich auszumachen, wie groß es hier war.

„Hier lang.“, knurrte Juuro und schritt voran nach links.

Xaira erhob ihre Stimme. „Drei Türen führen von dieser Halle ab. Teilt euch auf. Juuro, Volta und ich werden euch führen.“ Sie wandte sich an Dhaôma. „Ich schließe mich denen an, die durch die Mitteltür gehen. Folgt ihr Juuro. Er führt euch hinunter in die Gewölbe.“ Und mit scharfer Stimme fauchte sie Keithlyn an: „Und du bleibst bei Dhaôma, verstanden?“

Erschrocken zuckte sie zusammen und nickte. Eine kleine, kühle Hand schob sich in Dhaôma, der sie weich drückte. „Ich falle ihnen nicht zur Last. Ich weiß, dass das hier wichtig ist.“
 

Mimoun schmunzelte verhalten. Wie schön, dass dieses Kind plötzlich so wunderbar zahm war. Mit einem aufmunternden Lächeln strich er ihr durch die weißen Haare. „Dann wollen wir mal.“ Mit einem versichernden Blick verabschiedete er sich von Asam und Kaley, die sich Volta anschlossen, während Genahn sich an Xaira hielt. Das Baby auf dessen Arm schnupperte neugierig. Die Nase schien gar nicht zur Ruhe kommen zu wollen. „Gib mir ja vernünftig auf den Krümel Acht.“, mahnte er noch und folgte Juuro, der bereits durch die Tür, die hinunter in die Gewölbe führen würde, getreten war.

Mimouns Blick glitt über die kalten Mauern. Auch wenn es noch immer geräumig war, er fühlte sich beengt. Warum fühlte er sich hier so viel unwohler als in den Gebäuden auf Jashar? Vielleicht, weil hier all das Leid des Krieges seinen Anfang nahm? Weil sich die Pein seiner Opfer in dem jahrhunderte alten Gemäuer gespeichert hatte, so dass man meinte, das Wehklagen der Verstorbenen heute noch hören zu können? Ein kurzer Schauer überflog seinen Rücken und er schloss dichter zu Dhaôma und Keithlyn auf. Versichernd strichen seine Finger über die kühlen Schuppen, die sich um seinen Hals geschlungen hatten. Mit einem Kopfschütteln gab ihm Tyiasur zu verstehen, dass er noch immer nicht durch die Blockade kam.

Kurz glitt sein Blick über den bunt zusammen gewürfelten Haufen, der sich ihnen angeschlossen hatte. Auf nicht wenigen Gesichtern war Anspannung und Unsicherheit, beinahe Furcht zu erkennen. Die Entschlossenheit war bei allen da, doch es ließ sich leicht ausmachen, wer ein Krieger war und wer nicht. Ergeben seufzte Mimoun und schritt weiter aus. Vor allem Menschen, die noch nie in solchen Situationen waren, neigten trotz aller guten Absichten zu Kurzschlussreaktionen.
 

Die leuchtenden Glockenblumen gaben den Gängen ein kaltes Gefühl, obwohl sie reich ausgestattet waren mit Bildern und Schmuck. Noch immer herrschte Stille, die aufgeregt flüsternden Stimmen der Menschen konnten sie kaum vertreiben, ihre Schritte wurden von den dicken Teppichen geschluckt. Alles wirkte alt, aber trotzdem sauber. Nach schier endloser Zeit kamen sie wieder an Türen vorbei. Juuro machte eine auf und enthüllte einen kleinen Schlafraum, aus dem ihnen angstvolle Gesichter entgegensahen. Es waren zwei Frauen. Magierinnen.

„Was tut ihr hier?“, fragten sie angespannt. „Hanebito? Was…?“

„Wir suchen die Halblinge.“

Sofort änderte sich die Haltung. „Ihr sucht die Halblinge? Wir wissen, wo sie sich zu dieser Stunde aufhalten. Aber keiner darf sie stören.“

Die jüngere der beiden stand zitternd aus ihrem Bett auf. Ihr Gesicht war schmal und grau. „Seid ihr gekommen, um uns zu befreien?“

„Ihr seid hier gefangen?“

„Wir haben keinen Ort, zu dem wir gehen können.“

Dhaôma nickte. „Ihr habt eure Magie verloren.“, stellte er fest. Nach einem Schreckmoment nickte sie schließlich und ließ den Kopf hängen. „Kommt mit uns. Ihr müsst nicht hier bleiben. Wir wollen die Missstände aufklären. Es ist nicht länger wichtig, ob ihr zaubern könnt oder nicht. Und nebenbei gesagt: Es kann wiederkommen. Eure Krankheit hängt vor allem von euch ab, ob ihr es schafft, euch wieder zu beruhigen.“
 

Mimoun zog sich unauffällig ein Stück zurück und zog auch Keithlyn ein Stück mit sich. Dies hier ließ er besser Magier klären. Er konnte nicht sagen, was man diesen Frauen bereits angetan hatte oder wie lange sie schon hier gefangen waren, ohne etwas von der Außenwelt zu erfahren. Er wollte sie nicht durch seine Nähe mehr als nötig verunsichern. Der junge Drachenreiter wandte sich Juuro zu. „Befinden sich die Räume für die Geflügelten auch in dieser Etage?“

Der Halbling brummte etwas, das man als Nein interpretieren konnte. Diese Vermutung wurde durch das zeitgleiche, kaum wahrnehmbare Kopfschütteln bestärkt. Missmutig verzog Mimoun das Gesicht, nickte aber verstehend. Ließ sich nicht ändern. Er wandte sich seinen Begleitern zu. Vornehmlich den magisch Begabten, die sich neugierig vor der Türöffnung stapelten, um in den Raum hineinzulinsen.

Mit einem leichten Klatschen der Hände brachte er ihre Aufmerksamkeit auf sich und deutete lächelnd den Gang hinunter. „Ich vermute mal, dass diese beiden jungen Damen nicht die Einzigen sind, die unserer Hilfe bedürfen.“ Mit einem demonstrativen, wenngleich auch unnötigen Schritt zur Seite machte er die Marschrichtung deutlich. „Leise und vorsichtig. Und keine Alleingänge.“, mahnte er und trat nun doch an Dhaômas Seite. „Kommst du hier zurecht?“, wollte er von diesem wissen, nachdem er mit einem Lächeln und einer leichten Verbeugung die Frauen begrüßt hatte. „Keine Angst. Ich bleibe in Rufweite.“
 

„Ich werde nicht hier bleiben.“ Seine Augenbrauen zogen sich dichter zusammen. „Wenn alle zusammen sind, werde ich erklären, aber nicht jedem einzeln. Dazu ist mir die Zeit gerade zu kostbar.“ Während Mimoun sich mit Juuro unterhalten hatte, hatte er es den beiden Mädchen erklärt. Sie sollten ihre Freundinnen und Kolleginnen zusammentrommeln und dann in der Eingangshalle warten, oder sich draußen Lulanivilays Schutz unterstellen, wenn sie sich in dem Gebäude nicht sicher genug fühlten. Die beiden Frauen wirkten entschlossen.
 

„Dann kommt.“ Sanft ergriff er Dhaômas Hand und hielt kurz nach Keithlyn Ausschau, die noch immer ernst in dessen Nähe stand. Ihr Blick glitt über die Wände, so als suchte sie etwas.

„Alles okay?“, wollte er von dem Mädchen wissen.

Ein wenig abwesend nickte sie. „Hier wurde ich geboren.“, murmelte sie fast unhörbar.

Natürlich. Für sie musste es ein ganz anderes Gefühl sein, hierher zu kommen, an den Ort ihrer Geburt, den sie dennoch nie kennen gelernt hatte. Fröstelnd fuhr sie sich mit den Händen über die Oberarme. „Ich bin froh, dass ich nicht hier habe aufwachsen müssen.“ Sie wandte sich ab und folgte Juuro den Gang hinunter. „Korkkan ist mein Vater und wird es immer bleiben.“, sinnierte sie weiter. „Warum also bekomme ich gerade jetzt, gerade hier das Bedürfnis, wissen zu wollen, wer meine richtigen Eltern waren?“
 

Dhaôma strich ihr über das weiße Haar. „Du musst dich nicht dafür schämen, das wissen zu wollen. Ist es nicht natürlich, sich darüber Gedanken zu machen?“ lächelte er weich. „Vielleicht gibt es Aufzeichnungen darüber, wer von wem geboren wurde.“, schlug er noch vor.

„Nein.“, antwortete Juuro. „Die Gefangen haben kein Recht auf Namen. Sie können es nicht aufzeichnen, wer welches Kind mit wem gezeugt hat. Früher war das mal so, aber nicht mehr. Es gab keine Regeln, was wie vererbt wurde, also hat man es sein lassen.“

Dhaôma kroch bei den kalten Worten ein Schauer über den Rücken und er griff Mimouns Hand fester. Diese Gedanken, die die Halblinge vertraten, konnte er einfach nicht verstehen. Es entzog sich völlig seiner Vorstellungskraft, dass jemand so berechnend sein könnte. Tröstend drückte er Keithlyns Schulter.

Hinter einer unscheinbaren Tür führte eine halsbrecherisch gewundene Treppe nach unten. Juuro ging ohne zu zögern hinunter. „Hier kommen die Katakomben.“, sagte er rau. „Es ist eine letzte Ruhestätte für die Gefangenen, wenn sie ihren Geist aufgegeben haben. Sie nennen es Abfallhalde.“
 

Es war, als wäre Mimoun gegen eine Wand gelaufen, so abrupt blieb er mitten im Schritt stehen. In ihm kochte Wut hoch und es fiel ihm schwer, sich soweit zu beherrschen, dass er nicht mit voller Kraft seine Hände zu Fäusten ballte. Er hätte damit Dhaôma verletzte. Um dieses Gefühl zu kanalisieren, rammte er seine Faust gegen die Wand neben sich.

„Abfallhalde.“, dehnte er das Wort mit einem dunklen Knurren. „Es sind denkende und fühlende Menschen. Wie können sie…“

Juuro war einige Stufen unter ihnen stehen geblieben und sah nun zu ihnen empor. Sein ernster Blick hatte Mimoun verstummen lassen. „Das sind sie nicht. Nicht für sie. Sie sind nicht mehr als Vieh, das man sich zu einem bestimmten Zweck hält, nützlich, solange sie die ihnen zugedachte Aufgabe verrichten.“

Die noch immer an der Wand befindliche Faust knirschte bedrohlich, als der Druck erhöht wurde.
 

Für Dhaôma war es ebenso schlimm wie damals, als ihm Thenra das erste Mal von den Halblingen erzählt hatte. Sein Magen wurde zu einem kleinen Klumpen und ließ eine kleine Zweifelblase platzen: Wollte er diese Menschen wirklich vor einem schmerzvollen Tode bewahren?

Das empörte Stimmengewirr hinter ihm zeigte ihm, dass es nicht nur ihm so ging. Diese Menschen waren wirklich wütend. Es würde nicht einfach sein, sie daran zu hindern, friedlich zu bleiben. Plötzlich machte er sich nicht mehr um die Gefangen Sorgen, sondern um die Halblinge. Es waren doch sicher nicht alle so, oder?

„Sie sind so erzogen worden. Macht euch nicht zu viele Hoffnungen.“

„Aber ihr habt erkannt, dass es falsch ist. Warum solltet ihr die einzigen sein?“, fragte Dhaôma Juuro, was diesen zu einem finsteren Gesicht verleitete.

„Weil wir in ihren Augen zu schwach waren, zu weichherzig.“ Seine Fäuste waren geballt wie Mimouns und er zeigte eine so hasserfüllte Maske, dass Dhaôma Mitleid empfand.

„Ich würde es menschlich nennen.“, sagte er weich. Für Juuro konnte er seinen Hass auf diese Menschen beiseite schieben. Damit sein Freund nicht darunter leiden musste. „Lasst uns das hier schnell durchqueren. Es riecht schrecklich und es schlägt allen aufs Gemüt.“
 

Nur widerwillig setzte sich Mimoun wieder in Bewegung. Kaum tat er den ersten Schritt, schoben sich auch die anderen wieder vorwärts.

Keithlyn eilte die paar Schritte vor, bis sie mit Juuro auf einer Höhe war und schlang ihren Arm um seinen Rücken. Kurz musterte er das Kind an seiner Seite und legte ihr schließlich eine Hand auf die Schulter. Man konnte sehen, wie in diesem Moment die Anspannung von ihm abfiel. Es war für niemanden einfach, hierher zu kommen. Sie sollte sich besser beeilen.

Auch Mimoun entspannte sich und öffnete seine Fäuste wieder. Nachdenklich runzelte er die Stirn und betrachtete seine Fingerknöchel. „Au.“, kommentierte er trocken die sich langsam abzeichnende Rötung der Haut.
 

„Selbst Schuld.“ Der Braunhaarige schickte ihm einen zweifelnden Blick, während er seine Magie initiierte. „Bevor du nein sagst, ich will.“
 

„Ja, ich weiß. Und nein, hatte ich nicht vor.“, erwiderte Mimoun und reichte bereitwillig seine Hand hinüber. „Sonst hätte ich es nicht erwähnt.“ Das meinte er völlig ernst. Nach dem eben Gehörten brauchte er etwas Sanftes und Wärmendes. Auch wenn er wusste, was ihn hier erwarten würde, war es doch ein Schock. „Und besser harter Stein als weicher Hals.“
 

Seine Hände glitten über die geprellten Knochen und ordneten die zerstörten Gewebe neu, während sie weiter vorangingen. Es lenkte alle ab von den grausigen Bildern in den Alkoven rechts und links des Weges, denn mit Mimouns Heilung sandte Dhaôma Wohlbefinden an die anderen Magier. Nie zuvor hatte er das getan, weil es eine immense Menge an seiner Kraft forderte, aber er spürte, dass es heute ging.

Sie kamen ans Ende des Ganges und an eine hölzerne, zweiflügelige Tür. „Jetzt wird es richtig eklig.“, prophezeite Juuro und schob sie auf.
 

Eklig war noch untertrieben. Aus der undurchdringlichen Finsternis schlug ihnen der Gestank von Blut, Schweiß und Exkrementen entgegen, von Schmerz, Krankheit und Tod. Und noch nach etwas anderen, was der Geflügelte aber nicht definieren konnte.

Mimoun schlug sich die Hand vor den Mund. Andere hatten nicht so eine gute Selbstbeherrschung. Die deutlichen Würgegeräusche ließen auch seine Kontrolle schwinden. Tyiasur verzog sich mit einem leidenden Jaulen unter das Hemd seines Reiters. Aber angesehen davon war es still. Aus dem größenmäßig nicht auszumachenden Raum war kein Geräusch zu vernehmen. Erst jetzt mit ihnen schien sich hier Leben herunter geschlichen zu haben.

Im Licht der Leuchtblumen ließ sich unscharf Juuro ausmachen, der einige Schritte in die Finsternis gegangen war und dem Klacken nach zu urteilen mit Feuersteinen hantierte. „Es gibt viele Methoden, sie unter Kontrolle zu halten.“, begann der Halbling seine Ausführungen, nachdem der Funke eine Fackel in Brand gesetzt hatte. „Indem man ihnen alles nimmt. Licht, Wind, Würde, Freiheit, alles.“ In dem flackernden und Unheil verkündenden Licht schälte sich eine massive Tür aus der Finsternis unweit von ihm. Daneben befanden sich an der Wand ein metallischer Ring und ein langer Haken. „Durch Folter und Schmerz. Oder durch Drogen. Nicht jeder spricht auf alles an. Aber am Ende sind sie alle gleich.“ Mit diesen Worten löste er den Riegel und öffnete die Tür.
 

Auch Dhaôma hatte im ersten Moment das unheimlich starke Bedürfnis, sich zu übergeben. Die Luft war so eklig, dass er sich kaum vorstellen konnte, wie man hier unten überhaupt leben konnte, geschweige denn, ein Kind zur Welt bringen sollte! Auf Juuros Worte reagierte er mit der einzigen logischen Konsequenz: Er schickte einen starken Wind durch die Gänge und ließ mehr Blüten erblühen. Licht, Wind. Freiheit käme als nächstes, ihre Würde mussten sie selbst wieder finden, sobald sie die Kraft dazu hatten.

Das bläuliche Licht beschien einen breiten Gang, der von glänzenden Metallstangen gesäumt wurde. Auf dem Boden schwammen Pfützen und schimmerten schwach, sein Wind kräuselte die Oberflächen, auch wenn er den Geruch nicht nennenswert verbesserte. Hinter ihm ging einer der Magier schwach in die Knie und Keithlyn schluchzte hemmungslos auf. Sie versteckte ihr Gesicht an Mimouns Flügelansatz, nachdem Juuro sie verlassen hatte. Ihr Körper zitterte vor Angst.

Dhaôma schritt voran. Sein Blick durchdrang die Finsternis hinter den Gitterstäben und sah schemenhafte Gestalten, die sich teils geblendet die Augen abschirmten, teils teilnahmslos liegen blieben. Waren die schon tot oder standen sie nur kurz davor zu sterben? Kaltes Eis in seiner Brust und seinem Bauch ließen ihn rational bleiben. Er durfte sich nicht gehen lassen. Er musste stark sein. Er war endlich hier und diese Menschen brauchten dringend Hilfe!

Erneut wirkte er die Magie, die Wohlbefinden förderte, in seine Umgebung, so gut und so viel er konnte.
 

Starr vor Entsetzen stand Mimoun noch immer vor der offenen Tür. Er spürte Keithlyn und das Bedürfnis, sie beschützend in den Arm zu nehmen, und doch konnte er nur auf das Häufchen Elend starren, das sich ihm nun offenbart hatte. In der hintersten Ecke zusammengerollt, mit einem eisernen Halsband an einer Kette an die Wand gefesselt. Nackt, abgemagert und bewegungslos. Lederne Schwingen, bei denen nicht ein einziger Knochen nicht mehrfach gebrochen zu sein schien. Die Krallen herausgerissen. Der Körper übersät mit Striemen und nässenden Wunden.

Mimoun spürte das von Dhaôma ausgesandte Wohlbefinden und doch fühlte er sich mit einem Male so schwach, dass er sich an der Tür festkrallen musste, um nicht zu stürzen. Wie hatte er hoffen können, dass Jayan noch lebte, hier war? Wie hatte er sich wünschen können, ihn hier zu finden? Unter diesen Bedingungen? Gab etwas Grausameres, das man jemanden wünschen konnte?
 

Ein paar Meter weiter vorn blieb Dhaôma stehen. Ihm war keiner gefolgt. Seine Befreiungshelfer waren allesamt damit beschäftigt, sich selbst unter Kontrolle zu halten. Selbst Mimoun. Nur Juuro stand mit einer maskenhaften Fratze und erhobener Fackel zwischen ihm und den anderen.

„Wo sind die Schlüssel?“, fragte er, nachdem er probehalber an einer der Gittertüren gezogen hatte.

„Hängen an den Wänden daneben, gerade so außerhalb der Reichweite.“

Dhaôma ließ seinen Blick schweifen, fand ihn und entrigelte die Tür. Was sollte er tun? „Wie viele sind hier unten?“ Hatte Thenra nicht was von einhundert Hanebito und doppelt so vielen Jagmarr erzählt? Konnte das wirklich stimmen? Wie sollten sie eine so gigantische Anzahl auf einmal hier herausholen, wenn sie nicht in der Lage waren, selbst zu laufen?

Wütend auf sich selbst biss er sich auf die Lippe. Sie waren ohne Vorbereitung oder Plan hier herunter gekommen. Wie dumm.

Eine schwache Antwort aus der Zelle nebenan ließ ihn aufmerken. „Zu viele. Paqu ist vorhin gestorben.“

Juuro leuchtete in die Zelle hinein. Das Licht schien den Hanebito darin nicht zu beeinträchtigen. War er blind? Das Eis griff auf Dhaômas Organe über, trieb ihm die Tränen in die Augen und ließ seine Hände zittern, als er sah, wieso. Man hatte ihm beide Augen entfernt. So viele Verletzungen am Körper. Wie viele hatte er erst an der Seele? Der verzweifelte Wunsch zu helfen ließ seine Selbstkontrolle brechen. Alles, was er an Magie aufweisen konnte, ließ er in seine Heilkraft fließen, um diesen armen Menschen Linderung zu verschaffen.

„Fremder, du bist warm.“, erklang wieder die Stimme des Hanebito und Dhaôma wischte sich über die Augen. Ihm wurde von Juuro die Hand auf die Schulter gelegt. Er wollte ihm sicher irgendwas mitteilen, aber in diesem Moment war es Dhaôma nicht möglich, ihn zu verstehen. Er bekam auch nicht mit, dass die Magier sich an den Kopf griffen und stöhnend oder wimmernd zu Boden gingen, dass Juuro sich auf ihn stützte, um stehen zu bleiben. Zuerst mussten die Schmerzen gehen, dann konnte man sich darum kümmern, sie allesamt hier herauszuholen.
 

Nun verließ ihn seine Kraft, sich auch an der Tür festzuhalten. Keithlyn versuchte mit einem erschrockenen Aufschrei, ihn zu stützen und aufzufangen, konnte aber nicht verhindern, dass sie gemeinsam zu Boden gingen. Um sich herum, sah sie noch mehr am Boden knien oder liegen. Auch ein paar der Geflügelten waren betroffen.

Fahrig griff sich Mimoun an den Kopf. Was war los? Machte ihm der penetrante Geruch zu schaffen? Oder das, was sich ihm hier bot? Nein. Das konnte es eigentlich nicht sein. Er hielt sich nicht für so schwach und weich, dass er deswegen zusammenbrechen musste. Und es wäre auch keine Erklärung für das fiese Ziehen, das sich hinter seiner Stirn breit machte.

Tyiasur wand sich unter seinem Hemd. Mühsam schob das kleine Schuppentier seinen Kopf aus dem Ausschnitt und sah mit leidvollen Augen zu Dhaôma. Keithlyn sah es, folgte dem Blick und sah zu dem Magier hinüber. Juuro ging es ebenfalls nicht gut, wie seine verkrampfte Haltung verriet. Sie hatte es auch den Erzählungen gehört. Dass so etwas während ihrer Verwandlung vorgekommen war.

„Dhaôma, was tust du?“, zerriss ihr panischer Schrei die nur von leisem Stöhnen durchbrochene Stille.
 

„Helfen.“, war die unwirsche Antwort. Der junge Mann bekam die Situation um sich herum gar nicht mehr mit.

Im nächsten Moment donnerte es und die Mauern des Schlosses erbebten. Kurz darauf ein zweites und dann ein drittes Mal. Dann gab die Decke nach und Steinblöcke vermischt mit Putz und Sand polterten herunter. Helles Tageslicht erhellte die Katakomben und Lulanivilay streckte seinen Kopf durch das Loch. „Freiheit. Lass das. Das tut niemandem gut.“

Von den Füßen geholt blinzelte der Braunhaarige zu seinem Freund auf. „Was soll das heißen?“

„Dass du die Seen aller um dich herum leerst, wenn du das machst. Sie vertragen das nicht.“ Das geschuppte Tier wand sich durch das Loch, erweiterte es hier und da mit seinen Klauen. „Warum seid ihr nicht mehr im Schloss?“

Die Anwesenheit und Erklärung seines Drachens halfen Dhaôma dabei, seine Selbstkontrolle wiederzuerlangen. Was sollte das heißen, er leerte die Seen anderer? Aber im Grunde konnte es doch nur heißen, dass daher sein schier unerschöpflicher Vorrat an Magie kam, nicht wahr? Seit wann war er dazu in der Lage?

Endlich war der Drache durch und glitt geschmeidig neben seinen Reiter. „Hier riecht es.“, murrte er.

„Sie sind alle krank.“, erklärte Dhaôma zerknirscht. „Ich wollte nur helfen.“
 

„Das wissen wir.“, mischte sich Mimoun matt ein. Die Kopfschmerzen waren weg, aber er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt, so als wäre er den ganzen Tag durchgeflogen. „Niemand macht dir einen Vorwurf daraus. Schließlich sind wir zum Helfen hier.“ Schwerfällig wälzte sich der Geflügelte herum und stemmte sich mit Keithlyns Hilfe in die Höhe. Einige andere zogen es vor, noch ein wenig liegen zu bleiben. Wechselten sie am besten das Thema, bevor es wirklich unangenehm werden konnte. „Moment. Was soll das heißen, wir sind nicht mehr im Schloss? Wie riesig ist das Gebäude? Wieso kann ich dich wieder hören? Und wo ist die kleine Heilerin, auf die du aufpassen solltest?“

„Ula hatte eine Skizze angefertigt. Du müsstest die Ausmaße also kennen, wenn du dich informiert hast.“, fiel Tyiasur seinem Reiter in den Rücken und ließ dessen Frage damit eigentlich unbeantwortet. „Und man hat die Telepatin gefunden.“

„Okay.“, gab sich Mimoun geschlagen. „Und wer passt nun auf die Kleine auf?“
 

„Einer mit braunen Haaren.“ Lulanivilay stampfte auf Dhaôma zu und schob seine Nase unter dessen Hand. Lapidar ließ er folgen: „Du kannst sie heilen, wenn sie draußen sind. Da hast du Zugriff auf mehr Seen, so dass sie es nicht so schnell bemerken.“

Aber das war nicht das Problem, das Dhaôma beschäftigte. Wenn er wirklich seine Kraft von jenen nahm, die um ihn herum waren, war das schrecklich. Es würde erklären, warum er seit einiger Zeit nach Kontrollverlusten keine Müdigkeit mehr empfand. Es würde auch erklären, warum er sich so schnell regenerierte, warum er all diese mächtigen Angriffe geführt hatte, ohne danach ohnmächtig zu werden. Aber das war Raub. Und schädlich für die Menschen um ihn herum. Er hatte gedacht, dass Lulanivilay stärker geworden wäre, und sich deshalb nicht zurückgehalten, aber durfte er dann überhaupt noch in der Gegenwart der Zauberer seine Magie nutzen?

„Draußen sind noch mehr Menschen. Sie wollen auch helfen, kamen aber zu spät. Sie können die Kranken tragen.“

Abwesend stimmte der braunhaarige junge Mann seinem Drachen zu, kratzte mit den Nägeln über dessen schuppige Nase. Mit seinen Gedanken war er ganz weit weg.
 

„Das kann uns ja nun zum Vorteil werden.“, murmelte Mimoun und sah zu dem Loch hinauf. „Tyiasur. Sag den Helfern da oben, sie sollen hierher kommen. Sie sollen dort die Kranken in Empfang nehmen und ein wenig abseits versorgen. Die Geflügelten bringen die Befreiten durch das Loch nach oben. Mach es bitte noch ein wenig weiter, Vilay. Die Magier teilen sich in zwei Gruppen. Pro Gruppe schließt sich ein Geflügelter an. Jede Gruppe nimmt sich eine Seite vor. Je nach Gefangenem wird ein Magier oder ein Geflügelter den Erstkontakt aufnehmen und beruhigen. Ein oder zwei Magier bringen ihn dann hierher und den Rest hab ich schon erklärt.“

Tyiasur zeigte mit einem Kopfnicken an, dass er verstanden und den Auftrag bereits ausgeführt hatte. Suchend glitt Mimouns Blick über die Versammelten. Nun mit einem sinnvollen Plan versehen, wirkten sie wieder entschlossener, aber genauso wirkten sie erschöpft und unsicher, wenn ihr Blick in Dhaômas Richtung glitt.

Mimoun wiederholte seine Anweisungen nicht. Die Menschen um ihn herum mussten sich erst einmal wieder sammeln und sich dann eigenständig sortieren. Das würde noch einen Moment dauern. Stattdessen ergriff er Keithlyns Hand und ging mit ihr zu Dhaôma. Sanft strich er seinem Magier über die Wange und überzeugte sich mit einem schnellen Blick von Juuros Wohlbefinden. Das Mädchen hatte ihm die Hände auf die Schultern gelegt und redete leise und mit besorgtem Blick auf ihn ein.

„Dhaôma? Kannst du den Helfern ein wenig ihrer Kraft zurückgeben und dafür nur deine oder Vilays Kraftreserven verwenden oder kannst du das nicht mehr auseinander halten?“
 

Die tröstenden Worte kamen ihm ein wenig ungelegen, während er versuchte, seine Gedanken zu sortieren, aber sie hatten unbestreitbar Recht. Es musste etwas getan werden. Er konnte dieses Problem später noch lösen.

„Ich kann niemandem Magie zur Verfügung stellen. Ich wüsste nicht, wie das geht. Ich kann ihre Erschöpfung mindern, aber was, wenn ich dabei wieder ihren Vorrat aufbrauche? Mimoun, ich habe bisher nicht einmal bemerkt, dass ich nicht meine Kraft verbrauche.“ Er seufzte, erhob sich und bedankte sich leise bei seinen beiden Freunden. „Es tut mir Leid.“
 

„Schon gut. Wir schaffen es auch so, hörst du? Jetzt brauchen wir vor allem positives Denken.“ Um das bei Dhaôma in Gang zu setzen, versuchte er es mit einem leichten Kuss und einem zuversichtlichen Lächeln. „Na komm.“ Mimoun ergriff die Hand seines Magiers und zog ihn zu der Tür des Erblindeten. „Fangen wir an. Keithlyn. Bleib bitte bei Juuro. Ich weiß nicht, ob und wie sie reagieren werden, wenn sie ihn sehen.“ Er nahm den Schlüssel in die Hand und hielt ihn nach einem abschätzigen Wiegen Dhaôma entgegen. „Zweifel nicht an dir. Dir verdanken sie ihre Freiheit. Dir verdanken wir Frieden.“
 

Es provozierte ein leises Lachen bei dem Braunhaarigen. Mimoun war wirklich gut darin, ihn aufzumuntern. Jedes Mal gelang ihm das. „Uns.“, korrigierte er liebevoll. „Machen wir uns an die Arbeit.“

Mit dem Schlüssel ging er an den Käfigen vorbei und öffnete jeden einzelnen. Es würde schneller gehen, wenn man nicht erst darauf warten musste, dass die einzelnen Türen geöffnet wurden. Dann half er zwei Magiern, die einen bewusstlosen, verkrüppelten Geflügelten hinaustrugen, diesen auf Lulanivilays Rücken zu verfrachten, damit dieser ihn hinaufbringen konnte, bevor er sich Juuro zur Seite nahm, dessen Anwesenheit tatsächlich einen schlechten Einfluss auf die wachen Kandidaten in den Zellen hatte. „Was ist hinter der Tür da vorne? Sie geht nicht auf.“, zeigte er auf das Ende des Ganges. Die Tür war bunt bemalt und ziemlich groß. Sie wirkte, als wäre sie absichtlich auffällig gestaltet.

„Das ist das Paradies.“, stand Juuro Antwort und kratzte sich hinter dem linken Ohr, als wäre es ihm Unangenehm, darüber zu reden. „Wenn du dich hier gut führst, dann darfst du dort hinüber. Es geht dir vergleichsweise gut. Du musst nicht hungern oder dursten, dir wird nicht mehr wehgetan. Dafür ist es ab dort deine Pflicht, für Nachkommen zu sorgen. Kannst du es nicht, sprich, bist du impotent oder es gibt nur Fehlgeburten oder schlimmer verkrüppelte Babys als normal, wirst du ausgemustert, dann bringen sie dich weg. Entweder zurück oder weiter, wo sie dich töten. Wenn du dich schlecht benimmst, kommst du ebenfalls wieder auf die Straße der Fügung.“ Sein Gesicht zeigte Wut und Hass und Schmerz. „Damit die Schwangeren die Babys nicht gleich abtreiben. Damit die Männer auch mit den Frauen schlafen. Alles, damit es ihnen nie wieder so schlecht geht wie bei ihrer Ankunft hier.“

Beklommen nickte Dhaôma, bevor er sich wortlos abwandte. Ihm war schlecht und seine Hände zitterten. Gerade jetzt brauchte er alle Selbstbeherrschung, um nicht zu weinen und die Kontrolle über seine Magie zu verlieren. Die hier inhaftierten Menschen taten ihm schrecklich Leid, während ihre Peiniger einen bitteren Hass in ihm auslösten, der den Wunsch nach einer friedlichen Lösung zu ersticken drohte.

Jemand rief nach ihm. Einer der Hanebito lag im Sterben und er sollte helfen. Vielleicht war es das, was ihn daran hinderte, wahnsinnig zu werden, denn hier konnte er sich auf etwas konzentrieren, das er kannte, das er konnte, bei dem er seine kleine, heile Welt wieder ein bisschen aufbauen konnte. Mit dem Verletzten ließ er sich aus dem Verlies heben, bevor er begann, ihn zu heilen. Hier oben waren so viele Menschen, dass es ihnen kaum auffallen würde, wenn er ein wenig von ihrer Kraft nahm. Dennoch hielt er sich mit der Heilung so stark zurück, dass er kaum etwas bewirkte. Wenn er ihn wirklich retten wollte, müsste er diese Hemmungen beiseite schieben. Aber durfte er das denn?

In seinem Kopf legte sich ein Schalter um. Hier ging es um Leben und Tod. Was machte es da schon, wenn einige Magier ein bisschen müde wurden? Vorsichtig gab er der Magie mehr Spielraum, behielt dabei die Menschen um sich herum im Auge, um rechtzeitig abbrechen zu können. Es fühlte sich genauso normal an, wie zuvor auch.
 

Nach einem kurzen Blick zu dem Loch, durch das Dhaôma gerade verschwunden war, wandte er sich wieder der Zellenreihe vor sich zu. Mit jeder Zelle, die geöffnet wurde, mit jeder gebrochenen Gestalt, die befreit wurde, kochte die Wut in Mimoun höher. Es war bestialisch, was man den Menschen hier angetan hatte. Immer neue Verletzungsarten kamen ans Tageslicht. Es fiel dem Geflügelten immer schwerer, sein zuversichtliches Lächeln aufrecht zu erhalten und beruhigende Worte zu sprechen. Er fühlte den Schmerz hier unten fast wie seinen eigenen.

Um kurz durchatmen zu können, übernahm er einen der Transporte nach oben. Der Blick des Befreiten glitt über den von funkelnden Sternen übersäten nachtschwarzen Himmel, der am Horizont die ersten Anzeichen der Morgendämmerung erahnen ließen. Ein winziges Lächeln schlich sich auf die eingefallenen Züge und schwach schob sich eine Hand dem Firmament entgegen.

„Ja.“, flüsterte Mimoun. „Wir bringen dich nach Hause.“ Vorsichtig ließ er den völlig entkräfteten Mann in hilfsbereit ausgestreckte Hände gleiten. Der junge Drachenreiter wandte sich ab, um den anderen zu helfen, als ihn die Hand auf seinem Arm zurückhielt. Der Blick, dem er begegnete als er aufsah, war voller tiefer Dankbarkeit. Als den anderen die Kräfte verließen und die Hand abglitt, griff Mimoun zu und drückte sie. Es mussten keine Worte gesprochen werden.

Mit einem Lächeln verabschiedete sich Mimoun und überzeugte sich mit einem kurzen Blick, dass der Weg nach unten frei war. Dann sprang er hinunter, nur um sofort mit dem Würgereiz konfrontiert zu werden. Das gab es doch nicht. Da war nun ein riesiges Loch in der Decke zur Belüftung, aber das Gemäuer schien diese Ausdünstungen schneller abzugeben, als dass sie nach oben entweichen konnten. Seine Achtung vor jedem, der dies hier überlebte, wuchs im gleichen Maße wie sein Hass auf den Zirkel.

Laute Stimmen ließen ihn aufblicken. Die beiden wartenden Magier vor einer Tür wichen einige Schritte zurück und ihre abwehrende Haltung ließ nichts Gutes erahnen.

„Mich bekommt ihr nicht! Mich nicht!“ Die Stimme, die aus der Tür drang, klang schrill und hysterisch.

Mimoun stürmte los und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Geflügelte, der zur Beruhigung vorgeschickt worden war, unter den wütenden Attacken einer dürren Gestalt zu Boden ging. Die Beteuerungen, nur helfen zu wollen, stießen offenkundig auf taube Ohren. Ebenso schienen die Verteidigungsversuche keinen Erfolg gegenüber dem Rasenden zu haben.

Die Magier rührten sich nicht. Sie wirkten unschlüssig, ob sie ihre Magie einsetzen durften oder nicht. Also sprang Mimoun hinzu und ergriff den Ausgemergelten von hinten, zog ihn von seinem Opfer runter. Kurz sah der Drachenreiter den Wahnsinn in den Augen seines Gegners flackern, als sich der Gefangene wie ein Aal wand und seine Zähne tief in Mimouns Schulter grub. Mit einem halblauten Schmerzensschrei lockerte sich dessen Griff und sein Kontrahent ging nun mit allen Vieren auf ihn los, die Zähne noch immer in der Schulter vergraben. Zu Mimouns Glück waren auch ihm die Krallen gezogen worden.

Plötzlich erstarrte er zur Bewegungslosigkeit. Tyiasur schob seinen Kopf aus dem Hemdausschnitt und fixierte den Tobsüchtigen, der ihn genauso unverwandt anstarrte. Langsam lösten sich endlich die Zähne, zog sich die Gestalt ein wenig zurück und sank zusammen. Hemmungslos wurde er von Schluchzern geschüttelt.

„Was…“, fragte Mimoun verständnislos und sah auf das Häufchen Elend. Tyiasur zog sich wieder unter das Hemd zurück, aber Mimoun konnte spüren, wie heftig das kleine Schuppentier atmete. Was auch immer er gerade getan hatte, es hatte ihn stark angestrengt und mitgenommen.

„Bring ihn raus.“, kam es leise und kraftlos von dem Drachen. Vorsichtig näherte sich der Drachenreiter dem Gefangenen und ließ sich in die Hocke sinken. Als der sich nicht rührte, schob Mimoun vorsichtig seine Hände unter den Körper und wunderte sich, wie viel Kraft doch in diesem ausgemergelten leichten Körper war. Es war wohl die Verzweiflung gewesen, die ihm diese Kraft gegeben hatte, doch nun wehrte er sich nicht mehr. Auch nicht als Mimoun sich erhob und ihn hinaustrug. Vorher drehte er sich zu dem noch immer am Boden hockenden Helfer um.

„Bist du verletzt?“, wollte er von ihm wissen und bekam ein „Nur mein Stolz.“ als Antwort. Mimoun grinste, als der Geflügelte seine Hände schüttelte und etwas abflog, was sich nicht genau definieren ließ und was man auch nicht so genau definieren wollte.

Draußen reagierte das Bündel in seinen Armen wie der Erste, den er nach draußen gebracht hatte. Sein Blick glitt zu den Sternen und die Tränen kullerten unaufhörlich. Ein Blick, der noch nicht völlig vom Wahnsinn befreit, der aber vorerst in den Hintergrund gedrängt worden war.

Mimoun setzte ihn inmitten der anderen Befreiten ab, rief die Helfer zu äußerster Vorsicht auf und ging zu Dhaôma hinüber. Umständlich zog er den Wasserdrachen unter seinem Hemd hervor und überzeugte sich von seinem Zustand. Er schien einfach nur völlig erschöpft zu sein und war kurz vorm Einschlafen.

„Ruh dich aus.“, wies er seinen kleinen Freund an. Sie waren schon viel zu lange wach. Nicht nur die Drachen, sie alle hier. Aber es würde noch dauern, bis sie sich Ruhe gönnen konnten.

„Wie geht es dir?“, wollte er von Dhaôma wissen, nachdem das Schuppentier wieder sicher verstaut war.
 

„Ich bin unverletzt.“, war die umständliche Antwort, die seinen seelischen Zustand außen vor ließ. „Und egal wie schlimm es ist, magischen Raub zu praktizieren, ich werde damit weiter machen, bis ich hier nicht mehr gebraucht werde.“ Seine Augen glommen dunkel, bevor er Mimouns blutende Wunde schloss. „Hol dir hier nichts. Ich möchte gar nicht wissen, welche Krankheiten ein solcher Lebensstil mit sich bringt.“

Um ihn herum sirrte das Leben. Im Schein von Leuchtblumen und Fackeln arbeiteten inzwischen zweihundert Magier, um Verletzungen zu kurieren, Essen und Wasser zu verteilen und Angst zu beruhigen. Vor nicht allzu langer Zeit waren die Dienstmädchen aus dem Schloss gekommen und halfen nun auch. Einige waren direkt von Verwandten in die Arme geschlossen worden. Lange getrennte Familien fanden einander und sorgten für kurze Eruptionen purer Freude in all dem Leid.

Kurz bevor Mimoun wieder fliegen wollte, zog Lulanivilay ihre Aufmerksamkeit auf sich, als er einmal kräftig mit den Flügeln schlug. „Pfeil ist gefunden.“, teilte er ihnen mit. „Er kann die Jagmarr nicht leiden. Passt gut auf.“

Bis das Verstehen des unvertrauten Namens in Dhaômas Bewusstsein sickerte, verging ein Moment, aber dann krallte sich seine Hand vor überschäumender Freude in Mimouns Arm. Sein Herz hüpfte ihm bis in den Hals und stahl ihm jegliche Worte. Angst stritt mit der beinahe schon erstickten Hoffnung. Sollte Jayan wirklich noch am Leben sein?
 

Vielleicht sollte er langsam mal anfangen, die alte Sprache zu lernen. Dann würde er geistig nicht immer abgehängt werden, wenn Lulanivilay sprach.

Verständnislos irrte Mimouns Blick zwischen dem großen Drachen, seinem Magier und dessen erstaunlich festen Griff hin und her. Wer war Pfeil? Es musste ein Freund sein, sonst würde Dhaôma nicht so emotional reagieren. Und wenn er Magier nicht leiden konnte, blieb nur ein Geflügelter. Aber so viele blieben doch nicht zur Auswahl. Es musste jemand sein, der als verschollen galt. Einer von der Trainingsinsel? Sein Magier hängte sein Herz sehr schnell an liebe Personen, auch wenn er sie noch nicht so lange kannte. Oder etwa…?

„Jayan?“, hauchte er leise und sah Dhaôma voller vorsichtiger Hoffnung an.
 

„Sagte ich doch: Pfeil.“, murrte Lulanivilay, während Dhaôma nur nicken konnte. Im nächsten Moment wurde es unruhig, als zwei Geflügelte mit vereinten Kräften einen sich wehrenden Mann heraus trugen. Beinahe machte der Mann einen Abgang, als er sich aus den Armen des einen herauswand.

„Geh hin. Du bist sein Schwager. Familie. Dir wird er am ehesten vertrauen, nicht wahr?“ Leicht klopfte er seinem Schatz auf den Hintern. „Und wenn du genügend Überzeugungs-arbeit geleistet hast, kannst du mich rufen, ja?“
 

Diesen Schubs hatte Mimoun gebraucht. Seine Beine weigerten sich im ersten Moment ihm zu gehorchen. Da war einerseits eine ungeahnte Hochstimmung in ihm. Jayan lebte. Silia würde ihren Gefährten wieder in die Arme schließen können. Andererseits lähmte ihn das abgrundtiefe Entsetzen, wenn er an die Verletzungen und die seelischen Qualen dachte, die jeder der Eingeschlossenen davongetragen hatte.

„Asam dürfte sich freuen, kommen sie doch beide aus demselben Dorf.“, murmelte er und setzte sich zögerlich in Bewegung, so als könne er es immer noch nicht glauben. Mitleidig ließ er seinen Blick über den geschundenen Körper gleiten. Jeder noch so winzige Kratzer erzählte eine eigene Geschichte aus Blut und Schmerz.

„Jayan.“, sagte der Drachenreiter sanft. Der Kopf des Angesprochenen ruckte herum und musterte den Sprecher mit gehetztem Blick. Nur langsam drang das Erkennen durch und im gleichen Maße erlahmten die verzweifelten Verteidigungsversuche.

„Ich übernehme ab hier.“, bot Mimoun den beiden Helfern an und berührte zaghaft Jayans Arm, der im ersten Moment zurückzuckte. Geduldig wartete der Drachenreiter, bis sich sein Schwager dazu durchringen konnte, die Berührung von sich aus zuzulassen. Schwer stützte sich Jayan auf Mimouns Schulter. Er musste mit seinen Kräften wirklich am Ende sein und das gab dem Drachenreiter einen grausamen Stich. Wenn sie nicht so lange gebraucht hätten, wäre ihm und anderen dieses Schicksal erspart geblieben.

„Du hast lange gebraucht.“ Die Stimme war rau und leise, kaum mehr als ein Flüstern.

„Es tut mir Leid.“ Ein Seufzen war die Antwort. „Ich bringe dich zu Dhaôma, damit er sich um deine Wunden kümmert. Und dann bringen wir dich zu Silia. Du kannst wieder nach Hause. Nun wird alles wieder besser.“, fuhr Mimoun beruhigend fort. Jayan schloss die Augen und ließ sich widerstandslos fortführen.
 

Dhaôma hatte seinen Patienten weiterbehandelt, bis dieser sich genügend bewegen konnte, um zu essen. Um sich abzulenken und kurz zu verschnaufen, beobachtete er ihn, wie er sich heißhungrig auf Brot und Käse stürzte. Wenn er es recht bedachte, war er nervös. Jayan war ein freundlicher junger Mann gewesen, der ihm häufig für die Sache mit Seren gedankt hatte, aber er hatte mit Silia zusammen gewohnt. Ob er sich deren Hass auf Magier angeeignet hatte? Ob er wusste, dass er einen Sohn hatte?

Als er schlurfende Schritte hinter sich hörte, sah er zurück, erhob sich, denn sein Freund kam mit dem Verletzten näher. Jayan sah richtig fertig aus. Die hellbraunen Haare waren strähnig und fehlten hier und da, überall Schrammen und Blutergüsse, die einst so strahlend grünen Augen sahen müde und gebrochen aus. Am schlimmsten hatten sie allerdings seine Flügel zugerichtet. Er hatte so viele Hanebito gesehen und immer hatten sie die Flügel bis aufs Letzte zerstört, als wären sie neidisch auf ihre Fähigkeit zu fliegen, frei zu sein. Als wüssten sie, dass es einem Hanebito alles bedeutete, auf dem Wind zu reiten. Das letzte Stück kam er ihnen entgegen.

„Es freut mich, dass du am Leben bist, Jayan.“, begrüßte er ihn freundlich. „Setz dich hin, dann helfe ich dir.“
 

Durch den engen Körperkontakt spürte Mimoun das Zusammenzucken und den Ansatz zum Widerstand. Dann erst schien sich Jayan wieder bewusst zu werden, wer Dhaôma und zu was er in der Lage war.

Vorsichtig ließ der Drachenreiter den Verletzten ins Gras gleiten und half ihm, sich bequem hinzulegen. Mit einem Wink bat er eine umhereilende Magierin um etwas Wasser, das ihm beinahe sofort gebracht wurde. Wieder nahm Jayans Blick diesen gehetzten Ausdruck an, als sie sich näherte, und der erst verschwand, als sie sich wieder entfernte.

„Wie kann man das hier Leben nennen?“, murmelte der Verletzte kraftlos, bevor er zuließ, dass Mimoun ihn stützte und beim Trinken half.
 

„Indem man sich vorstellt, dass du tatsächlich gestorben wärst.“, antwortete Dhaôma ruhig. „Eine Situation, in der man seine Existenz noch hat, gibt, egal wie schlimm und erniedrigend sie ist, die Möglichkeit, etwas zu hoffen, zu verbessern und zu erreichen. Wärst du tatsächlich gestorben, würdest du Silia und Naruby niemals wieder sehen und das Kind müsste ohne dich aufwachsen. Ich beginne.“

Die Angst vor Berührungen in Betracht ziehend, ließ sich Dhaôma Zeit damit, seine Hand auf Jayans Brust zu legen, damit dieser sich an den Gedanken gewöhnen konnte. Innerlich waren die Schäden nicht ganz so gravierend wie bei seinem vorherigen Patienten. Die Organe waren größtenteils noch in Ordnung und auch die Knochenbrüche waren minimal. Es dauerte länger, weil er davon absah, ihn an jeder zerstörten Stelle zu berühren, aber nach und nach heilte er alle Schmerz verursachenden Verletzungen. Alle anderen würden warten müssen, bis mehr Zeit und mehr Magie zur Verfügung stand.
 

„Naruby.“ Ein einziges Wort nur. Ein Name. Und doch anscheinend das mit der größten Wirkung.

„Ja. Du hast einen Sohn.“, bestätigte Mimoun mit einem Lächeln und sah sich nun mit den grünen Augen konfrontiert. Sein Lächeln wurde breiter, als er begann von Silia und ihrem Nachwuchs zu berichten, dass der Knirps ihn nicht leiden konnte, dass sie bei Jadya eingezogen waren, um nicht allein zu sein. Während Dhaôma seinen Heilungsprozess fortsetzte, weitete Mimoun seine Berichte auf das ganze Dorf aus, auf alles, was in der Zeit seit seiner eigenen Rückkehr vorgefallen war. Nur den großen Streit ließ er weg. Und da Tyiasur schlief, beschrieb er alles so bildhaft wie möglich, damit Jayan es sich auch vorstellen konnte.

„Ich will nach Hause.“ Jayans Stimme klang nun nicht nur aufgrund der überstandenen Strapazen so brüchig, sondern auch als Zeuge der Tränen, die unaufhaltsam flossen. Langsam schob sich eine zittrige Hand nach oben und legte sich auf Dhaômas, drückte kurz zu.
 

„Wir bringen dich heim, sobald es möglich ist.“, versprach der Braunhaarige und lächelte. Man konnte direkt sehen, wie der Wille zu leben zurückgekehrt war. Da hatte die kleine Giftspritze endlich mal was Gutes bewirkt. „Bis dahin musst du dich bemühen, gesund zu werden, damit du auch etwas davon hast, zuhause zu sein.“ Er hatte seine Magie auch hier in die Flügel fließen lassen, um zu sehen, wie weit sie zu retten waren. Fazit war, dass es eine ungeheure Kraft benötigen würde, aber er konnte ihn wieder fliegen lassen, wenn er genügend Zeit dazu hatte.

„Drachenreiter!“, rief jemand aus der Menge. „Wo sind die Drachenreiter?“ Die Stimme klang gehetzt und außer Atem. Im nächsten Moment stolperte ihnen ein Magiermädchen entgegen. Er hatte sie schon gesehen. Sie war eine der Anführerinnen gewesen, die sich bemüht hatte, eine Methode für das gewaltlose Ausschalten der Halblinge zu finden. Jetzt sah sie schrecklich durcheinander und schmutzig aus. „Es ist was gehörig schief gelaufen! Ein paar der Magier sind durchgedreht. Sie töten jeden, der im Schloss lebt! Bitte, ihr müsst sie aufhalten! Genahn ist machtlos! Sein Wind kommt nicht gegen sie an!“
 

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^^°
 

schwere Atmosphäre....

Verlust

Kapitel 77

Verlust
 

Genahn war machtlos? Xaira war bei ihm. Sie würde nicht tatenlos zusehen.

„Zeig mir den Weg. Beeil dich.“, wies er das Mädchen an und lupfte mit einem Ruck sein Hemd, so dass Tyiasur herauspurzelte. „Pass bitte auf meinen Drachen auf.“, bat er Jayan und versprach, gleich wieder da zu sein. „Kümmere dich hier um die Verletzten. Ich regle das.“, lächelte er Dhaôma zu. Im nächsten Augenblick sprintete er los, der hinterher, die sich auf seine Anweisung sofort umgedreht hatte und zurück rannte. Da sie ihm nicht schnell genug war und seine Rennfähigkeiten noch immer nicht an die eines Magiers heranreichten, erhob er sich in die Luft und ergriff sie kurzerhand unter den Armen, was sie mit einem spitzen Schrei quittierte.

„Warum schreien Magier immer, wenn sie ein paar Meter über dem Boden sind?“, wollte Mimoun missgelaunt wissen, als das Klingeln in seinen Ohren nachließ. Zum Antworten kam das Mädchen nicht. Sie mussten sich darauf konzentrieren, die Kurve durch das Eingangstor ins Gebäude und in die große Halle zu schaffen. Ab da war Schluss. Die Tür, durch die Genahn und Xaira mit ihren Helfern gegangen war, war einfach zu klein, um weiter fliegen zu können. Mimoun stellte die Kleine wieder auf die Füße und musste ihre verkrampften Finger beinahe mit Gewalt von seinen Armen lösen. Okay. Er hatte sie wohl gehörig erschreckt mit dieser Aktion. Dementsprechend unsicher waren ihre ersten Schritte, aber mit jedem weiteren Meter in die Tiefen dieses Gemäuers schritt sie energischer aus.

Mimoun hatte weder die Zeit noch die Muße, sich die auch hier zahlreich vorhandenen Verzierungen und Gemälde zu betrachten. Er folgte der Magierin den Gang entlang, vorbei an offenen Türen und abzweigenden Gängen. Die Magierin hetzte einmal um die Ecke, obwohl der Gang noch weiter geradeaus führte, aber sie allein kannte den Weg. Als Mimoun ihr folgte, sah er sich von einer Sekunde auf die andere mit einer Wendeltreppe nach oben konfrontiert. Sie war breiter als die, die zu den Gewölben geführt hatte, und doch stolperte der Geflügelte, weil er seinen Schritt nicht sofort anpassen konnte.

„Alles okay?“, hörte er von oben und sah zu seiner Führerin auf, die sich besorgt umgewandt hatte. Ihre Haltung und ihr abgehackter Atem sprachen deutlich von ihrer Erschöpfung. Mit einem Nicken stemmte er sich wieder hoch und stürmte erneut vorwärts.

Der Gang, zu dem die Treppe führte, war hell erleuchtet und doch haftete ihm etwas Düsteres an. Hier konnte Mimoun Schreie hören und den Geruch von Blut wahrnehmen. Ohne sich orientieren zu müssen, wandte sich die Magierin nach rechts und eilte den Gang hinunter. Auch hier gab es offene Türen, die von ihr unbeachtet blieben. Also warf er ebenfalls keinen Blick hinein. Am Ende sah er eine offene zweiflügelige Tür aus der die Schreie und Kampfgeräusche zu kommen schienen. Auf diese hielt Mimoun zu. Plötzlich sah er in einer Tür aus den Augenwinkeln eine Person stehen. Ein zweiter Blick ließ seinen Schritt stocken. Dort im Türrahmen stand ein Halbling, fast noch ein Kind. Sein anklagender Blick fraß sich tief in Mimouns Gedächtnis. Und doch rührte sich der Halbling nicht. Konnte er auch nicht, denn er war tot. Er hatte seinen Tod wahrscheinlich auch nicht kommen sehen, denn aus dem weichen Teppich bohrten sich Steinnadeln und hielten den Jungen aufrecht. Nur wenige der dutzend Spitzen ragten vorne wieder heraus. Ein einzelner Blutstropfen rann die bereits vorhandene rote Spur vom Mundwinkel bis zum Kinn hinunter und folgte der Schwerkraft. Der weiche Teppich verschluckte das Geräusch des aufkommenden Tropfens fast völlig, der sich zu der sich still vergrößernden Lache hinzugesellte.

„Du kannst ihm nicht mehr helfen.“ Der gehetzte Ruf half ihm, sich von dem Anblick zu lösen und weiterzustolpern. Das Rot, das nun aus einigen Zimmern schimmerte, brannte sich in seine Netzhaut ein und wischte den Hass auf den Zirkel fast zur Seite, um Platz für Hass auf die für dieses Blutbad Verantwortlichen zu machen. Abgetrennte Gliedmaßen, heraushängende Eingeweide. Nicht einer der Halblinge, die er entdecken konnte, hatte einen schnellen und einfachen Tod erhalten.

Mimoun eilte durch die Tür am Ende des Ganges und wurde gleich mit dem nächsten Grauen konfrontiert. Xaira lag direkt dahinter, in einer kleinen Blutlache, ihre Peitsche angriffsbereit noch in der Hand. In dem großen Saal lagen überall zertrümmerte Stühle, Bänke und andere Möbel. Dazwischen verkrümmte Gestalten in ihrem Blut. Hauptsächlich Halblinge, aber auch Magier und Geflügelte. Ganz hinten in einer Ecke drängten sich nur wenige der Halblinge wie verängstigtes Vieh zusammen. Davor hatte sich Genahn aufgebaut. Die eine Hand benötigte er, um sein kleines Drachenbaby zu halten, das sich wieder zu einer Kugel geformt hatte. Mit der anderen versuchte er verbissen, seine Gegner fortzutreiben. Neben ihm waren noch weitere Magier und Geflügelte als verzweifelte Verteidigungslinie, doch waren sie es, die unbarmherzig zurückgedrängt wurden. Sie waren hoffnungslos in der Unterzahl.

„Vilay, hilf mir!“, rief Mimoun mit aller Kraft. Er ließ sich zu Boden sinken und hob Xairas schlaffen Körper auf seine Arme.
 

„Brüll nicht so. Ich höre dich.“, hallte es in allen Köpfen wieder. Im nächsten Moment stürzte die Wand zu Mimouns rechter ein und der Drache krallte sich ins Mauerwerk, um hereinzulinsen. Es dauerte einen Augenblick, in dem sich der aufgewirbelte Staub legen konnte, in dem die erschrockenen Magier ihn wie gelähmt ansahen, in dem Genahn verstand und als einziger wirklich wusste, was kommen würde. Sein gebrülltes „Runter!“ verklang in dem ohrenbetäubenden, in allen Bäuchen widerhallenden Geräusch, das der Drache machte, als seine Klauen den Stein wie Butter durchschnitten, während er in den Turm eindrang. Sein Schwanz peitschte und riss den Rest der Wand auf, so dass ein Teil der Decke auf ihn herunterstürzte. Panisch drehten die zur Beute gewordenen Angreifer sich um, während Genahn und seine Leute so weit zurückwichen, dass sie die hinter ihnen stehenden Halblinge gegen die Mauer drückten. Einige fruchtlose Angriffe wurden auf den Drachen geschleudert, der sie beäugte, als wären sie nicht mehr als lästiges Geschmeiß. Einmal blinkte das goldene Auge, mit dem er sie musterte, ein zweites Mal. Ein Erdmagier versuchte, seine Pranke mit einer Steinnadel zu durchbohren. Er wurde gegriffen und aus dem Loch in der Mauer geworfen.

„Ihr sollt Frieden halten.“, maßregelte sie der Drache mit dem im Magen hallenden Geräusch aus mehreren Kehlen leidenschaftslos. „Ihr versteht gar nichts.“ Seine Klauen durchstießen den Boden, dass er unter ihm einstürzte, aber es störte ihn nicht. Zwei seiner Beine hielten ihn über die Außenmauer auf gleicher Höhe mit den Magiern.

„Tu uns nichts!“, rief ein älterer Mann. Ihm liefen Angsttränen aus den Augen. „Wir sind hier nicht die Bösen.“

„Nimmst du dir die Freiheit zu entscheiden, was Recht und was Unrecht ist? Mit welcher Grundlage?“

„Sie haben uns über Jahrhunderte tyrannisiert!“, rechtfertigte sich eine Frau mit wutverzerrtem Gesicht. „Wegen ihnen sind Hunderte gestorben. Warum sollten sie leben?“

Der grüne Drache starrte sie sekundenlang reglos an, bevor er einfach ein paar Schritte nach vorne tat und die Magier auseinanderweichen ließ. Er befand dieses Statement einer Antwort nicht würdig. Stattdessen stupste er das Baby in Genahns Händen an. „Wach auf. Tu was.“

Der Ball entrollte sich, streckte sich und gähnte. Ihre Augen waren schwarz, ihre beiden winzigen, runden Pfoten tappsten Lulanivilay auf die Nase, bevor sie zu Boden sprang und sich dann wie ein Maulwurf in den Stein grub. Genahn hatte gar keine Zeit, etwas dagegen zu tun.

„Himmel. Bring sie weg.“ Seine Nase schob die erstarrten Verteidiger und die Halblinge Richtung Mimoun.
 

„Geflügelte. Schnappt euch einen und tragt ihn raus. Der Rest rennt. Jetzt!“ Erst auf das letzte gebrüllte Wort, setzte sich die Gruppe in Bewegung.

Mimouns Blick traf sich mit Genahns. Dieser deutete auf das Loch in der Mauer. „Bring sie hier raus. Ich kümmere mich hier um den Rest.“ Und damit wandte er sich schon um und ergriff einen Halbling am Arm, um ihn durch die Tür zu stoßen. Mit energischem Winken bedeutete er anderen, ihm zu folgen. Ebenso mahnten seine Rufe zu mehr Eile. Zwischendurch glitt der Blick des Magiers zu dem Loch, das sein kleiner Drache zurückgelassen hatte.

„Verschwinde endlich.“, herrschte Genahn Mimoun an, als dieser sich noch immer nicht von der Stelle gerührt hatte. Mit einem abschließenden Nicken sprang dieser auf die Öffnung in der Wand zu und stieß sich in die Morgendämmerung.

Erschrockene Rufe und Blicke begrüßten ihn, Menschen starrten zu der Öffnung in dem Schloss und den rieselnden Brocken hoch, doch er ignorierte sie. Mimoun landete direkt bei Dhaôma und sah ihn voller Trauer an, ließ Xaira langsam zu Boden gleiten.
 

„Wah! Was ist passiert?“ Es hatte einige Momente gedauert, bis Dhaôma verstanden hatte, dann stürzte er herbei und initiierte die Magie, bevor er sie berührte. Kaum hatte er Kontakt, wusste er, dass alles nichts mehr half. Xairas Körper war dabei zu zerfallen. Ihr Leben war aus ihr gewichen.

„Nein.“, wisperte er und schickte mehr Kraft in sie, so viel wie er aufbringen konnte. Einer Welle gleich regenerierte er jede Zelle in ihrem Körper, heilte alle Wunden, vernichtete alles, was ihrem Körper Schwierigkeiten machen könnte. Und trotzdem. Sie blieb reglos und leblos. „Nein. Nein, nein, nein…“ Tränen sammelten sich in seinen Augen. „Nein.“ Letztlich verblasste das Licht auf seinen Wangen. „Du kannst nicht einfach sterben. Hörst du? Du wirst doch noch gebraucht!“
 

Stumm streckte Mimoun seine Hände aus und zog Dhaôma in seine Arme, fort von ihr. „Es tut mir Leid. Ich bin zu spät gekommen. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Es tut mir so Leid.“

Hinter seinem Rücken gab das Schloss ein Geräusch wie ein schmerzerfülltes Stöhnen von sich. Mimoun spürte, wie seine Nackenhaare sich aufstellten und er sich versteifte. Zu schnell. Das Gebäude zerfiel zu schnell.

„Genahn. Asam. Sie sind doch noch da drin.“
 

Dhaôma hatte seine Hände in seine Haare gekrallt, jetzt horchte er auf. „Was sagst du da?“ Er sah herum und ihm wurde bewusst, was da passierte. Über das ganze Schloss zogen sich Risse, teilweise waren Mauern herausgebrochen, ein Turm stürzte gerade ein. Lulanivilays Hinterteil ragte aus einer Wand mit großen Fenstern, die er gerade plättete. Kurz darauf liefen dort viele Menschen heraus und flüchteten zur Seite. „Was ist denn jetzt los?“, fragte er und machte sich aus Mimouns Armen los. Ihm war die Situation völlig aus den Händen geglitten.

Aus dem Haupteingang, den man seitlich gerade noch sehen konnte, kamen weitere Menschen gerannt. Genahn war darunter. Er trieb die anderen zur Eile. Helfer eilten herbei, um sie in Sicherheit zu ziehen. Der Ostflügel des Schlosses brach zusammen und ließ die Erde beben. „Was für ein Desaster!“, hauchte Dhaôma und kramte in seinem Kopf nach einer Möglichkeit, etwas dagegen zu tun, aber wie sollte er mit Wind, Wasser, Eis oder Pflanzen…

„Halt es auf!“ Das Zischen verließ seinen Mund und er initiierte die Magie, die er am längsten kannte. Sein Beutel mit Samen, den Xaira seit langer Zeit mit sich trug, reagierte, die Samen trieben aus.

„Dhaôma?“

„Genahn. Verteile sie mit deinem Wind.“, war die Anweisung, die ausgeführt wurde, als der Mann den Ernst hinter dem Vorhaben verstand. Natürlich. Es waren immer noch Menschen dort. Es konnte noch nicht einbrechen. Dhaômas Vorhaben erforderte bei weitem mehr Energie, als er selbst aufbringen konnte, aber es waren inzwischen genügend Schaulustige um das Schloss versammelt, dass es den Magiern kaum auffiel. In kleinen Ritzen, im Hof, auf dem Friedhof, in den Gängen und Mauern, überall fingen sich die kleinen Samen und begannen zu wachsen, hielten mit ihren Wurzeln die Überreste der stolzen Burg zusammen.
 

Reglos blieb Mimoun neben Xaira sitzen. Hier konnte er sowieso nichts mehr tun. Er ließ seine Finger durch ihre Haare gleiten. Sie hatte so viel für Dhaôma getan, für ihn getan und er hatte es ihr nie wirklich gedankt.

„Warum trauerst du um solch eine Missgeburt?“ Jayan hatte sich aufgrund der aktuellen Ereignisse aufgesetzt, neben ihm lag zusammengerollt Tyiasur. Sein Blick war voller abgrundtiefem Hass, als er den leblosen Körper ansah.

„Sie gehört nicht zum Zirkel.“, offenbarte Mimoun leise und fuhr in seiner Tätigkeit fort. „Und ohne sie und ihre Freunde hätten wir dich nie gefunden. Du wärst dort unten irgendwann jämmerlich verreckt, ohne dass wir gewusst hätten, dass du noch lebst.“ Mimoun legte den Kopf schief und lächelte ein wenig missglückt. „Ich bin mir sicher, du hättest Xaira gemocht. Genau wie Silia machte sie nie einen Hehl um ihre Gefühle. Eine ehrliche Person, die gelernt hat, mit ihrem Schicksal zu leben.“ Mimoun sah auf, konnte aber in den Augen des anderen keine Gefühle oder Gedanken erkennen. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal zugehört, weil er so was nicht hören wollte.

„Xaira?“ Der Ruf jagte Mimoun erneut einen Schauer über den Rücken. Nur aus den Augenwinkeln sah er, wie sich eine helle Gestalt neben ihr niederwarf und sie an den Schultern rüttelte. „Wach auf. Komm schon!“

Mimoun machte Platz und erhob sich. Er machte Platz für Juuro, der sich nun ebenfalls neben Xaira niederließ und versuchte, sie zu wecken. Aber er sah die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen schneller ein als das Kind. Ihr verzweifelter Schrei mischte sich in das Rauschen der Blätter und das Mahlen der großen Steine. Und er trieb Mimoun die Tränen in die Augen, die er eigentlich schon viel früher erwartet hatte. Kurz ließ er seine Hand auf Juuros Schulter ruhen und ging dann zu dem Loch, das zu den Kellergewölben führte. Auch hier mussten die Menschen schnell raus, da niemand einschätzen konnte, wie weit sich die Zerstörung hier ausbreiten würde. Und Mimoun brauchte dringend etwas zu tun. Etwas, um sich abzulenken und wenn es nur eine Kleinigkeit war.
 

Die Zeit zog sich dahin. Magier und Geflügelte sammelten sich auf dem Friedhof, die gefangenen Halblinge gut abgeschirmt von den überschwappenden Gefühlen. Kaum einer konnte fassen, was sich da vor ihnen abspielte. Der Drache brachte aus den oberen Stockwerken und zertrümmerten Steinen Menschen herbei, der dazugehörige Magier war abermals außer Kontrolle. Während aus dem Schloss langsam aber sicher ein Wald wurde, fanden sich Menschen zusammen und ging die Sonne vollends auf. Noch immer kniete der Magier am Boden, als der Drache sich um ihn herumrollte und schlafen zu wollen schien. Genahn und Asam erklärten den Befreiten und den Gefangenen gleichermaßen die Situation, während Mimoun weiterhin Menschen aus den Gefängnissen und dem ‚Paradies’ holte. Ein paar Magier entzündeten große Feuer, auf denen sie Eintöpfe zubereiteten, um die ganzen Menschen zu ernähren. Es war ein langer Tag gewesen und nicht wenige waren erschöpft. Manche schliefen, weil sie so müde waren, andere setzten sich in den Schatten der umliegenden Häuser, keiner wollte nach Hause. Das, was hier passierte, war viel zu groß.

Irgendwann, kurz bevor die Sonne am höchsten stand, beendete Dhaôma seinen Zauber. Er stand einfach auf und klopfte Lulanivilay auf die große Schulter. Sein Körper hatte den Zustand völliger Erschöpfung überwunden. Er funktionierte nur noch basierend auf seinem Willen. „Ich muss noch ein Versprechen einlösen. Bringst du mich zu Penny?“ Wortlos erhob sich Lulanivilay und ließ seinen Drachenreiter aufsteigen. „Mimoun? Ich gehe zu Penny. Sie braucht mich.“
 

Beim Klang seines Namens sah Mimoun kurz auf. Mit einem abgehackten Nicken zeigte er an, dass er verstanden hatte. „Grüß sie schön von mir. Ich behalte derweil hier alles im Blick.“ Der Geflügelte wandte sich wieder ab und setzte seinen ziellosen Weg durch die Menschenmenge fort. Jeder war mit einer Aufgabe betraut und wusste, was er zu tun hatte. Und sie waren zu erschöpft von der langen Nacht, um derzeit für Reibereien zu sorgen. Immer wieder sah Mimoun kurz bei Jayan vorbei. Aber auch das war unnötig, gab es doch nun auch Asam, der ihm als Bezugsperson und Anker helfen konnte.

Es waren aus dem Schloss auch eine Handvoll Kleinkinder gerettet worden, von deren Wohlergehen sich der Drachenreiter auf seinem Weg überzeugte. Die überlebenden Zirkelmitglieder waren die einzigen, die derzeit so etwas wie Anspruch auf die Kinder erhoben. Keine der Mütter hatte sich gemeldet. Was hatte er auch anderes erwartet. Und dem Zirkel würde er sie nicht überlassen. Sie sollten nicht jetzt noch von Hass vergiftet werden.

Schlussendlich führte ihn sein Weg zu der Stelle, die er bisher gemieden hatte. Xairas Leichnam war in eine Decke gehüllt worden. Neben ihr lagen noch weitere Opfer der Katastrophe. Magier, Geflügelte, Halblinge. Kein Rassenunterschied mehr im Tod. Juuro saß noch immer neben seiner Freundin, Keithlyn auf seinem Schoss. Das Mädchen schlief. Die geröteten Wangen zeugten davon, dass sie sich in den Schlaf geweint hatte. Volta war nirgends zu entdecken.

Leise ließ sich Mimoun neben ihm nieder und sah auf die Bündel. „Eine friedliche Lösung. Was waren wir doch für Narren.“ Er zog die Knie an und bettete sein Kinn darauf. „Narren.“

„Es war ihr Wille, hierher zu kommen. Sie wusste, worauf sie sich einließ. So wie jeder von uns.“

„Volta?“

„Weggerannt. Seine Schwester ist unter den Toten. Ich weiß nicht, wo er gerade steckt.“

Es vergingen Minuten des Schweigens, bevor Mimoun wieder seine Stimme erhob. „Es tut mir Leid.“

„Ja. Mir auch.“ Damit war alles gesagt. Es mussten keine weiteren Worte gesprochen werden. Die beiden Männer saßen schweigend da und hielten Wacht.
 

Währenddessen landete Dhaôma bei Penny im Garten. Freundlich wurde er von ihr begrüßt, das Dienstmädchen wurde sogar ein wenig rot, als sie meinte, dass es wohl noch ein wenig länger dauern würde. Beinahe war Dhaôma erleichtert. Es war zu viel passiert heute, um noch weitere Katastrophen zu verkraften. Jokun flog ihm in die Arme und zog ihn zu Lulanivilay, der sich zusammengerollt hatte, um ein wenig zu schlafen. Konsequent ignorierte er das Kind.

Als auch Palil begann, aufzutauen, schob die Mutter einen Riegel davor.

„Lasst Dhaôma bitte ein wenig ausruhen. Er sieht sehr erschöpft aus.“ Und mit einem schelmischen Grinsen hielt sie ihm einen Becher warme Milch entgegen und schickte ihn in ein Zimmer, in dem ein kleines Bett stand. Unschlüssig sah er darauf. Einen Moment darauf liegen, ausruhen, bevor er zurückflog, konnte sicher nicht schaden. Kaum berührte sein Kopf das Kissen, war er auch schon eingeschlafen.
 

Einige Zeit später wurde er von Filwen geweckt. Sie legte den Finger an die Lippen und deutete neben ihn, wo Palil tief und selig schlief. Lautlos winkte sie ihn mit sich. Erst als sie draußen waren, teilte sie ihm mit, dass die Wehen eingesetzt hatten. Genahn war inzwischen auch da und ging allen auf die Nerven, Jokun hockte bleich und verängstigt auf einem Stuhl vor dem Zimmer.

Im Grunde war seine Hilfe kaum nötig. Die Behandlung am Vortag hatte dafür gesorgt, dass der Schwangeren genügend Kraft blieb, um die Geburt ganz alleine zu bewältigen, aber dennoch war sie dankbar, dass er die Schmerzen ein wenig linderte. Zweieinhalb Stunden später hielt Penny das Neugeborene im Arm und strahlte eine so innige Zufriedenheit aus, dass Genahn gar nicht anders konnte als weinen. Die beiden handelten einen Pakt aus. Genahn gab dem kleinen Mädchen den Namen Relaia, was in etwa die Bedeutung ‚Erste’ hatte, und Penny durfte dem Drachenkind ihren Namen geben. Sie wurde liebevoll Kalanij getauft: Felsentaube. Seitdem sie aus den Mauern des Schlosses zurückgekehrt war, hatte sie kurze, lederne Schwingen offenbart, die aussahen, als wären sie aus Stein. Lange konnte sie damit sicher nicht fliegen, aber es war zweckmäßig und sie konnten ja auch noch etwas wachsen. Kalanij liebte die Kinder vom ersten Augenblick an. Wenn sie nicht bei Genahn war, dann kletterte sie auf den Jungen herum oder warf neugierige Blicke auf Relaia, bis diese sich bewegte. Diese Familie war ein herziges Bild. Es war wirklich schade, dass Radarr der Szene nicht beiwohnen konnte.

Kurz vor dem Abend erreichte ihn ein Ruf von Tyiasur, dass die Prozession eingetroffen war. Unwillig machte er sich auf den Weg. Im Grunde wäre er lieber dort geblieben, wo die Atmosphäre stimmte, wo niemand jemandem etwas Böses wollte, aber er wurde gebraucht. Er konnte sich der Verantwortung nicht entziehen. Zusammen mit Genahn flog er den Wanderern entgegen.
 

Eine leise Stimme rief seinen Namen, mehrfach. Störend wurde es erst, als jemand an seiner Schulter rüttelte. Widerwillig schlug Mimoun die Augen auf. Keithlyn saß vor ihm, noch bleicher als sonst. Es dauerte einen Moment, bis der Geflügelte die Reste des Alptraums abschütteln konnte. Als er sich jedoch aufsetzte und umsah, musste er mit Erschrecken feststellen, dass es kein Alptraum gewesen war. Stöhnend vergrub er seine Finger in seiner Kopfhaut.

„Hier, trink etwas.“

Mimoun sah zu dem Mädchen auf und ignorierte den Becher in ihrer Hand völlig. Seine Finger glitten höher und strichen ihr über die Schläfe und die Haare. Man konnte sehen, wie sich dieses Kind zusammenriss. An dem schmerzlichen Lächeln, dem gesenkten Blick und den zitternden Händen. Als Mimoun sie in den Arm ziehen wollte, stieß sie ihn grob von sich. Der Becher entglitt ihren Händen und sein Inhalt ergoss sich auf den Boden.

„Die restliche Prozession ist in der Stadt angekommen.“ Ihre Finger lagen noch immer auf seiner Brust. Als sich seine über ihre legten, zog das Mädchen sie zurück. Hektisch wischte sie sich über die Augen. „Du solltest sie begrüßen gehen. Ich hol dir neues Wasser und was zu essen.“ Damit war Keithlyn aufgesprungen und eilte davon.

Mit einem Seufzen sah Mimoun ihr nach. Dann erst ging ihm auf, dass etwas nicht so war, wie vor seinem Einschlafen. Er lag nicht mehr auf freiem Feld, sondern im Schatten eines großen Baumes, der sich ein wenig vom Schloss entfernt verankert hatte. Tyiasur saß neben ihm im Gras und sah wortlos zu ihm auf. Jayan saß ebenfalls unter diesem Baum und sah auf die Menschen, die nicht mehr so zahlreich hier vertreten waren.

„Wie geht es dir?“, fragte Mimoun nach einigen Minuten des Schweigens. Jayan sah weiter geradeaus und fast schien es, als würde er nicht antworten wollen.

„Als du zurückgelehrt bist, mit gebrochenen Schwingen, da hat dich jeder bemitleidet. Jeder versuchte sich vorzustellen, wie es sei, nie mehr fliegen zu können. Und doch war das immer etwas, was sich unser Verstand wirklich zu begreifen weigerte. Jetzt kann ich es. Ich kenne nun die ungestillte Sehnsucht nach dem Wind und dem Himmel.“ Jayans Blick glitt nach oben zu den rauschenden Blättern und seine Hand streckte sich, als könne sie den Wind einfangen.

„Wir haben hier so viele fähige Heiler. Sie werden dir sicher helfen können, wenn du sie lässt.“ Ein Nicken war alles, was als Antwort kam. „Kommst du mit? Keithlyn hat Recht. Als Drachenreiter sollte ich sie hier begrüßen und gucken, dass sie keine Dummheiten machen.“ Mit diesen Worten erhob sich Mimoun bereits und sah erwartungsvoll zu seinem Schwager.
 

Es war ein gewaltiger Anblick, wie sich all die Friedensdemonstranten in die Hauptstadt ergossen. Sie wurden mit Jubel begrüßt, mit Blumen, Essen und Getränken. Hanebito wie Jagmarr wurden empfangen, es wurde geklatscht und gesungen. Die Barden spielten ihre Lieder und wie ein Lauffeuer verbreiteten sich unter ihnen die Neuigkeiten über das Schloss der Halblinge. Von oben hatte Dhaôma ein wenig den Eindruck, es handele sich um ein gigantisches Straßenfest, und als er mit dem Anführer der Armee inmitten der Menschen landete, war die Welle an Freudenrufen größer denn je. Wie Xaira ihm geraten hatte, machte er gute Miene zum bösen Spiel, ließ sie jubeln und ihn feiern und verheimlichte ihnen, dass er auf ganzer Linie versagt hatte, als es darum ging, sein Ziel in vollem Umfang zu erreichen. Er ließ sie feiern, damit aus dem friedlichen Miteinander keine von Unmut gestörte Situation wurde.
 

Wider Erwarten erhob Jayan sich tatsächlich und begleitete Mimoun den Schlossberg hinunter. Seine Augen wurden groß, als er sah, dass noch immer Menschen aus dem nahen Wald quollen und sich auf die Hauptstadt zu bewegten.

„Was zum…?“

Mimoun grinste. „Sie alle wünschen den Frieden. Begonnen hat der Zug mit lausigen 900 Menschen. Ich hab völlig den Überblick verloren, wo wir aufgehört haben. Kommst du mit da rein?“ Der Schritt rückwärts war Antwort genug. Mimoun nickte verstehend. Zu eng, zu viele Menschen und keine Chance, Berührungen auszuweichen. „Genieß trotzdem das Schauspiel. Solche Menschenmassen sind was Einmaliges.“ Damit erhob er sich in die Luft.

Lulanivilay war einfach auszumachen. Mit seiner ihm eigenen Selbstverständlichkeit ließ er sich dort vom Himmel fallen und wurde ebenso herzlich begrüßt und gefeiert, wie die beiden anderen Drachenreiter. Es war schon seltsam, nicht mehr einzigartig zu sein.

Bei dem Lärmpegel war es schwierig, sich zu unterhalten, aber dennoch fragte er nach Pennys Zustand. Es war beruhigend zu hören, dass zumindest etwas gut gegangen war.

„Das wird wieder eine lange Nacht.“, stellte Mimoun schlussendlich fest. Der Zirkel war besiegt, der Krieg vorbei. Die Menschen feierten. Wer wollte es ihnen verübeln?
 

Nach einiger Zeit, in der Dhaôma sich das Spiel gefallen ließ, machte er sich aus dem Staub. Noch immer konnte er große Massen an Menschen nicht leiden, das Chaos wuchs ihm über den Kopf und die Anstrengung, seine Magie zu kontrollieren, wurde übermächtig. Genahn und Asam lachten ihn dafür aus, aber er war sehr froh, als er sich auf einem mächtigen Baum, der die ehemaligen Schlossmauern stützte, niederließ. Sein Drachenfreund war mit den Worten, er hätte Hunger, fort geflogen. Wahrscheinlich ging er auf die Jagd. Ein wenig Magie und er hatte eine bequeme, moosbewachsene Fläche, auf der er liegen konnte. Erschöpft schloss er die Augen. In diesem Moment wünschte er sich weit fort, zurück auf die Ebene unter den Inseln, wo man wochenlang laufen konnte, ohne einer Menschenseele zu begegnen, zurück auf die Insel der Drachen, wo jeder seinen eigenen Weg ging, ohne ihn zu beachten, zurück auf Addars Insel, wo seine kleine Tochter wahrscheinlich gerade jeden in den Wahnsinn trieb.
 

Mimoun hielt länger durch, auch wenn ihm eigentlich nicht der Sinn nach Feiern stand. Ja. Es herrschte nun Frieden, es drohte keine Gefahr mehr. Und doch hatte der Sieg einen schalen Beigeschmack.

Schließlich überließ er das Feld komplett denen, die nun für alles Weitere zuständig sein würden. Die Drachenreiter hatten den Frieden gebracht und sie würden weiter darüber wachen, wenn es nötig sein musste, aber nun war es das einfache Volk, das seinen Teil zu tun hatte.

Dhaôma zu finden, gestaltete sich als so schwierig, dass der Geflügelte schließlich auf die Hilfe seines Drachens zurückgriff. Nachdenklich betrachtete er den Baum. Es war lange her, dass er auf einen geklettert war. Nun testete er seine alten Fähigkeiten.

„Wie geht es dir?“, wollte er leise wissen. Falls Dhaôma schlafen sollte, wollte er ihn nicht wecken.
 

„Ich bin unversehrt.“, sagte Dhaôma leise, dann streckte er die Hand in die ungefähre Richtung, aus der die Stimme kam. Seine Augen waren so schwer, dass er sie kaum zu öffnen fähig war. So ließ er sie einfach zu. „Aber ich bin schrecklich müde.“
 

Das war nicht das, was er wissen wollte. Na egal. „Dann solltest du schlafen.“ Er berührte sanft die Hand und verrenkte sich fast, gefolgt von einem Beinaheabsturz, um einen Kuss darauf zu setzen. Besser er setzte sich ebenfalls auf den Ast anstatt hier herumzuturnen. Nach einigem Ruckeln hatte er sich bequem hingesetzt, den Stamm im Rücken. „Ich bleibe hier und pass auf, dass dich keiner stört.“ Er selbst würde jetzt einige Stunden nicht schlafen können, schließlich war er erst vor kurzem geweckt worden.
 

„Hmhm.“ Dhaôma rückte noch ein wenig näher, so dass er Mimoun berühren konnte. Es dauerte nicht lange, bis er einschlief. Die Wärme seines Geliebten hatte ihm wirklich gefehlt in der letzten Schlafphase. Sie tröstete ihn über den Verlust Xairas hinweg, über die Verzweiflung, dass so viele gestorben waren, und über die Sehnsucht nach einem Ort, an dem er sich wohler fühlte als in dieser Stadt.
 

„Träum schön.“, flüsterte Mimoun in Dhaômas Ohr. Sanft streichelte er die Haare, ließ sie immer wieder durch seine Finger gleiten. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem Lärmen in der Stadt. Es klang so weit weg und irreal. Und doch hatte es etwas Tröstendes. Es war vorbei. Es war endlich vorbei und Dhaôma war wieder frei. Keine Versprechen, die er einzulösen hatte, sah man von einigen Besuchsversprechen ab.

Nur kurz sah Mimoun auf, als ein Rumpeln davon kündete, dass Lulanivilay angetrottet kam und sich unter dem Baum zusammenrollte. Wenn Mimoun sich streckte, konnte er einen Flügel des Freundes mit dem Fuß berühren.

Mit gedankenverlorenem Blick schaute er auf das überwucherte Schloss, das eingestürzte Kellergewölbe, den nahezu menschenleeren Hof. So wenig Zeit vergangen. Nicht einmal ein Tag. Und doch so schwerwiegende Veränderungen. Mimoun sah durch das dichte Blätterdach in die Nacht und begann leise Melodien zu summen, während er unablässig braune Haare streichelte.

Irgendwie hatte der Drachenreiter erwartet, dass der nächste Morgen langsam und ruhig begonnen wurde, ließ der Geräuschpegel doch auf eine wirklich lange Nacht schließen, doch schon kurz nach Sonnenaufgang streunten die Ersten wieder über das alte Schlossgelände.

Mit leichtem Amüsement beobachtete Mimoun den kleinen Jungen, der ein großes Tablett balancierte. Sein Weg war nicht zielgerichtet, war das Ding doch so unhandlich und durch die Lebensmittel und das Wasser darauf so schwer, dass er von links nach rechts wankte. „Das soll ich euch bringen.“ Ehrfürchtig aber auch stolz auf diese Aufgabe sah der Kleine zu den Drachenreitern auf.
 

„Das ist zu wenig.“, erklang es dicht neben dem Jungen und dieser zuckte zusammen. Beinahe hätte er seine wertvolle Last verloren. Unter seiner Scham wurden seine Wangen leuchtend rot und Dhaôma vermutete, dass es Lulanivilay richtiggehend Spaß machte, ihn zu ärgern. Der massige Körper stemmte sich in die Höhe. „Ich suche selbst was.“ Damit verschwand der Drache in der Burgruine. Vermutlich gab es dort genügend Dinge, die er essen konnte.

„Vielen Dank.“, richtete Dhaôma inzwischen seine Aufmerksamkeit auf den Jungen. „Sehr aufmerksam.“

Die Wangen versuchten gleich noch mal die nächste Rotstufe, als er gewichtig die Brust schwellte und anfügte, dass sie von Genahn und Asam Maral erwartet wurden. Sie wollten ihnen jemanden vorstellen.

Auffordernd streckte der Braunhaarige seinem Geliebten die Arme entgegen und sah ihn bittend an. „Trägst du mich runter oder muss ich klettern?“
 

Da bedurfte es keiner Antwort. Mit leicht umständlichen Bewegungen stemmte sich Mimoun in die Höhe, zog Dhaôma an sich und ließ sich seitwärts vom Baum kippen. Unten angekommen, nahm er dem Jungen das Tablett ab und strahlte ihn an. „Vielen Dank für das Frühstück. Richte ihnen bitte aus, dass wir kommen, sobald wir etwas gegessen haben.“

Von seiner Last befreit und stolz, weiter helfen zu können, nickte der Junge und flitzte davon.

„So. Und wir machen es uns hier gemütlich.“ Und damit ließ sich der Geflügelte an der Stelle, an der er stand, auf den Boden sinken und klopfte auffordernd neben sich.
 

Dhaôma kicherte leise. Ja, Mimoun war der perfekte Vater. Irgendwie motivierte er die Kinder um sich herum, sich gut zu verhalten und sie sahen zu ihm auf. Im Schneidersitz nahm er unter dem großen Baum Platz.

„So, Mimoun, was sind deine Pläne?“, wollte er wissen. „Sicher möchtest du so schnell es geht zu Silia, oder? Wenn sie danach mit uns reden, werden sie wollen, dass wir ihnen helfen. Deswegen sollten wir vorher wissen, wer was tun möchte, damit wir damit umgehen können. Ich, zum Beispiel, würde gerne die heilbaren Patienten wieder herstellen. Bei gut einem drittel kann ich die Zerstörung der Flügel umkehren, bei anderen einen großen Teil heilen.“
 

„Korrektur.“ Mimoun legte sich ins Gras und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Zwar hatte er gestern so gut wie nichts gegessen, aber sein Hunger beschränkte sich noch immer auf ein absolutes Minimum. „Ich möchte nicht so schnell wie möglich zu Silia zurück. Ich möchte Jayan und die anderen nach Hause bringen. Das geht aber nur, wenn sie wieder ein wenig zu Kräften gekommen sind. Ich wäre dir also dankbar, wenn du ihnen helfen könntest.“

Nachlässig riss er einen Grashalm aus und kaute lustlos darauf herum. Nur ein Drittel würde wieder fliegen können? Das war grausam. Er hoffte inständig, dass sein Magier sich zumindest in diesem Punkt irrte. „Meine Pläne?“ Ein tiefes Seufzen folgte der rhetorischen Frage. „Was weiß ich. Solange du mit den Verletzten beschäftigt bist, kann ich mich anderswo ein wenig nützlich machen. Klärung über den Verbleib der Gefangenen und den Umgang mit ihnen möglicherweise. In die Führung der Magier kann ich mich schlecht einmischen. Weder gehöre ich zu deinem Volk, um mir Derartiges erlauben, noch habe ich Führungsqualitäten, um mir Tipps in die Richtung leisten zu können.“ Mimoun drehte sich auf den Bauch und stützte sein Kinn ab, um Dhaôma beobachten zu können.
 

„Stell dich nicht selbst unter den Scheffel. Wer hat es denn geschafft, eine Friedensdelegation zu leiten? Warst du daran nicht genauso beteiligt wie Asam und Genahn? Und du hast mit deinen Freunden bei dir zu Hause geredet, damit sie mir eine Chance geben, nicht wahr?“ Grinsend beobachtete Dhaôma seinen Freund. Und zuckte im nächsten Moment erschrocken zusammen, als ein Teil der Burg mit Getöse zusammenfiel. Lulanivilays langer Schwanz peitschte durch den entstandenen freien Luftraum, während er selbst angestrengt zu graben versuchte. Was er da wohl trieb?

Eine andere Bewegung vom Tor aus zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Da waren die Kinder aus der Friedensprozession. Die Waisen, die hinter Keithlyn standen. Was die wohl von ihnen wollten? „Wäre das nicht eine gute Aufgabe für dich?“, fragte er leise und zeigte unauffällig zu der Horde von über 300 kleinen Magiern. „Für sie neue Orte zu finden? Meister oder Familien oder sogar Verwandte von ihnen zu suchen, um ihnen ein schöneres Leben zu schenken?“
 

Nachlässig schaute Mimoun über seine Schulter und betrachtete die Kleinen. „Wie wäre es mit behalten?“ Okay. Waren vielleicht doch ein wenig viele zur Aufsicht. Das würden sie gar nicht schaffen können. „Das würde uns aber auch lange Zeit beschäftigen. Wäre das denn okay für dich?“ Der Blick der grünen Augen glitt wieder zu seinem Magier zurück.
 

„Du willst wirklich Vater für all diese kleinen Magierkinder werden? Alle dreihundert? Ich glaube, das übersteigt all unsere Kompetenzen und Tyiasur und Vilay werden sich bedanken.“ Kichernd rappelte er sich auf und krabbelte zu Mimoun hin. Sachte hauchte er ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Eine noble Einstellung, aber Kinder brauchen Aufmerksamkeit und das sind zu viele, um ihnen das zu geben, was sie brauchen. Wenn du magst, such dir ein paar aus, die wir aufziehen, aber es ist für sie besser, wir halten es in einem angemessenen Rahmen.“
 

„Dass es ein paar zu viele sind, ist mir durchaus klar.“ Mimoun zog an seinem Schatz und sorgte dafür, dass er neben ihm lag und sich an ihn kuschelte. „Ich meinte, ein Zuhause für sie finden, dauert lange. Außerdem wäre es brutal, aus dieser Masse zu sortieren. Stell dir das nur mal vor. Wonach richtet sich die Auswahl? Und dann die Zurückgelassenen. Die Tränen, weil sie nicht auserwählt wurden. Ich fürchte, das würde nicht nur Vilays und Tyiasurs Nervenkostüm strapazieren. Also ein neues Zuhause für die Blagen suchen und für wen sich nichts Geeignetes findet, den behalten wir. Aber das bleibt erst einmal unter uns. Nicht dass sich alle weigern, irgendwo unterzukommen, nur um zum Schluss mit Drachen reisen zu können.“
 

Dhaôma lachte, dann bohrte er seine Finger zwischen die Rippen Mimouns. „Also, denkst du, das kriegst du hin? Da sind tausende Jagmarr und hunderte Hanebito, denen du ein bisschen auf die Finger gucken kannst, um passende Eltern zu finden. Oder überfordert das dein Nervenkostüm?“
 

Die Bemühungen Dhaômas quittierte er mit leichtem Lachen. „Wahrscheinlich wird es das tun. Das bedeutet nämlich, mit tausenden Menschen reden und Überzeugungsarbeit leisten. Das wird sicher nicht lustig. Aber da deine Aufgabe auch zeitaufwändig ist, wird mich das gut ausfüllen.“ Da fiel ihm wieder etwas ein. „Meinte der Kleine nicht, wir würden erwartet werden? Hast du fertig gegessen?“
 

„Nein. Wann hätte ich das tun sollen? Während ich geredet habe oder während ich mit dir kuschle?“ Inzwischen waren die Kinder beinahe da. „Also, ich nehme mit, was ich tragen kann, und wir lassen uns dorthin eskortieren. Ich denke, die sind hier, um uns abzuholen, weil wir zu lange brauchen.“ Im Aufstehen sammelte er Brot und Käse ein und drückte Mimoun eine Wurst in die Hand.

„Ihr seid peinlich. Ihr turtelt hier herum, wo alle zusehen können.“, maulte Keithlyn. Sie war noch immer blass, aber inzwischen versuchte sie, die Situation irgendwie positiv zu nutzen.

„Wir sind nur ehrlich mit unseren Gefühlen. Es tut gut, wenn man das kann, also versuche es auch einmal.“

Sie streckte ihm die Zunge raus. „Eine der Magierinnen, die schwanger ist, dreht grade durch und sie brauchen deine Hilfe, Dhaôma. Und Mimoun soll sich bei Asam melden. Der findet Genahn nicht.“
 

„Bin ich denn der Babysitter für alle?“, maulte Mimoun. War doch verständlich, dass Genahn in dieser riesigen Stadt nicht so einfach zu finden war. „Woher soll ich wissen, wo der sich aufhält.“ Kaithlyn deutete bezeichnend auf ein kleines blaues Schuppentier, das sich aufgrund der vielen Kinder auf die Schultern seines Reiters geflüchtet hatte. Er würde wohl niemals mit ihnen warm werden.

Beleidigt piekte Mimoun Tyiasur in die Seite. „Ich hoffe, du bist stolz auf dich. Die wollen nicht mich, sondern dich. Ich bin nur schmückendes Beiwerk und eine billige Ausrede.“ Wohlweislich enthielt sich der kleine Wasserdrache einer Antwort. Mimoun seufzte. „Na dann machen wir uns mal an die Arbeit.“ Auf dem Absatz machte er kehrt, zog Dhaôma in seine Arme und küsste ihn lange und intensiv.
 

Es gab Gekicher und einige der älteren pfiffen anzüglich, bis sie sich trennten. So eine freche Bande!

Ein paar Minuten später wurde Dhaôma zu einer hageren Magierin gebracht, die hysterisch auf einen Mann einkreischte, der ihr etwas zu Essen gebracht hatte. Die Szene, die sich vor ihm entfaltete, erschütterte den Braunhaarigen zutiefst.

Sie machte den Magiern für ihre Rettung Vorwürfe. Sie wäre dort glücklich gewesen, denn sie hatte hervorragendes Essen und bequeme Möbel gehabt, sie wäre besser gewesen als die anderen, weil sie fünf Kinder geboren hatte, ein echter Rekord unter den Müttern. Und nun war sie nichts mehr wert, weil bei den Magiern nichts weiter als eine rechtlose, verabscheuungswürdige Jagmarr war, von allen verachtet, weil sie diesen Monstern Monsterkinder geboren hatte. Sie ging sogar auf Dhaôma los, als dieser versuchte, sie zu beruhigen, so dass er sich mit Wind schützen musste. Die Folge war ein Zusammenbruch und haltloses Schluchzen. Der Stress war mit Sicherheit nicht gut für sie, denn sie hatte es nicht mehr lange bis zur Niederkunft. Und es sah auch nicht so aus, als würde sie das Kind dann noch wollen.

Ratlos sah Dhaôma auf und wusste sofort, was ihren Anfall ausgelöst hatte. Die Umstehenden sahen alle mit einem gewissen Ekel auf sie herab. Wieso waren sie alle so dumm?

Eine beiläufige Bewegung ließ die Gespräche um sie herum hinter einer tonundurchlässigen Barriere aus Wind erlöschen. Behutsam ließ sich Dhaôma ihr gegenüber in den Schneidersitz sinken. „Vergiss die da draußen.“, sagte er ruhig. „Ich finde dich nicht verabscheuungs-würdig. Du hast eine schreckliche Zeit durchgemacht, etwas, das sich diese Leute gar nicht vorstellen können. Sie haben dir so viel genommen und wie es aussieht, auch deinen Stolz. Aber der muss nicht für immer verloren sein. Du hast es geschafft, diese Hölle zu überleben. Trage das Wissen an dein Überleben stolz vor dir her. Du kannst darauf stolz sein, dass du nicht zerbrochen bist.“ Er lächelte. „Um dich herum ist Luft und Licht und Wärme. Du kannst den Himmel wieder sehen. Hier sind freundliche Herzen am Werk, die versuchen, den Krieg zu beenden und Frieden und Gleichberechtigung zu schaffen. Es dauert wahrscheinlich noch einige Zeit, bis das in alle Köpfe gesunken ist, bis alle verstehen, was hier entsteht, und es wird mit Sicherheit genauso lange oder sogar länger dauern, bis du alles verarbeitet hast, was passiert ist, aber irgendwann wirst du darüber stehen. Wenn du dich nicht für minderwertig hältst, dann kannst du auf Augenhöhe mit denen reden, die dich umgeben. Du brauchst nur ein bisschen Vertrauen haben. In dich und in deine Stärken.“

Ihr Lachen war selbstverachtend und kalt. „Du hast gut reden. Ich bin ein Krüppel. Ein magischer und ein körperlicher Krüppel! Was soll ich…“ Sie zuckte zurück, als ein Funke zwischen ihren Fingern übersprang. Fassungslosigkeit, Freude und Unglaube wechselten sich ab, bevor sie einen größeren Blitz erzeugte, den sie in den Boden schickte. Ihre braunen Augen richteten sich auf Dhaôma. „Warst du das? Hast du mir meine Magie zurückgegeben?“

Aber Dhaôma schüttelte mit dem Kopf. „Nein. Das kannst nur du allein gewesen sein.“

„Ich bin also geheilt?“

„Ja. Bist du damit einverstanden, wenn ich auch deinen Körper heile?“

„Das kannst du, nicht? Ja, ich sehe die Linien.“ Ihre Finger berührten seine Haut und plötzlich schwammen ihre Augen in Tränen, während sie gleichzeitig lachte. „Bitte. Mach mich gesund.“

Kaum hatte sie es ausgesprochen, begannen Dhaômas Linien zu leuchten. Seine Hand berührte ihre und schickte Energie in ihren Körper, der langsam zusammenwuchs und regenerierte. Ihr fehlte ein Finger, den er nicht zurückholen konnte, aber als er schließlich seine Magie zurücknahm, strahlte ihre Haut wieder gesund und rosig. Sie war hübsch. Sicher war sie einst ein begehrtes Fräulein gewesen. Jetzt war sie über dreißig.

„Was wirst du jetzt tun?“

Sie zitterte, als er diese Frage stellte. Ihre Augen richteten sich auf ihre Hände, die sie zuvor noch glücklich bewundert hatte. „Ich weiß es nicht.“, flüsterte sie unentschlossen. „Es hat sich so Vieles verändert und…“

Sachte schüttelte der Braunhaarige den Kopf. „Dann lass dir Zeit, darüber nachzudenken. Du findest deinen Weg. Ob bei den Hanebito, den Magiern oder vielleicht ganz woanders. Vielleicht wirst du ja doch die Mutter deines Kindes.“ Ihr Gesicht verzog sich angewidert, wurde aber erstaunt, als Dhaôma gar nicht angeekelt aussah, sondern weich lächelte. Letztendlich sagte er traurig: „Meine beste Freundin war ein Halbling.“, erklärte er. „Sie ist gestorben, als wir euch befreit haben. Irgendwie ist sie zwischen die Fronten geraten, obwohl sie mit den Bösen aus dem Schloss gar nichts zu tun hatte.“ Als er aufsah, waren seine Augen emotionsgeladen. „Es ist nicht ihr Erbe, das die Halblinge böse macht.“, erklärte er. „Es ist ihre Erziehung. Mit der richtigen Liebe wird aus dem Kind ein normaler Mensch, der ein schönes Leben führen kann. Wie Xaira oder Moira oder Volta.“

Sprachlos sah sie ihn an, dann nickte sie. „Ich denke darüber nach, was ich möchte.“, versprach sie. „Ich kann dir trotzdem nicht versprechen, dass ich dieses…“ Sie schluckte das Wort Monster mühsam herunter. „…Kind lieben werde.“

„Keiner verlangt das von dir. Hauptsache, du wirst erstmal gesund.“

Als er zu Asam ging, versuchte er alle negativen Gedanken und Gefühle aus seinem Kopf und Herzen zu verbannen. Wut, Hass, Enttäuschung, Trauer, nichts ließ er gelten, zeigte nur Zuversicht auf seinem Gesicht. Es sollte endlich alles gut werden. Langsam sollte er beginnen, die Opfer zu heilen. Aber wenn sie alle so anstrengend waren wie diese Frau, dann würde das viel länger dauern, als er gedacht hatte.

Heimkehr

Kapitel 78

Heimkehr
 

Nachdem er von Dhaôma abgelassen hatte, zog er auch Keithlyn kurz in seine Arme, ohne auf ihren ohnehin schwachen Widerstand zu achten, und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. Tyiasur hatte ihm mittlerweile übermittelt, wo sich Genahn befand und Mimoun verabschiedete sich. „Wir sehen uns später. Rennt nicht zu weit weg. Ich bin bald wieder zurück.“ Mit diesen Worten schwang er sich in die Luft. Zu Fuß hätte es gefühlt ewig gedauert. Noch länger, wenn die Kleinen tatsächlich Eskorte spielen wollten. Sollten sie das ruhig bei dem Heiler machen.

Als er in dem weitläufigen Garten landete, in dem noch immer die Leuchtblumen zu sehen waren, nahm sich Mimoun, im Gegensatz zu seiner ersten nächtlichen Landung hier, die Muße sich umzusehen. Hier und da fehlten kleine Flächen in dem Blütenmeer, so als wenn jemand gezielt diesen Bereich abgerupft hätte. Nahezu fassungslos glitt sein Blick weiter über dieses gigantische Gebäude. Tyiasur erklärte ihm, wo er sich befand. Das hatte ihn damals nicht interessiert. Nun verstand er aber auch, wie ein kleines Kind in diesem Haus völlig ungesehen bleiben konnte. Es war einfach zu weitläufig.

„Was treibt dich denn hierher?“

Mimoun drehte sich um und betrachtete Genahn, zwischen dessen Füßen ein kleiner Drache und ein kleines Kind herumwuselten und anscheinend Fangen spielten. „Asam hat Sehnsucht nach dir. Er hat dich schon überall verzweifelt suchen lassen.“, gab Mimoun maulig von sich. Das Wissen um die Geschichten in diesen Gemäuern ließen seine Stimmung sinken.

„Und du hast mich gefunden.“, vermutete der Magier amüsiert.

„Nein. Aufgrund meiner Fähigkeiten wurde ich zum Boten degradiert.“ Mimoun seufzte einmal abgrundtief. „Und nein. Ich weiß auch nicht, was er will. Zwar hat er auch mich rufen lassen, aber nur wenige Minuten später kam die zweite Mitteilung, dass du gesucht wirst. Wahrscheinlich galt der erste Ruf auch nur der Suche nach dir.“

Mit einem noch immer amüsierten Grinsen verschwand der Magier in der kleinen Hütte. Wenige Minuten später kam er in Begleitung seiner Schwester wieder heraus. Penny hatte sich den Säugling mit einem Tuch vor die Brust gebunden, ihren Ältesten an der Hand.

„Ich habe entschlossen einen Spaziergang zu machen.“, erklärte sie auf Mimouns verdutzten Blick hin. „Wenn du damit einverstanden bist, dass wir euch begleiten.“

„Warum sollte ich etwas dagegen haben?“, wehrte Mimoun ab und lächelte. „Ich freu mich immer über angenehme Gesellschaft.“

Gemeinsam machte sich die kleine Gruppe auf den Weg in die Stadt. Der Erddrache wuselte vor ihnen, neben ihnen, war nicht still zu kriegen in seiner kindlichen Neugier. Und Palil rannte lange Zeit schier unerschöpflich hinter dem Schuppentier her. Als er dann vor Erschöpfung auf den Arm seiner Mutter wollte, musste der Onkel eingreifen und den Kleinen tragen.

Die Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegneten, machten ihnen respektvoll Platz. Mimoun spürte die bewundernden Blicke, die ihnen folgten, hörte das Getuschel. Plötzlich rannte ein kleines Mädchen auf die Gruppe zu, die Hände hinter ihrem Rücken verborgen. Als sie vor dem Geflügelten stoppte, entblößte ihr breites Lächeln so einige Zahnlücken. Mit Schwung brachte sie einen Strauß Löwenzahnblüten zum Vorschein.

„Danke, dass ihr hier seid.“

Mit einem milden Lächeln ließ er sich auf ein Knie nieder, nahm den Strauß an und wuschelte ihr kurz durch das rötliche Haar. „Ich freu mich auch, hier zu sein. Danke.“

Genahn lachte. „Hübsche kleine Freundin hast du da.“

Das Kind zupfte aus dem Strauß in Mimouns Hand eine Blüte heraus und hielt sie Tyiasur hin. „Dir auch Danke.“

Wenn Mimoun es nicht besser wüsste, würde er behaupten die Färbung der Schuppen wurde eine Spur dunkler, als der Wasserdrache nun auch eine Blüte in der Klaue hielt.

Mit einem hellen Lachen wandte sie sich um und verschwand zwischen den Menschen.

Damit schien aber auch der Bann gebrochen. Immer wieder trafen sie auf ihrem Weg auf freundliche Menschen, die ein paar Worte mit ihnen wechselten. Es grenzte fast an einen Spießrutenlauf.

„Ich hab Blumen geschenkt bekommen.“, präsentierte Mimoun stolz, als sie endlich bei dem ankamen, der schon vor Stunden nach ihnen gerufen hatte.
 

Asam sah von seiner Liste auf und besah sich den Strauß Löwenzahn in Mimouns Händen, dann die in Genahns, Pennys und Jokuns. Offenbar hatten sie es ein wenig zu gut gemeint mit den Blumen, so dass Mimoun Hilfe beim Tragen gebraucht hatte. Seine Lippen verzogen sich zu einem feixenden Grinsen. „Da hat er ein Blumenkind bei der Hand und trotzdem lässt er sich immer mehr davon schenken.“, stänkerte er.

Schräg hinter ihm begann Dhaôma verhalten zu lachen. War doch schön zu wissen, dass Mimoun von den Magiern so rückhaltlos akzeptiert worden war. Seit er zurück war, kümmerte er sich um einen geflügelten Häftling. Es war sein erster Versuch, die Flügel wieder geradezubiegen und weil es schon nach wenigen Minuten unheimlich Kräfte zehrend war, hatte er beschlossen, es direkt auf dem Platz zu machen, weil es da nicht so auffiel, wenn er Magie von anderen stahl.

„Also. Schön, dass ihr auch endlich da seid. Ich bin gerade dabei, eine Art Problemliste zu erstellen und ich komme nicht so recht weiter, weil hier einige rumfaulenzen oder lieber Babys betatschen.“ Die harten Worte hatten einen so belustigten Unterton, dass Genahn mit den Augen rollte.

„Schon verstanden. Penny, gib ihm die Kleine mal. Er vermisst vermutlich seine Töchter und bevor er vor Neid vergeht, lass ihn Relaia mal halten.“
 

„Ich habe dich gewarnt.“, lachte Mimoun. „Bleib bei deiner Familie.“

Während sich Penny von dem Tragetuch befreite, begann der geflügelte Drachenreiter damit, kleine Sträußchen an alle Anwesenden zu verteilen, angefangen bei dem jungen Ratsmitglied, über die anwesenden Geflügelten und Magier und machte selbst vor Kaley nicht Halt. Man sah deutlich die Gute-Miene-zum-bösen-Spiel-Einstellung. Mimoun brauchte gar nicht hinsehen, um zu wissen, dass der Veteran die Blumen sofort an jemand anderen weiterreichte. Als er mit seiner Runde fertig war, hatte Asam den Säugling auf dem Arm und Genahn die Liste in der Hand. Mimoun gesellte sich dazu und sah dem Magier über die Schulter. Vermerkt war eine Verhandlung und Urteilssprechung für die Zirkelmitglieder, eine Organisation der Heimreise für alle ehemaligen Gefangenen, das Ausarbeiten von Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Frieden. Klang doch für den Anfang nicht schlecht.
 

Während sich die Anführer mit Sprechern der Magier und Geflügelten auseinandersetzten, behandelte Dhaôma weiter die Opfer der Halblinge. Am Abend endlich kam Jayan auf ihn zu. Der Mann hatte sichtlich damit zu kämpfen, in der Nähe von Menschen zu sein, und es war gewiss eine schreckliche Überwindung für ihn, ins Zentrum des Trubels zu gehen. Nervös fuhr er sich mehrfach durch die Haare, trat von einem Bein auf das andere und sah sich immer wieder gehetzt um. Verständnisvoll stand Dhaôma auf.

„Lass uns ein wenig abseits gehen.“, schlug er vor und bemerkte schmerzlich die Erleichterung. Es würde dauern, bis er das verarbeitete und ablegte.

Unter dem Baum, in dem er und Mimoun übernachtet hatten, blieben sie schließlich stehen. Lulanivilay lag dort und schlief in einem Feld von Ringelblumen und Fetthenne. Seine Schwanzspitze schlug im Traum leicht und liebevoll betrachtete Dhaôma ihn.

„Ich wollte fragen, ob du meine Flügel auch heilen kannst.“, kam der Hanebito gleich auf den Punkt. Er wirkte so unsicher. „Ich sehe, dass du es bei anderen probierst. Und du hast Mimoun geheilt.“

Ja, Mimoun hatte das Gefühl fürs Fliegen nicht verloren. Dennoch nickte Dhaôma. „Natürlich. Ich werde es versuchen. Aber es wird dauern. Wahrscheinlich mehrere Stunden, vielleicht Tage. Es sind alte Wunden, deshalb wäre es äußerst Schmerzhaft, wenn ich zu schnell vorgehen würde.“

Der Blick aus grünen Augen war dunkel und entschlossen. „Es ist egal, ob es wehtut oder lange dauert. Hauptsache, ich kann wieder frei sein.“

Irgendwas war hinter den Worten, eine Schwingung, die Dhaôma nicht gefiel und leicht an Wahnsinn erinnerte, aber er nickte dennoch. „Ich fange gleich an.“, sagte er. „Setz dich.“

Unter seinen Händen war die Haut kühl und trocken. Wie schon beim letzten Mal spürte er den Verletzungen nach, bevor er begann, sie behutsam zu lösen. Knochen für Knochen ließ er sich ab und wieder aufbauen, ließ Sehnen und Muskeln wieder wachsen, kräftigte sie. Als das Sonnenlicht verschwand, unterbrach er die Behandlung. Es waren zu viele Leute in die Häuser gegangen, als dass er die anderen noch weiter belasten konnte. Für eine einzige Behandlung so gravierender Verletzungen, so hatte es ihm Lulanivilay gesagt, nutzte er mehr als hundert fremder Seen, bis sie leer waren. Er wollte niemandem schaden.

„Geht es dir besser?“, fragte er, als er die Hände zurückgezogen hatte. Mit der Zeit hatte sich der Mann völlig entspannt. Jetzt nickte er.

„Du hast warme Hände.“, sagte er leise. „Hände, die es zulassen, dass ich ihnen vertraue.“

Weich lächelte der Braunhaarige. „Ich bin noch nicht fertig. Wir machen weiter, sobald ich mich ausgeruht habe.“

„Du bist mächtiger als früher.“, bemerkte Jayan. „Du warst ohnmächtig, als du Leoni geheilt hast, heute hast du mehrere Behandlungen getätigt, die weit mehr Kraft benötigen.“

Dhaôma nickte nur. „Es ist viel passiert seit damals.“

„Sehr viel.“, stimmte er zu, dann machten sie sich auf den Weg, um etwas zu Essen zu bekommen.
 

Gegen Abend löste sich Mimoun von seiner Aufgabe. Lange hatte er es bei den Anführern und Redenschwingern nicht ausgehalten. Er setzte lieber den Vorschlag Dhaômas in die Tat um. Zusammen mit Keithlyn hatte er alle elternlosen Kinder um sich versammelt und damit begonnen sich mit jedem Einzelnen von ihnen auseinanderzusetzen. Behutsam erfragte er Namen und Herkunft und mögliche verbliebene Verwandte, die man kontaktieren konnte, oder alte Freunde, damit die Kinder in vertraute Umgebungen zurückkonnten. Bei dreihundert kleinen Gestalten eine langwierige und gewaltige Aufgabe. Es gab so viel Schmerz, die sie schon in jungen Jahren hatten erleben müssen. Jede Geschichte für sich eine Tragödie.

Am Abend war er noch nicht mit allen durch. Dennoch blies er gesammelt zum Abmarsch.

„Geht etwas Essen und legt euch schlafen. Wir treffen uns morgen wieder hier.“

Die Kinder stoben davon und auch Keithlyn verabschiedete sich. Sie brachte die Kleinsten zu ihren Unterkünften. Mimoun sah den Kindern lange und nachdenklich hinterher und begann durch die Stadt zu streunen. Fahrig fuhr er sich mit einer Hand über die Augen. Nach durchwachter Nacht und dem Tag wurde es echt Zeit, dass er sich schlafen legte. Wie erstaunt war er, als er um die Ecke bog und Dhaôma und Jayan gegenüber stand. Der müde, abgekämpfte Gesichtsausdruck wurde schnell von einem Lächeln überlagert, doch er spürte, dass es nicht lange halten würde.

„Entschuldige bitte kurz.“, wandte er sich an seinen Schwager und umarmte anschließend Dhaôma, barg sein Gesicht an dessen Hals.
 

Reflexartig legte der seine Arme um den starken Körper. Es war so selten, dass Mimoun diese Art Schwäche zeigte. Er musste richtig erschöpft sein. Kurz tastete er in ihn, um zu wissen, ob alles in Ordnung war, dann lächelte er. „Müde?“, fragte er weich und Jayan begann zu lachen. Es war das erste Mal, seit sie ihn gefunden hatten.

„Ich sehe schon. Ihr habt euch tatsächlich gefunden.“ Seine Augen glitzerten. „Jeder hat sich gefragt, wann ihr es wohl endlich schafft…“ Die Stimme versiegte für einen Moment, bevor er weiter sprach, in der er Dhaômas braunen Augen begegnete und dann wegsah. „Es ist schön, wenn man den Partner fürs Leben gefunden hat. Sie weiß es, oder? Ihr habt es ihr gesagt und es wird ihr nicht gefallen haben.“ Das Lachen wurde wehmütig, bevor es verklang. „Ich möchte sie wieder sehen.“, flüsterte er erstickt.
 

Mimoun hatte sich von Dhaôma gelöst, als sie auf das leidige Thema Silia kamen. „Es ließ sich nun mal nicht verbergen.“ Nachdenklich kaute er auf seinem Daumennagel herum. „Ich glaube, sie hatte sich schon länger mit dieser Tatsache abgefunden. Länger als wir uns selbst dessen bewusst waren. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass Silia ausfallender als sonst gewesen wäre. Und du wirst sie wieder sehen. Schon bald. Hab nur noch ein wenig Geduld.“

Man sah Jayan an, dass ihm das schwer fiel. Wehmut sprach aus seinem Blick und der unbändige Wunsch zurückzukehren. Doch der Schmerz in seinen Augen würde wohl nie völlig verschwinden.

„Ich hab Hunger.“ Es war vielleicht nicht das, was in dem Moment angebracht war. Er sollte mehr auf Jayan und seine Stimmungen und Gefühle eingehen, doch ihm war derzeit absolut nicht nach Trübsinn. Das hatte er schon den ganzen Tag gehabt. „Wer noch?“
 

„Deshalb waren wir unterwegs.“ Dhaôma nahm die Hand, dann zog er ihn mit. „Komm mit, Jayan. Je mehr Kräfte du hast, um nach Hause zu fliegen, desto eher kommst du da an.“

Motivation war alles. Sie holten sich etwas zu essen, danach kehrten sie gemeinsam zu Lulanivilays Schlafplatz zurück. Der Drache war kuschelig drauf und legte sich in Dhaômas und Mimouns Rücken und Jayan seufzte erneut.

„Ihr beide seid einfach unglaublich. Mimoun kehrt von den Toten zurück, versöhnt sich mit einem Magier, erlangt seine Flugfähigkeit wieder und so wie ihr beide es versprochen habt, habt ihr sowohl die Drachen gefunden als auch Frieden gebracht. Viele hielten euch einfach für überhebliche Dummschwätzer. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ihr es wirklich geschafft habt. Oder dass ihr mich da wirklich gefunden habt.“

„Wenn man Träume hat, kann man alles schaffen.“, bemerkte Dhaôma weich. „Solange man nicht aufgibt.“
 

Mimoun kicherte, als er an seine ersten Monate mit Dhaôma dachte. Und damit auch die beiden anderen verstanden, was so lustig war, sprach er seine Gedanken laut aus. „Selbst ich habe nichts von dem, was du gerade aufgezählt hast, für möglich gehalten. Als Dhaôma mich fand, glaubte ich nur an ein perverses Spiel, das er mit mir treiben würde. Ich glaubte nicht daran, dass ich je nach Hause kommen würde. Dass ich mit dir Freundschaft schließen könnte, war ein Unding, und je wieder frei fliegen zu können jenseits meiner Träume. Weder das Finden der Drachen noch die Erlangung von Frieden habe ich für durchführbar gehalten. Ich habe dich nur begleitet, damit du nicht mehr so einsam bist. Wenn man bedenkt wie ungläubig ich war, bin ich doch recht weit gekommen.“ Er klopfte Lulanivilay gegen die Flanke. „Ich habe mehr bekommen, als ich mir wünschen konnte.“ Mimoun lehnte sich zu Dhaôma hinüber, um ihn zu küssen.
 

Dessen Wangen hatten sich rot gefärbt. Ein Teil davon war eine Offenbarung für ihn, die er gar nicht gewusst hatte. „Du hast nicht an die Drachen geglaubt? Oder an den Frieden? Aber hast du mir nicht gesagt, dass der Frieden möglich ist, weil es in deinem Dorf geklappt hat. Und dass ich weiter suchen soll, hast du mir auch gesagt.“
 

„Anfangs.“, gestand Mimoun kleinlaut ein und zog sich reumütig wieder zurück. „Aber je länger ich mit dir unterwegs war, desto überzeugter war ich, dass du alles schaffen kannst. Sogar Unmögliches wahr machen.“
 

Sprachlos starrte Dhaôma ihn an. Er hatte immer gedacht, dass es ihrer beider Traum war, dass Mimoun ihn gezogen hatte, damit er nicht aufgab, und nun offenbarte dieser ihm, dass das nicht stimmte, dass er ihm die ganze Zeit über gefolgt war. Er war ihm gefolgt und hatte ihn bei seinem Eigensinn unterstützt. Wie oft hatte sich Mimoun zurückgestellt, um ihm freie Hand zu lassen. Und jetzt lobte er ihn dafür.

„Aiaiai.“, flüsterte er und versteckte den flammend roten Kopf in seinen Armen. Diese Situation war ihm hochgradig peinlich.
 

„Bist du mir böse?“ Der Geflügelte sah unglücklich auf seinen Geliebten. Er hatte wieder nicht nachgedacht und einfach geplappert. Und nun hockte Dhaôma hier zusammengesunken und sah ihn nicht an.
 

Der Braunhaarige schüttelte den Kopf und war trotzdem nicht in der Lage zu sprechen. In ihm kribbelte alles.

„Er geniert sich nur.“, kam ein wenig hilfreicher Kommentar von Lulanivilay, der Dhaôma noch ein wenig kleiner werden ließ. Er musste seine Gesichtsfarbe wieder unter Kontrolle kriegen.
 

Genieren? Warum das? Hatten seine Worte Dhaôma nicht verletzt, sondern verlegen gemacht? Mimouns Hand glitt vor, strich einige Haare hinter die Ohren, die trotz schwindenden Lichtes einen auffälligen Farbton aufwiesen. Seine Finger glitten tiefer, strichen an der Wange entlang und zwangen mit leichtem Druck gegen das Kinn den Kopf nach oben.

„Dhaô?“, kam die verständnislose Bitte um Erklärung.
 

„Ich…“ Dhaôma spürte, dass Mimoun nicht verstand, weswegen er sich so verhielt, aber wie sollte er erklären, dass er sich über das Lob freute, dass ihm offenbar auch Unmögliches gelang? Es klang so vermessen, das von sich selbst zu behaupten, und es stimmte auch nicht, aber er freute sich trotzdem.

„Mimoun, manchmal bist du richtig planlos.“, seufzte Jayan da, der dem ganzen Spiel mit einer Mischung aus Sympathie und Amüsement zugesehen hatte. Das rote Gesicht, die offensichtliche Freude, mit der er nicht umzugehen wusste, Mimouns Ratlosigkeit… Einfach witzig, wenn man bedachte, dass die beiden einander mal wieder nicht verstanden. „Er konnte noch nie gut mit Lob umgehen. Kann dann nicht mehr wirklich etwas sagen und stottert Unsinn. Und du möchtest eine Erklärung in dem Zustand?“
 

Wie von der Tarantel gestochen, schnellte Mimoun zurück und starrte Jayan an, bevor auch er einen gesunden Farbton annahm. Warum entstanden solche Situationen immer in Augenblicken, wo jemand anwesend war, der sich dann köstlich amüsieren konnte? Und wann bitte hatte er ein Lob ausgesprochen?

Es fiel ihm schwer, nun da er sich der Anwesenheit Jayans wieder völlig bewusst war, sich wieder Dhaôma zuzuwenden und dessen Gesicht in beide Hände zu nehmen. „Wenn man gelobt wird und sich über das Lob freut, sagt man danke.“ Da war wieder das lang vermisste Erklären von menschlichen Handlungen. Wann war das letzte Mal gewesen? Schon sehr lange her. Dhaôma hatte inzwischen viel dazugelernt.
 

Mimouns Worte machten es ihm nicht leichter, irgendetwas zu sagen. Letztendlich zog er ihn einfach in die Arme. Das sagte alles, was gesagt werden musste, dachte er. Und, wenn er ihn umarmte, konnte Mimoun sein rotes Gesicht nicht sehen. Von Jayan kam ein leises Lachen.
 

Auch Mimoun lachte. „Das werte ich dann einfach mal als danke.“
 

Es wurde ein gemütliches Beisammensitzen und Essen. Nur wurde es kurz für den geflügelten Drachenreiter. Er war einfach zu lange schon wach und bettete seinen Kopf irgendwann auf Dhaômas Schoss und schlief schon nach wenigen Minuten Gekraultwerdens ein.
 

Die nächsten Tage waren stadtweit eine Mischung aus hektischer Geschäftigkeit und neugierigem Kennen lernen. Unterschwellig blieb noch immer streckenweise Misstrauen. Vierhundert Jahre Krieg ließen sich nicht so einfach überwinden.
 

Für Dhaôma war die Zeit mental sehr anstrengend. Zusammen mit dem Heilerkind hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, die Opfer zu heilen, aber nicht alle Verletzungen waren wirklich noch reversibel. Viele waren einfach schon zu alt oder aber der Körper und der Geist hatten die Läsionen, Narben und Brüche akzeptiert. Die maßlose Enttäuschung, wenn er jenen Geflügelten erklären musste, dass er nichts mehr für sie tun konnte, war beinahe zu viel für ihn. Andererseits war der Anblick eines Geknechteten, der in den Himmel aufstieg, ein Grund für pure Freude. Jede einzelne Genesung wurde von den Hanebito gefeiert. Entgegen seiner Einschätzung konnte er weit mehr als die Hälfte aller Gefangenen wieder zum Fliegen bringen. Je mehr er mit dieser Kraft hantierte, desto flüssiger und einfacher ging es. Die psychischen Probleme dagegen waren etwas ganz anderes. Natürlich konnte er mit ihnen reden, aber es half ihnen nur bedingt, teilweise gar nicht. Obwohl so viele halfen, begingen insgesamt zehn Opfer Selbstmord. Auch das Kind, das die hagere Magierin zur Welt brachte, überlebte die ersten Stunden nicht. Dhaôma konnte der Mutter ansehen, dass sie erleichtert war.

Mehr denn je suchte er sich Hilfe bei seinen Freunden und um nicht völlig depressiv zu werden, begann er, mit den Kindern zu spielen. Er förderte ihre Fröhlichkeit damit, denn er begegnete ihnen nicht mit Mitleid. Es wurden sowieso immer weniger, denn Mimoun vermittelte sie fleißig. Sehr schwer hatte er es gar nicht, denn die Magier waren willig, den armen Kindern zu helfen. Eine Familie, die ihre Söhne im Krieg verloren hatten, nahm sogar fünf auf einmal auf, damit sie ihren Familienbetrieb weiterführen konnte.

Bis zur Mitte des Sommers brauchte Dhaôma, um alle ehemaligen Gefangen zu behandeln. Der letzte war ein junger Mann, der ihm überschwänglich dankte, denn er hatte jetzt eine Gemahlin, die er nach Hause bringen wollte: eine der Magierinnen, die mit ihm zusammen Kinder zeugen sollte, es aber nicht konnte. Sie konnte Pflanzen wachsen lassen und nachdem, was sie von den Hanebito über Dhaôma erzählt bekommen hatten, wollten sie es versuchen, sich dort oben anzusiedeln. Es stimmte den Braunhaarigen glücklich.

So wurden Vorbereitungen für die Heimreise getroffen. Drei der Kinder waren ihnen erhalten geblieben. Eines war Mimoun einfach nicht mehr von der Seite gewichen. Immer wenn er gefragt wurde, ob er mit jemandem leben wollte, hatte Troll sich nur hinter ihm versteckt. Der schwarzhaarige Junge hatte schreckliche Narben auf den Armen und Beinen und von Tyiasur erfuhren sie, dass er die von einem Magier hatte, der seiner Schwester etwas antun wollte. Sein Vertrauen in Magier war tief erschüttert und er war selbst Dhaôma gegenüber skeptisch. Das zweite war ein Halblingskind, das mit Keithlyn Freundschaft geschlossen hatte. Flore würde zusammen mit ihr und Juuro in die Steppe gehen. Das dritte Kind war vier und konnte seine Magie nicht kontrollieren. Wie bei Dhaôma oder früher bei Lulanivilay lief seine Energie einfach aus ihm heraus. Zum Glück besaß Mito keine starke Kraft, sondern ließ nur ab und zu Wasser schweben und aus dem Nichts entstehen. Häufig waren alle in seiner Umgebung nass. Tyiasur zumindest gefiel das sehr.

Es wurde so brütend heiß, dass sie schließlich beschlossen, sich auf den Weg zu machen. Die Hanebito vergingen bei diesen Temperaturen und so beschleunigte es den Aufbruch, obwohl die Drachen die Hitze sehr genossen. Vor allem Lulanivilay war aktiv wie selten. Er ging beinahe jeden Tag mehrere Stunden auf die Jagd und machte dabei keinen Unterschied, ob es domestizierte Tiere oder wilde waren, dabei hatten es ihm viele Leute bereits erklärt. Dhaôma vermutete, dass dem Drachen die eingesperrten Tiere Leid taten und er sie auf seine Weise von ihren Qualen erlöste.

Der Aufbruch war grandios. Tausende Magier versammelten sich auf dem großen Platz, um die abreisenden Hanebito zu verabschieden. Mit Dhaôma und Genahn waren es insgesamt elf Magier, die sie aus den unterschiedlichsten Gründen begleiteten. Zwei wollten die Inseln sehen, einer ein Buch über Hanebito schreiben, eine sich mit einem verbinden. In Lulanivilays Körben saßen Juuro und zwei der drei Kinder - Troll ritt auf Mimouns Rücken - und dazu Genahn. Letzterer musste zur Insel der Drachen. Seine Drachin bestand darauf und die anderen beiden Drachen nötigten ihn ebenfalls dazu. Als parteiloser Drachenreiter hatte er sich sowieso nicht einzumischen in die Friedensverhandlungen. Volta war nirgends aufzufinden gewesen, aber es hatten sie Gerüchte ereilt, die davon berichteten, dass er sich in eine bestimmte Stadt aufgemacht hatte, um ein ganz bestimmtes Mädchen wieder zu sehen.

Nach ganzen drei Monaten reden, planen und ausprobieren waren die Verhandlungen erst einmal zu einem Ende gekommen. Jetzt galt es, die Pläne in die Praxis umzusetzen und dazu musste mit den Völkern gesprochen werden. Die beiden Parteien trennten sich erst einmal. Man würde sich einmal im Monat mit Abgesandten beider Völker treffen, um neue Ideen oder Probleme zu besprechen. Dazu war die große Schlucht auserkoren worden. Als neutrale Zone und Startpunkt des Friedens erschien sie allen als der richtige Ort.

„Los!“ Dhaômas Zehen gaben dem großen Grünen das Zeichen zum Start und Lulanivilay hob unter viel Wind und Lärm ab. Wie eine schwarze Wolke folgten die Hanebito. „Wir kehren nach Hause zurück.“

„Solltest du das wirklich sagen?“, kam es von Genahn. „Immerhin ist das hier deine Geburtsstadt.“

Verständnisvoll lächelte Dhaôma, schüttelte aber den Kopf. „Meine Tochter ist an einem anderen Ort. Und mein Zuhause ist bei Mimoun. Das passt schon so.“

Genahn lachte leise und fing dann seine kleine graue Freundin wieder ein, die auch fliegen wollte, es aber einfach nicht lange genug konnte, damit sie dem riesigen Drachen folgen konnte.
 

Nach Hause. Das hörte sich gut an. Mit leicht schief gelegtem Kopf und verträumtem Lächeln lauschte er den Worten nach, ließ sie sich selbst auf der Zunge zergehen. Nach Hause. Das hieß auf die Ebenen zurückzukehren. Ihre Weite zu sehen und ihren trockenen Wind auf der Haut zu spüren.

„Halt dich gut fest.“, lachte der Geflügelte ausgelassen und hielt zusätzlich mit der Hand die Arme fest, die sich um seinen Hals geschlungen hatten. Er spürte das Nicken nur durch die Haare, die an seinem Hals kitzelten, und stieß sich ab.

Unter ihnen brandeten Jubel und Segenswünsche auf und bei einem Blick nach unten sah Mimoun, dass nicht wenige, vor allem Kinder, sich durch die Menge an Erwachsenen quetschten und die Straßen entlang hasteten, um möglichst lange hinter ihnen her winken zu können.

Da er als einer der Letzten gestartet war, nutzte er seine Fähigkeiten, um nach vorn und an die Seite Lulanivilays zu gelangen. Der Druck um seinen Hals wurde fester, was er mit leisem Lachen und beruhigenden, versichernden Worten quittierte.

Auch wenn sie nun schneller vorankamen, da sie flogen statt zu Fuß wieder dem Fluss zu folgen, so waren sie doch vergleichsweise langsam. Die Magier waren zu tragender Ballast und konnten in der Luft kaum Unterstützung geben. Die ehemaligen Gefangenen, soweit sie selbst wieder fliegen konnten, waren teilweise noch nicht kräftig genug, um wirklich weite Strecken durchzuhalten. Der Rest von ihnen musste ebenfalls getragen werden. Darum hielten sie sich wieder an den Fluss als Wegweiser. Er bot Nahrung und Abkühlung, versprach Sicherheit und Führung. Das Wasser wies ihnen den Weg zu den Ebenen, nach Hause, wie Dhaôma es so schön ausgedrückt hatte.

Die Krieger, die nicht mit Tragen beschäftigt waren, schwärmten immer wieder in kleinen Grüppchen aus und gingen völlig bedenkenlos in den Wäldern auf Jagd. Sie waren anfangs nicht sehr erfolgreich. Wie auch? Jagen inmitten von Wäldern, wo Bäume und Büsche die Sicht verdeckten, wollte gelernt sein. Hier konnten sie sich nicht von oben herab auf ihre Opfer stürzen, ohne sich die Flügel an den Ästen und Zweigen zu verletzen. Die Tage der erfolglosen Jagden füllten die Pflanzenmagier mit den Samen aus Dhaômas neuem Beutel auf. Er hatte ihn mit den Samen all der Pflanzen wieder aufgefüllt, die sich schützend und stützend in das Schloss gegraben hatten. Auch als die Jagden erfolgreicher wurden, sorgten sie für Abwechslung in ihrem Speiseplan.

Mimoun spürte sie. Die Unruhe, die ihn ergriff, als er die Grenze des Waldes erkannte, die erste einsame Insel weit in der Ferne schweben sah, die weiten Ebenen darunter schon erahnen konnte. Und diese Unruhe spürte er auch bei einem großen Teil seiner Begleiter. Unbewusst zogen sie das Tempo an. Unbewusst machte sich eine Hochstimmung unter den Geflügelten breit. Sie kehrten nach Hause zurück und brachten neben guten Nachrichten auch neue Freunde mit. Was sollte es Besseres geben?
 

Gerade Asam hatte es irgendwie eilig. Nonstop redete er über Leoni, Fiamma und Seren und wie er sie vermisste und was er alles mit ihnen machen wollte. Selbst Kaley hielt inzwischen ein wenig mehr Abstand von seinem Anführer, weil es ihm auf die Nerven ging.

Die erste Insel kam in Sicht und Lulanivilay stieg höher hinauf. Sein Misstrauen seit dem ersten Mal, dass er auf den Inseln gewesen war, bestand immer noch. Er wollte nicht gepiekt werden, meinte er, was alle zum Lachen brachte. Aber den Kindern gefiel es und so drehte Dhaôma mit allen eine große Runde, während die Geflügelten die Insel beinahe schwarz färbten, weil sie alle dort landeten. Sie war bei weitem nicht groß genug, um so viele Menschen zu fassen. Von oben sah es einfach witzig aus und alle, die keinen Platz fanden, lachten herzlich.
 

Auch Mimoun betrachtete sich das Schauspiel lieber aus der Luft. Wie im Taubenschlag, den er bei einem Magier in der Stadt gesehen hatte. Ständig erfüllte Rauschen startender Tiere die Luft und so war es auch hier. Es war einfach nur herrlich. Voll Übermut begann er in der Luft Kapriolen zu schlagen, was schnell mit spitzen Schreien quittiert wurde. Erschrocken hielt er inne, nur um mit Protestrufen belohnt zu werden. Damit war es bewiesen. Magier schrieen, sobald sie in der Luft waren.

Und er wollte auch da drauf, stellte er nach einigen Rollen missgestimmt fest. Er wollte auch wieder auf einer Insel stehen. Wenn die da unten sich nur nicht so breit machen würden.

Der Geflügelte ließ seinen Leuten nur eine knappe halbe Stunde zur Pause und zum regelmäßigen Wechsel. Dann schlug er vor, weiterzufliegen, wo mehr Inseln zu erwarten waren, wo alle Platz finden würden. Weiter zu den Familien, die sie sicher sehnsüchtig erwarten würden.

Kaum erhob sich der Schwarm wieder in die Luft, landete Mimoun. Genüsslich streckte er sich und ging ein paar Schritte.

„Hey. Ich dachte, weiterfliegen.“, protestierte Aylen.

Der Angesprochene grinste frech zurück. „Ich bin schneller als ihr. Ich darf das.“ Das war ein unschlagbares Argument und so ließen sie ihn mit einem Lachen machen.
 

Einige der Hanebito von der Insel begleiteten sie. Sie versuchten, an den Drachenreiter heranzukommen, der weit über den Geflügelten Kreise zog. Sie hatten so viel von ihm gehört. Von ihm und der seltsamen Gruppe, die das Herz ihres Anführers gewonnen hatte. Nun wollten sie mit eigenen Augen sehen. Und sie wollten Teil sein von dem Zug, die Geschichten hören, wissen, ob es wirklich stimmte, was erzählt wurde: War der Krieg wirklich vorbei? Waren die Magier endlich einsichtig geworden? Gab es keine Kämpfe mehr? Die paar Magier, die dabei waren, schienen eine Art Beweis zu sein, dass alles wirklich stimmte. Und warum sollte der Enkel ihres respektierten Anführers und zukünftiger Anführer sie belügen?

Die Hitze wurde immer größer, je länger sie an diesem Tag flogen. Gegen Mittag war sie selbst in der Luft unerträglich. Dhaôma rief Wolken, um wenigstens die Sonne auszusperren, was einen interessanten Nebeneffekt hatte: die Hanebito anderer Inseln sahen die Wolken und fühlten sich von ihnen angezogen, wollten ein wenig von dem Kühle spendenden Nass abbekommen und fanden zusätzlich die Heimkehrer. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich so die Nachricht, dass sie wieder da waren. Die Menge schwoll immer weiter an, bis klar war, dass sie nie eine Insel finden würden, auf der sie alle Platz hatten. Also beschloss Asam, dass sie sich aufteilen sollten. Jeder sollte in die Richtung fliegen, wo er zuhause war, damit die kleinen Inseln entlastet wurden und die besorgten Familien schnellstmöglich wussten, ob ihre Geliebten heil waren.

„Ganz uneigennützig.“, frotzelte Dhaôma und beobachtete dann, wie der Schwarm sich aufteilte. Das Lächeln und die gute Stimmung war kaum aus seinem Gesicht zu kriegen. Alle waren froh und er konnte gar nicht anders, als sich mit ihnen zu freuen. Das hier war es doch, wofür er die ganze Zeit gekämpft hatte, nicht wahr?

Ein wenig entfernt flogen zwei Frauen und ein Jugendlicher in die Arme eines Soldaten, so dass sie ein Stückchen in die Tiefe taumelten. Ein glückliches Wiedersehen.
 

Mehrere Blicke folgten ihnen. Viele erfreut, einige sehnsüchtig.

„Nicht mehr lange. Wir sind bald da.“ Mimoun hatte sich an Jayans Seite treiben lassen. Die Aussage des Drachenreiters wurde nur mit einem stummen Nicken quittiert, während die Augen verfolgten, wie das Grüppchen sich wieder fing.

Ihre Gruppe hatte sich stark dezimiert. Nicht alle von den Übriggebliebenen hatten die gleiche Richtung, aber sie wollten noch so lange wie möglich gemeinsam fliegen, bis sie dann eine endgültige Kurskorrektur durchführen mussten. Es gab aber auch welche, die noch weiter mussten, deren Weg nicht auf der Hälfte der Strecke endete.

Warme Winde, sanfte Brisen. Die Zeit flog ebenso dahin wie die Heimkehrer. Inseln, die vorbeizogen. Die Menschen, die sich für kurze Strecken anschlossen, die Heimkehrer begrüßten und die Drachenreiter feierten. Jeder verstrichene Meter, der sie näher an ihr Ziel brachte. Das alles ließ Mimoun immer übermütiger werden. Und es fiel ihm schwer, sich der Geschwindigkeit der Langsameren anzupassen. Wieder einmal musste er sich in Geduld üben. Lächelnd ließ er seine Finger durch die schwarze Mähne des Kindes auf seinem Rücken gleiten, das ihm mit festerem Druck um seinen Hals darauf antwortete, sich fester an ihn schmiegte.

Goldenes Licht überzog den Horizont, als sich die Sonne langsam tiefer senkte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es dunkel werden würde. Doch noch ließ das wirkliche Farbspektakel auf sich warten. Aber das war nebensächlich. Das letzte Licht ließ jetzt schon erahnen, was dort vorne wartete.

„Es wird eng werden.“, bemerkte Mimoun zu Jayan und spielte damit nicht auf die Zeitspanne bis zur Dunkelheit an.

„Ich weiß.“ Kurz huschte ein Lächeln über das Gesicht des Angesprochenen. „Wann wäre das je anders gewesen?“

Ah. Es war soweit. Sie waren entdeckt worden. Na ja. So ein großer Grüner war ja auch schwer zu übersehen. Mimoun lächelte zärtlich und beobachtete den ersten Schemen, der sich in die Luft erhob. Es dauerte nicht lange und weitere folgten.
 

Dhaôma erkannte die Insel ebenfalls, allerdings eher daran, dass Lulanivilay sich plötzlich von allen anderen absetzte. Als er fragte, was los war, erhielt er nur eine knappe Antwort: „Dort kann ich endlich schlafen.“

Schon konnte er die Gestalten erkennen, sah Haru, der sich wirklich anstrengte, der allererste zu sein, der sie begrüßte, aber der Drache ließ den Begrüßenden keine Chance. All seine angeborene Wendigkeit und Magie nutzend schoss er über sie hinweg, der Winddruck zwang sie dazu, sich abzufangen, bevor er mit einem zufriedenen Seufzen zwischen den Kirschbäumen landete, an denen noch nicht ganz reife rote Früchte hingen. So war es ausgerechnet Kitty, die den Magier als erste erreichte und ihm in die Arme flog. Die begleitenden Magier staunten nicht schlecht, dass hier schon ein Magiermädchen lebte. Und noch erstaunter waren sie, dass sie auf dem Rücken ein Kleinkind trug, das wild lachte, quietschte und mit den Stummelflügelchen schlug.
 

Jemand anderes gab seinem Drang nach Geschwindigkeit nicht nach. Mimoun blieb bei den bedauerlichen Nachzüglern und lachte herzhaft über Haru, der so rigoros abgeblockt worden war. Der sich auch nicht so einfach abspeisen lassen wollte und die Verfolgung aufnahm, um doch zu spät zu kommen. Dabei war Dhaôma nicht der einzige Besucher oder Heimkehrer. Was nicht heißen sollte, dass der Rest völlig ignoriert wurde. Nur die Prioritäten des Jungen wurden eindeutig.

Schon bald sahen sie sich selbst eingekesselt und freudiges Stimmengewirr mischte sich in das Rauschen der Schwingen. Jadya flog ihrer Schwester in die Arme und griff gleichzeitig nach Rai, wollte auch ihn mit in die Umarmung ziehen, doch dieser konnte ihr gewandt ausweichen. Mimoun hatte selbst plötzlich Gewichte an sich kleben. Dass sein Rücken bereits einen Passagier hatte, störte Elin nicht dabei, sich an seinen Oberkörper zu kletten. Ramon und Dhara mussten sich mit Mimouns Armen begnügen.

„Uff.“, war alles, was der Drachenreiter sagen konnte. Und nun doch auf seine Magie zurückgreifen, um ihr zusätzliches Gewicht tragen zu können.

Lachen erklang neben ihm. „Die lieben Kleinen. Es gibt wohl Dinge, die ändern sich nie.“

Das Geplapper der so genannten Kleinen erstarb schlagartig, als sie erkannten, wer da gesprochen hatte.

„Aber du kannst doch gar nicht wiederkommen.“, platzte Ramon in die eintretende Stille hinein und Jayans Lächeln schwand.
 

Unterdessen wich Kitty Haru aus, als dieser ungebremst in Dhaômas Arme flog. Plötzlich waren da wieder Katzenohren, die sie verschreckt anlegte, während Haru seinen Magier so fest drückte, dass dieser lachen musste. Seine Selbstbeherrschung brach und mit seinem Lachen erblühten um ihn herum die Blumen. Selbst die Kirschbäume bekamen wieder einen weißlichen Schleier.

„Immer wenn du kommst, wissen es alle, denn dann blühen die Bäume wieder.“, schmunzelte Oldon, der beschlossen hatte, sich in Geduld zu üben und zu warten, bis die Gäste ankamen. Seine Flügel trugen ihn schon länger nicht mehr richtig. Langsam betrat er den Kirschblütenhain. „Willkommen zurück, Drachenreiter. Es ist schön zu sehen, dass es dir gut geht.“

„Hallo, Oldon, seid gegrüß... Haru, lass mich atmen!“ Wieder lachte Dhaôma, denn der Junge ging ihm durch das lange, ungebundene Haar. „Ich bleibe erstmal, also beruhige dich, ja?“

„Versprochen?“

„Ich denke schon. Wir haben Jayan mitgebracht, also...“

„Echt? Jayan? Wirklich? Naruby, hast du das gehört? Dhaô, du bist spitze! Das ist der zweite Todgeglaubte, den du wieder findest!“ Und erneut drückte der braunhaarige Junge seinen Freund voll Freude, bevor ihn die Neugier überwältigte und er mit einer kurzen Entschuldigung einen Abflug machte. Jayan - das wollte er sehen.

„Ihr habt ihn wirklich wieder gefunden?“ Oldon trat näher und bot dem Braunhaarigen etwas zu trinken an, das dieser gerne annahm. „Und offenbar noch ein paar andere.“, stellte er mit einem kurzen Blick auf die Körbe fest, aus denen jetzt die beiden Kinder, Juuro und Genahn kletterten. Letzterer grinste breit ob der Szene und ließ endlich seine kleine Drachin los, damit sie ein bisschen fliegen konnte. „Willkommen bei uns.“, begrüßte der Älteste sie. Die Reaktionen waren ganz unterschiedlich. Juuro nickte kurz, Flore wurde rot und versteckte sich hinter ihm, Mito verbeugte sich wie ein Edelmann und vor lauter Aufregung ließ er Nebel aus dem Boden steigen, und Genahn ergriff ungeniert die Hand des Hanebito und schüttelte sie ausgiebig.

„Mir wurde schon so viel von Euch erzählt, Oldon. Wie Ihr Dhaôma aufgenommen habt und welche großartigen Menschen Ihr und Euere Dorfgemeinschaft seid. Es ist eine große Ehre, Euch endlich einmal persönlich kennen zu lernen.“

Der Alte wirkte einen kleinen Moment verdattert, bevor er vergnügt den Händedruck erwiderte. „Er ist ganz anders als du, Dhaôma.“ Und an den Magier gewandt, fuhr er fort: „Wusstet Ihr, dass Dhaôma sehr schüchtern war, als er das erste Mal zu uns gebracht wurde? Ein verstocktes, verängstigtes Kind.“

„Davon habe ich noch nichts gehört. Ihr müsst mir davon erzählen. Doch zuerst werde ich mich vorstellen…“

Dhaôma rollte mit den Augen und wandte sich ab. Sollten sie doch Unsinn erzählen, wenn es ihnen Spaß machte. War doch beruhigend, dass dort nicht der Hauch von Misstrauen existierte. Ob er es damals auch so hätte machen sollen, fragte er sich und vergaß dabei, dass er es gewesen war, der diese Akzeptanz erst möglich gemacht hatte. Freundlich reichte er seinen Wasserschlauch an Mito weiter, dessen Mund offen stand angesichts dieser plötzlichen Eröffnungen über Dhaômas Leben. Der Held war so anders, als er ihn sich vorgestellt hatte.
 

Und in der Luft testete Mimoun den Satz noch einmal, der schon einmal funktioniert hatte: „Also möchtest du, dass er wieder geht?“

„Nein!“, erscholl es unisono. Bevor der Drachenreiter reagieren konnte, war er zwei Kinder ärmer. Auch musste er aufpassen, dass er nicht von Jayans Seite gedrängt wurde, da sich die Traube um ihn schlagartig vergrößerte.

„Lasst ihm Luft.“, verlangte er laut und unnachgiebig. Doch dann fing Mimoun einen Blick seines Schwagers auf. Ganz entspannt. Zwar schwelte tief drinnen noch Furcht, aber die hatte Jayan gut im Griff. Mimoun grinste. Und startete Scheinangriffe, bis sich die Menge zerstreute. „Hört auf ihn aufzuhalten. Jayan hat noch eine wichtige Verabredung.“ Doch kaum war Platz da, kam ein kleiner Blitz angeschossen. Haru. Natürlich. Warum auch nicht.

„Du kleine, nervende Kröte.“, fluchte Mimoun, bevor er aber zugreifen konnte, war Aylen da und pflückte ihn von einem zusammengezuckten Jayan runter.

„Er ist nicht fit genug, um drei von euch zu tragen.“, erklärte sie streng und hielt den Knirps in ihrer Umarmung fest. Auch die anderen Kinder wurden nach dieser Aussage prompt wieder von Jayan gehoben.

Nur wenig später landeten auch endlich die Nachzügler auf der Insel und wurden mit Jubel von den Geduldigen in Empfang genommen.
 

Dhaôma machte sich auf den Weg zu dem Pulk Menschen, um seine Freunde zu begrüßen. Jadya kam ihm schon entgegen und umarmte ihn kurzerhand. „Du siehst wüst aus.“, kommentierte sie lachend.

„Dabei sind die Kleider neu.“ Seufzend sah Dhaôma an sich herunter. Es stimmte. Die Seide war schmutzig und an einigen Stellen zerschlissen. Wie gut, dass er Ersatz dabei hatte. Viel.

„Deine Haare sind ein Vogelnest.“

„Lass das Mimoun nicht hören. Er mag sie. Ich darf sie nicht schneiden.“

Wieder lachte sie. Es war beinahe das schönste Lachen auf Erden. Kein Wunder, dass sich jeder zu dieser Frau hingezogen fühlte. „Ich denke, du hast unsere Fortschritte schon bewundern dürfen? Silia verlässt sich inzwischen hundertprozentig auf die kleine Katze. Naruby wird grantig, wenn er sie nicht mindestens fünf Stunden täglich bei sich hat.“

„Beeindruckend.“ Irgendwie bekam er immer mehr das Gefühl, dass er irgendetwas falsch gemacht hatte. Warum gelang anderen mit Leichtigkeit, was er nicht schaffen konnte, obwohl er es so gerne wollte?

„Erzähl, was ist passiert?“

„Später, sonst nimmt das nie ein Ende. Zuerst einmal, such bitte Silia und bring sie zu Mimoun. Wir haben eine Überraschung dabei, die sie sehr freuen wird.“

Gespielt beleidigt streckte sie ihm die Zunge raus, weil er nichts verraten wollte, aber sie tat ihm den Gefallen gerne und rannte los, um ihre Freundin aus ihrem Haus zu holen, wo sie eigentlich gerade schlief. Immerhin konnte sie es selbst kaum erwarten, Silias Gesicht bei diesem Wiedersehen zu sehen.
 

„Silia.“ Stürmte sie durch die Plane und sah sich um. Ihre Freundin schlief nicht, wie sie vorgehabt hatte, sondern saß im Gemeinschaftsraum, sah aber so aus, als wäre sie geweckt worden. „Sie sind wieder da!“, begann Jadya, wurde durch eine müde Handbewegung und ein Schnauben unterbrochen.

„Ich weiß. Nur sie sind in der Lage, solch einen Tumult auszulösen.“, erwiderte die Angesprochene mit einem wehmütigen Lächeln.

Jadya hockte sich neben sie und ergriff ihre Hand, wollte sie zum Aufstehen bewegen. „Dann komm sie begrüßen.“

Silia entzog ihre Hand und lehnte sich zurück. „Er wird schon zu mir kommen, wenn er es für richtig hält. Wenn ich jetzt gehe, ruiniere ich nur wieder die Stimmung.“

„Sie haben aber eine Überraschung für dich, also schwing deinen Arsch da raus.“, ließ Jadya nicht locker und ergriff wieder die Hand, diesmal fester und unnachgiebiger. Diesmal wehrte sich ihre Freundin nicht und ließ sich mitziehen.

„Eine Überraschung? Was für eine?“

„Wenn ich es dir sage, ist es keine Überraschung mehr.“, grinste Jadya wissend und wischte das Thema ebenso beiseite, wie die Plane, die den Weg nach draußen versperrte. „Außerdem würdest du es mir sowieso nicht glauben.“

Mimoun blieb in Jayans Nähe und wachte mit Argusaugen über ihn, beobachtete jede seiner Reaktionen genau, was schließlich ein unsicheres Lachen von diesem hervorrief. „Sieh mich nicht so an, als wäre ich zerbrechlich. Ich schaff das schon. Hier bin ich doch sicher, nicht wahr?“

„Natürlich.“, mischte sich Aulee ein und trat nun auf den Heimkehrer zu. Während diese zwei sich nun kurz begrüßten und unterhielten, ließ Mimoun seinen Blick schweifen und entdeckte seine Schwester, die gerade von Jadya ins Freie gezogen wurde.

„Hierher.“, rief er enthusiastisch und sprang heftig winkend auf und ab. Die Umstehenden machten lachend Platz, um nicht von seinen Armen oder Flügeln getroffen zu werden. Die benötigte Gasse wurde unter weniger Protest freigegeben, als sich die beiden Frauen näherten.

Kaum hatte Silia freies Blickfeld, erstarrte sie zur Salzsäule. Unglaube, Verzweiflung, Hoffnung. All diese Gefühle spiegelten sich auf ihrem Gesicht wieder, als sie ihren Gefährten erblickte. Zittrig stand sie da und wagte sich nicht zu bewegen, um die Illusion nicht zu zerstören. Jayan war verunsichert. Da sie sich nicht näher traute, wusste auch er nicht, was er tun sollte.

Leise lachend trat Mimoun auf seine Schwester zu und ergriff vorsichtig ihre Hand. Ihr Blick richtete sich auf ihn, als er sie vorsichtig weiter zog. Aufmunternd lächelte er ihr zu. Schritt für Schritt rückwärtsgehend zog er sie mit und näherte sich unaufhaltsam Jayan. Mimouns Blick war weiterhin auf seine Schwester gerichtet und er konnte sehen, wie sich die von Unglaube erfüllten Augen mit Tränen füllten. Als er Jayan hinter sich spürte, griff er blind nach dessen Hand und legte noch immer wortlos und lächelnd ihre in seine. Als wäre ein Bann gebrochen, schluchzte Silia laut auf und klammerte sich wie eine Ertrinkende an Jayans Hals. Keiner von beiden war fähig etwas zu sagen und Mimoun wandte sich zufrieden grinsend ab.

„So. Fehlt ja nur noch einer zur Familienzusammenführung. Wo steckt denn das kleine Scheißerchen?“, fragte der Drachenreiter und klatschte einmal in die Hände, während hinter ihm Klatschen und Jubel laut wurde. Es wurde so laut, dass er die Antwort Jadyas nicht verstand und sie lachend ihre Hände an ihren Kopf hob und frei bewegliche Ohren imitierte.

Ah. Kitty. Übermütig wie er gerade war, formte er mit seinem Händen einen Trichter vor seinem Mund und rief: „Miez, miez, miez.“
 

Jadya rollte nur mit den Augen. Als ob das jemals bei Kitty funktioniert hätte. Da mussten sie schon ein wenig Geduld beweisen, bis sie sich zeigte. „Weißt du, sie kommt zuverlässig, kurz bevor Naruby Hunger bekommt. Irgendwie spürt sie das, aber bis dahin können wir nur vermuten, wo sie sich befindet.“, erklärte sie, als man sich wieder verständigen konnte.

„Ihr sucht Kitty?“, fragte Juuro, der Dhaôma gefolgt war. „Die ist hinter dem Drachenbaby hergeflitzt. Sah aus, als hätte sie eine neue Freundin gefunden.“ Genahn lachte nur und zuckte bei dem fragenden Blick Dhaômas die Achseln. Woher sollte er wissen, wo sich Kalanij befand? Sie waren nicht verwachsen und bisher war sie immer wieder zurückgekommen, auch ohne dass er sie gerufen hätte.

Jadya griff nach seiner und Mimouns Hand und drückte sie fest. „Macht nichts. Ich glaube, auch so ist dieser Moment für die beiden perfekt.“ Ihr Gesicht drückte so viel Wärme und Wohlwollen aus, dass Dhaôma wusste, dass sie Silia endgültig in die Familie aufgenommen hatte. Würde sich zeigen, ob sie mit Jayan wieder in die Hütte ihrer Mutter ziehen würde.
 

Mit einem Nicken sah Mimoun zu dem wieder vereinten Pärchen hinüber, die sich noch immer nicht voneinander gelöst hatten. Beobachtete von vollkommenem Glück durchdrungen, wie die anderen Heimkehrer begrüßt und auch die Gäste in den Trubel integriert wurden.

Gäste! „Wir bräuchten ein paar Übernachtungsmöglichkeiten und ich fürchte, das wird in eine groß angelegte Feier ausarten. Habt ihr hier genug Nahrungsmittel?“, wollte Mimoun wissen.

Jadya lachte. „Du weißt echt wie man die Stimmung ruiniert. Freu dich doch einfach mal und genieße den Augenblick.“, verlangte sie.

„Das tue ich.“, bekräftigte der Drachenreiter und zog die junge Frau in seine Arme. „Ich freu mich wirklich, wieder hier zu sein. Ich freu mich, dass Jayan lebt und wieder hier ist. Ich freue mich, dass Aylen und Rai und der ganze Rest wohlbehalten aus den Kämpfen herausgekommen sind. Ich war selten glücklicher.“ Sein Blick fiel auf Dhaôma und er streckte die Hand aus, um auch ihn mit in die Umarmung zu ziehen.
 

Und trotzdem musste er sich um alles kümmern. Lächelnd ließ Dhaôma es über sich ergehen. Elin kam und stellte sich zu den dreien, dann kamen Haru und Ramon, gefolgt von Dhara. Die Kinder waren erstaunlich ruhig und die Freude der Erwachsenen beeindruckte sie so sehr, dass sie sogar still waren. Wenigstens einige Zeit. Haru hatte Mito entdeckt. Sein Gesicht begann zu strahlen. Mito war viel jünger als er, das hieß, er war der ältere. Ein großer Bruder, sozusagen!

„Komm, ich zeige dir die Insel!“

Verunsichert wollte Mito sich verstecken, suchte Hilfe bei Dhaôma, der nur lächelte. „Keine Angst. Haru und seine Freunde sind sehr nett.“ Er hielt die Kinder einen Moment auf. „Wenn ihr mit ihm spielt, seid vorsichtig. Er kann seine Magie schlecht kontrollieren. Es kann sein, dass ihr nass werdet.“

„Was ist so schlimm daran?“

„Fragt das ihn. Er hat Angst, euch damit zu belästigen.“

„Unsinn. Komm, wir zeigen dir die Insel.“ Und schon zog Haru den Magierjungen mit sich. Elin krallte sich Flore und folge ihm und Ramon. Was sie zu dem verschüchterten Halbling sagte, verstand Dhaôma nicht, aber in diese Kinder hatte er ein schier endloses Vertrauen.

„Jetzt sind zumindest die Kinder aufgehoben.“, kommentierte er, als auch Dhara sich eine Hand schnappte und den schwarzhaarigen Jungen, der zuvor auf Mimouns Rücken geritten war, mitzog. Troll war ihr gegenüber gar nicht schüchtern. Zum ersten Mal seit langer Zeit lachte er ausgelassen.
 

Wenig später saßen alle auf dem Platz in der Mitte des Dorfes und lauschten den Geschichten, die die Reisenden erzählten. Selbst Oldon und Genahn hatten sich voneinander lösen und aus ihrem Gespräch holen lassen. Die beiden verstanden sich von Anfang an blendend.

Es löste Entsetzen aus, was den Gefangenen zugestoßen war, und Silias Hand schloss sich fest und zitternd um die ihres Todgeglaubten. Was er erlitten hatte, machte sie wütend und schmerzte sie. Erstaunlicherweise hatte sie mit keiner Wimper darauf reagiert, dass Dhaôma sich wie gewöhnlich gegen Mimoun lehnte, während die starken Arme seinen Bauch umfingen. Sie hatte nicht einmal darauf bestanden, Kitty suchen zu gehen, um Naruby vorzustellen. Vermutlich wusste sie, dass es keinen Sinn machte. Die Katze war wie vom Erdboden verschluckt.

Xairas Tod löste Bedauern aus. Zwar hatte sie kaum keiner persönlich gekannt, aber die meisten wussten inzwischen, dass sie es gewesen war, die den beiden Drachenreitern geholfen hatte, zueinander zu finden.

Und dann tauchte plötzlich Kalanij wieder auf. Auf ihren Fersen folgte Kitty, die ihr wohl die kleine Schleife um den Hals gebunden hatte. Die folgende Szene war einfach süß. Silia rief das Kind und sofort erstarrte sie. Die grünen Augen wurden flehend, doch als die Mutter nichts sagte, traurig. Selbst die Ohren hingen herunter, als sie die Tragegurte löste, Naruby von ihrem Rücken hob und ihn dann der Geflügelten übergab. Das Kind war verwirrt und quäkte. Und Kitty warf einen kurzen Blick zu ihrer Ziehmutter, bevor sie zu Dhaôma ging und sich - wieder zur Katze geworden - auf dessen Schoß zusammenrollte. Das Drachenkind hatte das recht neugierig beobachtet und trollte sich jetzt auch wieder zu ihrem Seelenpartner. Das Spiel war wohl vorbei.

Während Jayan jetzt also seinen Sohn kennen lernte und das ganze Dorf dieser herzigen Szene Aufmerksamkeit schenkte, kraulte Dhaôma Kittys Kopf. Sie war klüger geworden. Und viel tapferer.
 

Mimoun beobachtete die Katze und schob mit diebischem Grinsen einen Finger zwischen Dhaômas kraulende. Kurz berührte er das weiche Fell zwischen den Ohren, bevor er seine Hände wieder in Sicherheit am Bauch seines Magiers platzierte. Die Ohren zuckten aufmerksam, aber der scheinheilige Übeltäter war mit seiner Aufmerksamkeit schon wieder ganz woanders. Er ließ sich berieseln von den Gerüchen und Geräuschen um ihn herum. Ließ sich von der Herzlichkeit, Wärme und Geselligkeit der Menschen um ihn herum einhüllen.

Es gab kaum etwas, was er dazu beitrug. Mimoun ließ andere erzählen, warf nur selten etwas dazwischen. Seine Scherze mit den alten Freunden waren herzlich wie immer und doch hatte er das Gefühl, dass etwas nicht mehr so war wie früher. Was war geschehen? Und was war dieses Gefühl? Inmitten seines Heimatdorfes fühlte Mimoun sich geborgen und beschützt. Und trotzdem hatte der Drachenreiter das leise Gefühl, nicht mehr Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Je länger er weg blieb, mit jedem weiteren Besuch an seinem Geburtsort kam er sich mehr und mehr wie ein Gast vor.

Den sanften Stups von Jadya in seine Rippen und ihren fragenden Blick beantwortete er mit einem ausgelassenen Lachen. Seine derzeitigen Gedanken gehörten nun wirklich nicht hierher.

Nach und nach zogen sich Dorfmitglieder und Gäste zurück. Silia nahm einen kleinen Umweg und strich ihrem Bruder kurz über den Kopf, bevor sie sich mit ihrer nun wiedervereinten Familie zurückzog. Wenig später streunten die beiden Drachenreiter davon, um an Lulanivilays Seite die Nacht zu verbringen.

Mimoun fühlte den mächtigen Herzschlag des großen Drachens unter seiner Haut, als er sich an seine Flanke lehnte. Er spürte Dhaômas Wärme, als dieser sich an ihn kuschelte, und Tyiasurs angenehme Kühle, der sich zwischen ihnen zusammenrollte. Nachdenklich glitten seine Finger über die blauen Schuppen. Und mit einem zufriedenen Lächeln und einem sanften Schnauben schloss er die Augen. Ja. Hier gehörte er nun hin.
 

.................
 

Die sind schon witzig die beiden. Heim ist da, wo der andere ist. Das macht es natürlich einfacher, wenn man reist, denn man nimmt seinen Zugehörigkeitsort einfach mit. Wie so n Einsiedlerkrebs, nur dass weder Mimoun noch Dhao ein Haus mit sich rumtragen. Nun, Dhao kann eins wachsen lassen, aber...

Ah, ihr wisst, was ich meine. Hirn ist flüssig von Schnupfen.

Neue Generation

Kapitel 79

Neue Generation
 

Sie blieben einige Tage, aber die Drachen drängten sie vorwärts. Genahn wurde erwartet. Und dieser überraschte die Drachenreiter mit einer unumstößlichen Tatsache: Er würde Haru und Elin mitnehmen. Mit der Mutter hatte er schon gesprochen, Oldon wusste auch Bescheid und Lesley hatte ja schon gesagt, er würde auf die Rasselbande warten. Außerdem stellte er es sich langweilig vor, nur einen Gesprächspartner zu haben.

Hilfe suchend sah Dhaôma zu seinem Freund. Wenn das so anfing, dann würde das doch kein Ende nehmen. Spätestens Amar, Yaji und Juri würden auf ihrem Recht pochen, auch mitzugehen.

„Ist doch klasse. Je mehr, desto lustiger wird es.“

„Wie willst du auf die Kleinen aufpassen? Es werden dann zu viele sein, um sie alle im Auge zu behalten.“

Nachdenklich legte der Magier den Kopf schief. „Das ist tatsächlich ein Problem.“, sinnierte er. „Ich werde einfach noch ein paar Erwachsene fragen, ob sie Lust haben, mich zu begleiten.“

Dhaôma seufzte. „Die Wahl der Drachenreiter schien nicht so einfach zu sein. Sie sollten den Weg zu den Drachen selbst finden.“

„Aber sie haben den Weg doch selbst gefunden. Sie haben verstanden, dass ihr es seid, die sie zu den Drachen bringen können. Ihr Weg führt über euch.“

„Genahn, das...“

Er grinste. „Und außerdem wird Aulee auch mitkommen. Sie kann auf sie aufpassen und sich selbst einen Drachen suchen.“

In diesem Moment verstand Dhaôma, dass Genahn der wohl gruseligste Magier überhaupt war. Wie hatte er es nur geschafft, die gebrannte Aulee, die zu Anfang so viel gegen die Magier einzuwenden hatte, davon zu überzeugen, ihn zu begleiten? Sich dieser Gefahr auszusetzen?

„Gib es auf, Drachenreiter. Ihr werdet viel Gesellschaft haben, wenn ihr das nächste Mal dort hinaufgeht.“
 

„Ja. Und viele Opfer.“, murrte Mimoun und verschränkte missgelaunt die Arme. „Dich hoch zu bringen, wird ja noch gehen. Aber bestimme nicht solche Sachen, wenn du die Rahmenbedingungen nicht kennst. Weder kann ich sagen, wo sich die Insel derzeit befindet, wie weit also der Weg dorthin ist, noch bin ich davon überzeugt, dass die Kleinen es unbeschadet überstehen, wenn sie in die Winde geraten.“
 

„Angeblich wissen die Drachen immer, wo die Insel ist. Wie Brieftauben. Und in Vilays Körben wird ihnen schon nichts passieren. Wenn alle Stricke reißen, bitten wir einfach die Drachen auf der Insel um Hilfe. Da gibt es doch welche, die sprechen können.“ Er strahlte Mimoun an. „Sag bloß, du willst weiter der einzige geflügelte Drachenreiter sein und sperrst dich deswegen.“

Dhaôma starrte den Mann an, dann musste er sich ernsthaft ein Lachen verbeißen. Im Grunde hatte er nichts dagegen. Ja, man hatte ihnen gesagt, dass jeder Drachenreiter seinen Weg selbst finden musste. Aber im Grunde war es ohne Drachen oder geflügelten Freund und selbst als Geflügelter unmöglich. Für Mimoun und ihn war es Glück gewesen. Und die Drachen hatten auch ihnen geholfen. Die Auslegung der Regeln passte ihm ziemlich in den Kram, bedeutete es doch, dass Lesley nicht mehr alleine war.

„Außerdem beherrsche ich den Wind viel besser als Dhaôma hier. Mit Vilays Hilfe kann ich ihn vermutlich für einige Zeit ausschalten.“

„Sicher.“, kam der wenig hilfreiche Kommentar von dem Drachen und beinahe platzte Dhaômas Selbstbeherrschung.

„Und letztendlich: Ihr seid Drachenreiter. Ihr habt die Befugnis andere Drachenreiter zu benennen. Gebt einfach euer Okay und die Sache ist geritzt. Oder habt ihr eure Meinung bezüglich Haru und Elin geändert?“
 

„Nein, verflucht!“, brauste Mimoun auf und warf die Hände in die Luft. „Aus deiner Sicht kann es natürlich keine Probleme geben. Bedenke aber auch, dass für mich das Leben und die Gesundheit meiner Freunde Vorrang hat und ich es mir nicht so einfach mache wie du. Denn in den Körben mag zwar genug Platz sein, um alle Quälgeister sicher unterzubringen, aber du willst ja nicht nur die Kleinen sondern gleich ein ganzes Dorf dort hochschleppen. Himmel, ehrlich. Ich wär froh, wenn dort oben endlich wieder Leben herrscht und jemand dem alten Zausel auf dem Bart rumtanzt.“
 

„Dann lass es uns versuchen. Und um auch mal ehrlich zu sein: nach deiner Definition wird dort oben nie wieder jemand ankommen, denn egal wer es versuchen wird, es ist immer zu gefährlich. Sei doch froh, wenn du dabei bist, um ihnen nötigenfalls zu helfen.“
 

„Natürlich ist es gefährlich.“, seufzte Mimoun und atmete einmal tief durch, um wieder runterzukommen. „Drachenreiter ist trotz allem eine anstrengende Lebensaufgabe. Und ich glaube nicht, dass Lesley die Kleinen schonen wird, nur weil sie noch Kinder sind.“ Sein Blick glitt über den neuen Drachenreiter und die anderen Anwesenden. Schließlich zuckte er resignierend die Schultern und fuchtelte mit der Hand in der Luft herum, als würde er Fliegen vertreiben wollen. „Aber ich steh hier sowieso auf verlorenem Posten. Dhaôma sagt zu allem ja und die Kinder brauch ich gar nicht erst fragen.“
 

Es führte zu einem Lachen, das durch die Anwesenden rauschte. Die angespannte Situation entlud sich in einem Aufquietschen der benannten Kinder, die Mimoun beinahe umwarfen vor Freude, und einem Aufheulen der zurückgelassenen. Aulee lächelte, als wäre sie froh, was man bei ihr schon länger nicht mehr gesehen hatte.

„Wer hätte gedacht, dass sie ihr Herz ausgerechnet an einen Magier hängen würde.“, flüsterte Jadya Dhaôma ins Ohr, der sie verwirrt ansah. „Du wirst schon sehen.“ Geheimnistuerisch legte sie einen Finger an die Lippen.

„Du, Mimoun?“ Die zaghafte Stimme ließ Haru und Elin innehalten. Es war Troll. „Darf ich auch mit dorthin?“ Seine Augen flehten um Erlaubnis. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass er zurückgelassen wurde.
 

Der Angesprochene ließ sich in die Hocke sinken, um mit dem Jungen auf einer Höhe zu sein. „Hör mir gut zu.“, begann Mimoun ernst und eindringlich. „Solange du keine Menschen findest, bei denen du lieber bist als bei mir, die du als Familie akzeptieren und lieben kannst, bist du mein Sohn. Ich lasse dich nirgendwo zurück.“
 

Tränen schossen in die Augen und die Kinderarme schlossen sich um Mimouns Hals. Troll war sehr erleichtert. Und Mito schloss sich mit der Frage an, was Dhaôma zum Lachen brachte.

„Okay, mehr können dann aber nicht mit. Vilay kann zwar viel tragen, aber wer weiß, wie lange wir übers Wasser fliegen müssen. Wir sollten ihn nicht überlasten.“ Und mit Schrecken dachte er an ein paar andere Kinder, die sie dementsprechend zurücklassen würden. „Amar wird wütend sein.“

„In Ordnung. Jetzt, wo das besprochen ist, werde ich Aulee beim Packen helfen. Die Koordination der anderen überlasse ich dir.“ Genahn klopfte dem Braunhaarigen auf die Schulter und Dhaôma lächelte ihn an. Es war längst klar, dass man unter den Geflügelten herumfragen würde, wer bereit war, die Halblinge zurück nach Hause zu bringen, denn die Drachenreiter konnten nicht beides tun. Und während die Halblinge den Weg nach Hause kannten, kannten nur die Drachen den Weg zu ihrer Insel.

Wobei ihm einfiel, dass ja auch Keithlyn zu den Drachen hatte fliegen wollen. Er suchte sie in der Menge und sie grinste ihn an und zuckte die Achseln. Offenbar hatte sie ihre Pläne geändert.

„Ich werde Juuro und Flore nach Hause bringen. Immerhin schulde ich ihnen eine Entschuldigung.“, sagte sie selbstbewusst, als er sie später fragte. „Und dann komme ich zurück, um hier zu leben. Wairen hat mir angeboten, dass ich auf seine Insel ziehen könnte. Er will mir das Jagen beibringen.“

„Wer ist Wairen?“

Sie lachte ihn aus für die Frage. „Einer der Rekruten. Was glaubst du, wer mir so oft geholfen hat?“

„Ist er dein Freund?“

„Aber nicht, wie du es denkst.“ Ihre Nase kräuselte sich, dann wurde sie zartrosa. „Sein Sohn gefällt mir.“, gab sie zu. „Ich will mein Glück bei ihm versuchen.“ Schlagartig wurde ihr Blick scharf. „Wehe, du verrätst das irgendjemandem!“

„Viel Glück.“, war Dhaômas einzige Antwort und sie seufzte. Natürlich würde er es niemandem verraten. Das war nicht sein Ding. „Ich werde dich vermissen.“

„Ich euch auch.“ Sie umarmte ihn.
 

Das Dorf würde lange Zeit sehr leer sein, wenn sich nur Geflügelte von dieser Insel für die Begleitung der Halblinge bereit erklärten. Er wusste, wie weit die Strecke war und dass, auch wenn es noch ein wenig dauerte, der Winter bald wieder vor der Tür stehen würde. Kurz erklärte Mimoun seine Gedanken und machte sich auf den Weg in die Nachbardörfer, während der Rest des Dorfes erste Vorbereitungen für die Reise traf, Proviant einpackte und Sachen einschnürte. Seine Geschwindigkeit nutzte er zur Zeitersparnis, denn sie wollten schnellstmöglich los. Und erklären musste er nicht viel. Die umliegenden Dörfer waren in den letzten Tagen untereinander häufig zu Besuch gewesen, da in jedem neue Heimkehrer waren und man sich auch dorfübergreifend kannte und dementsprechend freute. So ließen sich aus mehreren Dörfern Reisegefährten zusammentrommeln und ein stärkerer Zusammenhalt für die weitere Zeit gewinnen.

Als Mimoun schließlich zurückkehrte, war für ihn innerhalb seines Geburtsdorfes nichts mehr zu tun. Und die Begleiter der Nachbardörfer würden noch einige Zeit zum Packen brauchen, also wurde entschieden, den Aufbruch auf den nächsten Morgen zu legen.

Zur Verabschiedung kamen sie zahlreich. Da beide Reisegruppen den Weg über Addars Insel nehmen würden, um sich erst danach zu trennen, gab es ein großes und dennoch geordnetes Durcheinander, als alle gleichzeitig verabschiedet werden sollten.

Silia schob sich durch den Pulk, der sich um ihren Bruder gebildet hatte. Zögerlich blieb sie vor ihm stehen und knetete unruhig ihre Hände. Ihr Blick glitt unsicher zu Boden und zur Seite.

„Dummes Kind.“, schmunzelte er liebevoll und überbrückte seinerseits den Abstand, zog sie in eine sanfte Umarmung. Einige Augenblicke ließ sie diese über sich ergehen, bevor sie ihre Hände gegen seine Brust stemmte und ihn ein klein wenig von sich schob. Nicht soweit, dass die Umarmung gelöst werden musste, aber weit genug, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte. Was sie nicht tat. Silia wirkte unsicher, wie sie weiter auf ihre Hände starrte, die noch immer an seiner Brust lagen. Mimoun erhielt einen freundschaftlichen Schlag gegen die Schulter, was kurzzeitig seine Aufmerksamkeit auf denjenigen lenkte, der ihm eine gute Reise wünschte. Als sich der Drachenreiter wieder seiner Schwester zuwandte, war sie gerade dabei, ihre Hände höher zuschieben und in seinen Nacken gleiten zu lassen. Vorsichtig schoben sich ihre Finger unter die glatten Schuppe Tyiasurs und begannen an dem Knoten herumzunesteln, der das Band für den Stein zusammenhielt. Der Drache ließ sich davon nicht stören.

Verständnislos und, wie er sich eingestand, auch ein wenig geschockt, löste er seine Hände von ihr und ließ sie auf halber Strecke in die Höhe schweben. Mimoun beobachtete wortlos und nicht mehr ganz so fröhlich wie noch kurz zuvor ihr Tun. Warum nahm sie ihm den Stein weg, der ihn doch immer wieder zurückbringen sollte? Wollte sie ihm damit zeigen, dass er endgültig gehen sollte?

Mimoun traute sich nicht, eine entsprechende Frage zu stellen. Sie gab ihm die Antwort dennoch, als sie ihn noch immer unsicher endlich in die Augen sah. „Ich brauch doch jetzt keine Angst mehr haben, nicht wahr?“

Mimoun öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und zog sie doch nur wortlos in seine Arme. Diesmal ignorierte er den nächsten Störenfried und konzentrierte sich voll und ganz auf seine kleine Schwester. Sanft strich er ihren Rücken entlang. „Nein. Nicht ‚dummes Kind’. Du bist erwachsen geworden.“, murmelte er und spürte mehr, als dass er sah, wie sie den Kopf schüttelte.

„Noch nicht. Aber gleich.“ Erneut stemmte Silia sich gegen ihn, um ihn auf Abstand zu bringen. Diesmal löste sie sich völlig von Mimoun und schob ihn gleichzeitig in Jayans Richtung, der mit seinem Sohn auf dem Arm geduldig neben ihnen gewartet hatte. Einmal atmete die junge Frau tief durch und wandte sich mit einem Ruck um. Schnell hatten ihre Augen denjenigen gefunden, dem sie noch etwas zu sagen hatte.

„Hey, Magier.“
 

Bisher hatte diese Stimme nie etwas Gutes bedeutet, deshalb spannten sich die Schultern Dhaômas unmerklich an. Ein bisschen fürchtete er sich, als er sich, die weinende Kitty auf dem Arm, der jungen Geflügelten zuwandte. Was sollte er sagen? Wie musste er sich jetzt verhalten? Wenn es um sie ging, fühlte er sich wieder wie ein Anfänger.
 

Auch Silia straffte sich, als sie nun seine Aufmerksamkeit hatte. Und nicht nur seine. Das ganze Dorf kannte das Verhältnis der beiden. Jadya schob sich schon durch die Menge, weil sie ein Unglück befürchtete und Schlimmeres abwenden wollte. Silia streifte ihre Freundin kurz mit einem flüchtigen Blick und wandte sich wieder ihrem derzeitigen Gesprächspartner zu. Einmal holte sie tief Luft und stieß sie zittrig wieder aus, bevor ein Ruck durch ihre Gestalt ging.

„Es stimmt wohl, was man sagt, Dhaôma. Familie kann man sich nicht aussuchen.“
 

Es wischte alles aus Dhaômas Gesicht und hinterließ ein einziges Fragezeichen. Was meinte sie denn damit? Wollte sie damit Mimoun beleidigen? Ihn? Sie wirkte so angespannt, dass es doch eigentlich nichts anderes sein konnte. Oder? Sie hatte ihn das allererste Mal mit seinem Namen angesprochen. War es also vielleicht mehr positiv gemeint? Aber wie interpretierte man da etwas Positives hinein? Immerhin hatte er sich ausgesucht, in welche Familie er gehören wollte. „Ai. Ja?“, antwortete er schließlich unsicher.
 

Jadya war stehen geblieben und betrachtete Silia. Auch sie schien die Bedeutung dieser Worte zu überdenken. Die Kinder waren da schon deutlicher. „Hää?“

Silias Gesicht überzog ein leichter Farbschimmer. Sie schlang ihre Arme um ihren Körper, als wollte sie sich selbst Halt und Schutz geben. „Ich konnte mir ja schließlich nicht aussuchen, dass er nun zur Familie gehört, oder?“, fauchte sie und wandte sich ab, barg ihr Gesicht an Jayans Schulter, der ihr lachend über die Haare strich.
 

Also war es doch wieder eine Beleidigung. Es würde sich nie ändern; ihr Verhältnis zueinander war und blieb wüst. Immerhin schien sie inzwischen akzeptiert zu haben, dass er zu Mimoun gehörte wie Jayan zu ihr. Und nur weil das so war, würde er sie nicht lieber mögen. Sie war gewalttätig und böse und hasserfüllt. Nur, was erwartete man jetzt von ihm? Irgendwas musste sie doch von ihm erwarten, wenn sie ihn hier so öffentlich ansprach, oder? Oder war es nur ein Statement, das man so stehen lassen konnte?

Hilfe suchend fing er Mimouns Augen ein und hoffte, Tyiasur würde diesem sein Problem mitteilen, damit er Kommunikationshilfe bekam.
 

Diese Übersetzungshilfe war nicht nötig. Mimoun sah auch so, dass sein Liebster überfordert war. Da sie wieder in seinen Wirkungskreis getreten war, als sie sich bei ihrem Gefährten verborgen hat, war es keine große Mühe, sie anzustupsen. „Hast du ihn gerade offiziell in die Familie aufgenommen?“, fragte er sicherheitshalber nach. Ihr Grummeln an der Schulter Jayans war nicht zu verstehen. „Das werte ich als Ja. Gut. Müsstest du ihn dann nicht zur Versöhnung noch umarmen oder die Hand reichen?“

Schlagartig wandte sie ihrem Bruder das Gesicht zu und setzte zu einer scharfen Erwiderung an. Im letzten Moment konnte sie sich beherrschen. „Beim nächsten Mal.“, nuschelte sie leise. „Für diesmal muss das reichen.“
 

So war das also. Es war ein Friedensangebot. Oder wohl eher auf dem besten Weg, ein solches zu werden. Falls sie es irgendwann schaffte, es nicht so erscheinen zu lassen, als ob sie dafür gnädigerweise ein großes Opfer bringen würde. Wie schon früher erinnerte sie ihn mit diesem Verhalten viel zu sehr an seine Mutter. 'Ja, ich akzeptiere dich; bleibt mir ja nichts anderes übrig.' Er hatte für sich beschlossen, dass ihm so etwas nichts bedeutete. Am liebsten würde er für Mimoun lächeln und ihr eine weitere Chance geben, aber er war nicht gut im Lügen. Sie würde es sofort durchschauen.

Weich strich er der verschüchterten Kitty durch die Haare. „Pass darauf auf, dass diese beiden Naruby den Hass auf die Magier nicht einimpfen.“, flüsterte er ihr ins Ohr und setzte sie ab, als sie nickte. Lächelnd erwiderte er und sie strahlte.

Andere nutzten die Gelegenheit, dass der Braunhaarige frei war, um ihn zu verabschieden, gaben damit Silia Zeit, alles zu verdauen, und retteten die unangenehm drohende Stille.
 

„Sie hasst euch nicht. Es ist noch leise Wut, aber kein Hass mehr.“, erklang Tyiasurs Stimme erklärend im Kopf des Magiers. „Sie ist nur genauso unsicher im Umgang mit dir, wie du mit ihr. Sie hat Angst vor den Kopf gestoßen zu werden, wenn sie sich bei dir entschuldigen sollte. Dass ihr Freunde werdet, davon geht sie gar nicht erst aus. Sie weiß, dass sie dafür zu viel Mist gebaut hat.“ Tyiasur, da trocken seiner Flugfähigkeit beraubt, nutzte die dicht gedrängte Menge als Brücke, um zu Dhaôma zu gelangen. „Einfach akzeptieren. Das reicht ihr völlig.“ Er ringelte sich um den Hals des Freundes. „Und jetzt werdet endlich fertig. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“ Diese Sätze waren nun für alle hörbar. Der kleine Drache wurde ungeduldig.
 

„Seh ich genauso.“ Lulanivilay erhob sich und Genahn wurde plötzlich sehr hastig.

„Los, Kinder, in die Körbe! Alle, die nicht fliegen können, bitte steigt auch ein, sonst wird er euch einfach greifen!“ Oh ja, er kannte das von der Reise hierher und von vielen Erzählungen Juuros.

Dhaôma sah zu der noch immer an Jayans Brust versteckten Silia hin. War das so? Sie hatte Angst, vor den Kopf gestoßen zu werden, und dachte, er würde ihr nicht verzeihen? Große Lust hatte er dazu auch nicht. Aber würde er sie vor den Kopf stoßen? Wohl nicht.

Lulanivilay drückte seinen Kopf unter seinen Arm und forderte ihn zum Aufsteigen auf. Wie lange würde er nicht mehr hierher kommen? Lange genug, dass sein jetziges Verhalten große Wellen schlagen konnte, nicht wahr?

„Warte noch, Vilay.“

„Dein Herz ist laut. Wirst du mutig sein?“

„Oh ja, sehr.“ Tief atmete er ein, dann ging er zu Silia hinüber. „Auch ich habe Angst davor, dass ich erneut abgewiesen werde. Ein neuer Anfang ist nicht einfach. Das ist er nie. Aber gerade jetzt haben wir den allerbesten Moment, den man haben kann. Lass uns den Streit begraben und uns in Zukunft zumindest als Menschen gegenübertreten.“
 

Silia starrte den Magier an, der so plötzlich neben ihr stand und sie ansprach. Nur langsam realisierte sie, was er ihr da sagte. Unruhig fuhr ihre Hand an Jayans Hemd auf und ab. Bis sie sich schließlich löste und einen halben Schritt zurücktrat. Nun hatte sie den Platz, den sie benötigte. Silia verneigte sich vor dem Magier und meinte, was sie sagte. „Danke.“
 

Dhaôma war erleichtert. Er konnte gar nicht beschreiben, wie sehr, aber es zeigte sich deutlich auf seinem Gesicht, als er lächelte. „Gern geschehen.“ Tyiasur löste den Bann über Dhaôma ein wenig, so dass dessen Freude sich auch in einem Blumenteppich äußerte.

„Gut. Und jetzt gehen wir. Es wird langweilig.“ Lulanivilay machte einen weiteren Schritt. „Das Feuerkind wartet.“

Jubel, Gelächter, erneute Abschiedsworte. Dhaôma kletterte auf den breiten Rücken, zog Mito zu sich herauf und winkte, während der Drache zum Rand der Insel trabte, dass die Körbe kräftig durchgeschüttelt wurden, und sich dann einfach in die Tiefe stürzte. Die Kinder jubelten vor Glück, die Geflügelten starteten mit ihnen.

„Der Wind zieht weiter.“, sinnierte Oldon und Jadya lachte leise.

„Solange er wieder mal hier vorbeikommt, ist es okay.“
 

Mimoun blieb einen kleinen Augenblick länger. Er zupfte ein kleines, lilafarbenes Blümchen aus dem Blütenmeer und steckte es Silia in die Haare. Noch immer wortlos zog er sie erneut in die Arme und drückte sie. Der Drachenreiter war glücklich. Endlich schien der Streit beigelegt zu sein. Wie lange hatte das gedauert? Drei Jahre? Eine viel zu lange Zeit, die ihn innerlich zerrissen hatte.

„Hör auf zu heulen und folge ihm endlich.“

Mimoun löste sich mit einem Kichern. Charmant wie immer, sein Schwesterlein. „Ich heule nicht, Blindfisch.“ Er platzierte einen sanften Kuss auf ihre Stirn und ließ sich dann in die Hocke sinken, damit Troll, der geduldig neben ihm ausgeharrt hatte, aufsteigen konnte.

Silias Hand glitt nach vorn, als Mimoun wieder stand, und zupfte bezeichnend an Trolls schwarzem Haar. Lächelnd legte sie den Kopf schief. „Ja. Die Familienähnlichkeit ist kaum zu übersehen.“

Lachend schüttelte der Drachenreiter den Kopf und spannte seine Flügel. Das Zeichen für die wenigen Umstehenden, aus dem Weg zu gehen. „‚Gebt auf euch Acht’, muss ich ja nicht mehr sagen. Ich glaube, ‚bis bald’ ist jetzt angebrachter.“, rief er, als er sich abstieß und sich in die Lüfte schwang. Mimoun winkte zum Abschied. Wie nebenbei fiel ihm auf, dass es ihm bisher so gut wie nie möglich gewesen war, hatte er doch die Hände mit Dhaôma voll gehabt. Es hatte sich einiges geändert, sinnierte er, als er der Gruppe folgte.

Nach und nach blieben weitere Freunde zurück, bis nur noch der Kern derjenigen übrig blieb, die zu Addars Insel unterwegs waren.
 

Zwei Tage später erschien am Horizont die Insel des Anführers. Niemals würde Dhaôma verstehen, geschweige denn voraussehen können, wie die einzelnen Inseln sich gegeneinander bewegten, aber er war sehr froh, dass sie da waren.

Wie eigentlich jedes Mal wurden sie gesehen, bevor sie landen konnten und ein völlig übermüdeter Asam begrüßte die Ankommenden inmitten seines Dorfes. Der Grund für die dunklen Ringe unter den Augen waren zweifellos die beiden blonden Mädchen, die angstlos direkt unter den landenden Drachen rannten und versuchten, springend an ihn heranzureichen.

„Waaaaaahhhh!“, brüllte der Mann hektisch, als sich der gigantische Körper Lulanivilays über ihnen senkte. Nicht wenige wurden ebenfalls blass.

„Hallo, Feuerkind, mach, dass es noch wärmer wird.“

Dhaôma begann zu lachen. Als er abstieg, hingen die beiden Blondschöpfe an den langen, scharfen Krallen des Drachen und quietschten vor Freude, dass der große Kletterberg zurückgekehrt war. Asam seufzte nur erleichtert, dass ihnen offenbar nichts passiert war.
 

„Lerne es langsam.“, lächelte Mimoun und half dabei, den Drachen von seiner Last zu befreien. „Vilay würde den beiden nichts tun.“

Dann klaubte er sich unter lautem Protestgeschrei seinen Winzling hervor. Da musste sie jetzt durch. Auch wenn sie nichts von ihrer Wendigkeit eingebüßt hatte und es schwer war, sie zu händeln. Derzeit hatte wohl Lulanivilay Vorrang. Schnell ließ er sie wieder los, um sich nicht auch noch Lulanivilays Unmut zuzuziehen.

Sein Blick glitt über die Versammelten, aber den, den er sehen wollte, konnte er nicht entdecken. „Wo ist Addar?“, wandte sich der Drachenreiter an das junge Ratsmitglied und Sorge machte sich langsam in seinen Eingeweiden breit.
 

Die Frage löste betretene Gesichter aus. So viele sahen zu Boden, andere waren den Tränen nah. Im Grunde war klar, was kommen würde, aber es erschreckte Dhaôma trotzdem, es zu hören. „Er war glücklich, dass der Krieg endlich vorbei ist.“, antwortete der Anführer der Geflügelten lahm. „Er lässt euch ausrichten, dass er stolz und froh ist, dass ihr euer Versprechen halten konntet, wie er seines gehalten hat. Der Frieden wäre ein wundervolles, befreiendes Gefühl.“

Ja, er hatte mal gesagt, dass er hoffe, wenigstens noch so lange zu leben, damit er den Frieden erleben kann. Aber was war der Sinn, auf dieses Ereignis hin zu sterben? „War es wenigstens schmerzlos?“, fragte Dhaôma mit enger Kehle und Asam nickte.

„Er ist über Nacht einfach eingeschlafen.“
 

Schwach taumelte Mimoun ein paar Schritte nach hinten und ließ sich an Lulanivilays Flanke nach unten gleiten. Addar war nicht mehr. Er war gegangen, bevor sie noch ein nettes Wort miteinander reden oder seinen verworrenen, aber sinnvollen Ratschlägen lauschen konnten. Sollte das etwa sein Schicksal sein? Immer nur um wenige Tage zu spät zu kommen, um sich von geliebten Menschen und Freunden zu verabschieden.

Er ließ seinen Kopf in den Nacken gleiten und starrte auf die wenigen faserigen Wölkchen, die sich an den Himmel getraut hatten. Es war ein zu schönes Wetter für solch eine Nachricht.

Es dauerte, bis er sich der Tränen gewahr wurde, die auf seinen Wangen kitzelten. Unwirsch wischte Mimoun sie beiseite. Addar hatte ein langes Leben gehabt. Er hatte ein erfülltes Leben gehabt. Er hatte sich seinen Wunsch erfüllen und den Frieden noch erleben können.

Mimouns Lippen verzogen sich zu einem schmerzlichen Lächeln. Es tat trotzdem weh.

Sanfte Arme schlangen sich um seinen Hals. Als sich Mimouns verschwommener Blick senkte, sah er Trolls Haarschopf. Er legte nun seinerseits seine Arme um das Kind und drückte es dankbar an sich. Es hatte keine Ahnung, um wen es ging, aber es wollte ihn trotzdem trösten.
 

Den gleichen Trost bekam Dhaôma von Leoni und Amar. Eigentlich hatten sie ihn begrüßen wollen, aber als sie sahen, dass er weinte, umarmten sie ihn wortlos. Dankbarkeit erfüllte ihn, bevor er sich zusammenriss. „Es ist schön, euch zu sehen.“, nuschelte er in den blonden Haarschopf Leonis, als eine unglaubliche Hitzewelle über sie hinwegfegte. „Was zum...?“ Alle zugleich wandten sie sich dem Drachen zu, der sich zufrieden zusammengerollt hatte. Fiamma saß auf seiner Nase und drückte unkoordiniert auf den Schuppen herum. Seren popelte unterdessen mit ihren Fingern zwischen den Zähnen herum. Asam wurde schon wieder blass.

„Das sind eure Kinder?“, fragte Haru da und sah die beiden skeptisch an. Sein Interesse an ihnen schwand. „Aber viel wichtiger, wer von euch ist Amar?“

„Ich.“

Der Blick wurde abschätzig. Das war also der, der Elin schöne Augen gemacht hatte? Wollte er doch mal sehen, ob er das überhaupt durfte. „Okay, Wettlauf von hier bis zum See?“

Amars Blick war genauso überheblich. Natürlich kannte er Haru von Erzählungen. Ein Rivale um Dhaômas Gunst. „Was kriegt der Sieger?“

„Das Privileg, auf der Seite Dhaôs kämpfen zu dürfen.“

„Gebongt. Dhaôma, gib ein Zeichen!“

„Ai?“, fragte dieser ein wenig überfahren von der Situation, aber letztendlich tat er ihnen den Gefallen und mit vielen anderen Kindern und unter lauten Anfeuerungsrufen rannten die Jungen los.
 

„Tragisch, dass es nur noch eine freie Seite gibt.“, murmelte Mimoun ein wenig verschnupft und stellte sich neben Dhaôma, legte ihm demonstrativ einen Arm um die Schulter. Die Hitzewelle hatte ihn schlagartig von seinem Platz neben dem Drachen vertrieben und seine Haut prickelte noch immer unangenehm. Leise schob er sich hinter seinen Liebsten und schlang ihm beide Arme um den Hals, bettete sein Kinn auf dessen Schulter und beobachtete die Kinder.

Es war ein Wettrennen. Es war klar, wer siegte. Amar hatte sich in seinem Training immer nur aufs Rennen konzentriert, während Haru seine Zeit aufteilen musste, zwischen schnell rennen und schnell fliegen üben. Damit stand auch gleich fest, welche Disziplin als nächstes folgte, denn diese Schmach ließ der Knirps nicht auf sich sitzen. Der Ehrgeiz, den Rivalen zu übertrumpfen, war geweckt.
 

Es war diesen beiden zuzuschreiben, dass die Stimmung nicht endgültig ins Negative abkippte. Am Ende ihres Wettkampfes waren sie Freunde. Schließlich wurden die Gäste vorgestellt und ein spontanes Fest auf dem Dorfplatz abgehalten, bei dem die Geschichten erneut erzählt werden mussten.

Wie erwartet gab es Geschrei, als die Kinder der Insel erfuhren, dass Haru und Elin schon jetzt zu den Drachen hinauf durften, um ihre Drachenfreunde kennen zu lernen, aber Asam beendete diese Diskussion schließlich ein wenig ungehalten. Jeder sollte seinen Weg gehen und wenn Harus und Elins über die Dracheninsel führte, dann war das so. Punkt und Schluss.

Das obligatorische Einkriegespiel fand erst am nächsten Tag statt und Dhaôma blieb wenig zu tun, denn Amar und Haru schirmten ihn so gut ab, dass er kaum Angreifer abwehren musste. Die beiden hatten beschlossen, dass es nicht falsch war, wenn sie beide Dhaômas Ritter waren. Und währenddessen beobachtete Dhaôma seinen Freund, wie er mit Fiamma spielte. Die kleine Magierin hatte inzwischen genug Verständnis für sich und die Welt, dass sie ihn mit Fragen löcherte, die er geduldig beantwortete. Sie nannte ihn Papa Mimoun.

In ihm erwachten wieder die Gewissensbisse. Konnte er seinem Freund wirklich dieses unbezahlbare Erlebnis abstreitig machen, seinen Winzling aufwachsen zu sehen? Wollte er selbst das verpassen? Eigentlich wollte er das nicht.

„Vielleicht sollten wir im Frühling wieder herkommen und den Sommer hier verbringen.“, sprach er das Thema an, als sie nachts zum Babysitten abkommandiert worden waren. „Dann haben wir sie wenigstens die Hälfte des Jahres. Und wir können ein wenig darüber wachen, was die Friedenskonferenzen so erzählen.“
 

Gedankenverloren popelte der Angesprochene an Fiammas Füßen herum, was sie sich lachend winden ließ. Mimoun gab nicht sofort eine Antwort, sondern ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Er rief sich wieder die Wärme ins Gedächtnis, die ihn durchströmt hatte, als sein kleiner Winzling ihn das erste Mal Papa genannt hatte. Ihre ganze Feuermagie war im Vergleich dazu zu einem Nichts verpufft, so intensiv war diese Wärme gewesen.

Ja. Für sich selbst kam er zu dem Schluss, dass er den Sommer hier verbringen wollte. Sie den Sommer über zu sehen, all seine Freunde den Sommer über zu sehen, war sehr verlockend. Im Gegensatz dazu stand Dhaômas Wunsch zu reisen. Nur im Winter würden sie nicht weit kommen. Ihnen blieb auch nur eine Richtung. Süden. Im Winter konnten sie nicht Richtung Norden reisen. Dhaôma würde nicht soviel sehen, wie er es sich vielleicht wünschte.

„Es… wäre schön.“ Keine Zusage, keine Absage.
 

Ein feines Lächeln legte sich auf Dhaômas Lippen. Das Zögern war ihm nicht entgangen. Offenbar würde Mimoun es auch nicht tun, wenn er das verlangen würde. Aber das sollte er gar nicht. „Dann machen wir das so.“, beschloss er, was Troll nervös werden ließ. Natürlich schlief er weiterhin in Mimouns Nähe.
 

„Hast du gehört, Süße?“ Mimoun wandte sich voll Fiamma zu und prustete ihr auf den nackten Bauch. „Wir sehen uns jetzt häufiger.“ Damit Seren sich nicht so vernachlässigt fühlte, bedachte er sie mit der gleichen Aufmerksamkeit. Und da sie nicht die einzigen Kinder hier waren, bekam auch der Rest seinen Kuschelanteil ab, bevor sich Mimoun endlich Dhaôma zuwandte. Bei ihm war er nicht überschwänglich erfreut und überdreht. Nein. Ruhig sah der Geflügelte seinen Magier an, bevor er ihn sanft küsste.
 

Der Braunhaarige ließ es geschehen, genoss den Moment und strich durch störrisches, schwarzes Haar. Es war beruhigend zu wissen, dass er jetzt erstmal das Richtige tun würde.
 

Es gab einen großen Aufschrei und Jubel, als sie am nächsten Tag ihre Pläne verkündeten. Einige wollten direkt den Drachenbau ausbauen, damit die beiden Drachenreiter dort auch Platz hatten, um dort zu wohnen, aber das wurde von Leoni und Amar so vehement boykottiert, dass klar war, wo sie leben würden.

Endlich kam Dhaôma auch dazu, Yaji und Juri das Buch zu geben, das er bei seiner Mutter mitgenommen hatte. Es ging um Bienen und ließ die Kinderaugen aufleuchten. Ganz stolz erzählten sie ihm ihren Plan, dass sie Bienenkästen bauen wollten, die sie von Ort zu Ort tragen würden, damit alle mehr Früchte haben konnten. Begeistert sagte Dhaôma zu, ihnen einen solchen Kasten wachsen zu lassen, sobald sie wüssten, wie er auszusehen hatte.
 

Kaum stand die Schlafplatzverteilung fest, wurde auch schon um den Rhythmus des Kinderhütens gefeilscht. Einen Tag alle Kinder bei den Drachenreitern, einen Tag alle zu Asam und Leoni und einen Tag jeder seine Kinder bei sich. So hätte man alle drei Nächte Ruhe und Zweisamkeit. Oder doch je zwei Tage, da treusorgende, liebende Papas ihre Kleinen so ungern in andere Hände gaben? Für die nächsten paar Tage den Ein-Tages-Rhythmus, denn die Drachen würden ihnen auch hier nicht viel Zeit lassen. Alles Weitere konnten sie beim nächsten Stopp auf dieser Insel klären.

Mimoun machte sich einen Spaß daraus, Genahn schon erste Trainingseinheiten in körperlicher Fitness zu geben. Kleine Rache für seine eigenmächtigen Entscheidungen bezüglich der Kinder, Vorbereitung für das Training bei Lesley. Die Kinder schlossen sich schnell an. Und nicht nur die, die bereits auf dem Weg zu den Drachen waren. Fiamma und Seren versuchten, den Übungen zu folgen, und sorgten für den Spaßfaktor in dieser Zeit.
 

Als das Laub am Rande der Ebenen sich umzufärben begann, machten sie sich wieder auf den Weg. In den letzten Tagen hatten sowohl die Kinder als auch die Drachen gedrängelt, dass sie weiter wollten, aber als es dann soweit war, gab es trotzdem Tränen.

„Vilay, du musst Fiamma hier lassen. Sie braucht ihre Familie.“

Nur widerwillig ließ der große Grüne das Kind los, das genauso heulte wie Seren. Seine Zunge fuhr über ihre Wangen, was sie schließlich verstummen ließ vor Überraschung.

Letztlich trennten sich doch alle Wege. Die Halbling-Eskorte machte sich auf den Weg nach Süden, die Drachenreiter flogen nach Norden. Die letzten hartnäckigen Begleiter bogen zu ihren eigenen Inseln ab. Die Reisegruppe wurde damit sehr überschaubar.

Haru und Elin bestanden darauf, dass sie auch laufen wollten, so wie ihre beiden Vorbilder, aber nach einem Tag anstrengendem Marsch am Fluss entlang, verzichteten sie. Lachend wurde ihnen prophezeit, dass sie wohl bald dazu in der Lage sein würden, wenn sie erst mit Lesley das Training aufnahmen.
 

Zwei Wochen später erreichten sie die Insel der Drachen. Schon seit Tagen war es stürmisch und grau gewesen und die Reisenden kauerten sich so gut es ging in die Körbe. Deshalb bekam eigentlich keiner mit, als sie landeten, denn es schaukelte einfach ein bisschen heftiger. Sie alle waren erstaunt, dass sie wirklich und wahrhaftig angekommen waren und ganz plötzlich in strahlendem Sonnenschein standen.

„Den Rest lauft ihr.“, beschloss Lulanivilay und ließ sich aus seinem Geschirr helfen. Er hatte schon seit einiger Zeit schlechte Laune, denn obwohl er über dem Meer war, hatte er keine Fische fangen dürfen, weil dann seine Passagiere ertrunken wären. „Ich habe Hunger.“

Liebevoll kratzte ihm Dhaôma die Nase, bevor er ihn auf den Weg schickte. Die Kinder rannten ohnehin schon lachend herum. Sie fürchteten sich vor den Drachen kein Bisschen, bis sie von Mimoun gerügt wurden, dass auch Drachen Menschen angriffen oder aßen, wenn ihnen danach der Sinn stand.
 

Der verdrehte Wald mit seinen Riesenerdbeeren. Der Tempel der Mutter und die Brutstätten der Drachen. Der See mit seinen schwebenden Inseln. Die Teichlandschaft mit ihren abendlichen Glühwürmchenschwärmen. Die Stadt der Drachenreiter. So viele Orte, die Mimoun wieder sehen wollte. So viele Dinge, die ihn genauso kribbelig werden ließen, wie die Kinder es auslebten. Und nur wenige der Orte standen sofort zur unmittelbaren Erreichbarkeit. Anderes war wichtiger. Am Einfachsten war es wirklich, die Gruppe nach Drangar, beziehungsweise zu Lesley zu führen. Dort konnte Aulee sich häuslich einrichten. Und Lesleys Pflicht als Lehrmeister junger Drachenreiter war es dann, sich um Aufsicht, Ausbildung und Vorstellung bei der Drachenmutter zu kümmern. So hätten Mimoun und Dhaôma Freizeit, um all das zu tun, was zumindest Mimoun schon jetzt in den Fingerspitzen kribbelte.

Entschlossen schlug er die Hände zusammen, schulterte sein Gepäck und machte zumindest für Dhaôma mit einem „Auf zu Lesley!“ die Marschrichtung klar. Mimoun führte die Gruppe schnurgerade auf ihr Ziel zu. Vorbei an den kleinen Kannibalen und den Feuerseen. Zur Pause ließ er die Wanderer auf dem Rücken der trägen Erdstampfer reiten. Und nebenbei spulte Mimoun all sein Wissen über jede Art, der sie begegneten, herunter, unterstützt und ergänzt von Dhaômas größerem Wissensschatz. Die Kinder sogen Gehörtes und Gesehenes gierig in sich auf. Während sie sich in der Nähe der Kannibalen gehorsam in der Nähe der Erwachsenen aufhielten, war es kein Problem, sie bei den Stampfern frei flitzen zu lassen. Unter Gelächter wurde Mito aus einem Loch gefischt. Wo Mimoun und Dhaôma damals nur die Gänge der Wühler getroffen hatten, war der Junge in eine zu dicht an der Oberfläche angelegte Höhle gerutscht. Das Gezeter der kleinen Drachen war riesig. Und die Scheinangriffe auf die deutlich größeren Gegner wirkten einfach nur putzig, bewirkten aber ein kleines Nebelfeld, von Mito aus Schreck erzeugt.

Dann endlich tauchte es auf, das Tal mit den bewaldeten Hängen und dem nahezu komplett ausfüllenden See mit seinen schwebenden Inseln unweit der Stadt, die sie angestrebt hatten. Grinsend ließ Mimoun seinen Blick über die Gruppe schweifen.

„Hondaran! Wir sind wieder da.“, rief er über das Wasser.
 

Die Oberfläche des Sees blieb ruhig und Dhaôma kicherte schon jetzt in sich hinein. Vermutlich wollte der Große die Neuankömmlinge nicht erschrecken. Oder er hatte sie unter Wasser nicht gehört.

„Ist das schön hier.“, murmelte Aulee und tastete ergriffen nach Elins Hand. Das Mädchen war müde. So viel Neues und Spannendes und so viel Bewegung hatte sie schon lange nicht mehr bekommen. Aber jeder stimmte der Frau zu. Der See war im Abendrot einfach bezaubernd.

Dhaôma schickte ein wenig seiner Wasserkraft auf Reisen und das hatte schließlich den gewünschten Erfolg. Der monströse Kopf hob sich unter lautem Rauschen aus den Fluten. Schreiend ergriff Troll die Flucht. Dagegen würden sie doch keine Chance haben! Für Dhaôma war das Wiedersehen seines Lehrers jedenfalls ein freudiger Anlass. Wie lange hatten sie ihn nun schon nicht mehr gesehen?

„Hallo, Hondaran. Wie geht es dir? Und wie geht es Lesley Han?“

„Er wartet schon sehnsüchtig. Hat sogar gekocht. Wenn ihr ankommt, ist alles fertig.“

„Wieder mal einmal unerlaubter Weise in der Zukunft rumgeschnüffelt, huh?“

„Es ist nicht leicht, ihn davon abzuhalten. Aber seit einiger Zeit macht er es seltener.“

„Bringst du uns hin?“

„Wir sollen auf dem da reiten?“

„Ja.“, kam die doppelte Antwort und mit einigen Schwierigkeiten nahmen alle auf dem großen, glitschigen Kopf Platz. Am gegenüberliegenden See konnte man den schwachen Schein eines Feuers erkennen.
 

Es war nicht einfach gewesen, Troll zwischen den Bäumen wieder einzufangen. Und noch schwerer war es, seinen Schreck und seine Angst ernst zu nehmen und nicht einfach lauthals loszulachen. „Er ist ein sehr guter Freund und hat uns viel beigebracht, als wir hier waren.“, erklärte Mimoun dem Jungen und führte ihn zu der Gruppe zurück.

Auf dem Kopf hielt er sich in der Nähe der Magier auf, um notfalls schnell zugreifen zu können, aber alle waren vorsichtig, zu erschöpft für Dummheiten und Hondaran selbstverständlich umsichtig. So konnte er sich voll und ganz auf das näher rückende Feuer konzentrieren. Ob der alte Zausel versucht hatte, sich ein wenig zu pflegen? Nicht, dass die Kinder durch den Waldschrat verschreckt wurden.

Ah. Nein. Hatte er nicht. Die verfilzte Mähne, die am Strand hockte, war eindeutig zu erkennen.

„Ihr habt lange gebraucht.“, schallte es zu ihnen empor und zwang Mimoun zu einem Lachen.

„Ich freu mich auch, dich wieder zu sehen.“

Die Kinder rutschten auf der glitschigen Haut des riesigen Drachens nach unten und wurden von den Erwachsenen aufgefangen, die zuerst hinunter geklettert waren.
 

Das Kennen lernen war von unterschiedlicher Natur. Genahn begrüßte den Alten respektvoll und schloss sich Dhaômas Beispiel an, einen ehrenvollen Anhang zu verwenden, die Kinder waren da weniger gehemmt und lachten über sein Erscheinungsbild. Lesley störte sich daran nicht. Er lachte mit und hörte sich im Folgenden an, was ihm die Wirbelwinde erzählten. Besonders über die wilde Wassermagie schien er sich zu freuen. Das würde sicherlich eine Herausforderung werden, wie er sie schätzte.

Am nächsten Tag wurde der alte Mann von Dhaôma neu eingekleidet und von Aulee zurechtgemacht. Mit einem ordentlichen Haarschnitt und komplett gewaschen trat er aus der provisorischen Tür seines Hauses. Plötzlich strahlte er eine innere Würde und Weisheit aus, die ihn in einem völlig anderen Licht erscheinen ließ. Bis er den Mund aufmachte, dann war er wieder Lesley, so wie sie ihn kannten, ein bisschen verrückt und ein bisschen verschroben.

Die Kinder drängten darauf, zur Mutter zu gehen, um endlich auch ihre Drachen zu sehen, aber Lesley schüttelte den Kopf. „Die Mutter sagt, es ist noch nicht soweit.“ Das hieß, er würde ihnen die ganze Theorie einbläuen, die er kannte. Nur Mito musste noch nicht. Hondaran sollte ihm beibringen, wie er seine Kraft gebrauchte, da er eh noch zu klein war, um das alles zu verstehen, was man ihm erklären würde. Damit blieb für Dhaôma und Mimoun nicht mehr viel zu tun. Zwar war Lesley der Meinung, sie könnten noch ein wenig Wissen gebrauchen, aber lange hielt es die beiden nicht in Drangar. Sie wollten endlich mal wieder ein bisschen Zeit für sich haben, die sie sich am Teich der Glühwürmchen schließlich gönnten.
 

Ja. Diesen Ort hier hatte er am meisten vermisst.

Sie blieben nur wenige Tage dort. Die beiden Drachenreiter klapperten all die erinnerungsträchtigen Orte ab, die diese Insel zu bieten hatte, und versäumten es auch nicht die Mutter zu begrüßen und sich für ihre Unterstützung zu bedanken. Mit Begeisterung beobachteten sie die zuletzt geschlüpfte Generation Jungdrachen und streunten schließlich wieder zu ihren Freunden. Sie wurden von knatschigen Kindern begrüßt, die ein wenig enttäuscht waren, dass sie noch immer auf ihre Drachen warten mussten. Ihnen war Praxis lieber als Theorie. Da mussten sie aber durch.

Aulee hatte sich in der Stadt ein größeres Gebäude gesucht, unweit von Lesleys Heim. Dieses Haus bot genug Platz für die neuen Bewohner der Stadt und ermöglichte doch etwas Privatsphäre. Die Geflügelte war noch immer dabei, Schäden auszubessern. Genahn unterstützte sie zwischen seinen Lektionen nach besten Kräften und kaum waren Mimoun und Dhaôma zurück, wurden auch sie zur Mithilfe gezwungen. Schäden am Stein musste Troll beheben. Nebenbei bekochte sie die gesamte Belegschaft und kümmerte sich auch sonst um alle häuslichen Pflichten. Mimoun bewunderte die Frau für ihr Engagement. Sie tat alles, um ihre Kinder in ihrem Wunsch zu unterstützen
 

Drei Monate nach ihrer Ankunft erwartete die Mutter die Neuankömmlinge in ihrer Residenz und unter den liebevollen Augen ihrer Eltern unterzogen sie sich dem Ritual, dem auch Dhaôma und Mimoun nicht entgangen waren. Derjenige, der am furchtlosesten war, war Mito. Der Junge strahlte die Mutter an und rief ungeniert, dass ihm die Farbe von ihr gefiele.

„Was jetzt? Woher kriegen wir jetzt Drachen, die uns mögen?“, wollte Haru ungeduldig wissen. Ihm ging das alles nicht schnell genug.

„Es ist eure Aufgabe, sie zu finden.“

„Das heißt, wir dürfen jetzt suchen?“

Kaum war die Erlaubnis erteilt, rannten die Kinder los, jedes in eine andere Richtung, so dass Aulee fast die Krise bekam, weil sie nicht auf sie aufpassen konnte. Selbst Troll war munter dabei, sich umzusehen.

Dhaôma bekam nicht alles mit, das dort passierte. Seine Augen ruhten auf Mito, der ganz selbstbewusst auf einen gelbgoldenen Drachen zuging, wahrscheinlich, weil ihm die Farbe gefiel, auf ein Ei zeigte und die Drachenmama höflich fragte, ob er es haben dürfte. Ihre Augen waren grün und glühten ungut, dass sich der Braunhaarige schon spannte, um notfalls eingreifen zu können, da schlossen sich die Augen nachgebend und ihm wurde das Ei zugeschoben. Überglücklich streichelte der Junge über ihre Nase und nahm danach das Ei auf. Es war so groß wie sein Kopf und braunrot. Hochrot vor Aufregung kam der Junge als erster zu Dhaôma zurück und präsentierte seinen zukünftigen Drachen.

„Gut gemacht.“, lobte Dhaôma und wuschelte ihm durch die Haare. Es würde ein Drache werden, der den Jungen gerade so tragen konnte, knapp zwei Meter groß und mit Flügeln statt Armen und einem Dornenbewehrten Schwanz. Allein von der Art konnte man schon sagen, dass es wahrscheinlich ein Winddrache werden würde.

In dem Moment quietschte Haru. Er saß ganz oben in einem Nest und herzte ein braunes Baby, das ihm begeistert über das Gesicht schleckte. Die Mutter des Drachen thronte wachsam über ihm, ein türkis schillerndes Reptil mit einem elendig langen Hals und hagerem Körper. Wie Mimoun hatte Haru einen Wasserdrachen gefunden, der wahrscheinlich nur kurze Strecken fliegen konnte, allerdings um ein gutes Stück größer war als Tyiasur.
 

Als nächstes fand Elin ein orange-rot marmoriertes Ei, von dem sie sich magisch angezogen fühlte. Gerade, als sie es stolz den Wartenden präsentierte, erwärmte sich die Schale zu nur knapp erträglichen Temperaturen. Aulee versuchte ihre Tochter dazu zu bewegen, das Ei abzulegen, bevor es noch wärmer wurde, doch verbissen drückte das Mädchen es an sich. Sie war gewillt, diese Prüfung zu bestehen, wie sie sagte. Es dauerte nicht lange und die Schale wurde weich und fiel in sich zusammen. Es bildete grob die Umrisse des kleinen Drachens mit vier Beinen und langem Schwanz nach, bevor die Schale in einem zähen Schleim gen Boden tropfte. Schlussendlich hielt das Mädchen einen graubraunen Drachen in den Armen, der erst seine neue Freundin aus roten Augen musterte und sich dann in der Gegend umschaute. Als es die anderen entdeckte, plusterte er sich etwas auf und fauchte. Die an Schlacke erinnernden Schuppen hoben und schoben sich ein wenig auseinander und offenbarten eine rötlich glühende Unterschicht.

„Ein Feuerdrache.“, murmelte Mimoun und beugte sich ein wenig näher. Die Wärme, die unter den Schuppen hervorströmte, war deutlich spürbar. Elin strich ihrem Drachen über den Rücken und die Schuppen schoben sich wieder in ihre Ausgangsposition. Die Wärme verschwand sofort. „Es kommt nur sehr selten vor, dass sie sich binden. Aber er passt zu dir.“

Alle drei Kinder beschäftigten sich mit ihrem Ei, beziehungsweise ihren kleinen Gefährten, als schließlich Troll zurückkam. Seine Hände waren leer und traurig sah er zu den Erwachsenen hoch. Mimoun ließ sich wieder auf seine Augenhöhe hinab. „Hey, Kopf hoch. Vielleicht schlüpft beim nächsten Mal ein Drache für dich.“, versuchte er dem Kind Mut zu machen, doch das schüttelte den Kopf.

„Vielleicht sind wir dann nicht mehr da. Wir wollten doch im Sommer bei Fiamma und Seren sein. Ich kann doch nicht so lange warten.“

„Du würdest nicht hier bleiben wollen, um auf einen Drachen zu warten?“, wollte Aulee wissen und bekam ein bekräftigendes Nicken zu Antwort.

„Sie sind doch meine kleinen Schwestern. Und wenn ich keinen Drachen finde, der mich unterstützt, muss ich es eben mit meinen eigenen Kräften schaffen.“ Troll sah auf seine Hände, über die sich Ausläufer von Brandnarben zogen. Und ließ den Blick weiter wandern zu seinen Beinen, die unter der feinen Hose verborgen waren. Dort verbarg sich seine Magie. Eine Form von Erdmagie, die sich eher auf Gestein bezog, denn diese hatte er gebraucht, um seiner Schwester zu helfen, auch wenn es nicht viel genützt hatte.

Zwei Hände, die sich auf seine Schultern legten, rissen ihn aus seinen Gedanken. Er sah Mimoun an, der ihn anlächelte. „Sie können stolz sein, solch einen Bruder zu haben. Ich jedenfalls bin stolz auf dich.“
 

Dhaôma lachte leise und nickte bekräftigend. „Du bist toll.“, sagte er und Troll versteckte sich errötend an Mimouns Schulter. An Dhaôma hatte er sich gewöhnt. Er war nicht böse und immer nett zu ihm, wie man sich eine Mama wünschen würde, also war es auch okay, wenn er ihm wie jetzt durch die Haare ging.

Lesley räusperte sich. „Aulee, ich denke, die Mutter möchte nun dich sehen.“ Bedeutend zeigte er auf die goldene Matronin, die erwartungsvoll zu ihnen herübersah. Genahn kam gerade völlig erschöpft zu ihnen zurück, hatte seine eigene Diskussion mit ihr hinter sich.

„Ist die anstrengend.“, murrte er und Aulee grinste frech.

„Ach nee, hat der Herr Magier verloren?“

„Lach du nur.“, knurrte er. „Mal sehen, wie du dich schlägst.“ Offenbar war es ihm gar nicht recht, dass sie gleich erkannt hatte, dass er bei dieser Drachin auf eine schier unüberwindliche Mauer gestoßen war.

Als Aulee wiederkam, schien sie wenig begeistert. „Ich verstehe, was du meintest. Sie weiß alles über mich. Da fühlt man sich nackt.“ Sie schüttelte sich und rief ihre Kinder. Sie sollten sich langsam auf den Weg nach Hause machen.
 

Vier Wochen später wurde sie allein zur Mutter gerufen und als sie wiederkam, klebte an ihrer Hand ein kleiner blauer Wurm, der sich nicht abschütteln lassen wollte. Ein Wasserdrache von Tyiasurs Art, der sie aus großen, blauen Augen anhimmelte. Er war ein wenig heller als Mimouns Drache. Mimoun und Dhaôma mussten sehr lachen, als sie die Situation als ähnlich zu Tyiasurs Schlupf erkannten.

„Klasse. Zu den vier Wirbelwinden und ihren Babys jetzt noch ein Baby, um das ich mich kümmern muss.“, meckerte sie, aber man konnte an ihren Augen sehen, dass es sie im Grunde genommen freute.

Das hier ist mein Lieblingskapitel. Es hat so unglaublich viel Spaß gemacht, es zu schreiben. *träum*
 

Aber jetzt mal ganz unter uns:

Vielen Dank an alle, die es geschafft haben, uns bis hierher zu begleiten. Allen voran KuroMikan, Zebran und Seelendieb.

Danke für all die schönen Kommentare. Sie haben mich jedes Mal sehr gefreut.
 

Kapitel 80

Epilog
 

„Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.“, lachte Elin und fiel Haru stürmisch um den Hals, dass er überrascht errötete. Seine Ziehschwester hatte einen ziemlich weiblichen Körper bekommen.

„Äh, ja.“, murmelte er und schob sie beschämt von sich. Unruhig strich er sich durch die blonden Haare, während er ihrem Blick auswich. „Nicht seit du die Prüfung bestanden hast.“

„Konnte ja auch keiner ahnen, dass du soviel länger brauchen würdest.“, frotzelte sie hämisch.

„Fünf Jahre.“, mischte sich Amar ein und lachte ihn aus. „Fünf Jahre länger als Elin, das ist fast schon traurig.“

„Kann ich ja nichts dafür, dass Gilli so schwer zu bändigen war!“, fauchte der Blonde, unterstützt von dem Wasserdrachen, der über Haru das gleiche zu sagen pflegte.

Amar lachte wieder. „Sicher, dass du nicht nur zu faul warst zu lernen?“

„Red du nur.“, murrte Haru und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.

„Streitet nicht.“ Dhara schob sich lächelnd zwischen die drei und legte ihre Arme um die beiden Jungen, dass ihr Kopf die der beiden gleichzeitig berührte. „Das verdirbt die ganze Stimmung.“ Auch sie war herangewachsen, war jetzt siebzehn und ziemlich hübsch geworden. „Wir wollten feiern, dass Haru jetzt ein vollwertiger Drachenreiter ist, also kommt. Die Zwillinge haben bereits Feuer gemacht.“

„Kunststück.“, seufzte Amar. „Fiamma nutzt jede Gelegenheit dazu.“ Aber er ließ sich von Dhara mitziehen. Haru und Elin folgten ebenfalls und der Blonde und sein Drache wurde in dem Kreis aus Freunden herzlich begrüßt.

„Wo ist Mito?“, wollte Keithlyn wissen und sah sich nach ihm um.

„Er bleibt oben bei Mutter und Lesley.“ Haru setzte sich in den entstehenden Kreis. „Er ist ein Streber. Sagt, die Bücher sind ihm wichtiger. Außerdem kann sein Drache nicht fliegen.“

„Er kann nicht fliegen?“

„Hat Elin das nicht erzählt? Er kam schon mit verkrüppelten Flügeln aus dem Ei.“

„Doch, ich habe es erzählt.“, fuhr sie empört auf. „Mir hört nur keiner zu.“

Haru rollte mit den Augen. „Zumindest das kann ich verstehen.“, murmelte er in seinen nicht vorhandenen Bart.

„Wir war das?“, drohte sie mit erhobener Faust und Dhara hob abermals beschwichtigend die Hände.

„Hey, beruhigt euch.“, rief sie. Zum Glück wurde der beginnende Zank der Geschwister durch die Ankunft neuer Gäste unterbrochen.

„Naruby, Naruby!“ Seren sprang auf und winkte dem Jungen zu, der sichtlich außer Atem zwischen Yaji und Juri flog. Sie umarmte ihn fest, kaum dass er gelandet war. Ihre Schwester folgte nur Sekunden später ebenso herzlich, dass der Junge rot wurde vor Freude. Er ließ die ockerfarbene Katze zu Boden, bevor er die beiden blonden Mädchen fest umarmte. „Es ist so toll, dass Tantchen dich gehen ließ!“

„Da seid ihr ja endlich!“, rief Flore inzwischen und erhob sich. Das junge Halblingsmädchen winkte der Gruppe zu, die sich nun dem weitläufigen Feld von der anderen Seite näherten, auf dem sich bisher alle versammelt hatten. Es handelte sich dabei um den zum Ausgangsort der Friedensbringer erkorenen Platz, auf dem bereits die Friedensverhandlungen stattgefunden hatten. Wie lange das jetzt schon her war. Fast war die Tatsache eines gerade überstandenen Krieges so unwirklich, aber die vier großen Statuen Mimouns, Dhaômas, Lulanivilays und Tyiasurs, die über die vier Ecken des Platzes wachten, riefen es jedem in Erinnerung.

Moira sprang dem anderen Halbling in die Arme und bekam Unterstützung von Marvin. Seine Schwester Haya war da zurückhaltender, auch wenn sie sich sichtlich freute hier zu sein, im Endeffekt kannte sie diese Leute hier nicht wirklich. Sie ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen. „Sind wir die Letzten?“, wollte sie schüchtern wissen.

„Jokun und Palil hatten sich noch angekündigt. Wer weiß, ob sie ihr Nesthäkchen mitbringen. Und vielleicht kommt Troll noch. Bei ihm weiß man nie, aber um seine Mädchen zu sehen, geh ich zu nahezu hundertprozentig davon aus, dass er kommt.“

„Ist er nicht grad wieder bei den Rumtreibern?“, wollte Haru wissen, was von Naruby verneint wurde.

„Mein Onkel hat bei seinem letzten Besuch nichts dergleichen verlauten lassen, dass Troll sich ihnen wieder für eine Weile anschließen würde.“

„Also warten wir noch ein Weilchen und gucken, ob er kommt.“

„Ich hoffe es. Er ist der beste Informant, was ihre Aktivitäten angeht. Würde mich schon mal wieder interessieren.“, mischte sich Flore in dieses Gespräch ein.

„Ähm, was ist mit Neri?“, fragte Juri.

Elin zuckte desinteressiert die Schultern. „Die ist sicher bei Mimoun und Dhaôma. Als würde die gehen. Viel zu klein.“

„Wer ist das?“, fragte Haru irritiert. Den Namen hatte er noch nicht gehört.

„Neri ist ihr neustes Adoptivkind. Eine kleine Magierin, deren Eltern sie nicht mochten und geschlagen haben.“, erklärte Yaji und lachte.

„Du kennst das doch. Sie waren zufällig da und entschlossen sich, sie mitzunehmen.“, zuckte Juri mit den Schultern. „Als könnte einer von den beiden zu Kinderaugen ‚nein’ sagen.“

„Sie ist ganz niedlich.“, schwärmte Elin und Haru seufzte. Er hatte zuviel verpasst. „Erst drei Winter alt.“

„Welche Magie?“, wollte Keithlyn wissen. Sie war mit Abstand die Älteste in dem Kreis.

„Ist noch nicht ganz klar.“, sagte Seren.

„Ich wette, Pflanzen. Sie hat auch braune Haare, wie Dhaôma.“, rief Fiamma aufgeregt und Seren lachte.

„Das hat mit der Haarfarbe nichts zu tun.“, erklärte ihr Seren.

„Das weiß ich auch.“, murrte ihre Schwester. Und wechselte im nächsten Moment ihre Stimmung und auch gleich das Thema. „Es war gar nicht so leicht, Papa davon zu überzeugen, uns nicht zu begleiten, aber wir haben es geschafft.“ Sie strahlte stolz. „Und als nächstes gehen wir und suchen die Insel der Drachen.“

„Wir müssen nur vorsichtig sein, dass Papa nicht so schnell davon Wind kriegt, sonst werden wir das kaum schaffen.“, erklärte Seren ruhig. „Deshalb haben wir euch ja zusammen gerufen. Wir brauchen eure Hilfe. Ihr müsst ihn irgendwie von unserer Spur abbringen.“

„Ich will auch mit!“, rief Naruby, wurde aber von Kitty in die Arme genommen, die ruhig den Kopf schüttelte. „Warum nicht?“ Seine Augen wurden feucht.

„Silia?“ Es war nur ein einziges Wort, das sie sagte und brachte ihn damit zur Vernunft.

„Mama wäre traurig.“, erkannte er leise, sie nickte. „Und du auch?“ Sie nickte wieder. „Ich möchte auch einen Drachen haben.“, murmelte er traurig.

„Du kannst ja später nachkommen.“, schlug Fiamma vor. „Wenn du älter bist.“

„Du bist auch erst dreizehn.“, sagte Amar.

„Du passt doch auf mich auf.“, konterte sie.

„Schon...“

„Also, beschlossen, du zeigst uns den Weg.“

Haru lachte. Ja, Amar hatte beschlossen, dass er es aus eigener Kraft schaffen würde, sobald die Zwillinge alt genug waren. Ob dreizehn jedoch alt genug war?

„Da sind sie!“, riefen Moira und Taloth synchron und zeigten zum Rand des Feldes. „Jokun, Palil!“

„Sie haben Relaia dabei!“, freute sich Keithlyn. „Und Yusuki!“ Sie winkte und der violette Drache flog vor und ihr direkt in die Arme, warf sie zu Boden und gurrte sie an. Mit seinen zweieinhalb Metern konnte er seinen Reiter geradeso tragen. Jokun hatte den Drachen vor drei Jahren bekommen, als er Dhaôma und Genahn besuchen war und hatte als einziger die Drachenreiterprüfung beinahe so schnell absolviert wie Mimoun und Dhaôma. Gerade mal ein Jahr hatte er gebraucht.

„Wow.“ Ramons Augen glänzten. „Er hat eine wunderschöne Farbe.“

„Yaji.“ Jokun hatte aufgeholt und begrüßte sie zuerst. Fest nahm er sie in seine durchtrainierten Arme, hob sie schwungvoll von den Füßen und drehte sie einmal herum. „Ach, du riechst immer so gut!“, schwärmte er und versenkte seine Nase in ihrem Haar, was sie errötend geschehen ließ. „Nach Honig.“

„Wehe, ihr braucht genauso lange, wie Mimoun und Dhaôma.“, unheilte Amar drohend. Das war ja damals schon nicht mit anzusehen gewesen. Auf eine Wiederholung konnte er gut und gerne verzichten. „Flirtet woanders.“

„Bist ja nur eifersüchtig.“, lachte Elin und stützte sich auf seiner Schulter ab. „Komm selber in die Gänge, bevor du dich über andere beschwerst.“

Amar schluckte sichtbar und schob sie dann von sich. „Sagt die Richtige.“

„Ich beschwer mich nicht.“, lachte sie unbefangen und schwang sich in die Luft. „Ich schau mich kurz um, ob Troll tatsächlich noch kommt. Bin gleich wieder da.“

Während sie warteten, dass die junge Feuerdrachenreiterin zurückkehrte, wurde der Proviant aller zusammengetragen. Die Ankündigung war klar gewesen und so hatten alle ein wenig mehr dabei, um vernünftig speisen zu können. Darüber hinaus machten sich diejenigen, die sich noch nie begegnet waren und sich bisher nur vom Namen und aus Erzählungen her kannten, miteinander vertraut. Das Stimmengewirr erinnerte an einen der Bienenschwärme, die Juri und Yaji im letzten Dorf zurückgelassen hatten.

„Er kommt.“ Der Ruf ließ alle nach oben blicken. Elin vollführte eine Landung voll Grazie und Anmut und ließ ihre roten Locken in einer eleganten Bewegung über ihre Schulter fallen. „Troll kommt tatsächlich.“

Bis der Erwartete schließlich eintraf, dauerte es noch ein Weilchen. Das Essen war fertig und die Feier schon in vollem Gange, als der Nachzügler endlich auf der Bildfläche erschien und die Anwesenden mit einem lässigen Heben der Hand begrüßte. Gelassen ließ er seinen Rucksack zu Boden gleiten und platzierte sich daneben.

„Das Beste kommt zum Schluss, nicht wahr“

„Immer. Solltest du dir merken, Haru. Vielleicht kannst du dann auch mal einen epischen Auftritt hinlegen.“

Von Harus promptem Plustern bekam er nur am Rande etwas mit, da er sorgsam seine Decke vom Rucksack löste und akribisch als Nest zusammengedreht vor sich platzierte. Kaum war er mit seinem Werk zufrieden, knöpfte er seinen Mantel auf, löste das darunter zum Vorschein kommende Tuch und enthüllte zwei winzige Geschöpfe, die nun neugierig in die Gegend schnupperten.

„Wie süß. Was sind denn das für niedliche Tierchen?“ Die Jüngeren und die eher mit einem Mutterinstinkt ausgestatteten jungen Frauen scharrten sich um Troll und seine Tiere.

„Gleithörnchen. Sie waren zu dritt, als ich sie fand, aber das Schwesterchen hat es leider nicht geschafft.“ Er wickelte die Kleinen wieder vorsichtig in das Tuch und platzierte das Bündel vorsichtig in dem provisorischen Nest.
 

„Wie die Väter so der Sohn.“, kicherten einige und dann schlug die Stimmung um zu aufgeregt-neugierig. „Also, fangen wir jetzt an? Es sind doch alle da.“

„Jaaaa, wer fängt an? Wer fängt an.“

„Lass doch Troll entscheiden. Er war schließlich der letzte.“

„Troll, was willst du als erstes hören?“

Der Schwarzhaarige überlegte kurz, während er mit seinen Fingernägeln ein paar Bucheckern auseinanderpulte. Letztendlich zeigte er auf Kitty. „Wie geht es Jadya?“

Es ging ein allgemeines Stöhnen durch die Reihen der Jugendlichen. Warum hatte er sich ausgerechnet die Schweigsame ausgesucht? Das konnte doch nichts werden.

„Vielleicht kann ich das beantworten.“, mischte sich Gerinea ein, ein siebzehnjähriges Magiermädchen mit dunklen Locken. „Ihr wisst ja, dass Jadya vor vier Jahren zu uns nach Hagen gezogen ist.“ Hagen war das Dorf, aus dem Fiamma stammte. Die Geflügelten hatten es in mühevoller Kleinarbeit als Entschuldigung wieder aufgebaut und schließlich Unterstützung von einigen Magiern bekommen, bis man beschlossen hatte, daraus das erste gemeinsame Dorf zu machen. „Sie hat nach viel Bitten vor zwei Jahren die Führung dieses Dorfes – Verzeihung – der Stadt übernommen. Und sie macht das wirklich phantastisch. Seit sie dort ist, kommen immer mehr dazu.“ Ihre Stimme wurde schwärmend. „Jadya ist wirklich gut darin, jegliche Streitigkeit beizulegen. Die Leute kommen immer zu ihr, wenn was los ist. Wir hatten schon seit Monaten keine Handgreiflichkeiten mehr.“ Als sie zu kichern begann, wurden alle noch ein wenig aufmerksamer. „Sie hatte so viele Verehrer, Magier wie Geflügelte, dass sie gar nicht mehr wusste, wohin damit, aber sie hat sich letzte Sonnenwende endlich entschieden. Er ist Hanebito und heißt Dearon. Vor einigen Tagen hat sie verkündet, dass sie sein Kind trägt.“

„Das ist gut zu hören.“, antwortete Troll zufrieden, denn ihm war damals nicht entgangen, dass sie Mimoun nachgetrauert hatte. Dass sie glücklich war, beruhigte ihn.

„Gut zu hören?“, fuhr Elin auf. „Das ist toll, super, klasse!“ Sie schlug die Hände vor die Brust und strahlte über das ganze Gesicht. „Endlich.“ Vor lauter Freude wusste sie nicht, wohin mir ihrer Energie und umarmte urplötzlich Amar, der bis über beide Ohren errötete.

„Ist ja gut. Lass mich los.“

„Hab dich nicht so.“ Sie streckte ihm die Zunge raus. „Wäre nicht das erste Mal.“

„Willst du, dass dein Bruder mich umbringt?“, zischte er.

„Ach, das würde er nie wagen.“, flötete sie. „Nicht wahr, Haru?“ Aber Haru sah durchaus so aus, als würde er den Störenfried am liebsten grillen. Der beste Beweis dafür war sein Wasserdrachen, der aus seinem Schlaf erwacht war und sich nun entrollte.

„Bitte.“ Gerinea lachte. „Kein Streit. Wir sind hier, um zu reden. Kämpfen könnt ihr später noch.“

„Fein.“, murrte Haru und verschränkte beleidigt die Arme voreinander. Das alles lag nur daran, dass er immer den Unterricht bei Lesley geschwänzt hatte, dass dieser Gernegroß es geschafft hatte, sich an seine Schwester heranzumachen. Nur deshalb hatte er fünf Jahre lang nicht auf sie aufpassen können.

„Gut, Gerinea, wer ist der nächste, der erzählen soll?“

„Ich darf wählen? Schön, ich wähle Moira. Wie ist es bei den Magiern im Wald?“

„Ist gar nicht so besonders.“, meinte das Halblingsmädchen. „Wir kommen klar. Die Nachbarstadt hat mich akzeptiert, seit Volta und Zira dort hingezogen sind.“

„Volta lebt jetzt bei euch? Ehrlich?“ Keithlyn machte große Augen. Seitdem er vor elf Jahren verschwunden war, hatte man nichts mehr von ihm gehört. „Geht es ihm gut?“

„Er hat selbst drei Kinder. Sie waren Überbleibsel aus dem Schloss und sind Halblinge wie er und ich. Und die Magier akzeptieren das. Seitdem akzeptieren sie auch mich und ich muss mich nicht mehr verstecken.“

„Hat ganz schön lange gedauert.“

„Länger als alles andere. Die Halblinge waren danach die Bösen.“, stimmte sie traurig zu. „Aber sie haben endlich begriffen, dass wir Kinder nichts dafür können, wer wir sind.“

„Warum hast du sie nicht mitgebracht?“, wollte Fiamma wissen. „Dann hätten wir neue Leute kennen gelernt. Wo Papa uns doch nie weglässt.“

„Ich habe sie gefragt, aber sie sind noch nicht dazu bereit. Sie haben gesagt, dass sie sich nicht trauen.“

„Vielleicht bitten wir sie das nächste Mal direkt.“, schlug Seren vor. „Dann wissen sie, dass sie willkommen sind.“

„Okay! Ich schreibe einen Brief.“ Fiammas Wangen waren vor Aufregung gerötet, während sie schon überlegte, was in dem Brief stehen sollte.

„Gut, dann erzählt jetzt Haru. Was ist los auf der Insel. Wie geht es Aulee?“

„Es geht ihr blendend. Vor allem, seit sich noch mehr dort oben eingenistet haben. Es gibt mittlerweile einige, die sich entschlossen haben, von nun an in Drangar zu leben. Nicht alle von ihnen haben tatsächlich Drachen, aber sie wollen dieser Stadt wieder Leben einhauchen.“

„Du scheinst nicht begeistert darüber zu sein.“, stellte Keithlyn irritiert fest.

Verlegen kratzte sich Haru am Hinterkopf. „Das trifft es nicht wirklich.“ Ein bezeichnender Blick zwang ihn dazu sich zu erklären. „Sie nehmen einem irgendwie das Gefühl einzigartig zu sein.“

Elin lachte. „Keine Sorge.“ Sie klopfte ihm auf die Schulter. „Du bist auf jeden Fall einzigartig. So lange wie du, hat bisher noch keiner gebraucht. Ganze zehn Jahre.“

Da konnten ihr die anderen nur lachend zustimmen.

„Das ist nicht, was ich…!“, brauste der junge Mann auf, brach aber nach einem belustigten Seitenblick seiner Schwester zerknirscht ab und versteckte sein Gesicht hinter seinen Händen. Am Besten schnell das Thema wechseln.

„Wo wir schon bei weiten Entfernungen waren… Flore. Was machen die Halblinge in den Savannen?“

Die Angesprochene antwortete nicht sofort, sondern lehnte sich erst ein wenig zurück und schloss seufzend die Augen. „Sie bleiben in ihrem selbst erwählten Exil. Sie sagen, sie haben sich an ihre neue Heimat schon so sehr gewöhnt, dass sie keinen erneuten Umzug mitmachen wollen. Ich kann sie verstehen, ich mag das Land auch.“ Nach diesen wenigen Worten schnellte sie wieder nach vorn, fast verschwörerisch und grinste. „Aber wir kriegen regelmäßig Besuch. So alle viertel Jahre kommt eine Karawane. Damit wir nicht mehr so abgeschieden sind, schließlich sind wir Freunde der Friedensbringer. So bekommen wir Nachrichten, was sich gerade in der Welt tut. Und wir können Handel treiben. Man hat uns sogar geholfen richtige Hütten zu bauen, damit wir nicht bei jeder Sturmflut aus den Höhlen flüchten müssen und ohne Dach dastehen. Die Angst, die unser Dorf anfangs noch im Griff hielt, diese Angst vor Entdeckung und Verfolgung ist völlig verschwunden. Ich habe sie ja noch mitbekommen, schließlich ging es nicht von einem Tag auf den nächsten sie abzulegen. Aber nun kann man da richtig frei atmen.“ Das Mädchen stockte und grinste verlegen. „Zumindest fühlt es sich so an.“

„Du bist süß.“, beschied ihr Keithlyn. „Und ich kann sie verstehen. Das Land ist wunderschön, es ist durchgängig warm und man kann gucken, soweit man möchte.“

„Du musst grade reden. Wer war denn seit sieben Jahren nicht mehr da?“

„Ich hatte meine Gründe.“, verteidigte sich das Albinomädchen und streckte ihr die Zunge heraus. Nur weil sie hier die Älteste war, hieß das nicht, dass sie sich auch so benehmen musste.

„Aha, und die wären?“, zischte Flore mit verschränkten Armen.

Schnippisch drehte Keithlyn den Kopf zur Seite. „Verrate ich nicht.“

Juri kicherte, während sie Seren abknuddelte, die sie schon lange nicht gesehen hatte. „Sie hat jetzt auch Kinder.“, verriet sie. „Eines sechs und eines drei Jahre alt.“

„Petze.“, zischte Keithlyn hochrot.

„Warum ist dir das denn peinlich?“ Flore war aufgesprungen. „Das sind phantastische Neuigkeiten. Weißt du, wie glücklich Korkkan sein wird, wenn er das hört?“

„Du wirst es ihnen nicht verraten. Ich wollte sie überraschen, wenn meine Kinder alt genug sind, um sie zu besuchen.“ Keithlyn hatte drohend die Flügel gespannt und wirkte damit sehr überzeugend.

Amar lehnte sich seufzend zurück. „Wisst ihr, ich glaube, ich beginne langsam zu verstehen, warum sie ein ganzes Heer dazu bringen konnte, sie in Magiergebiet zu begleiten.“

„Echt? Warum?“ Fiammas Augen waren rund vor Neugierde. Natürlich kannte sie alle Geschichten in- und auswendig. Die Abenteuer ihrer Ziehväter und Retter und Prügelknaben. „Sag schon!“, drängte sie, als Amars Blick mitleidig resignierend wurde. Schon lange war klar, dass dieses Mädchen sich grundsätzlich von niemandem einschüchtern ließ. Wie könnte sie da verstehen, was andere bei Keithlyns Anblick empfanden?

„Von mir jedenfalls herzlichen Glückwunsch.“ Flore umarmte ihre Clanschwester und strahlte. „Komm möglichst bald, ich versuche, mich zurückzuhalten.“

„Dein Glück.“ Die Anspannung ging ein wenig, dann erwiderte sie die Umarmung. „Vielen Dank.“

Nun fielen auch alle anderen mit ein, ihr alles Gute zu wünschen. Es gab ein richtiges Tohuwabohu.

Bis Dhara wieder die Stimme erhob. Ihr war etwas aufgefallen. „Sag mal, Juri, woher wusstest du das? Nicht mal wir Geflügelte wussten davon.“

„Ich und Yaji ziehen von Insel zu Insel, vergessen?“

„Ach ja, mit den Bienen.“

„Davon habe ich schon gehört.“, mischte sich Marvin ein. „Funktioniert das wirklich? Dass deswegen mehr Früchte und so wachsen?“ Als Ziegenhirte in den Wäldern hatte er einmal von Dhaôma davon gehört, dass es bei den Hanebito Bienenhirten gab.

„Klar funktioniert das.“, lachte Yaji. „Warum sollten wir es sonst noch tun?“

„Und der Nebeneffekt ist, dass wir alle Neuigkeiten aus erster Hand erfahren und beinahe alle Hanebito mindestens einmal schon gesehen haben.“

„Inzwischen gibt es außer uns noch zwei die das machen, aber trotzdem sind wir das ganze Jahr eigentlich unterwegs, teilweise sogar auf den Ebenen, weil uns die Bienen bei dem geringen Nahrungsangebot auf den Inseln einfach verhungern würden.“

„Das klingt schön.“, seufzte der Braunhaarige und legte die Arme auf den Knien ab. „Mit meinen Ziegen komme ich selten mal aus dem Wald heraus.“

„Warum?“, wollte Naruby wissen. Er kannte sich mit diesen Tieren nicht aus. „Sind das Waldtiere?“

„Nein.“ Marvin schüttelte den Kopf. „Sie kommen auch wunderbar auf den Ebenen klar. Aber wir sind leider an einen Ort gebunden, wo wir ihre Milch und andere Erzeugnissen gewinnen und verkaufen können. Es wäre unpraktikabel, alles mit herumschleppen zu müssen.“

„Verstehe.“ Gewichtig nickte der Junge mit vor der Brust verschränkten Armen. Das wurde ein wenig zunichte gemacht durch Kitty, die ihren Kopf auf seinen gestützt und ihre Arme um ihren Schützling gelegt hatte.

„Wie sieht es in unserem Dorf eigentlich jetzt aus? Ich war schon lange nicht mehr da.“, mischte sich Haru nun ein und erntete prompt wieder einige Lacher. Natürlich. Wäre er schneller mit seiner Prüfung gewesen, wäre er schneller wieder nach Hause gekommen. Danke. Den Teil hatte der junge Mann nun wirklich häufig genug unter die Nase gerieben bekommen.

„Wir wohnen ja dichter an der ehemaligen Grenze als sonst jemand.“, begann Naruby mit der jedem Anwesenden bekannten Tatsache.

„Ihr hattet ja schneller Kontakt zu den Magiern bekommen.“

Mit einem Nicken fuhr der Junge fort. „An die Anfänge kann ich mich nicht erinnern, ich war ja noch ein Säugling, aber ich bekam immer die herzlichen und offenen Empfänge mit, wenn man Magier gesichtet hatte und ersichtlich wurde, dass sie mit uns in Kontakt treten wollen. Wie ihr wisst, ist es schwierig von unten Kontakt zu den Inseln herzustellen. Nicht immer werden die Reisenden sofort entdeckt. Vor allem nicht auf den höheren Inseln. Deshalb war bei jeder Karawane ein Windmagier dabei, der uns Botschaft in die Höhe schickte. Es machte Spaß, den Wind der Magier zu nutzen und zu flattern.“

Haru winkte ab. „Das wissen wir alles doch schon. So ganz bin ich ja nicht von allem fern geblieben. Auch auf Jashar hab ich Neuigkeiten empfangen.“

„Lass ihn reden. Deinen eher mageren Bericht haben wir auch weder kritisiert noch unterbrochen.“, wurde er von Amar zurechtgewiesen.

Es war wieder Dhara, die die beiden trennte. „Wir wollten doch friedlich bleiben.“

Naruby ließ sich von der Unterbrechung nicht beirren, sprang in seiner Erzählung dennoch ein wenig vor. „Seit Jadya nicht mehr da ist, verlässt meine Mutter häufiger die Insel. Wir gehen sie dann gemeinsam besuchen. Es schien ihr anfangs wirklich schwer zu fallen, aber nun geht es meiner Mutter damit richtig gut, unter so viele Menschen zu kommen.“ Er hob seinen Blick und schaute Kitty an, bevor er fortfuhr. „Ich weiß nicht, ob du es schon gehört hast, aber Oldon ist nicht mehr unter uns. Nobu hat nun die Führung des Dorfes übernommen.“

„Oh.“ Das war Haru dann doch neu. Es stimmt ihn traurig. Gerne hätte er den alten Zausel noch einmal gesehen, der ihnen, als sie Kinder gewesen waren, soviel durchgehen lassen hatte.

Die anderen spürten, dass die Stimmung zu kippen drohte, also sprang Jokun ein. „Ich kann euch berichten, dass in der Hauptstadt der Magier alles soweit geregelte Bahnen läuft.“ Ein leicht unschönes Grinsen verunzierte seine Lippen und seine Augenbrauen trafen sich fast auf seiner Stirn, als er anfügte. „Zumindest, solange mein Vater nicht da ist. Dieser…“

„Bruder, sei nicht so.“, beschwichtigte ihn Palil. „Immerhin hatte er es nicht leicht in den letzten Jahren.“

„Ja, ich vergaß. Nachdem seine Wunden auf herkömmliche Weise heilen mussten, machte er sich auf eine Reise, um sich an Lulanivilay zu rächen und seine Magie wieder zurück zu bekommen. Nach sechs langen Jahren kehrte er stolz erhobenen Hauptes zurück, behauptete, er hätte es aus eigener Kraft geschafft, obwohl kurz vorher Onkel Dhaôma bei uns gewesen ist, um Mutter zu sagen, dass er seinen Bruder gefunden und geheilt hat. Er hat eiskalt gelogen. Uns alle angelogen, um sein Gesicht nicht zu verlieren. Und jetzt tut er so, als hätte er keinen Fehler gemacht und führt sich auf, als wäre er der beste Vater, den die Welt je gesehen hat, obwohl er nicht einmal weiß, wie man ein keines Mädchen zur Begrüßung umarmt.“ Verstimmt verschränkte er die Arme vor der Brust. Nicht einmal Yajis weiche Berührung konnte ihn umstimmen.

„Ich glaube eher, dass Onkel Dhaôma sich ihm nicht gezeigt hat. Immerhin heilt er die zerstäubte Magie nur durch seine Anwesenheit.“ Palil seufzte. „Mutter gegenüber meinte er mal, dass man mit Vater nicht reden könne und dass er ihn lieber nicht mehr sehen wolle. Verständlich, nach allem, was dieser seiner Familie und seinen Freunden angetan hat.“

„Es wäre trotzdem besser, wenn er nicht ständig kommen würde. Es würde für alle das Leben leichter machen.“

„Mutter freut sich, wenn sie ihn sieht.“

„Und sobald er den Mund aufmacht, streiten sie. Was soll daran gut sein?“

Schüchtern zupfte Relaia am Ärmel ihres Bruders. „Weißt du, Jokun, Vater erzählt mir abends oft Geschichten.“

„Ja, weil er nicht vergessen kann, dass er mal der Held der Magier gewesen ist.“ Der braunhaarige junge Mann seufzte und gab seine schlechte Laune auf. „Ich bevorzuge es, wenn er auf seinen Selbstfindungsreisen ist, dann muss ich mich nicht mit ihm beschäftigen.“

„Liegt es daran, dass dann Zim freie Bahn hat?“, fragte Yaji neckisch. Ihre Augen funkelten.

„Wer ist Zim?“

„Ich weiß es!“, rief Relaia und riss die Hand hoch, aus der Eisstaub schoss. „Er schenkt Mutter und mir Blumen und zeigt Palil, wie man Bäume nach seinen Wünschen umgestaltet.“

„Palil hat also Dhaômas Macht geerbt?“, wollte Haru wissen. „Das ist phantastisch. Schade, dass Dhaôma es dir nicht selbst zeigen kann.“

„Er ist ja nie da.“

„Muss in der Familie liegen.“, murmelte Juri kichernd, aber sie wurde nicht gehört, als Relaia wütend aufstand und mit heftigen Gesten und rotem Gesicht ihren Onkel verteidigte, dass er viele Aufgaben hätte und auch noch andere Verpflichtungen auf ihn warteten. Es führte zu einem Auflockern der Gemüter. Jokun zog seine kleine Schwester in seine Arme und kuschelte sie.

„Goldstück!“, pustete er in ihr Ohr und brachte sie zum Kichern.

„Also hat Penny einen Verehrer. Hat sie denn Interesse an ihm?“

„Ja.“ Die Antwort war einfach gehalten und löste trotzdem Jubelstürme aus.

„Und was sagt Genahn dazu?“

„Was wohl?“, mischte sich Keithlyn ein. „Sie soll machen, wozu sie Lust hat.“ Ihr helles Lachen sprach von ihrer Freude, denn diesen Freund sah sie immer noch sehr oft. „Genahn würde einen Teufel tun und sie unglücklich machen. Ihr wisst doch, wie er ist. Friede, Freude, Eierkuchen – ist sein Motto. Und er macht ja auch immer, was er will.“

Bezeichnend zeigte Jokun auf sie.

„Ja.“, mischte sich Seren ein. „Damit ist er aber wenigstens nicht allein. Wenn ich mir die jährlichen Versammlungen so ansehe.“

„Ach hör mir doch damit auf.“, moserte Fiamma und verwarf ihre Hände. Was bei ihrer Schwester zu einem Kichern führte, verursachte Neugierde bei den anderen.

„Was ist los?“, fragte Troll sanft, als keine der beiden daran dachte, fortzufahren. Diesen Zündfunken hatte die kleine Feuermagierin gebraucht.

„Die Erwachsenen sind so anstrengend.“, echauffierte sich das Mädchen. „Ward ihr mal dabei?“ Schwungvoll stand sie auf und verdeutlichte durch eindrucksvolle Pantomime, was sie meinte. „Mylady sehen heute wieder zauberhaft aus. Welch seltene Gabe, dass die Zeit ihrer Schönheit nichts anhaben kann. Dass wir auch dieses Jahr wieder eine solch zarte Blume in unserer Mitte haben werden, lässt mein Herz jetzt schon voll Erwartung höher schlagen.“ Gekonnt wechselte sie die Person und mimte nun die Angesprochene, mit all den passenden linkischen und peinlich berührten Gesten. „Nicht doch, Ihr Charmeur. Ihr bringt mich ja noch ganz in Verlegenheit. Seht Ihr, ich werde ja schon ganz rot.“ Fiamma warf ihre Hände in die Luft und ließ sich fallen. „Das sieht man unter dem Zentner Schminke nicht. Weder das Alter noch das angebliche Rotwerden. Warum dieses gestelzte Geschleime? Können die sich nicht ganz natürlich verhalten?“

„Schon mal daran gedacht, dass das zur Etikette gehört?“, fragte Keithlyn, sich ein Grinsen nur mühsam verkneifend. „So werden Beziehungen gepflegt. Niemand will den anderen vor den Kopf stoßen, denn niemand will einen erneuten Krieg heraufbeschwören. Es sind erst zehn Jahre vergangen. Manche Wunden heilen nicht so schnell und manches Vergangene kann man nicht vergessen.“

Seren legte ihrer Schwester beruhigend eine Hand auf den Unterarm und lächelte, bevor sie fortfuhr und einen kurzen Einblick in die Versammlungen gab. Jede Gruppierung beteiligte sich daran. Geflügelte, Magier, selbst einige Halblinge ließen sich ab und zu dort blicken. Juuro war dann immer bei ihnen. Er war ihr Sprecher, ihr Schutz, denn ihr Auftreten war noch immer unsicher.

„Auf den Versammlungen läuft es immer so ab, wie jetzt hier bei uns. Jeder erzählt, was sich Neues zugetragen hat in dem Jahr. Wo gab es Streitereien, wo gab es erfreuliche Fortschritte, wo Neuerungen und Änderungen, wie kann man das Zusammenleben vereinfachen. Und weil Vater immer noch hofft, dass einer von uns eines Tages seinen Platz einnimmt, schleppt er uns jedes Mal mit hin. So bekommen wir Neuigkeiten aus erster Hand, auch wenn selten persönliche Geschichten von vertrauten Personen dabei sind.“

„Stattdessen langweiliger Kram von fremden Leuten und wir müssen dasitzen und lächeln und glücklich aussehen.“, fügte Fiamma hinzu und ließ sich nach hinten in das störrische Gras sinken.

„Ihr armen Würstchen.“, frotzelte Troll und sie streckten ihm unisono die Zungen raus. Auch er war am Anfang zweimal dabei gewesen und hatte dann für sich beschlossen, dass er stattdessen auf die Jagd gehen würde. „Dann bin ich jetzt wohl dran, oder?“

„Ja, erzähl.“ Beinahe alle setzten sich auf, Seitengespräche wurden eingestellt. „Was ist los im Hause Friedenbringer?“ Denn das war die Zusatzbezeichnung, die die beiden ersten Drachenreiter bekommen hatten, nachdem es immer mehr davon gab.

„Ich kann euch nur berichten, was mit bekannt ist. Das heißt, alles bis vor drei Monaten.“ Der Schwarzhaarige setzte sich auf. „Palil, mach das Gras da tot.“

„Sofort.“ Der Junge sprang auf und stellte sich in die Mitte des Kreises. Beide Hände auf dem Boden konzentrierte er sich wie wahnsinnig, um die Magie zu initiieren, die Dhaôma so leicht von der Hand ging. Langsam verwelkten die Pflanzen, bis sie schließlich zu Staub zerfielen. Als er sich aufrichtete, glänzte Schweiß auf seiner Stirn.

„Gut gemacht.“, lobte Troll und ließ den steinigen Untergrund zu Sand werden. Darauf hatten die meisten nur gewartet, denn mithilfe seiner Macht ließ der erste Sohn der Friedensbringer Bilder aus beweglichem Sand erscheinen. Gerade erhoben sich zwei ihnen allen bekannte Gestalten in Miniaturformat, die Hand in Hand an einer Klippe zu stehen schienen. „Da viele beim letzten Treffen noch zu klein gewesen sind, um sich zu erinnern, und andere gar nicht dabei waren, fange ich von dem Tag an, als sie wieder ihr eigenes Ziel verfolgten. Der Frieden war gemacht, ihnen blieb kaum noch etwas zu tun. Andere sollten sich anstrengen, damit der Frieden wirklich eine Chance hatte. Deshalb und weil die Drachen sie dazu drängten, brachten sie Genahn auf die Insel der Drachen hinauf.“ Gerade noch so mit dem Boden verbunden war die kleine Reisegruppe zu sehen, wie sie auf und um Lulanivilay flogen.

„Das wissen wir.“, maulte Haru.

„Ich nicht.“, mischte sich Haya ein und warf Gras nach ihm. „Sei still.“

Troll lächelte milde. Das Bild änderte sich. „Sie haben Training machen müssen, vor allem Mimoun musste mit den anderen zusammen die Schulbank drücken.“ Ein sehr verzweifelter Mimoun kratzte sich am Kopf und raufte sich die Haare, während er die Nase in ein Buch steckte. „Und Dhaômas Aufgabe war es, kämpfen zu lernen.“

„Das hat Kaley ja auch schon mal probiert.“, lachte Keithlyn, die es aus erster Hand immer wieder von ihrem Schwiegervater erzählt bekam. „Das war vergebliche Liebesmüh.“

Grinsend bewegte Troll seine Hände und der Sand zeigte mehrere kleine Drachen, die Dhaôma angriffen. Wie in einer Explosion wuchsen um ihn herum Blumen und Früchte und die Kleinen fielen wie die Fliegen vom Himmel. „Sagen wir es so: Er hat seine eigenen Methoden.“

„Ja.“ Juri dehnte das Wort, während sie stirnrunzelnd zu erfassen versuchte, was dort geschehen war. „Aber was hat er gemacht?“

„Es ist eine Blüte, die sie schläfrig macht. Im Übrigen, nicht nur sie.“ Das nächste Bild zeigte die kleine Familie schlafend zwischen den Drachen. „Bis er sie welken ließ, hielt das an. Danach hat Lesley noch einige andere Versuche gemacht und schließlich aufgegeben.“ Überall Gekicher. „Ein halbes Jahr später verließen wir die Insel der Drachen. Mito ist bei Lesley geblieben, also waren es nur sie und ich. Den ganzen Sommer über blieben wir zuhause, aber im Winter waren wir wieder unterwegs. Ganz weit in Richtung Sonnenaufgang suchte Dhaôma nach Menschen, von denen er auf Drangar gelesen hat. Menschen, die im Meer leben. Aber er hat sie nicht gefunden. Auch in anderen Jahren zeigten sie sich nicht, aber wir haben Hinweise gefunden, dass es sie gibt. Vielleicht wollen sie sich einfach nur nicht zeigen.“

„Menschen, die im Wasser leben?“ Naruby rümpfte die Nase. „Wie seltsam.“

„Aber trotzdem nicht unwahrscheinlich. Immerhin kannst du fliegen und ich kann Magie wirken.“ Troll ließ das Bild sich ändern. „Das ist sechs Jahre her. Sie haben einige Kinder im Wald gefunden, die völlig verwildert waren. Drei davon sind später weggelaufen, weil sie nicht bei uns bleiben wollten.“

„Und wir sind hier.“, winkte grinsend eine junge Frau mit blonden Locken. Neben ihr saßen zwei Rotschöpfe und ein inzwischen achtjähriges Kind mit schrecklichen Narben im Gesicht und am Kopf.

„Ihr seid hier. Und jeder von euch hat sich neue Eltern gesucht.“

„Ist ja auch nicht einfach, Väter zu haben, die ein halbes Jahr nicht bei einem sein können und den Rest des Jahres oben auf den Inseln sind.“ Der eine Rotschopf wurde rot im Gesicht, als er zugab, dass er trotzdem sehr dankbar war, dass die beiden sie gefunden hatten.

„Und dass du uns ermutigt hast, Erwachsene nicht aufzugeben.“

„Gern geschehen.“ Trolls Hände zogen ein weiteres Sandbild hoch, das zeigte, wie die beiden mit vielen Magiern geredet hatten, um die Kinder unterzubringen. „Das fünfte Jahr nach dem Krieg hatten wir einige Probleme mit Vilay. Der Drache war total seltsam und beinahe unbezähmbar. Bis Dhaôma aus ihm rausbekommen hat, dass er zur Paarung zur Dracheninsel zurückwollte, hat wirklich gedauert. Und weil er eben nicht reitbar war, waren wir zu Fuß unterwegs. Das war eine tolle Zeit.“ Im Sand zeigten sich Bilder von Kletterpartien und Schwimmsessions. „Das war der Zeitpunkt, wo ich verstanden habe, dass Dhaôma mir genauso ein Vater sein kann wie Mimoun. Er hat mir eine Menge Dinge beigebracht.“

„Da war ich auch dabei.“, rief Flore und zeigte auf eine Jagd auf Steinböcke. „Das war wahnsinnig spannend.“

„Wie kommt es, dass du dabei warst?“ Man konnte Fiamma die Eifersucht direkt ansehen.

„Juuro, Korkkan und ein paar andere hatten beschlossen, dass wir über die Berge zurück zur Friedenskonferenz wandern würden und haben sie zufällig getroffen. Ihr müsstet mal sehen, wie geschickt Dhaôma und Troll zusammengearbeitet haben, um den Tieren die Flucht zu erschweren.“

„Anders ging es ja auch nicht. Die sind da oben in den Bergen einfach im Vorteil.“

Wie gebannt hingen die Blicke der Kinder auf dem beweglichen Sand. Gerade stürzte ein Bock in eine Felsspalte und es gab bewundernde Rufe, als Mimoun ihn aus der Spalte zerrte.

„Ich wäre so gerne auch mal bei so was dabei!“ Fiamma schlug mit ihrer Faust auf ihr Knie.

„Keine Sorge. Bald.“ Serens Augen funkelten, was bei Troll ein weiches Lächeln auslöste. Ja, er kannte die Pläne dieser beiden, hatte sie von Dhaôma und Mimoun erfahren, die es wiederum von Amar wussten.

„Vilay kehrte erst im nächsten Jahr zurück. Er sah furchtbar aus. Zu den vielen feinen Narben, die er schon hatte, gesellten sich noch einige gravierendere, die Dhaôma nicht mehr heilen konnte. Er hat sich offenbar wirklich mit jedem möglichen Gegner da oben geschlagen.“

„Das kann ich bestätigen!“, seufzte Haru.

„Das war wirklich beängstigend.“ Elin schüttelte sich. „Und wir waren am Anfang nicht mal sicher, ob er das wirklich war, denn er hat kein Wort mit uns gewechselt.“

„Als er fast verblutet wäre… Das war wirklich schlimm.“

„Vilay ist immer noch Vilay.“, fuhr Troll fort. „Wie immer redet er nicht viel, kriegt alles mit und liebt es, Fremde einzuschüchtern oder unpassende Kommentare an noch unpassenderen Stellen einzuwerfen. Vor drei Jahren haben wir versucht, das Gebirge Richtung Sonnenuntergang zu überfliegen, sind daran aber gescheitert. Es war zu hoch, um zu atmen. Selbst mit Windmagie und Genahns Hilfe haben wir es nicht geschafft. Aber ich bezweifle, dass Dhaôma den Gedanken wirklich aufgegeben hat. Er ist wirklich stur.“

„Worauf du einen lassen kannst.“, lachte Amar.

„Mimoun kann einem wirklich Leid tun.“, stimmte Haru seufzend zu.

„Ich glaube nicht, dass er euer Mitleid braucht.“ Sachte schüttelte Troll seine Hände und der Sand bildete sich zu Mimouns Gesicht, das völlig verklärt in eine Richtung starrte. „So sieht er aus, wenn er Dhaôma einfach nur beobachtet.“

Keithlyn lachte. „Ja, sieht voll gequält aus, der Arme.“ Mehrere Mädchen stimmten in ihr Lachen ein.

„Die folgenden beiden Sommer waren wir wieder zuhause, weil Leoni ein neues Kind trug.“

Begeistert übernahm Fiamma. „Das war toll. Sie waren ganze zwei Jahre nur bei uns!“, jubelte sie. „Und weil sie so viele Freunde haben, war jemand da, der mir gezeigt hat, wie ich meine Magie kontrollieren kann, damit sie nicht erfrieren im Winter!“ Sie klatschte in die Hände und eine Welle Hitze breitete sich aus, dass Seren sie vor Glück stürmisch umarmte.

„Ja, seitdem hat sie nichts anderes mehr im Kopf, als Drachen suchen und finden.“ Stolz strich das Mädchen durch das blonde Haar ihrer Schwester.

„Als ob du anders wärst.“

„Hab ich ja nicht bestritten.“

„Leonis Kind ist ein weiteres Mädchen.“, klinkte sich Troll wieder ein, als Amar die Zwillinge in die Mangel nahm und ihnen die Münder zuhielt. „Sie haben es Addaria getauft, um damit an Addar zu erinnern, dessen Verlust ein herber Schlag war.“

„Oh, aber weise ist sie nicht.“ Seren hatte sich freigekämpft.

„Sabbert nur und schreit und lacht und macht in die Windeln.“ Fiamma nutzte Amars Unaufmerksamkeit, um ihren Mund freizumachen.

„Was glaubst du, was du gemacht hast, als du so alt warst.“, lachte ihr Cousin. „Hast immer Dhaômas Haare angesabbert und Mimoun das Essen ins Gesicht gespuckt.“

„Alles berechnet.“, erwiderte sie selbstbewusst.

„Jedenfalls haben sie vor nicht allzu langer Zeit Neri aufgenommen, als sie in der Hauptstadt zu Besuch waren. Ihre Eltern waren gemein zu ihr und grausam. Dhaôma war richtig böse. So zornig habe ich ihn noch nie gesehen.“ Troll lachte leise, als er das Gesicht aus den Erinnerungen heraufbeschwor. Einige keuchten, andere feuerten ihn an. „Hat ziemlich mit ihnen geschimpft und dann darauf bestanden, Neri mitzunehmen. Die Kleine ist sehr gut darin, Sprachen zu lernen. Sie kommuniziert mit Vilay schon jetzt fast flüssig in der alten Sprache, dabei ist sie erst drei. Bisher hat sie noch keine Magie entwickelt.“ Er unterbrach sich kurz. Vielleicht sollte er ihnen nicht sagen, dass Dhaôma der Frau und dem Mann durch eine kleine Berührung die Möglichkeit genommen hatte, sich noch einmal fortzupflanzen. Schmunzelnd erinnerte er sich an Mimouns zufriedenes Gesicht. „Und jetzt sind sie auf dem Weg in die Wolfsberge, um diesen Winter im dahinter liegenden Dschungel zu verbringen. Dhaôma wollte seine Pflanzenvielfalt aufstocken. Wahrscheinlich ist ihm langweilig geworden und er braucht eine neue Aufgabe.“

„In den Dschungel möchte ich auch!“ Fiamma verzweifelte fast. „Warum nehmen sie uns nie mit? Wir sind doch auch ihre Töchter.“

„Weil Papa dagegen ist.“ Seren schmollte leicht. „Aber das änderte sich jetzt alles.“

„Warum das?“

„Geheimnis.“

Beinahe hätte Troll gelacht. „Mehr kann ich euch zu den beiden nicht sagen. Vermutlich kommen sie im Frühjahr nach Hause.“

„Vermutlich wie in vielleicht, nicht wahr?“ Amar lächelte schwach. „Die sind doof. Warum können sie nicht einmal still halten.“

„Viel eher frage ich mich, wie Fiamma das von ihnen hat erben können, obwohl sie nicht blutsverwandt sind.“, seufzt Yaji.

„War die Frage jetzt ernst gemeint?“, wollte Jokun mit hochgezogener Augenbraue wissen. „Hast du schon mal ruhiges Feuer gesehen?“

Nein, hatte sie nicht. „Aber wanderndes Feuer?“, hakte sie noch einmal nach.

„Flächenbrand.“, flötete Seren und winkte grinsend zu Yaji herüber. „Aber da wir nun alle gehört haben, kommen wir zu einem wichtigeren Thema. Was plant ihr für die nächste Zeit?“

„Zu meinen Kindern zurück.“, antwortete Keithlyn prompt. Nun da alle hier davon wussten, konnte sie es auch ohne Probleme aussprechen.

„Mama macht sich noch immer sehr schnell Sorgen.“, warf Naruby mit einem Lächeln ein, das sowohl Verständnis als auch Genervtheit widerspiegelte.

„Ziegen.“, war Marvins kurzer Kommentar.

„Ihr seid ja anstrengend.“, lachte Fiamma dazwischen. „Habt ihr noch Spaß in eurem Leben oder nur noch Verantwortung?“

„Wir sind Drachenreiter.“, warf sich Haru in die Brust und legte einen Arm bezeichnend um Elin. „Natürlich haben wir Verantwortung.“

„Gut.“ Elin schob ihren Ziehbruder von sich. „Da ihr ja keine Verantwortung habt, was plant ihr denn.“

Die Zwillinge sahen sich an, grinsten und kicherten. Sie waren die Hüterinnen eines großen Geheimnisses. Würden sie die anderen einweihen oder weiter neugierig lassen?

„Das…“, begann Fiamma gedehnt und lehnte sich verschwörerisch vor. „…ist eine gute Frage. Da kommt ihr ins Spiel.“ Langsam hob sich ihr Zeigefinger an ihre Lippen und ihre Augen funkelten schelmisch. „Niemand darf es wissen. Vor allem nicht unser Papa.“ Ein letzter Blick zu Seren. Dann ließ sie die Bombe platzen. „Wir gehen Drachen suchen. Auf demselben Weg wie Mimoun und Dhaôma. Wir begeben uns auf die Spur der Friedensbringer.“

„Das schafft ihr nicht. Asam findet euch schneller, als euch lieb ist.“, stellte Juri klar.

„Deshalb brauchen wir euch.“ Seren kniete neben ihrer Cousine und ergriff ihre Hände. „Ihr müsst ihn auf eine falsche Fährte locken. Lenkt ihn ab solange ihr könnt.“

„Wäre es nicht besser uns gar nicht erst davon zu erzählen? Was wir nicht wissen, können wir nicht ausplaudern.“, gab Keithlyn zu bedenken.

„Vielleicht.“, stimmte Fiamma mit einem Nicken zu. „Aber vielleicht würde er dadurch nur noch schneller auf unsere Spur kommen. Bitte. Wir wollen dorthin.“

„Allein?“, fragte Troll und setzte sich wieder neben sein improvisiertes Nest. Gut. Sie schliefen.

„Natürlich nicht.“ Amar erhob sich. „Ich werde sie begleiten. Sie sind zu jung, um allein zu gehen.“

Troll schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Grinsen. Genau, wie ihm gesagt worden war. „Und du allein kannst mit den beiden Wirbelwinden klar kommen?“ Eine Antwort ließ er nicht zu. „Zu meinem eigenen Schutz werde ich mitkommen. Wenn Mimoun herausfinden sollte, dass ich von dieser Aktion wusste und euch völlig allein, ohne vernünftige Ausrüstung oder nur der Ahnung der Wegrichtung habe losmarschieren lassen, krieg ich so was von Ärger. Danke, darauf verzichte ich.“ Immerhin war seine Anwesenheit der einzige Grund, warum die Zwillinge nicht daran gehindert wurden.

„Ich habe eine Ahnung, wo wir lang müssen.“, erwiderte Seren. „Natürlich habe ich mich informiert.“

„Ist doch egal.“, sprang Fiamma dazwischen. „Dann kann er uns noch mehr Geschichten erzählen.“

Das blonde Kind lachte ausgelassen. „Abgemacht.“

Gut. Dann war auch das geklärt. Die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen setzten sich noch zusammen und versuchten einen Plan auszuarbeiten, wie Asam so lange wie möglich abgelenkt werden konnte. Immer haarspalterische Möglichkeiten wurden ersonnen und sie verloren sich in Phantastereien und Spinnereien. Es war einfach nur noch lustig. Die Nacht verbrachten sie um das stetig flackernde Feuer herum verteilt.

Der nächste Morgen begann mit klarem Himmel. Es war ein guter Tag. Unter vielen Umarmungen und Glückwünschen verabschiedeten sich die Freunde und Familienmitglieder voneinander. Es wurde Zeit, dass nun jeder seinen eigenen Weg ging, wohin ihn dieser auch führen würde. Früher oder später würden die verschiedenen Wege wieder zusammenführen und dann gab es neue und aufregendere Geschichten zu erzählen. Die Geschichte einer neuen Reise.
 

Ende



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Von:  KuroMikan
2015-05-05T16:23:50+00:00 05.05.2015 18:23
Hallö :)

Ich bin wahnsinnig gerührt, ich komme in der danksagung vor <3

Ich weiß gerade gar nicht wo ich anfangen soll ... ich bin irgendwie noch total geflasht *.*
Ich glaube ich rolle das ganze von hinten auf xD

Ich fand das treffen der Drachenreiter echt eine super idee :) auch wenn ich zugeben muss das ich mir bei ein paar charakteren total schwer getan hab, weil ich nicht mehr genau wusste wie ich sie zuordnen soll. aber das hat sich total schnell gelegt :D

Ich finds auch klasse das die beiden "friedensbringer" jetzt ein freies leben führen können :) da wird man richtig mit euphorie überschwemmt *schweb*
das haben sie ja mal sowas von verdient <3

Ich könnte gerade irgendwie heulen weils vorbei ist *schnief* ich hab pippi in den augen -.-° ich bin einfach zu sentimental XD

Aso bevor ichs vergesse... dhao muss echt übermächtig sein wenn er es mitlerweile schafft die zerstäubte magie seines bruders wieder zusammenzusetzen, und das auch noch aus der ferne.... dhao du schlingel *grins*
haaaaaa...

ach ja bevor ichs vergesse... hat narubi was mit dem katzenmädchen am laufen oder hab ich da was falsch verstanden.. oder sie werden irgendwann zueinander finden... *schmunzel* japp XD (gerade beschlossen XD)

und zu guter letzt...
schade das dhao immernoch keine weißen haare hat :D aber was nicht ist kann ja noch werden... im zweifel ergibt sich das eh mit der zeit XD.
was ist eigendlich mit seiner magie? macht er immernoch blumen wo er geht und steht? naja nicht das es schlimm wär hab mich schon so dran gewöhnt... ;)
mimoun ist also immernoch total hin und weg von dhao und tappelt ihm hinterher :) das ist einfach nur schön ^^ *freu*

Und nun abschließend von mir noch einen Mega knuddler *knuddel*
*euch Kekse hinstell* die habt ihr euch sowas von verdient :) eine super leistung ^^
ich hoffe ich lese wieder von euch :)

Liebe Grüße von einer weinenden aber glücklichen Mikan (T.T)

Antwort von:  torateh
05.05.2015 21:15
KEKSE *draufstürz und mümmel*

schön, dass es dir gefallen hat und dass du glücklich bist. es ist schön so treue leser zu haben. vielen lieben dank für die zahlreichen kommis.
Antwort von:  Shirokko
06.05.2015 10:04
ja, vielen dank ^^
Narubi und das Katzenkind... nein, ich weiß nicht. soweit haben wir uns das nicht überlegt. Aber sie ist vernarrt in ihn. Wird mal ein Problem, wenn er anfängt, sich für Mädchen zu interessieren, die nicht sie sind, glaub ich... ^^°
Dhao kriegt mal weiße Haare, versprochen. Er beginng mit 55 zu ergrauen und hat mit 75 schlohweißes Haar, okay? (wollte ich jemals soweit ins detail gehen??? *schüttel*
Ja, er macht immer noch, wo er geht und steht Blümchen. Das Leck in seiner Magie schließt sich nicht mehr vollständig, was ein Problem ist, wenn minibläuling nicht da ist oder genügend 'spender' (magier), die seine Reserve wieder auffüllen. Aber es ist besser geworden weil er ausgeglichener ist. denke ich.
Und ja, die beiden sind immer noch genauso verrückt und bekloppt und rennen einander hinterher, unzertrennliche Turteltauben. ^^

So, ich hoffe, das waren alle Fragen.
*knuff*
Hoffentlich auf bald.
Antwort von:  KuroMikan
06.05.2015 21:13
japp :) und nein XDD no way ich will mir dhao nicht in alt vorstellen .... ^^°

schreibt ihr eine fortsetzung? über die wassermenschen oder so? würde mich total freuen :)
Antwort von:  Shirokko
06.05.2015 21:14
nein, sorry
Antwort von:  KuroMikan
06.05.2015 21:18
auch nicht wenn ich lieb bitte bitte sag? *bettelblick*
Antwort von:  Shirokko
06.05.2015 21:20
ich mag aber nicht. es war schwer genug, eine storyline zusammenzumurksen. jetzt noch wassermenschen? mimo hat probleme mit wasser. bleiente, du erinnerst dich?
Antwort von:  KuroMikan
06.05.2015 22:09
ja bleiente bis zu dem moment in dem er gelernt hat das er mit seiner magie sogar trocken bleiben kann XD
bäm ! ^^
Antwort von:  torateh
06.05.2015 22:13
das hält aber auch nicht stundenlang an. und wenn sie die wassermenschen nicht gefunden haben, dann sind diese weiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiit draußen und weiiiiiiiiiiiiiiiiiiiit unten! bämgluckgluckgluck ^^°
Antwort von:  KuroMikan
06.05.2015 22:20
aber dann is dhao immernoch da der kann dann ja auch einen auf wasserverdrängung und luftkugel machen XD ok auch nicht ewig aber immerhin ^^ für eine besichtigung eines korallenriffs dürfts normal schon reichen ^^ außerdem wer hat denn gesagt das die meermenschen unweigerlicha auf dem grund hausen? und nicht weit draußen eine schwimmende insel ist? hmm??? und vielleicht finden sie die ja durch zufall wenn sie grad mal wieder auf der dracheninsel sind wegen fiamma und so XDDDDD hmmmmmmm???? ^^°
Antwort von:  torateh
06.05.2015 22:23
du lässt nicht locker, oder? *lach*
ich wollt shi dazu überreden, dir nen deal vorzuschlagen. du zeichnest uns die modenschau (du weißt 100%ig, was ich meine ^^) und wir schreiben wunschgeschichte...aber sie wollt sich nicht drauf einlassen.
Antwort von:  KuroMikan
06.05.2015 22:43
hmm ich kann leider eh nicht besonders zeichnen -.-° schade eigendlich XD
und ja ich werde nich locker lassen ^^
Antwort von:  Shirokko
07.05.2015 07:54
aber hast du nichts chon eine schöne story zusammengetextet da oben? *hochschiel*
klingt doch klasse
Antwort von:  KuroMikan
07.05.2015 18:11
? wo
Antwort von:  torateh
07.05.2015 21:02
du hast beschlossen, dass narubi und kitty zusammenkommen ^^
Antwort von:  Shirokko
08.05.2015 07:58
und dass die meeresmagier eine schwimmende insel als heim haben, wo sie ein korallenriff besichtigen
Antwort von:  KuroMikan
08.05.2015 17:30
naja XD ich seh das jetz nich als story ^^
Antwort von:  torateh
08.05.2015 19:05
hach...mit dem vorschlag werd ich mir hier garantiert wieder keine freunde machen...warum spinnst du deine ideen nicht zu einer story, die shi und ich dann lesen, genießen und kommentieren können?
Antwort von:  KuroMikan
08.05.2015 22:48
XD vielleicht mal wenn ich viel zeit übrig hab ^^°
Von:  KuroMikan
2015-05-05T15:20:11+00:00 05.05.2015 17:20
Hallö :)

aw... vilay ist einfach soo knuffig XD der mag fiamma aber auch echt dolle ^^
ich finds echt witzig wie sie jetzt einfach mal eben auf die insel sind XD gaaaanz anderst als am anfang... ich finde das zeigt einen gewissen status und machtunterschied zu damals :)
und viele viele drachen babys *freu*

ich les jetz weiter <3

lg Mikan
Von:  KuroMikan
2015-04-27T14:43:36+00:00 27.04.2015 16:43
Hallö :)

ein wirklich herzerwärmendes kapitel :) total knuffig ^^
mehr gibts da grad irgendwie nicht zu sagen XD
PS: das mit dem einsiedlerkrebs.... stimmt ^^°

lg Mikan
Von:  KuroMikan
2015-04-27T13:00:01+00:00 27.04.2015 15:00
Hallö :)

ich muss an dieser stelle jetzt einfach einen kommi dalassen, da ich es bis zum ende des kapitels wahrscheinlich eh schon wieder veressen hätte....

Xiara (so hieß die doch oder) als sie gestorben ist... irgendwie... hat mich das grad sowas von gar nicht gejuckt XD hab ich schon erwähnt das ich das weib nicht leiden konnte? ich glaube ja... irgendwann vor 10 kapiteln XD
in so gut wie jedem anime oder manga stirbt immer die person die ich am meißten mag, und jetzt juckts mich nicht wenn mal jemand stirbt den ich nicht mag... irgendwie nicht wunderlich... und doch? ich bin bei sowas verdammt nah am wasser gebaut und trotzdem isses mir gerade irgendwie egal XD
*hatermodus off*
ich les dann mal weiter XD

lg Mikan
Antwort von:  KuroMikan
27.04.2015 15:37
soooo zweiter kommi :) irgendwie echt nett XD ich weiß nicht aber irgendwie erinnern die mich an eine horde feiernder elfen XD
ich find die szene mit dem baum wirklich super :) wobei der für mich wohl etwas größer geraten ist :D *laputamäßig*
ich freu mich grad voll das die beiden "helden" sich nicht unterkriegen lassen :) das macht alles irgendwie fröhlich ^^

lg Mikan
Von:  KuroMikan
2015-04-27T12:46:29+00:00 27.04.2015 14:46
Hallö :)

ich weiß grad nich ob ich lachen oder weinen soll :´)
das war echt schwere kost dies erst mal zu verdauen gilt .... aber jayan lebt noch *freu* was bedeutet das diese furie von schwester jetz dann hoffentlich auch mal wieder besser mit der welt klar kommt :)

PS: ich konnte es förmlich riechen.... grauenhaft T.T

lg Mikan
Antwort von:  Shirokko
27.04.2015 14:59
*würg*
Ja, nicht schön. Und das mit Silia... Frag Tora...
Antwort von:  KuroMikan
27.04.2015 15:38
das ist mal ne antwort XD hahahahahahaha .... haaaaa ^^
Von:  Seelendieb
2015-04-04T05:30:53+00:00 04.04.2015 07:30
Soooooooo...

Damit wäre die Geschichte nun abgeschlossen und sie endet genauso, wie sie angefangen hat: leicht, verträumt, voller Hoffnung und Optimismus. Es fällt schwer, sich aus der Welt von Mimoun und Dhaôma wieder in die Realität zurückzufinden.

Die "Entscheidungsschlacht", als die ganzen Gefangenen aus dem Schloss des Zirkels befreit wurden, war aus meiner Sicht sehr enttäuschend. Zu sehr war ich von der Detailliebe, die sich durch die ganze Story zog, verwöhnt. In meinen Augen wurde die Befreiung einfach nur wie eine Nebensächlichkeit erzählt im Vergleich zu der ganzen Story - und den Aufbau zu dem Höhepunkt.

Allerdings *smile* haben mich die letzten beiden Kapitel mehr als nur entschädigt.

Alles im Allen eine wunderschöne Story, die einen Träumen lässt und dennoch nachdenklich macht, da viele Punkte verarbeitet wurden, mit denen wir uns im Realen auseinandersetzen müssen: Krieg, Vorurteile, Rassismus, Freundschaft, Liebe und Träume, die wahr werden.

Jetzt, nach dem die Geschichte beendet ist, fallen mir ganz spontan Worte ein, die mir ein Freund mal gesagt hatte, als ich wegen einer Entscheidung am Zögern war: "Träume nicht dein Leben; lebe deinen Traum!" Und irgendwie passen diese Worte auf die Geschichte um Dhaôma. Diese Worte sagen einfach alles aus!

Ich habe mal sinngemäß gelesen: "Märchen erzählen den Kindern nicht, dass es Drachen gibt - denn das wissen sie. Märchen erzählen den Kindern, wie man Drachen besiegt."

Diese Geschichte erzählt, wie man mit Drachen zusammenlebt und mit ihnen Freundschaft schließt.

Ich muss ganz ehrlich sagen, ich würde gerne noch weiter schreiben, aber mir fällt es so schwer. Weil diese Geschichte einfach nur so fantastisch ist, dass man am liebsten schweigt und genießt... und sie immer und immer wieder durchliest, wenn man das Bedürfnis hat in eine fantastische Welt zu tauchen, die der unseren so gar nicht unähnlich ist...

Kurz: Ein großes Lob und ein riesen Dankeschön für diese wunderschöne Story!

LG

Seele
Antwort von:  Shirokko
04.04.2015 08:44
*schnüff*
danke für das tolle Kommi
Von:  Salix
2015-04-03T20:43:23+00:00 03.04.2015 22:43
Vielen Dank für die wundervolle Geschichte!
Ich habe mich jede Woche riesig über die neuen Kapitel gefreut.
Ein wenig tut es mir Leid, dass ich eure Geschichte kaum kommentiert habe.
Das Thema einen Weg zum Frieden zu finden, berührt mich tief und ich habe lange nach solchen Geschichten gesucht. Ich mag all eure Charaktere sehr gerne und habe Erzähltechnisch nie was gesehen, dass mir negativ aufgefallen ist. Und nur positive Jubelkommentare geben ist nicht meine Art.
Gerade bin ich traurig, dass es nicht weitergeht, ich hätte die Geschichte der Beiden noch weiterverfolgt. Die Hauptgeschichte war insgesamt super, spannend, berührend und mir gefällt sehr dass ihr auch die Folgen von Gefangenschaft etc. eingegangen seid.

Der Epilog ist ein wenig verwirrend, da es so eine große Ansammlung an Nebencharakteren ist, die zwar wichtig waren, auf die ich mich als Leser aber nicht so sehr konzentriert habe. Einige kamen mir kaum bekannt vor und als Leser war ich mehr an dem weiteren Weg der Hauptcharaktere als dem der Kinder interessiert.
Die Wege der Kinder, wie sie zu Drachenreitern werden und, was sie erleben, in einer Welt die Frieden leben noch lernt, wäre spannend als eigene Geschichte. Als Epilog hat es mich ziemlich durcheinander gebracht, weil ich ständig am überlegen war, um welches Kind es sich jetzt handelt.

Liebe Grüße
Salix
Antwort von:  Shirokko
04.04.2015 08:52
sorry. ^^
Aber es war die einzige Möglichkeit, zu erklären, wie es in den verschiedenen Lagern aussieht, ohne für jedes eine eigene Geschichte zu entwickeln, die das ganze logisch verpackt. ^^
Sieh es uns nach.

Danke für deinen Kommentar.
Antwort von:  Salix
04.04.2015 14:08
Hey, kein Grund zum Entschuldigen.
Ich kann verstehen, warum ihr es so gelöst habt. Ich wollte Euch nur mitteilen, dass es für mich halt etwas verwirrend war und aus welchem Grund.
Ich mag eure Geschichte wirklich sehr, sehr gerne und werde sie bestimmt noch einmal durchlesen.
Ich bin wie gesagt traurig das die Geschichte beendet ist, weil sie so schön ist. Aber da ich schon befürchtet hatte, ihr würdet es mit der Enschlacht enden lassen, wie es oft üblicher ist, war ich total froh, dass es noch ein wenig weitergegangen ist und ihr erzählt habt, was nach der Befreiung geschehen ist.
Also nochmal Danke für die tolle Geschichte.

LG
Von:  KuroMikan
2015-03-27T18:14:16+00:00 27.03.2015 19:14
hallö :)

hehe das ende des kapitels mit den drachen fand ich echt mega XD
aber stimmt schon ^^ ein klein wenig unfair XD
ui wenn sogar die drachen sagen das es zeit wird dann muss echt die kacke am dampfen sein :O
bin ja mal gespannt was passiert :)
und ich muss seelendieb recht geben ^^ schade das er den mantel nicht trägt :P naja vielleicht irgendwann... ich bin da zuversichtlich xD

lg Mikan
Von:  KuroMikan
2015-03-23T20:50:40+00:00 23.03.2015 21:50
Hallö :)

haha zu geil XD scheint aber wohl noch nicht ganz vom tisch zu sein ^^

ist irgendwie schon lustig XDD
morgen gehts ans nächste kapitel :)
Von:  Seelendieb
2015-03-18T05:37:35+00:00 18.03.2015 06:37
Guten Morgen,

also zu erst, ich habe die neuen Kapis schon vor zwei Tagen gelesen gehabt, da ich aber in dreieinhalb Stunden in den Urlaub fahre, hatte ich soviel mit Urlaubsvorbereitungen zu tun, um einen Kommi da zu lassen.

Ich muss ganz ehrlich sagen, ich weiß eigentlich gar nicht so genau, was ich großartig schreiben soll. Hab mich wie ein kleines Kind zu Weihnachten gefreut, als ich sah, dass nicht nur ein sondern zwei (!) neue Kapis online waren.

Was mich positiv überrascht hat, das diese Kapi sehr leicht waren, quasi ein nochmaliges Durchatmen und Kräftesammeln für die finalen Schritte.
Schade finde ich, dass Dhaôma den Magiermantel nicht angelegt hat. Wäre zu toll gewesen. Kann ihn mir auch darin sehr erhaben vorstellen.

Auch diese Unkontrollierbarkeit seiner Magie ist sehr interessant. Entweder seine Magie ist noch im "Lernprozess", also er hat quasi etwas losgetreten, als er Keithlyn die Flügel formte, er aber zu wenig Kraft hatte, um die eigentliche Magie entfalten... Und er damit sie nicht lernen konnte, allerdings ist sie geweckt und sucht einen Weg, um sich endgültig entfalten zu können... ODER es hängt mit seiner Gefühlswelt zusammen, dass er zu Zeit einfach nur zu sehr unter Strom steht, als dass er in der Lage ist, seine Magie zu zügeln. Fakt ist, auf die Auflösung bin ich gespannt!

Ich habe mich riesig gefreut, dass Genahn der Drachenreiter ist. Ich hatte ihn oder Keithlyn in Verdacht. Um so mehr freue ich mich für den Magier. Bin mal gespannt, wie er seine Aufgabe lösen wird *grins*


Alles im allen zwei sehr schöne, lockere Kapitel und ich freu mich diebisch auf das große Finale!

Ein riesiges Dankeschön für die bis jetzt so wundervolle FF! <3
Antwort von:  Shirokko
18.03.2015 08:26
dann kannst du dich auf deine Heimreise freuen. ich lade immer 2 kaps pro woche hoch ^^


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