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Der Weg aus dem Kampf

Wenn Träume Berge versetzen
von

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Verlust

Kapitel 77

Verlust
 

Genahn war machtlos? Xaira war bei ihm. Sie würde nicht tatenlos zusehen.

„Zeig mir den Weg. Beeil dich.“, wies er das Mädchen an und lupfte mit einem Ruck sein Hemd, so dass Tyiasur herauspurzelte. „Pass bitte auf meinen Drachen auf.“, bat er Jayan und versprach, gleich wieder da zu sein. „Kümmere dich hier um die Verletzten. Ich regle das.“, lächelte er Dhaôma zu. Im nächsten Augenblick sprintete er los, der hinterher, die sich auf seine Anweisung sofort umgedreht hatte und zurück rannte. Da sie ihm nicht schnell genug war und seine Rennfähigkeiten noch immer nicht an die eines Magiers heranreichten, erhob er sich in die Luft und ergriff sie kurzerhand unter den Armen, was sie mit einem spitzen Schrei quittierte.

„Warum schreien Magier immer, wenn sie ein paar Meter über dem Boden sind?“, wollte Mimoun missgelaunt wissen, als das Klingeln in seinen Ohren nachließ. Zum Antworten kam das Mädchen nicht. Sie mussten sich darauf konzentrieren, die Kurve durch das Eingangstor ins Gebäude und in die große Halle zu schaffen. Ab da war Schluss. Die Tür, durch die Genahn und Xaira mit ihren Helfern gegangen war, war einfach zu klein, um weiter fliegen zu können. Mimoun stellte die Kleine wieder auf die Füße und musste ihre verkrampften Finger beinahe mit Gewalt von seinen Armen lösen. Okay. Er hatte sie wohl gehörig erschreckt mit dieser Aktion. Dementsprechend unsicher waren ihre ersten Schritte, aber mit jedem weiteren Meter in die Tiefen dieses Gemäuers schritt sie energischer aus.

Mimoun hatte weder die Zeit noch die Muße, sich die auch hier zahlreich vorhandenen Verzierungen und Gemälde zu betrachten. Er folgte der Magierin den Gang entlang, vorbei an offenen Türen und abzweigenden Gängen. Die Magierin hetzte einmal um die Ecke, obwohl der Gang noch weiter geradeaus führte, aber sie allein kannte den Weg. Als Mimoun ihr folgte, sah er sich von einer Sekunde auf die andere mit einer Wendeltreppe nach oben konfrontiert. Sie war breiter als die, die zu den Gewölben geführt hatte, und doch stolperte der Geflügelte, weil er seinen Schritt nicht sofort anpassen konnte.

„Alles okay?“, hörte er von oben und sah zu seiner Führerin auf, die sich besorgt umgewandt hatte. Ihre Haltung und ihr abgehackter Atem sprachen deutlich von ihrer Erschöpfung. Mit einem Nicken stemmte er sich wieder hoch und stürmte erneut vorwärts.

Der Gang, zu dem die Treppe führte, war hell erleuchtet und doch haftete ihm etwas Düsteres an. Hier konnte Mimoun Schreie hören und den Geruch von Blut wahrnehmen. Ohne sich orientieren zu müssen, wandte sich die Magierin nach rechts und eilte den Gang hinunter. Auch hier gab es offene Türen, die von ihr unbeachtet blieben. Also warf er ebenfalls keinen Blick hinein. Am Ende sah er eine offene zweiflügelige Tür aus der die Schreie und Kampfgeräusche zu kommen schienen. Auf diese hielt Mimoun zu. Plötzlich sah er in einer Tür aus den Augenwinkeln eine Person stehen. Ein zweiter Blick ließ seinen Schritt stocken. Dort im Türrahmen stand ein Halbling, fast noch ein Kind. Sein anklagender Blick fraß sich tief in Mimouns Gedächtnis. Und doch rührte sich der Halbling nicht. Konnte er auch nicht, denn er war tot. Er hatte seinen Tod wahrscheinlich auch nicht kommen sehen, denn aus dem weichen Teppich bohrten sich Steinnadeln und hielten den Jungen aufrecht. Nur wenige der dutzend Spitzen ragten vorne wieder heraus. Ein einzelner Blutstropfen rann die bereits vorhandene rote Spur vom Mundwinkel bis zum Kinn hinunter und folgte der Schwerkraft. Der weiche Teppich verschluckte das Geräusch des aufkommenden Tropfens fast völlig, der sich zu der sich still vergrößernden Lache hinzugesellte.

„Du kannst ihm nicht mehr helfen.“ Der gehetzte Ruf half ihm, sich von dem Anblick zu lösen und weiterzustolpern. Das Rot, das nun aus einigen Zimmern schimmerte, brannte sich in seine Netzhaut ein und wischte den Hass auf den Zirkel fast zur Seite, um Platz für Hass auf die für dieses Blutbad Verantwortlichen zu machen. Abgetrennte Gliedmaßen, heraushängende Eingeweide. Nicht einer der Halblinge, die er entdecken konnte, hatte einen schnellen und einfachen Tod erhalten.

Mimoun eilte durch die Tür am Ende des Ganges und wurde gleich mit dem nächsten Grauen konfrontiert. Xaira lag direkt dahinter, in einer kleinen Blutlache, ihre Peitsche angriffsbereit noch in der Hand. In dem großen Saal lagen überall zertrümmerte Stühle, Bänke und andere Möbel. Dazwischen verkrümmte Gestalten in ihrem Blut. Hauptsächlich Halblinge, aber auch Magier und Geflügelte. Ganz hinten in einer Ecke drängten sich nur wenige der Halblinge wie verängstigtes Vieh zusammen. Davor hatte sich Genahn aufgebaut. Die eine Hand benötigte er, um sein kleines Drachenbaby zu halten, das sich wieder zu einer Kugel geformt hatte. Mit der anderen versuchte er verbissen, seine Gegner fortzutreiben. Neben ihm waren noch weitere Magier und Geflügelte als verzweifelte Verteidigungslinie, doch waren sie es, die unbarmherzig zurückgedrängt wurden. Sie waren hoffnungslos in der Unterzahl.

„Vilay, hilf mir!“, rief Mimoun mit aller Kraft. Er ließ sich zu Boden sinken und hob Xairas schlaffen Körper auf seine Arme.
 

„Brüll nicht so. Ich höre dich.“, hallte es in allen Köpfen wieder. Im nächsten Moment stürzte die Wand zu Mimouns rechter ein und der Drache krallte sich ins Mauerwerk, um hereinzulinsen. Es dauerte einen Augenblick, in dem sich der aufgewirbelte Staub legen konnte, in dem die erschrockenen Magier ihn wie gelähmt ansahen, in dem Genahn verstand und als einziger wirklich wusste, was kommen würde. Sein gebrülltes „Runter!“ verklang in dem ohrenbetäubenden, in allen Bäuchen widerhallenden Geräusch, das der Drache machte, als seine Klauen den Stein wie Butter durchschnitten, während er in den Turm eindrang. Sein Schwanz peitschte und riss den Rest der Wand auf, so dass ein Teil der Decke auf ihn herunterstürzte. Panisch drehten die zur Beute gewordenen Angreifer sich um, während Genahn und seine Leute so weit zurückwichen, dass sie die hinter ihnen stehenden Halblinge gegen die Mauer drückten. Einige fruchtlose Angriffe wurden auf den Drachen geschleudert, der sie beäugte, als wären sie nicht mehr als lästiges Geschmeiß. Einmal blinkte das goldene Auge, mit dem er sie musterte, ein zweites Mal. Ein Erdmagier versuchte, seine Pranke mit einer Steinnadel zu durchbohren. Er wurde gegriffen und aus dem Loch in der Mauer geworfen.

„Ihr sollt Frieden halten.“, maßregelte sie der Drache mit dem im Magen hallenden Geräusch aus mehreren Kehlen leidenschaftslos. „Ihr versteht gar nichts.“ Seine Klauen durchstießen den Boden, dass er unter ihm einstürzte, aber es störte ihn nicht. Zwei seiner Beine hielten ihn über die Außenmauer auf gleicher Höhe mit den Magiern.

„Tu uns nichts!“, rief ein älterer Mann. Ihm liefen Angsttränen aus den Augen. „Wir sind hier nicht die Bösen.“

„Nimmst du dir die Freiheit zu entscheiden, was Recht und was Unrecht ist? Mit welcher Grundlage?“

„Sie haben uns über Jahrhunderte tyrannisiert!“, rechtfertigte sich eine Frau mit wutverzerrtem Gesicht. „Wegen ihnen sind Hunderte gestorben. Warum sollten sie leben?“

Der grüne Drache starrte sie sekundenlang reglos an, bevor er einfach ein paar Schritte nach vorne tat und die Magier auseinanderweichen ließ. Er befand dieses Statement einer Antwort nicht würdig. Stattdessen stupste er das Baby in Genahns Händen an. „Wach auf. Tu was.“

Der Ball entrollte sich, streckte sich und gähnte. Ihre Augen waren schwarz, ihre beiden winzigen, runden Pfoten tappsten Lulanivilay auf die Nase, bevor sie zu Boden sprang und sich dann wie ein Maulwurf in den Stein grub. Genahn hatte gar keine Zeit, etwas dagegen zu tun.

„Himmel. Bring sie weg.“ Seine Nase schob die erstarrten Verteidiger und die Halblinge Richtung Mimoun.
 

„Geflügelte. Schnappt euch einen und tragt ihn raus. Der Rest rennt. Jetzt!“ Erst auf das letzte gebrüllte Wort, setzte sich die Gruppe in Bewegung.

Mimouns Blick traf sich mit Genahns. Dieser deutete auf das Loch in der Mauer. „Bring sie hier raus. Ich kümmere mich hier um den Rest.“ Und damit wandte er sich schon um und ergriff einen Halbling am Arm, um ihn durch die Tür zu stoßen. Mit energischem Winken bedeutete er anderen, ihm zu folgen. Ebenso mahnten seine Rufe zu mehr Eile. Zwischendurch glitt der Blick des Magiers zu dem Loch, das sein kleiner Drache zurückgelassen hatte.

„Verschwinde endlich.“, herrschte Genahn Mimoun an, als dieser sich noch immer nicht von der Stelle gerührt hatte. Mit einem abschließenden Nicken sprang dieser auf die Öffnung in der Wand zu und stieß sich in die Morgendämmerung.

Erschrockene Rufe und Blicke begrüßten ihn, Menschen starrten zu der Öffnung in dem Schloss und den rieselnden Brocken hoch, doch er ignorierte sie. Mimoun landete direkt bei Dhaôma und sah ihn voller Trauer an, ließ Xaira langsam zu Boden gleiten.
 

„Wah! Was ist passiert?“ Es hatte einige Momente gedauert, bis Dhaôma verstanden hatte, dann stürzte er herbei und initiierte die Magie, bevor er sie berührte. Kaum hatte er Kontakt, wusste er, dass alles nichts mehr half. Xairas Körper war dabei zu zerfallen. Ihr Leben war aus ihr gewichen.

„Nein.“, wisperte er und schickte mehr Kraft in sie, so viel wie er aufbringen konnte. Einer Welle gleich regenerierte er jede Zelle in ihrem Körper, heilte alle Wunden, vernichtete alles, was ihrem Körper Schwierigkeiten machen könnte. Und trotzdem. Sie blieb reglos und leblos. „Nein. Nein, nein, nein…“ Tränen sammelten sich in seinen Augen. „Nein.“ Letztlich verblasste das Licht auf seinen Wangen. „Du kannst nicht einfach sterben. Hörst du? Du wirst doch noch gebraucht!“
 

Stumm streckte Mimoun seine Hände aus und zog Dhaôma in seine Arme, fort von ihr. „Es tut mir Leid. Ich bin zu spät gekommen. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Es tut mir so Leid.“

Hinter seinem Rücken gab das Schloss ein Geräusch wie ein schmerzerfülltes Stöhnen von sich. Mimoun spürte, wie seine Nackenhaare sich aufstellten und er sich versteifte. Zu schnell. Das Gebäude zerfiel zu schnell.

„Genahn. Asam. Sie sind doch noch da drin.“
 

Dhaôma hatte seine Hände in seine Haare gekrallt, jetzt horchte er auf. „Was sagst du da?“ Er sah herum und ihm wurde bewusst, was da passierte. Über das ganze Schloss zogen sich Risse, teilweise waren Mauern herausgebrochen, ein Turm stürzte gerade ein. Lulanivilays Hinterteil ragte aus einer Wand mit großen Fenstern, die er gerade plättete. Kurz darauf liefen dort viele Menschen heraus und flüchteten zur Seite. „Was ist denn jetzt los?“, fragte er und machte sich aus Mimouns Armen los. Ihm war die Situation völlig aus den Händen geglitten.

Aus dem Haupteingang, den man seitlich gerade noch sehen konnte, kamen weitere Menschen gerannt. Genahn war darunter. Er trieb die anderen zur Eile. Helfer eilten herbei, um sie in Sicherheit zu ziehen. Der Ostflügel des Schlosses brach zusammen und ließ die Erde beben. „Was für ein Desaster!“, hauchte Dhaôma und kramte in seinem Kopf nach einer Möglichkeit, etwas dagegen zu tun, aber wie sollte er mit Wind, Wasser, Eis oder Pflanzen…

„Halt es auf!“ Das Zischen verließ seinen Mund und er initiierte die Magie, die er am längsten kannte. Sein Beutel mit Samen, den Xaira seit langer Zeit mit sich trug, reagierte, die Samen trieben aus.

„Dhaôma?“

„Genahn. Verteile sie mit deinem Wind.“, war die Anweisung, die ausgeführt wurde, als der Mann den Ernst hinter dem Vorhaben verstand. Natürlich. Es waren immer noch Menschen dort. Es konnte noch nicht einbrechen. Dhaômas Vorhaben erforderte bei weitem mehr Energie, als er selbst aufbringen konnte, aber es waren inzwischen genügend Schaulustige um das Schloss versammelt, dass es den Magiern kaum auffiel. In kleinen Ritzen, im Hof, auf dem Friedhof, in den Gängen und Mauern, überall fingen sich die kleinen Samen und begannen zu wachsen, hielten mit ihren Wurzeln die Überreste der stolzen Burg zusammen.
 

Reglos blieb Mimoun neben Xaira sitzen. Hier konnte er sowieso nichts mehr tun. Er ließ seine Finger durch ihre Haare gleiten. Sie hatte so viel für Dhaôma getan, für ihn getan und er hatte es ihr nie wirklich gedankt.

„Warum trauerst du um solch eine Missgeburt?“ Jayan hatte sich aufgrund der aktuellen Ereignisse aufgesetzt, neben ihm lag zusammengerollt Tyiasur. Sein Blick war voller abgrundtiefem Hass, als er den leblosen Körper ansah.

„Sie gehört nicht zum Zirkel.“, offenbarte Mimoun leise und fuhr in seiner Tätigkeit fort. „Und ohne sie und ihre Freunde hätten wir dich nie gefunden. Du wärst dort unten irgendwann jämmerlich verreckt, ohne dass wir gewusst hätten, dass du noch lebst.“ Mimoun legte den Kopf schief und lächelte ein wenig missglückt. „Ich bin mir sicher, du hättest Xaira gemocht. Genau wie Silia machte sie nie einen Hehl um ihre Gefühle. Eine ehrliche Person, die gelernt hat, mit ihrem Schicksal zu leben.“ Mimoun sah auf, konnte aber in den Augen des anderen keine Gefühle oder Gedanken erkennen. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal zugehört, weil er so was nicht hören wollte.

„Xaira?“ Der Ruf jagte Mimoun erneut einen Schauer über den Rücken. Nur aus den Augenwinkeln sah er, wie sich eine helle Gestalt neben ihr niederwarf und sie an den Schultern rüttelte. „Wach auf. Komm schon!“

Mimoun machte Platz und erhob sich. Er machte Platz für Juuro, der sich nun ebenfalls neben Xaira niederließ und versuchte, sie zu wecken. Aber er sah die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen schneller ein als das Kind. Ihr verzweifelter Schrei mischte sich in das Rauschen der Blätter und das Mahlen der großen Steine. Und er trieb Mimoun die Tränen in die Augen, die er eigentlich schon viel früher erwartet hatte. Kurz ließ er seine Hand auf Juuros Schulter ruhen und ging dann zu dem Loch, das zu den Kellergewölben führte. Auch hier mussten die Menschen schnell raus, da niemand einschätzen konnte, wie weit sich die Zerstörung hier ausbreiten würde. Und Mimoun brauchte dringend etwas zu tun. Etwas, um sich abzulenken und wenn es nur eine Kleinigkeit war.
 

Die Zeit zog sich dahin. Magier und Geflügelte sammelten sich auf dem Friedhof, die gefangenen Halblinge gut abgeschirmt von den überschwappenden Gefühlen. Kaum einer konnte fassen, was sich da vor ihnen abspielte. Der Drache brachte aus den oberen Stockwerken und zertrümmerten Steinen Menschen herbei, der dazugehörige Magier war abermals außer Kontrolle. Während aus dem Schloss langsam aber sicher ein Wald wurde, fanden sich Menschen zusammen und ging die Sonne vollends auf. Noch immer kniete der Magier am Boden, als der Drache sich um ihn herumrollte und schlafen zu wollen schien. Genahn und Asam erklärten den Befreiten und den Gefangenen gleichermaßen die Situation, während Mimoun weiterhin Menschen aus den Gefängnissen und dem ‚Paradies’ holte. Ein paar Magier entzündeten große Feuer, auf denen sie Eintöpfe zubereiteten, um die ganzen Menschen zu ernähren. Es war ein langer Tag gewesen und nicht wenige waren erschöpft. Manche schliefen, weil sie so müde waren, andere setzten sich in den Schatten der umliegenden Häuser, keiner wollte nach Hause. Das, was hier passierte, war viel zu groß.

Irgendwann, kurz bevor die Sonne am höchsten stand, beendete Dhaôma seinen Zauber. Er stand einfach auf und klopfte Lulanivilay auf die große Schulter. Sein Körper hatte den Zustand völliger Erschöpfung überwunden. Er funktionierte nur noch basierend auf seinem Willen. „Ich muss noch ein Versprechen einlösen. Bringst du mich zu Penny?“ Wortlos erhob sich Lulanivilay und ließ seinen Drachenreiter aufsteigen. „Mimoun? Ich gehe zu Penny. Sie braucht mich.“
 

Beim Klang seines Namens sah Mimoun kurz auf. Mit einem abgehackten Nicken zeigte er an, dass er verstanden hatte. „Grüß sie schön von mir. Ich behalte derweil hier alles im Blick.“ Der Geflügelte wandte sich wieder ab und setzte seinen ziellosen Weg durch die Menschenmenge fort. Jeder war mit einer Aufgabe betraut und wusste, was er zu tun hatte. Und sie waren zu erschöpft von der langen Nacht, um derzeit für Reibereien zu sorgen. Immer wieder sah Mimoun kurz bei Jayan vorbei. Aber auch das war unnötig, gab es doch nun auch Asam, der ihm als Bezugsperson und Anker helfen konnte.

Es waren aus dem Schloss auch eine Handvoll Kleinkinder gerettet worden, von deren Wohlergehen sich der Drachenreiter auf seinem Weg überzeugte. Die überlebenden Zirkelmitglieder waren die einzigen, die derzeit so etwas wie Anspruch auf die Kinder erhoben. Keine der Mütter hatte sich gemeldet. Was hatte er auch anderes erwartet. Und dem Zirkel würde er sie nicht überlassen. Sie sollten nicht jetzt noch von Hass vergiftet werden.

Schlussendlich führte ihn sein Weg zu der Stelle, die er bisher gemieden hatte. Xairas Leichnam war in eine Decke gehüllt worden. Neben ihr lagen noch weitere Opfer der Katastrophe. Magier, Geflügelte, Halblinge. Kein Rassenunterschied mehr im Tod. Juuro saß noch immer neben seiner Freundin, Keithlyn auf seinem Schoss. Das Mädchen schlief. Die geröteten Wangen zeugten davon, dass sie sich in den Schlaf geweint hatte. Volta war nirgends zu entdecken.

Leise ließ sich Mimoun neben ihm nieder und sah auf die Bündel. „Eine friedliche Lösung. Was waren wir doch für Narren.“ Er zog die Knie an und bettete sein Kinn darauf. „Narren.“

„Es war ihr Wille, hierher zu kommen. Sie wusste, worauf sie sich einließ. So wie jeder von uns.“

„Volta?“

„Weggerannt. Seine Schwester ist unter den Toten. Ich weiß nicht, wo er gerade steckt.“

Es vergingen Minuten des Schweigens, bevor Mimoun wieder seine Stimme erhob. „Es tut mir Leid.“

„Ja. Mir auch.“ Damit war alles gesagt. Es mussten keine weiteren Worte gesprochen werden. Die beiden Männer saßen schweigend da und hielten Wacht.
 

Währenddessen landete Dhaôma bei Penny im Garten. Freundlich wurde er von ihr begrüßt, das Dienstmädchen wurde sogar ein wenig rot, als sie meinte, dass es wohl noch ein wenig länger dauern würde. Beinahe war Dhaôma erleichtert. Es war zu viel passiert heute, um noch weitere Katastrophen zu verkraften. Jokun flog ihm in die Arme und zog ihn zu Lulanivilay, der sich zusammengerollt hatte, um ein wenig zu schlafen. Konsequent ignorierte er das Kind.

Als auch Palil begann, aufzutauen, schob die Mutter einen Riegel davor.

„Lasst Dhaôma bitte ein wenig ausruhen. Er sieht sehr erschöpft aus.“ Und mit einem schelmischen Grinsen hielt sie ihm einen Becher warme Milch entgegen und schickte ihn in ein Zimmer, in dem ein kleines Bett stand. Unschlüssig sah er darauf. Einen Moment darauf liegen, ausruhen, bevor er zurückflog, konnte sicher nicht schaden. Kaum berührte sein Kopf das Kissen, war er auch schon eingeschlafen.
 

Einige Zeit später wurde er von Filwen geweckt. Sie legte den Finger an die Lippen und deutete neben ihn, wo Palil tief und selig schlief. Lautlos winkte sie ihn mit sich. Erst als sie draußen waren, teilte sie ihm mit, dass die Wehen eingesetzt hatten. Genahn war inzwischen auch da und ging allen auf die Nerven, Jokun hockte bleich und verängstigt auf einem Stuhl vor dem Zimmer.

Im Grunde war seine Hilfe kaum nötig. Die Behandlung am Vortag hatte dafür gesorgt, dass der Schwangeren genügend Kraft blieb, um die Geburt ganz alleine zu bewältigen, aber dennoch war sie dankbar, dass er die Schmerzen ein wenig linderte. Zweieinhalb Stunden später hielt Penny das Neugeborene im Arm und strahlte eine so innige Zufriedenheit aus, dass Genahn gar nicht anders konnte als weinen. Die beiden handelten einen Pakt aus. Genahn gab dem kleinen Mädchen den Namen Relaia, was in etwa die Bedeutung ‚Erste’ hatte, und Penny durfte dem Drachenkind ihren Namen geben. Sie wurde liebevoll Kalanij getauft: Felsentaube. Seitdem sie aus den Mauern des Schlosses zurückgekehrt war, hatte sie kurze, lederne Schwingen offenbart, die aussahen, als wären sie aus Stein. Lange konnte sie damit sicher nicht fliegen, aber es war zweckmäßig und sie konnten ja auch noch etwas wachsen. Kalanij liebte die Kinder vom ersten Augenblick an. Wenn sie nicht bei Genahn war, dann kletterte sie auf den Jungen herum oder warf neugierige Blicke auf Relaia, bis diese sich bewegte. Diese Familie war ein herziges Bild. Es war wirklich schade, dass Radarr der Szene nicht beiwohnen konnte.

Kurz vor dem Abend erreichte ihn ein Ruf von Tyiasur, dass die Prozession eingetroffen war. Unwillig machte er sich auf den Weg. Im Grunde wäre er lieber dort geblieben, wo die Atmosphäre stimmte, wo niemand jemandem etwas Böses wollte, aber er wurde gebraucht. Er konnte sich der Verantwortung nicht entziehen. Zusammen mit Genahn flog er den Wanderern entgegen.
 

Eine leise Stimme rief seinen Namen, mehrfach. Störend wurde es erst, als jemand an seiner Schulter rüttelte. Widerwillig schlug Mimoun die Augen auf. Keithlyn saß vor ihm, noch bleicher als sonst. Es dauerte einen Moment, bis der Geflügelte die Reste des Alptraums abschütteln konnte. Als er sich jedoch aufsetzte und umsah, musste er mit Erschrecken feststellen, dass es kein Alptraum gewesen war. Stöhnend vergrub er seine Finger in seiner Kopfhaut.

„Hier, trink etwas.“

Mimoun sah zu dem Mädchen auf und ignorierte den Becher in ihrer Hand völlig. Seine Finger glitten höher und strichen ihr über die Schläfe und die Haare. Man konnte sehen, wie sich dieses Kind zusammenriss. An dem schmerzlichen Lächeln, dem gesenkten Blick und den zitternden Händen. Als Mimoun sie in den Arm ziehen wollte, stieß sie ihn grob von sich. Der Becher entglitt ihren Händen und sein Inhalt ergoss sich auf den Boden.

„Die restliche Prozession ist in der Stadt angekommen.“ Ihre Finger lagen noch immer auf seiner Brust. Als sich seine über ihre legten, zog das Mädchen sie zurück. Hektisch wischte sie sich über die Augen. „Du solltest sie begrüßen gehen. Ich hol dir neues Wasser und was zu essen.“ Damit war Keithlyn aufgesprungen und eilte davon.

Mit einem Seufzen sah Mimoun ihr nach. Dann erst ging ihm auf, dass etwas nicht so war, wie vor seinem Einschlafen. Er lag nicht mehr auf freiem Feld, sondern im Schatten eines großen Baumes, der sich ein wenig vom Schloss entfernt verankert hatte. Tyiasur saß neben ihm im Gras und sah wortlos zu ihm auf. Jayan saß ebenfalls unter diesem Baum und sah auf die Menschen, die nicht mehr so zahlreich hier vertreten waren.

„Wie geht es dir?“, fragte Mimoun nach einigen Minuten des Schweigens. Jayan sah weiter geradeaus und fast schien es, als würde er nicht antworten wollen.

„Als du zurückgelehrt bist, mit gebrochenen Schwingen, da hat dich jeder bemitleidet. Jeder versuchte sich vorzustellen, wie es sei, nie mehr fliegen zu können. Und doch war das immer etwas, was sich unser Verstand wirklich zu begreifen weigerte. Jetzt kann ich es. Ich kenne nun die ungestillte Sehnsucht nach dem Wind und dem Himmel.“ Jayans Blick glitt nach oben zu den rauschenden Blättern und seine Hand streckte sich, als könne sie den Wind einfangen.

„Wir haben hier so viele fähige Heiler. Sie werden dir sicher helfen können, wenn du sie lässt.“ Ein Nicken war alles, was als Antwort kam. „Kommst du mit? Keithlyn hat Recht. Als Drachenreiter sollte ich sie hier begrüßen und gucken, dass sie keine Dummheiten machen.“ Mit diesen Worten erhob sich Mimoun bereits und sah erwartungsvoll zu seinem Schwager.
 

Es war ein gewaltiger Anblick, wie sich all die Friedensdemonstranten in die Hauptstadt ergossen. Sie wurden mit Jubel begrüßt, mit Blumen, Essen und Getränken. Hanebito wie Jagmarr wurden empfangen, es wurde geklatscht und gesungen. Die Barden spielten ihre Lieder und wie ein Lauffeuer verbreiteten sich unter ihnen die Neuigkeiten über das Schloss der Halblinge. Von oben hatte Dhaôma ein wenig den Eindruck, es handele sich um ein gigantisches Straßenfest, und als er mit dem Anführer der Armee inmitten der Menschen landete, war die Welle an Freudenrufen größer denn je. Wie Xaira ihm geraten hatte, machte er gute Miene zum bösen Spiel, ließ sie jubeln und ihn feiern und verheimlichte ihnen, dass er auf ganzer Linie versagt hatte, als es darum ging, sein Ziel in vollem Umfang zu erreichen. Er ließ sie feiern, damit aus dem friedlichen Miteinander keine von Unmut gestörte Situation wurde.
 

Wider Erwarten erhob Jayan sich tatsächlich und begleitete Mimoun den Schlossberg hinunter. Seine Augen wurden groß, als er sah, dass noch immer Menschen aus dem nahen Wald quollen und sich auf die Hauptstadt zu bewegten.

„Was zum…?“

Mimoun grinste. „Sie alle wünschen den Frieden. Begonnen hat der Zug mit lausigen 900 Menschen. Ich hab völlig den Überblick verloren, wo wir aufgehört haben. Kommst du mit da rein?“ Der Schritt rückwärts war Antwort genug. Mimoun nickte verstehend. Zu eng, zu viele Menschen und keine Chance, Berührungen auszuweichen. „Genieß trotzdem das Schauspiel. Solche Menschenmassen sind was Einmaliges.“ Damit erhob er sich in die Luft.

Lulanivilay war einfach auszumachen. Mit seiner ihm eigenen Selbstverständlichkeit ließ er sich dort vom Himmel fallen und wurde ebenso herzlich begrüßt und gefeiert, wie die beiden anderen Drachenreiter. Es war schon seltsam, nicht mehr einzigartig zu sein.

Bei dem Lärmpegel war es schwierig, sich zu unterhalten, aber dennoch fragte er nach Pennys Zustand. Es war beruhigend zu hören, dass zumindest etwas gut gegangen war.

„Das wird wieder eine lange Nacht.“, stellte Mimoun schlussendlich fest. Der Zirkel war besiegt, der Krieg vorbei. Die Menschen feierten. Wer wollte es ihnen verübeln?
 

Nach einiger Zeit, in der Dhaôma sich das Spiel gefallen ließ, machte er sich aus dem Staub. Noch immer konnte er große Massen an Menschen nicht leiden, das Chaos wuchs ihm über den Kopf und die Anstrengung, seine Magie zu kontrollieren, wurde übermächtig. Genahn und Asam lachten ihn dafür aus, aber er war sehr froh, als er sich auf einem mächtigen Baum, der die ehemaligen Schlossmauern stützte, niederließ. Sein Drachenfreund war mit den Worten, er hätte Hunger, fort geflogen. Wahrscheinlich ging er auf die Jagd. Ein wenig Magie und er hatte eine bequeme, moosbewachsene Fläche, auf der er liegen konnte. Erschöpft schloss er die Augen. In diesem Moment wünschte er sich weit fort, zurück auf die Ebene unter den Inseln, wo man wochenlang laufen konnte, ohne einer Menschenseele zu begegnen, zurück auf die Insel der Drachen, wo jeder seinen eigenen Weg ging, ohne ihn zu beachten, zurück auf Addars Insel, wo seine kleine Tochter wahrscheinlich gerade jeden in den Wahnsinn trieb.
 

Mimoun hielt länger durch, auch wenn ihm eigentlich nicht der Sinn nach Feiern stand. Ja. Es herrschte nun Frieden, es drohte keine Gefahr mehr. Und doch hatte der Sieg einen schalen Beigeschmack.

Schließlich überließ er das Feld komplett denen, die nun für alles Weitere zuständig sein würden. Die Drachenreiter hatten den Frieden gebracht und sie würden weiter darüber wachen, wenn es nötig sein musste, aber nun war es das einfache Volk, das seinen Teil zu tun hatte.

Dhaôma zu finden, gestaltete sich als so schwierig, dass der Geflügelte schließlich auf die Hilfe seines Drachens zurückgriff. Nachdenklich betrachtete er den Baum. Es war lange her, dass er auf einen geklettert war. Nun testete er seine alten Fähigkeiten.

„Wie geht es dir?“, wollte er leise wissen. Falls Dhaôma schlafen sollte, wollte er ihn nicht wecken.
 

„Ich bin unversehrt.“, sagte Dhaôma leise, dann streckte er die Hand in die ungefähre Richtung, aus der die Stimme kam. Seine Augen waren so schwer, dass er sie kaum zu öffnen fähig war. So ließ er sie einfach zu. „Aber ich bin schrecklich müde.“
 

Das war nicht das, was er wissen wollte. Na egal. „Dann solltest du schlafen.“ Er berührte sanft die Hand und verrenkte sich fast, gefolgt von einem Beinaheabsturz, um einen Kuss darauf zu setzen. Besser er setzte sich ebenfalls auf den Ast anstatt hier herumzuturnen. Nach einigem Ruckeln hatte er sich bequem hingesetzt, den Stamm im Rücken. „Ich bleibe hier und pass auf, dass dich keiner stört.“ Er selbst würde jetzt einige Stunden nicht schlafen können, schließlich war er erst vor kurzem geweckt worden.
 

„Hmhm.“ Dhaôma rückte noch ein wenig näher, so dass er Mimoun berühren konnte. Es dauerte nicht lange, bis er einschlief. Die Wärme seines Geliebten hatte ihm wirklich gefehlt in der letzten Schlafphase. Sie tröstete ihn über den Verlust Xairas hinweg, über die Verzweiflung, dass so viele gestorben waren, und über die Sehnsucht nach einem Ort, an dem er sich wohler fühlte als in dieser Stadt.
 

„Träum schön.“, flüsterte Mimoun in Dhaômas Ohr. Sanft streichelte er die Haare, ließ sie immer wieder durch seine Finger gleiten. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem Lärmen in der Stadt. Es klang so weit weg und irreal. Und doch hatte es etwas Tröstendes. Es war vorbei. Es war endlich vorbei und Dhaôma war wieder frei. Keine Versprechen, die er einzulösen hatte, sah man von einigen Besuchsversprechen ab.

Nur kurz sah Mimoun auf, als ein Rumpeln davon kündete, dass Lulanivilay angetrottet kam und sich unter dem Baum zusammenrollte. Wenn Mimoun sich streckte, konnte er einen Flügel des Freundes mit dem Fuß berühren.

Mit gedankenverlorenem Blick schaute er auf das überwucherte Schloss, das eingestürzte Kellergewölbe, den nahezu menschenleeren Hof. So wenig Zeit vergangen. Nicht einmal ein Tag. Und doch so schwerwiegende Veränderungen. Mimoun sah durch das dichte Blätterdach in die Nacht und begann leise Melodien zu summen, während er unablässig braune Haare streichelte.

Irgendwie hatte der Drachenreiter erwartet, dass der nächste Morgen langsam und ruhig begonnen wurde, ließ der Geräuschpegel doch auf eine wirklich lange Nacht schließen, doch schon kurz nach Sonnenaufgang streunten die Ersten wieder über das alte Schlossgelände.

Mit leichtem Amüsement beobachtete Mimoun den kleinen Jungen, der ein großes Tablett balancierte. Sein Weg war nicht zielgerichtet, war das Ding doch so unhandlich und durch die Lebensmittel und das Wasser darauf so schwer, dass er von links nach rechts wankte. „Das soll ich euch bringen.“ Ehrfürchtig aber auch stolz auf diese Aufgabe sah der Kleine zu den Drachenreitern auf.
 

„Das ist zu wenig.“, erklang es dicht neben dem Jungen und dieser zuckte zusammen. Beinahe hätte er seine wertvolle Last verloren. Unter seiner Scham wurden seine Wangen leuchtend rot und Dhaôma vermutete, dass es Lulanivilay richtiggehend Spaß machte, ihn zu ärgern. Der massige Körper stemmte sich in die Höhe. „Ich suche selbst was.“ Damit verschwand der Drache in der Burgruine. Vermutlich gab es dort genügend Dinge, die er essen konnte.

„Vielen Dank.“, richtete Dhaôma inzwischen seine Aufmerksamkeit auf den Jungen. „Sehr aufmerksam.“

Die Wangen versuchten gleich noch mal die nächste Rotstufe, als er gewichtig die Brust schwellte und anfügte, dass sie von Genahn und Asam Maral erwartet wurden. Sie wollten ihnen jemanden vorstellen.

Auffordernd streckte der Braunhaarige seinem Geliebten die Arme entgegen und sah ihn bittend an. „Trägst du mich runter oder muss ich klettern?“
 

Da bedurfte es keiner Antwort. Mit leicht umständlichen Bewegungen stemmte sich Mimoun in die Höhe, zog Dhaôma an sich und ließ sich seitwärts vom Baum kippen. Unten angekommen, nahm er dem Jungen das Tablett ab und strahlte ihn an. „Vielen Dank für das Frühstück. Richte ihnen bitte aus, dass wir kommen, sobald wir etwas gegessen haben.“

Von seiner Last befreit und stolz, weiter helfen zu können, nickte der Junge und flitzte davon.

„So. Und wir machen es uns hier gemütlich.“ Und damit ließ sich der Geflügelte an der Stelle, an der er stand, auf den Boden sinken und klopfte auffordernd neben sich.
 

Dhaôma kicherte leise. Ja, Mimoun war der perfekte Vater. Irgendwie motivierte er die Kinder um sich herum, sich gut zu verhalten und sie sahen zu ihm auf. Im Schneidersitz nahm er unter dem großen Baum Platz.

„So, Mimoun, was sind deine Pläne?“, wollte er wissen. „Sicher möchtest du so schnell es geht zu Silia, oder? Wenn sie danach mit uns reden, werden sie wollen, dass wir ihnen helfen. Deswegen sollten wir vorher wissen, wer was tun möchte, damit wir damit umgehen können. Ich, zum Beispiel, würde gerne die heilbaren Patienten wieder herstellen. Bei gut einem drittel kann ich die Zerstörung der Flügel umkehren, bei anderen einen großen Teil heilen.“
 

„Korrektur.“ Mimoun legte sich ins Gras und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Zwar hatte er gestern so gut wie nichts gegessen, aber sein Hunger beschränkte sich noch immer auf ein absolutes Minimum. „Ich möchte nicht so schnell wie möglich zu Silia zurück. Ich möchte Jayan und die anderen nach Hause bringen. Das geht aber nur, wenn sie wieder ein wenig zu Kräften gekommen sind. Ich wäre dir also dankbar, wenn du ihnen helfen könntest.“

Nachlässig riss er einen Grashalm aus und kaute lustlos darauf herum. Nur ein Drittel würde wieder fliegen können? Das war grausam. Er hoffte inständig, dass sein Magier sich zumindest in diesem Punkt irrte. „Meine Pläne?“ Ein tiefes Seufzen folgte der rhetorischen Frage. „Was weiß ich. Solange du mit den Verletzten beschäftigt bist, kann ich mich anderswo ein wenig nützlich machen. Klärung über den Verbleib der Gefangenen und den Umgang mit ihnen möglicherweise. In die Führung der Magier kann ich mich schlecht einmischen. Weder gehöre ich zu deinem Volk, um mir Derartiges erlauben, noch habe ich Führungsqualitäten, um mir Tipps in die Richtung leisten zu können.“ Mimoun drehte sich auf den Bauch und stützte sein Kinn ab, um Dhaôma beobachten zu können.
 

„Stell dich nicht selbst unter den Scheffel. Wer hat es denn geschafft, eine Friedensdelegation zu leiten? Warst du daran nicht genauso beteiligt wie Asam und Genahn? Und du hast mit deinen Freunden bei dir zu Hause geredet, damit sie mir eine Chance geben, nicht wahr?“ Grinsend beobachtete Dhaôma seinen Freund. Und zuckte im nächsten Moment erschrocken zusammen, als ein Teil der Burg mit Getöse zusammenfiel. Lulanivilays langer Schwanz peitschte durch den entstandenen freien Luftraum, während er selbst angestrengt zu graben versuchte. Was er da wohl trieb?

Eine andere Bewegung vom Tor aus zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Da waren die Kinder aus der Friedensprozession. Die Waisen, die hinter Keithlyn standen. Was die wohl von ihnen wollten? „Wäre das nicht eine gute Aufgabe für dich?“, fragte er leise und zeigte unauffällig zu der Horde von über 300 kleinen Magiern. „Für sie neue Orte zu finden? Meister oder Familien oder sogar Verwandte von ihnen zu suchen, um ihnen ein schöneres Leben zu schenken?“
 

Nachlässig schaute Mimoun über seine Schulter und betrachtete die Kleinen. „Wie wäre es mit behalten?“ Okay. Waren vielleicht doch ein wenig viele zur Aufsicht. Das würden sie gar nicht schaffen können. „Das würde uns aber auch lange Zeit beschäftigen. Wäre das denn okay für dich?“ Der Blick der grünen Augen glitt wieder zu seinem Magier zurück.
 

„Du willst wirklich Vater für all diese kleinen Magierkinder werden? Alle dreihundert? Ich glaube, das übersteigt all unsere Kompetenzen und Tyiasur und Vilay werden sich bedanken.“ Kichernd rappelte er sich auf und krabbelte zu Mimoun hin. Sachte hauchte er ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Eine noble Einstellung, aber Kinder brauchen Aufmerksamkeit und das sind zu viele, um ihnen das zu geben, was sie brauchen. Wenn du magst, such dir ein paar aus, die wir aufziehen, aber es ist für sie besser, wir halten es in einem angemessenen Rahmen.“
 

„Dass es ein paar zu viele sind, ist mir durchaus klar.“ Mimoun zog an seinem Schatz und sorgte dafür, dass er neben ihm lag und sich an ihn kuschelte. „Ich meinte, ein Zuhause für sie finden, dauert lange. Außerdem wäre es brutal, aus dieser Masse zu sortieren. Stell dir das nur mal vor. Wonach richtet sich die Auswahl? Und dann die Zurückgelassenen. Die Tränen, weil sie nicht auserwählt wurden. Ich fürchte, das würde nicht nur Vilays und Tyiasurs Nervenkostüm strapazieren. Also ein neues Zuhause für die Blagen suchen und für wen sich nichts Geeignetes findet, den behalten wir. Aber das bleibt erst einmal unter uns. Nicht dass sich alle weigern, irgendwo unterzukommen, nur um zum Schluss mit Drachen reisen zu können.“
 

Dhaôma lachte, dann bohrte er seine Finger zwischen die Rippen Mimouns. „Also, denkst du, das kriegst du hin? Da sind tausende Jagmarr und hunderte Hanebito, denen du ein bisschen auf die Finger gucken kannst, um passende Eltern zu finden. Oder überfordert das dein Nervenkostüm?“
 

Die Bemühungen Dhaômas quittierte er mit leichtem Lachen. „Wahrscheinlich wird es das tun. Das bedeutet nämlich, mit tausenden Menschen reden und Überzeugungsarbeit leisten. Das wird sicher nicht lustig. Aber da deine Aufgabe auch zeitaufwändig ist, wird mich das gut ausfüllen.“ Da fiel ihm wieder etwas ein. „Meinte der Kleine nicht, wir würden erwartet werden? Hast du fertig gegessen?“
 

„Nein. Wann hätte ich das tun sollen? Während ich geredet habe oder während ich mit dir kuschle?“ Inzwischen waren die Kinder beinahe da. „Also, ich nehme mit, was ich tragen kann, und wir lassen uns dorthin eskortieren. Ich denke, die sind hier, um uns abzuholen, weil wir zu lange brauchen.“ Im Aufstehen sammelte er Brot und Käse ein und drückte Mimoun eine Wurst in die Hand.

„Ihr seid peinlich. Ihr turtelt hier herum, wo alle zusehen können.“, maulte Keithlyn. Sie war noch immer blass, aber inzwischen versuchte sie, die Situation irgendwie positiv zu nutzen.

„Wir sind nur ehrlich mit unseren Gefühlen. Es tut gut, wenn man das kann, also versuche es auch einmal.“

Sie streckte ihm die Zunge raus. „Eine der Magierinnen, die schwanger ist, dreht grade durch und sie brauchen deine Hilfe, Dhaôma. Und Mimoun soll sich bei Asam melden. Der findet Genahn nicht.“
 

„Bin ich denn der Babysitter für alle?“, maulte Mimoun. War doch verständlich, dass Genahn in dieser riesigen Stadt nicht so einfach zu finden war. „Woher soll ich wissen, wo der sich aufhält.“ Kaithlyn deutete bezeichnend auf ein kleines blaues Schuppentier, das sich aufgrund der vielen Kinder auf die Schultern seines Reiters geflüchtet hatte. Er würde wohl niemals mit ihnen warm werden.

Beleidigt piekte Mimoun Tyiasur in die Seite. „Ich hoffe, du bist stolz auf dich. Die wollen nicht mich, sondern dich. Ich bin nur schmückendes Beiwerk und eine billige Ausrede.“ Wohlweislich enthielt sich der kleine Wasserdrache einer Antwort. Mimoun seufzte. „Na dann machen wir uns mal an die Arbeit.“ Auf dem Absatz machte er kehrt, zog Dhaôma in seine Arme und küsste ihn lange und intensiv.
 

Es gab Gekicher und einige der älteren pfiffen anzüglich, bis sie sich trennten. So eine freche Bande!

Ein paar Minuten später wurde Dhaôma zu einer hageren Magierin gebracht, die hysterisch auf einen Mann einkreischte, der ihr etwas zu Essen gebracht hatte. Die Szene, die sich vor ihm entfaltete, erschütterte den Braunhaarigen zutiefst.

Sie machte den Magiern für ihre Rettung Vorwürfe. Sie wäre dort glücklich gewesen, denn sie hatte hervorragendes Essen und bequeme Möbel gehabt, sie wäre besser gewesen als die anderen, weil sie fünf Kinder geboren hatte, ein echter Rekord unter den Müttern. Und nun war sie nichts mehr wert, weil bei den Magiern nichts weiter als eine rechtlose, verabscheuungswürdige Jagmarr war, von allen verachtet, weil sie diesen Monstern Monsterkinder geboren hatte. Sie ging sogar auf Dhaôma los, als dieser versuchte, sie zu beruhigen, so dass er sich mit Wind schützen musste. Die Folge war ein Zusammenbruch und haltloses Schluchzen. Der Stress war mit Sicherheit nicht gut für sie, denn sie hatte es nicht mehr lange bis zur Niederkunft. Und es sah auch nicht so aus, als würde sie das Kind dann noch wollen.

Ratlos sah Dhaôma auf und wusste sofort, was ihren Anfall ausgelöst hatte. Die Umstehenden sahen alle mit einem gewissen Ekel auf sie herab. Wieso waren sie alle so dumm?

Eine beiläufige Bewegung ließ die Gespräche um sie herum hinter einer tonundurchlässigen Barriere aus Wind erlöschen. Behutsam ließ sich Dhaôma ihr gegenüber in den Schneidersitz sinken. „Vergiss die da draußen.“, sagte er ruhig. „Ich finde dich nicht verabscheuungs-würdig. Du hast eine schreckliche Zeit durchgemacht, etwas, das sich diese Leute gar nicht vorstellen können. Sie haben dir so viel genommen und wie es aussieht, auch deinen Stolz. Aber der muss nicht für immer verloren sein. Du hast es geschafft, diese Hölle zu überleben. Trage das Wissen an dein Überleben stolz vor dir her. Du kannst darauf stolz sein, dass du nicht zerbrochen bist.“ Er lächelte. „Um dich herum ist Luft und Licht und Wärme. Du kannst den Himmel wieder sehen. Hier sind freundliche Herzen am Werk, die versuchen, den Krieg zu beenden und Frieden und Gleichberechtigung zu schaffen. Es dauert wahrscheinlich noch einige Zeit, bis das in alle Köpfe gesunken ist, bis alle verstehen, was hier entsteht, und es wird mit Sicherheit genauso lange oder sogar länger dauern, bis du alles verarbeitet hast, was passiert ist, aber irgendwann wirst du darüber stehen. Wenn du dich nicht für minderwertig hältst, dann kannst du auf Augenhöhe mit denen reden, die dich umgeben. Du brauchst nur ein bisschen Vertrauen haben. In dich und in deine Stärken.“

Ihr Lachen war selbstverachtend und kalt. „Du hast gut reden. Ich bin ein Krüppel. Ein magischer und ein körperlicher Krüppel! Was soll ich…“ Sie zuckte zurück, als ein Funke zwischen ihren Fingern übersprang. Fassungslosigkeit, Freude und Unglaube wechselten sich ab, bevor sie einen größeren Blitz erzeugte, den sie in den Boden schickte. Ihre braunen Augen richteten sich auf Dhaôma. „Warst du das? Hast du mir meine Magie zurückgegeben?“

Aber Dhaôma schüttelte mit dem Kopf. „Nein. Das kannst nur du allein gewesen sein.“

„Ich bin also geheilt?“

„Ja. Bist du damit einverstanden, wenn ich auch deinen Körper heile?“

„Das kannst du, nicht? Ja, ich sehe die Linien.“ Ihre Finger berührten seine Haut und plötzlich schwammen ihre Augen in Tränen, während sie gleichzeitig lachte. „Bitte. Mach mich gesund.“

Kaum hatte sie es ausgesprochen, begannen Dhaômas Linien zu leuchten. Seine Hand berührte ihre und schickte Energie in ihren Körper, der langsam zusammenwuchs und regenerierte. Ihr fehlte ein Finger, den er nicht zurückholen konnte, aber als er schließlich seine Magie zurücknahm, strahlte ihre Haut wieder gesund und rosig. Sie war hübsch. Sicher war sie einst ein begehrtes Fräulein gewesen. Jetzt war sie über dreißig.

„Was wirst du jetzt tun?“

Sie zitterte, als er diese Frage stellte. Ihre Augen richteten sich auf ihre Hände, die sie zuvor noch glücklich bewundert hatte. „Ich weiß es nicht.“, flüsterte sie unentschlossen. „Es hat sich so Vieles verändert und…“

Sachte schüttelte der Braunhaarige den Kopf. „Dann lass dir Zeit, darüber nachzudenken. Du findest deinen Weg. Ob bei den Hanebito, den Magiern oder vielleicht ganz woanders. Vielleicht wirst du ja doch die Mutter deines Kindes.“ Ihr Gesicht verzog sich angewidert, wurde aber erstaunt, als Dhaôma gar nicht angeekelt aussah, sondern weich lächelte. Letztendlich sagte er traurig: „Meine beste Freundin war ein Halbling.“, erklärte er. „Sie ist gestorben, als wir euch befreit haben. Irgendwie ist sie zwischen die Fronten geraten, obwohl sie mit den Bösen aus dem Schloss gar nichts zu tun hatte.“ Als er aufsah, waren seine Augen emotionsgeladen. „Es ist nicht ihr Erbe, das die Halblinge böse macht.“, erklärte er. „Es ist ihre Erziehung. Mit der richtigen Liebe wird aus dem Kind ein normaler Mensch, der ein schönes Leben führen kann. Wie Xaira oder Moira oder Volta.“

Sprachlos sah sie ihn an, dann nickte sie. „Ich denke darüber nach, was ich möchte.“, versprach sie. „Ich kann dir trotzdem nicht versprechen, dass ich dieses…“ Sie schluckte das Wort Monster mühsam herunter. „…Kind lieben werde.“

„Keiner verlangt das von dir. Hauptsache, du wirst erstmal gesund.“

Als er zu Asam ging, versuchte er alle negativen Gedanken und Gefühle aus seinem Kopf und Herzen zu verbannen. Wut, Hass, Enttäuschung, Trauer, nichts ließ er gelten, zeigte nur Zuversicht auf seinem Gesicht. Es sollte endlich alles gut werden. Langsam sollte er beginnen, die Opfer zu heilen. Aber wenn sie alle so anstrengend waren wie diese Frau, dann würde das viel länger dauern, als er gedacht hatte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  KuroMikan
2015-04-27T13:00:01+00:00 27.04.2015 15:00
Hallö :)

ich muss an dieser stelle jetzt einfach einen kommi dalassen, da ich es bis zum ende des kapitels wahrscheinlich eh schon wieder veressen hätte....

Xiara (so hieß die doch oder) als sie gestorben ist... irgendwie... hat mich das grad sowas von gar nicht gejuckt XD hab ich schon erwähnt das ich das weib nicht leiden konnte? ich glaube ja... irgendwann vor 10 kapiteln XD
in so gut wie jedem anime oder manga stirbt immer die person die ich am meißten mag, und jetzt juckts mich nicht wenn mal jemand stirbt den ich nicht mag... irgendwie nicht wunderlich... und doch? ich bin bei sowas verdammt nah am wasser gebaut und trotzdem isses mir gerade irgendwie egal XD
*hatermodus off*
ich les dann mal weiter XD

lg Mikan
Antwort von:  KuroMikan
27.04.2015 15:37
soooo zweiter kommi :) irgendwie echt nett XD ich weiß nicht aber irgendwie erinnern die mich an eine horde feiernder elfen XD
ich find die szene mit dem baum wirklich super :) wobei der für mich wohl etwas größer geraten ist :D *laputamäßig*
ich freu mich grad voll das die beiden "helden" sich nicht unterkriegen lassen :) das macht alles irgendwie fröhlich ^^

lg Mikan


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