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Der Weg aus dem Kampf

Wenn Träume Berge versetzen
von

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Jashar

Kapitel 44

Jashar
 

Danach begann eine Zeit, die für Mimoun und Dhaôma ziemlich langweilig war. Der grüne Drache musste lernen, seine Konzentration zu stärken, was vor allem Zeit und Meditation bedeutete. Er wurde langsam besser, konnte es mit jedem Tag ein wenig länger aufrechterhalten und sich auch mal ein bisschen bewegen, da zu dieser Zeit der Wind beinahe ganz abflaute. Tyiasur begleitete ihn bei diesen Spaziergängen regelmäßig, denn der erste Weg führte ihn immer zum Wasser, aus dem er trank, bis er seinen Durst gestillt hatte. Danach beobachtete er den kleinen Blauen, wie er Fische fing, was er mit der Zeit zielsicher und geschickt bewerkstelligte. Kam Mimoun mit, wurde ihm auch jedes Mal ein Teil der Beute abgetreten, eine Art Freundschaftsbeweis oder Ehrerbietung.

Das zweite, das Lulanivilay lernen wollte, war Dhaômas Magie gezielt zu unterstützen. Ein sinnvolles Ziel war die Fähigkeit, Essbares wachsen zu lassen. Dank Mimoun, der ganz stolz seine Riesenerdbeerensamen präsentierte, die die beiden miteinander zu ansehnlich großen Früchten wachsen ließen, war auch schnell geklärt, was der Drache jeden Tag aß. Dabei gefiel es Mimoun, dass er seine Erdbeeren bekam, von denen er tatsächlich satt wurde, während der Drache begeistert davon war, jeden Tag etwas Neues zu probieren. Seine Favoriten waren Bambusgräser und eine Nadelbaumart, die nach Zitronen duftete. Doch zu allererst kam immer noch Fisch. Zum Glück brachten die Drachen regelmäßig alle paar Tage einen gewaltigen Fisch vorbei. Die Ausmaße stellten Dhaômas Körper in den Schatten, reichten aber meistens gerade mal ein paar Minuten. Übrig blieben nur manchmal ein paar Knochen, die dann von Tyiasur blank geputzt wurden.

Es dauerte fast einen Monat, bis Lulanivilay seine Kraft für mehr als eine Stunde vollkommen unter Kontrolle hatte, aber dann stand er vor einem neuen Problem. Auch wenn das ausreichen würde, durch die Schutzwolken um die Insel zu fliegen, waren seine Flügel einfach zu schwach, um ihn zu tragen. Seit Jahren hatte er sie nicht mehr genutzt, nun waren sie nutzlos. Es stürzte ihn in tiefe Trauer, aus der ihn zum Glück Mimoun reißen konnte, indem er ihm erzählte, dass es ihm einst ähnlich gegangen war, als sein Flügel völlig zerrissen gewesen war. Danach trainierten sie das Fliegen. Der Wind, den die Flügel verursachten, kam dem gleich, den Lulanivilay zu diesem Zweck ausgeschaltet hatte, und Dhaôma hielt danach wohlweislich Abstand, damit er nicht wegflog.

Aber auch das wurde besser, als der Drache lernte, wie er das vermeiden konnte. Bald konnte er sich für längere Zeit in der Luft halten und auch ein wenig gleiten. Das, was er als Junges gelernt hatte, kehrte schnell zurück, und bald war er sogar schneller als Mimoun, wenngleich auch nicht so wendig.

Und dann passierte es immer wieder, dass plötzlich sowohl der Wind erstarb, als auch Dhaômas Fähigkeit, Pflanzen wachsen zu lassen. Es war nie lange, aber immer mal wieder und sehr irritierend. Der Grund dafür interessierte Dhaôma brennend, aber er blieb ihm verschlossen.
 

Solange er nicht mit Lulanivilay das Fliegen trainierte, suchte sich Mimoun selbst etwas zum Üben. Ihm war es schon zu Beginn ihres Aufenthaltes auf der Insel schwer gefallen, sich längere Zeit in der Luft zu halten. Ihm fehlten sowohl die Kraft als auch die Ausdauer dafür. Aber je länger sie blieben, umso besser wurde es. Zu häufig flog er zwischen der Teichlandschaft und den Klippen hin und her. Doch es genügte seinen Ansprüchen nicht. Dhaôma wollte auf einem Drachen fliegen und Lulanivilay hatte ihm eindrucksvoll gezeigt, dass er mit seinem derzeitigen Können auf keinen Fall längere Zeit mit einem dieser riesigen Tiere mithalten konnte. So nutzte der Geflügelte freie Momente, die er weder mit dem großen noch mit dem kleinen Drachen verbrachte, und wo auch sein Magier gut beschäftigt war und flog immer in Sichtweite absichtlich in heftige Winde hinein.

Bei seinen ersten Übungsflügen wurde er kräftig durcheinander gewirbelt. Nicht selten passierte es dann, dass der Wind einfach erstarb. Es kam immer unerwartet und meist strauchelte er in der Luft. Genauso geschah es hin und wieder, dass es ihm leicht fiel hier zu fliegen. Manchmal konnte er ansonsten unvorhersehbare Strömungen ganz leicht für sich nutzen. Es war dann jedes Mal ein berauschendes Gefühl, keine Winde fürchten zu müssen, frei und unbeschwert auf ihnen zu gleiten.

In der Zeit, die sie am Rande der Insel mit Lulanivilay trainierten, wuchs Tyiasur heran. Es würde noch dauern, bis er die Ausmaße seiner erwachsenen Artgenossen erreichen würde, aber schon jetzt konnte man ihm fast beim Wachsen zusehen. Er hatte jetzt bereits die Länge von Mimouns Unterarm erreicht. Der kleine Blaue wurde neugieriger und begann auch auf eigene Faust seine Umgebung zu erkunden. Zwar blieb er noch immer in Rufweite zu seinem großen Beschützer, doch er klammerte sich nicht mehr an ihn.

Zusätzlich zu seiner Größe, was alle mitbekamen, änderte sich auch etwas in Tyiasurs Inneren, das nur für ihn spürbar war. Er konnte fühlen, wie die Magie um ihn herum verschwand, wenn er es wirklich wollte. Es war lustig, wenn der Flügellose völlig irritiert war, wenn sein Grünzeug nicht mehr so wuchs, wie er es beabsichtigte. Manchmal setzte der kleine Drache auch den Wind außer Kraft, wenn er dachte, sein Freund wäre in Gefahr.

Verwirrender als diese Fähigkeit war etwas anderes, was im Laufe der Zeit mit ihm geschah. Es passierte anfangs ganz unbewusst. Tyiasur vernahm Stimmen, wo keine sein durften, sah Bilder, die nicht sein konnten. Wenn sein Beschützer mit dem Flügellosen kuschelte und beide keinen Laut von sich gaben, konnte er sie dennoch hören. Zeitgleich, durcheinander, in wechselnden Lautstärken. Nur langsam wurde ihm bewusst, was er da vernahm und er begann gezielt Stimmen zu suchen oder auszublenden. Das war anstrengend und nervig. Man hatte keine Ruhe mehr. Nur nachts wurde es ruhiger. Dann wurde sein Kopf nicht mehr von Stimmen gefüllt, nur noch von Bildern, manche sanftmütig und ruhig, andere unruhig.

Nachdem er einmal in den Traumbildern gesehen hatte, dass es für seinen Beschützer unangenehm wurde, ihn weiter auf dem Hals nächtigen zu lassen, zog er sich von selbst auf die sich gleichmäßig hebende Brust zurück, wo nicht selten auch die Hand des Flügellosen lag.
 

Dann, eines Tages, flog Lulanivilay fort. Schon länger hatte er erzählt, er würde gern die Welt ohne Magie erkunden, endlich dieser Spannung entkommen, der er immerzu ausgesetzt war. Dhaôma und Mimoun winkten zum Abschied, Tyiasur schwebte ihm sogar ein Stückchen nach, bevor der Schwarzhaarige ihn wieder einfing. Die Stimmung war irgendwie gedrückt. Sie hatten gehofft, Lulanivilay würde bleiben und sich ihnen anschließen, aber Dhaôma hatte ihn nie gefragt, weil er ihn nicht in Gewissenskonflikte bringen wollte. Er hatte ihm geholfen, um ihm seine Freiheit wieder zu geben; die würde er ihm nicht nehmen.

Und etwas wurde ihm danach auch klar: Seine Magie war schwach geworden. Zumindest kam es ihm so vor. Weil Lulanivilay immer da gewesen war und ihm geholfen hatte, war es immerzu leicht von der Hand gegangen, wenn man von der Konzentration zum Zurückhalten mal absah, jetzt brauchte alles wieder viel mehr Zeit und Kraft.

Deprimiert fügte sich der Braunhaarige in sein Schicksal. „Ich bin ein Esel.“, sagte er missmutig. „Dabei sollte ich doch wachsen. Stattdessen mache ich einen Rückschritt.“ Entschlossen stand er auf und sah Mimoun auffordernd an. „Ich hätte Lust, endlich einmal die ganze Insel zu erkunden. Vielleicht unterbricht mich diesmal ja kein Drache dabei, so dass ich tatsächlich einen guten Überblick bekomme.“ Ja, Mimoun hatte ihm viel erzählt, so wie Lulanivilay auch, aber gesehen hatte er kaum etwas. Und Tyiasur hatte auch kaum etwas von seiner Heimat kennen gelernt. „Kommst du mit?“
 

Gespielt beleidigt legte Mimoun den Kopf schief und verschränkte die Arme. „Nein.“, erwiderte er lang gezogen. „Ich bleib hier und warte darauf, dass du mich wieder abholst.“ Mit einem frechen Grinsen, das ihn wie einen kleinen Jungen wirken ließ, ergriff er Dhaômas Handgelenk und zog ihn mit sich.

Zuerst führte der Geflügelte seinen Freund auf die Steppe und zeigte dem Magier dort die Erddrachen. Kurz erklärte Mimoun, was er über diese Tiere herausgefunden hatte, ihre komplette Friedfertigkeit und ihre Vorliebe für Gräser. Anschließend strich er einem dieser Geschöpfe über den Rücken und setzte sich darauf. Kurz wandte der Drache seinen Kopf und setzte sich leicht schwankend und mit einem tiefen Brummen in Bewegung.

„Los komm. Das fühlt sich genau wie auf deinem Boot an.“, lachte Mimoun und streckte eine Hand in Dhaômas Richtung.
 

Sprachlos starrte Dhaôma seinem Freund hinterher, dann begann er zu laufen, um das Tier einzuholen. Trotz seiner Trägheit war es viel schneller als er. Zum Glück zog ihn Mimoun hinauf, als er seinen Sprung nicht ganz schaffte.

Es war wirklich wie auf einem Boot, nur dass das Schwanken viel gleichmäßiger war und statt dem stetigen Plätschern gab es ein leises Donnern, wenn die Füße Kontakt mit dem Boden schlossen. Und wie weit er sehen konnte! Es war phantastisch. Überall waren Drachen und sie ritten einfach an ihnen vorbei, wurden dabei kaum beachtet. Ab und zu kamen ein paar Vögel und pickten auf dem Drachen herum, bevor sie wieder wegflogen. Anscheinend suchten sie kleine Insekten, die in den Schuppen und Hautfalten lebten. Und die Landschaft war beeindruckend. Wie die Gräser sich wiegten, sahen sie aus wie das seidige Fell eines schlafenden Tieres. Die Bäume waren kräftig und ausladend und dabei so verwinkelt, dass es erstaunlich war, dass sie standen. Kleine Bäche oder Teiche wimmelten vor Kleinstgetier, dass manchmal die Oberfläche brodelte, wenn ein Wasserdrachen seine Krallen danach ausstreckte. Auf der einen Seite waren die Wolken des Schutzwalls hinter dem Rand der Insel zu sehen, auf der anderen Seite der Berg und die Wälder, dazwischen erstaunliche Felsenriffe, die wie eigenständige Inseln aus den Baumriesen herausragten. Vor Begeisterung fiel Dhaôma beinahe von dem Rücken des Drachens herunter.
 

Lachend griff Mimoun zu und hielt die Hüften seines Freundes umschlungen, bot diesem so die Möglichkeit sich ungestört umzusehen. Mit einem intensiven Glücksgefühl nahm er das Bild von Dhaômas leuchtenden Augen, seine geröteten Wangen tief in seiner Seele auf.

„Sag Bescheid, wenn du dich satt gesehen hast. Dann geht's zum nächsten Ort. Oder willst du wie ich auf meiner Suche jeden Tag einen anderen Teil erkunden?“, fragte er schließlich neugierig nach.
 

„Was? Nein, einfach herumlaufen und dann sehen, wohin man gelangt. Ich habe keine Eile damit. Wir kommen hier eh nicht weg, bevor wir alles erreicht haben, nicht wahr?“ Tief kuschelte er sich in die Arme Mimouns und lehnte sich gegen ihn. So war es noch besser. Er konnte alles sehen und haderte nicht mit der Problematik, seinen Schatz nicht ganz nah bei sich zu haben.

Doch plötzlich blieb der Drache stehen. Er hatte etwas entdeckt, das er fressen konnte. Und tat es. Der Ritt war vorbei. „Ai. Jetzt heißt es wieder selbst laufen.“, lachte der Braunhaarige und wurstelte sich aus der Umarmung. „Ein paar Stunden haben wir noch, bis es dunkel wird, bis dahin kommen wir doch sicher noch ein Stück weiter.“ Auffordernd hielt er Mimoun die Hand hin.
 

„Ein wenig können wir noch herum spazieren, aber wenn es dunkel wird, müssen wir an einem bestimmten Ort sein. Ich will dir schon so lange etwas ganz Tolles zeigen.“ Sein Blick glitt über den Himmel, missmutig zogen sich die Brauen zusammen. „So ein oder zwei Stunden.“ Elegant ließ sich der Geflügelte vom Rücken des Tieres hinunter gleiten und wandte sich zu dem großen, breiten Kopf zu. „Vielen Dank fürs Tragen.“ Sacht streichelte er die Nase des Tieres, das davon keine Notiz nahm.

Lächelnd ergriff der Geflügelte Dhaômas Hand und lief ein paar Schritte rückwärts, seinen Freund mit sich ziehend, einfach in irgendeine Richtung.

Sie blieben bis zum letztmöglichsten Zeitpunkt in der Steppe, ließen sich die Gräser um die Beine streichen, beobachteten junge Erddrachen. Im Gegensatz zu ihren ausgewachsenen Artgenossen, wirkten sie lebendiger, nicht so träge. Sie rannten noch über die Steppe und wenn man ihrer Laufbahn zu nahe kam, bebte die Erde. Mit Begeisterung erkor sich Mimoun einen Favoriten aus und feuerte ihn lauthals an. Auch wenn dieser nicht gewann, hatte der Geflügelte dennoch einen Heidenspaß an der Situation.

„Komm. Es wird Zeit.“ Sanft umschlang er die Hüften seines Freundes und stieß sich ab. Ja er hatte Fliegen im Sturm geübt. Es war dennoch schwieriger als erwartet. Vielleicht hätte er auch Fliegen mit Ballast trainieren sollen.

Seine Route führte ihn nicht über den verdrehten Wald in Richtung des riesigen Hauses. Er schwenkte ein wenig seitlich, strebte der Teichlandschaft zu. Bei jedem seiner Flüge dorthin hatte er ein wenig Gras aus der Steppe mitgenommen und seine auserkorene Höhle ausgepolstert. Selbst Tyiasur hatte nach einiger Zeit angefangen einzelne Halme zu tragen. Aber im Endeffekt blieb auch das an Mimoun hängen, da er den kleinen Drachen ja ebenfalls trug.

Kurz bevor das letzte Licht schwand, erreichte der Geflügelte sein Ziel. Sanft stellte er seinen Freund neben dem Höhleneingang ab, zeigte ihm kurz, wo sie nächtigen würden, und zog ihn dann am Handgelenk zu den Teichen. Im immer weiter schwindenden Licht konnte man erkennen, dass sich die kleinen Wasserdrachen zur Nachtruhe zwischen das Schilf zurückzogen und auch die Libellen flogen bereits nicht mehr so zahlreich. Aber das war es nicht, worauf Mimoun wartete. Selbst als der letzte Sonnenstrahl verschwunden war, stand er abwartend zwischen den Teichen.

Dann langsam begann es. Ein leises Glimmen war zwischen dem Schilf zu erkennen, wurde zahlreicher und erhob sich schließlich daraus empor. Der Schwarm der kleinen leuchtenden Insekten verteilte sich sanft wiegend über den Teichen, spiegelte sich im Wasser wider.
 

„Glühwürmchen!“, hauchte Dhaôma hingerissen. „Wie schön!“

Es sah wirklich wunderschön aus. Die Teiche an sich waren schon hübsch, glitzerten im schwachen Mondlicht, wenn sich ihre Oberfläche ein wenig kräuselte, aber die Glühwürmchen waren noch viel schöner. Sie verzauberten die Umgebung, schwebten unkoordiniert über das Wasser und um sie herum. Das Schilf mutete aufgrund der Schatten beinahe gespenstisch an und die nachtaktiven Drachen huschten wie Leib gewordene Schatten über die winzigen Erdbrücken, um die Glühwürmchen zu fangen und zu fressen. Man konnte sie kaum erkennen, so schnell waren sie.

Ergriffen lehnte sich Dhaôma auf Mimouns Schultern. Der Schwarzhaarige war tatsächlich noch einmal gewachsen. Sie waren jetzt fast gleich groß. So war er genau groß genug, damit er sein Kinn auf Mimouns Schulter legen konnte, ohne sich anstrengen zu müssen, weil er krumm stand. „Das ist wirklich schön.“, sagte er leise.
 

Jedes weitere Wort hätte die Stimmung gestört, befand Mimoun und schwieg. Er hatte den Flug der Glühwürmchen schon so häufig gesehen, dass er sich nun leisten konnte, etwas anderes zu beobachten. Der Geflügelte war so sehr in Dhaômas Anblick versunken, dass es völlig an ihm vorbeiging, dass Tyiasur ihn intensiv anstarrte. Der kleine Drache schüttelte mit Unverständnis den Kopf und erfreute sich lieber selbst an der Jagd nach den leuchtenden Insekten. Sie schmeckten nicht, das wusste er bereits, aber sie zu fangen, war eine Herausforderung.

„Komm.“, flüsterte Mimoun nach einer Ewigkeit und seine Lippen fanden den braunen Haarschopf des anderen. „Wir sollten langsam schlafen gehen.“ Er verwob seine Finger mit Dhaômas und lächelte sanft.
 

Dieser drückte die vertraute Hand und nickte. Noch immer war die Atmosphäre zu angefüllt für irgendwelche Worte, also zogen sie sich zusammen in die Höhle zurück und legten sich hin. Und obwohl Dhaôma nichts sagte, schlief er nicht, sondern hielt mit geschlossenen Augen Mimouns Hand fest und spürte in sich nach, was das war, das in ihm so überquoll.

Freude, dass er wieder mit Mimoun reisen konnte – das hatte er vermisst.

Glück, dass Mimoun bei ihm war, bedingungslos und jederzeit - wie er es gewöhnt war.

Zufriedenheit, dass trotz eines traurigen Abschieds die Welt noch so wundervoll sein konnte.

Wärme, dass er nicht allein war.

Und davon angefüllt schlief er schließlich doch ein.
 

Es war die letzte Nacht, die sie auf längere Zeit in der Höhle verbringen würden, denn Dhaôma weigerte sich, von Mimoun hin- und hergetragen zu werden, wie der verweichlichte Magiersohn, der er einst hätte sein sollen. Er wollte frei sein, zu entscheiden, wohin ihn seine Füße lenkten. Für Tyiasur würden sie schon eine Lösung finden, denn diese Landschaft war mit Sicherheit nicht der einzige Ort, an dem es kleine Fische und Wasser gab.

Dennoch war die Seenlandschaft groß und sie wanderten den ganzen Vormittag durch sumpfiges, morastiges Gebiet. Reiher standen in den flachen Teichen und warteten geduldig auf eine Gelegenheit, den Schnabel ins Wasser zu stoßen. Nicht selten wurden sie dabei von den kleinen Wasserdrachen gestört, die durch das Wasser flitzten und mit dem Schlamm, den sie aufwühlten, die Sicht versperrten. Sie wurden Zeuge, wie einer der kleinen Drachen gefangen und verschluckt wurde. Dies hier war zwar die Insel der Drachen, aber das hieß wohl nicht, dass die Drachen hier die einzigen Herrscher waren. Offenbar galt auch hier das Gesetz des Stärkeren.

„Du musst schnell sehr stark werden.“, erklärte Dhaôma Tyiasur, als der Kleine von einem Kurzausflug zurückkehrte. „Damit wir keine Angst haben müssen, dass du einmal nicht zurückkommst.“

Irgendwann wurden die kleinen Flüsschen und Teiche zu einem einzigen Wasserlauf, der über Steine plätscherte und teilweise sogar unterirdisch verlief. Natürlich konnte der kleine Blaue nicht widerstehen, die dunklen, verborgenen Teile des Wassers stromaufwärts zu erkunden und erwartete die beiden Freunde jedes Mal etwas weiter oben, wo das Wasser verschwand. Für Dhaôma war der Weg am beschwerlichsten, da die losen Steine unter seinen Füßen wegrutschten und er ständig stolperte. Fast war es wie die Geröllhalde, die er mit Mimoun überquert hatte. Es schien ein ganzes Leben her zu sein. Jetzt konnte Mimoun einfach flatternd die unwegsamsten Stellen überqueren und kam nicht mehr in die Verlegenheit, wie ein Betrunkener zu torkeln. In diesem Gebiet lebten wieder Steindrachen und Erddrachen, sowie Eidechsen und Schlangen, die sich genüsslich in der Sonne aalten, bis Tyiasur sie aufschreckte. Beide jungen Männer lachten, als eine Schlange sich verteidigte und aus dem Blauen eine Kugel wurde. Es sah immer wieder lustig aus.

Bei Sonnenaufgang konnten sie in der Ferne hinter dem Hügel das gigantische Haus ausmachen, in dem die Mutter wohnte, aber sie wollten dort nicht hin, also wendeten sie ihren Weg von dem Flüsschen ab auf einen Wald aus Nadelbäumen und niedrigem Gestrüpp zu. Für Mimoun war es die denkbar schlechteste Umgebung, also hielten sie sich am Rande, so dass Dhaôma kurze Ausflüge hinein machen konnte, ohne dass Mimouns lederne Flügel beschädigt wurden. Was er fand, waren Pilze, die sie zum Abendessen verzehrten, und einen Drachen, der sich absolut nicht bewegte, egal, ob er ihn ansprach oder berührte. Als wäre er nur aus Holz geschnitzt – und genauso gefärbt. Aber es war langweilig, nur einer eintönigen Linie an Baumstämmen zu folgen, also streunten sie in das wogende Grasland daneben ab, um zu einem grotesken Felsen in seiner Mitte zu gelangen. Versteckt unter den Gräsern fanden sie immer wieder Teiche, die vollkommen zugewachsen waren, so dass Dhaôma unfreiwillig erkundete, dass sie tiefer waren als er groß. Natürlich war ihr Drachenfreund begeistert und holte einen sehr ungewöhnlich aussehenden Fisch an die Oberfläche. Er war platt und hatte vorne einen großen, hammerähnlichen Knubbel, wo bei einem Wirbeltier vielleicht die Nase sitzen würde. Etwas später stritt er sich mit einem äußerst apathischen Drachen, der halb im Wasser saß und eine eigenartige Mischung aus Kröte und Regenwurm zu sein schien. Tyiasur gewann durch Nicht-reagieren.

Schon von weitem erkannte Mimoun, dass der Felsen bewohnt war. Und zwar von kleinen geflügelten, grauen Drachen. Nähern konnten sie sich dann aber nicht, denn die Winzlinge waren absolut nicht begeistert darüber, dass so seltsame Wesen ihr Territorium betraten. Sie griffen an und nach einem stummen, versichernden Blick ergriffen Mimoun und Dhaôma die Flucht. Vielleicht war es nicht schlecht gewesen, denn sie beobachteten einen Tag später, wie eben jene Drachen einen viel größeren Erddrachen angriffen und ihm bei lebendigem Leib Stücke aus dem Panzer brachen. Beeindruckt wohnten sie dem Schauspiel aus sicherer Entfernung bei, bis die Beute komplett zerlegt und abtransportiert war. Nur noch ein gewaltiger Blutfleck zeugte davon, dass hier ein Drache gestorben war.
 

Dieses Schauspiel war nicht nur beeindruckend, gleichzeitig war es beunruhigend. Die Schnelligkeit, mit der diese Drachen zuschlugen, die Brutalität, mit der sie zu Werke gingen! Und dabei waren sie so klein.

Mimoun legte einen Arm um seinen Freund, umfasste mit der anderen Hand Tyiasur. Ab jetzt würden sie solche Felsen und ihre Bewohner besser weiträumig umgehen.

Ihr Weg führte die beiden Freunde wieder näher an den Rand der Insel. Unaufhaltsam kamen sie dabei in eine unwirtlichere Gegend. Es fing langsam an, fast unmerklich. Kleine Spalten zogen sich durch die Erde, wurden tiefer und breiter. Das Erdreich wurde fester, felsiger und die Vegetation nahm immer schneller ab. Im selben Maße stieg die Landschaft sanft an, bis sie abrupt abbrach.

Unter ihnen erstreckte sich eine zerklüftete, von Rissen durchzogene Felslandschaft. Rotes Glühen drang durch die Spalten hervor und bestialische Hitze und Gestank schlugen den beiden jungen Männern ins Gesicht. Keuchend wandte sich Mimoun ab und rutschte ein paar Meter den Abhang hinunter. Tyiasur bereute seine Neugier ebenfalls schnell und verdrückte sich mit einem leisen, kläglichen Fiepen bei seinem großen Beschützer. Die Haut des Wasserdrachens, sonst kühl und glitschig, war trocken und an der Schnauze rissig. Mitfühlend griff der Geflügelte nach dem Wasserschlauch und beträufelte den Kleinen zur Linderung. Selbst für ihn war die Hitze, die dort in dem Kessel herrschte, unerträglich, doch für seinen Winzling war es die feindlichste Umgebung, die es auf dieser Insel geben konnte. Dennoch war er neugierig auf die Drachen, die hier wohl leben mochten.

Dhaôma erschien an seiner Seite und überzeugte sich davon, dass alles in Ordnung war. Frustriert zupfte er an seinem Pony herum, der trocken und strohig geworden war. Der Geflügelte übergab seinen Schützling an den jungen Magier und schob sich vorsichtig an den Kraterrand heran. Geduckt, den Kopf aus dem unerträglichen, gen Himmel strebenden Wärmestrom heraushaltend, lugte er in den Glutkessel. Die Hitze ließ die Luft flirren und gaukelte Bewegung vor, wo keine war. Fast war Mimoun versucht zu glauben, dass hier kein Leben existieren konnte, als er einen erblickte. Kurz erschien ein rotgelb gemusterter Kopf und verschwand nur wenige Augenblicke später wieder in einer der Spalten. Ein schlanker, schlangenförmiger Leib folgte dieser Bewegung. Dann erfüllte nur noch das Flirren die Umgebung. Diese Drachen schienen sich wohl eher in den kochenden Tiefen dieses Kessels aufzuhalten.

Zufrieden kehrte der Geflügelte zu seinen Freunden zurück, das Gesicht stark gerötet und schweißnass. „Jetzt…“, begann Mimoun langsam. „…brauchen wir wohl alle ein Bad.“
 

„Aber besser nicht hier in der Nähe, denn wahrscheinlich werden neben einer solchen Hitze eher heiße Quellen sein. Das halten du und Tyiasur kaum aus.“ Während Mimoun gespannt hatte, hatte Dhaôma Tyiasurs Nase geheilt. Der kleine Drache war von diesem Gefühl irgendwie nicht ganz überzeugt, aber dass das eklige Reißen auf seiner Schnauze verschwand, ließ ihn stillhalten, bis die Haut wieder weich und geschlossen war.

Leider fanden sie an diesem Tag keinen Ort, an dem sie baden konnten, also übernachteten sie verschwitzt und trocken unter einem Felsen, der an einen riesigen Riss im Boden grenzte, durch den man auf das Große Wasser hinab sehen konnte. Der Zugwind machte es kalt und Dhaôma kuschelte sich dicht an seinen schwarzhaarigen Freund, um warm zu bleiben.

Aber es lohnte sich definitiv, denn im zunehmenden Licht des neuen Morgens konnten sie zwischen den felsigen Wänden viele gespannte Schnüre sehen, an denen in Trauben ovale Gebilde schaukelnd im Wind hingen. Das hier war eine ganz andere Art von Nest. Und die eifersüchtigen Drachenweibchen, die sie bewachten, hatten die ganze Nacht keine Landung eingelegt.

„Vielleicht fliegen sie immer. So wie die Felsensegler.“, suggerierte Dhaôma nachdenklich.
 

„Möglich.“, zuckte Mimoun mit den Schultern. „Wir müssten länger hier bleiben, um ihre Ausdauer zu testen.“

Dennoch entschieden sie sich, weiter die Insel zu erkunden. Es gab noch so viel zu entdecken, so viel Ungewöhnliches zu sehen. Ein Salzsee, Schwefelquellen, dazwischen die unterschiedlichsten Drachenarten. Alle Größen und Farben waren vertreten und sie nutzten wirklich jede sich bietende Landschaft als Lebensraum. Große geflügelte Drachen beherrschten den Himmel, solche ohne Flügel stampften auf der Erde herum und es gab sogar einige, die sich durch die Erde wühlten. Als die kleine Wandergruppe eine üppig blühende Wiese überquerte, brachen sie nicht selten in die teilweise nur knapp unter der Oberfläche verlaufenden Gänge ein. Das Gezeter der kleinen Schuppentiere war noch meilenweit zu hören.

Schließlich betraten sie ein kleines Tal. Die Hänge der sanft ansteigenden Berge waren zum Teil dicht bewaldet. Der Boden des Tals wurde fast vollständig von einem kristallklaren See ausgefüllt. Und hier fanden die Freunde wieder etwas, dass sie verblüffte. Schwebende Inseln über einer schwebenden Insel. Und ebenso dicht bewaldet wie die Hänge. Dagegen trieb wie ein unvollständiges Spiegelbild eine einsame Insel im See.

Der Geflügelte ließ es sich nicht nehmen, sich das Ganze aus der Luft zu betrachten und auch die kleinen Inseln zu besuchen. Winziges Getier verschwand huschend in dem dichten Unterholz, kaum dass er einen Fuß darauf setzte. Doch mehr konnte er auch nicht tun oder entdecken. Für Mimoun war hier ein Durchkommen unmöglich. Und so kehrte er zu seinem Magier zurück. Tyiasur tobte bereits durch die sanften Wogen, die über das Ufer rollten.
 

Dhaôma hatte sich das einige Zeit angeschaut und die friedliche Atmosphäre genossen, die seine Familie hier vorfand, dann hatte er sich nach rechts gewandt und war an den Ufern des Sees entlang gelaufen – ohne Schuhe, denn er wollte das Wasser auf der Haut spüren. Am Abend würde er vielleicht mit dem Wasserdrachen schwimmen gehen, aber bis dahin wollte er noch ein wenig vorankommen.

Der Hang fiel flach zum See hin ab und war bewachsen mit lichten Erlen und Birken. Ihr Laub war hell und jung und erinnerte Dhaôma daran, dass eigentlich längst Herbst herrschen sollte. Die Hanebito würden jetzt alles geben, um ihre Vorratskammern aufzufüllen, und die Tiere würden sich ebenfalls für den Winter bereit machen. Selbst er hätte es tun müssen, eine Höhle finden und Vorräte sammeln sollen, stattdessen war er hier und irgendwie herrschte hier eine andere Art von Klima, so dass es vom Rest der Welt unbehelligt blieb. Er wusste nicht, ob es ihn beruhigen sollte, oder ob er nicht trotzdem Vorbereitungen treffen sollte.

Der Wald zu seiner Rechten wurde höher und dichter, als Mimoun zurückkam. Und gerade, als Dhaôma ihn begrüßen wollte, hielt er mitten im Atmen inne, als hinter seinem großen Freund ein noch größeres Wesen erschien. Allein der Kopf ließ Lulanivilay wie einen Grashüpfer wirken.

„Mimoun!“
 

Das Rauschen herabstürzenden Wassers erfüllte die Luft und Dhaôma verlor schlagartig alle Farbe. Der Name des Geflügelten drang zittrig und panisch zu dem Gerufenen empor. Und schlagartig wurde es dunkler. Mimoun flog nicht mehr im Sonnenlicht. Etwas hatte sich dazwischen geschoben.

Während er sich ein stückweit fallen ließ, drehte er sich um… und vergaß beinahe seine Flügel wieder in Bewegung zu setzen. Zwar fing er sich wieder ab, doch der Geflügelte wagte es nicht, diesem gigantischen Geschöpf den Rücken zuzudrehen und zu verschwinden. Der gewaltige Kopf drehte sich und kam ein Stück näher, so dass sich Mimoun direkt mit dem Auge konfrontiert sah, selbst noch ein Stück größer als der Winzling, als der er sich gerade fühlte. Flink schob sich eine durchsichtige Haut davor und verschwand wieder.

„Ähm…“, begann er, räusperte sich kurz, weil seine Stimme nicht so wollte wie er. „Hallo.“

Der Kopf zog sich ein wenig zurück und wandte sich zur anderen Seite. Der Drache musterte ihn nun mit dem anderen Auge.
 

Er öffnete das Maul. Eine monströse Zunge erschien, beweglich wie eine Wüstennatter. Wieder schlossen sich die Augen, ohne dass sie verdeckt wurden und zu Dhaômas Füßen schlugen hohe Wellen ans Ufer. In seinem Kopf setzte einen Augenblick alles aus, dann fand er sich selbst auf den Knien wieder, die Hände bis zu den Ellbogen im Wasser. Mit hoher Geschwindigkeit gefror die Oberfläche des Sees, krachte und knackte und barst, während es immer wieder fest wurde, wenn Wasser auf das Eis gespült wurde. Aus den Tiefen schoss ein silbrigblauer Blitz, als das Monster sich erneut bewegte und wieder hohe Wellen auftürmte. Seine Nase schoss vor, direkt auf Mimoun zu, als wolle er ihn fressen.
 

Das war die Grenze. Nichts wie weg, war der einzige Gedanke, der den Geflügelten beherrschte. Er ließ sich nicht nur einfach fallen. Gezielt schoss er auf die Eisfläche zu. Auf halbem Wege schoss etwas Blaues aus einem Loch in der scharfkantigen Masse, wickelte sich um sein Bein und schlängelte sich höher, bis Tyiasur sich an den Halsausschnitt krallte. Sanft stieß der kleine Drache die Schnauze an das Kinn des Geflügelten.

Zittrig fing sich Mimoun wieder und verharrte nahezu bewegungslos an der Stelle. Tyiasur hatte ihm schon einmal den richtigen Weg gewiesen und jetzt schien er angstfrei zu sein. Es war nicht falsch, sich auf das Gespür des Winzlings zu verlassen. Mit geschlossenen Augen und halb abgewandtem Kopf harrte der Geflügelte aus, als sich die Schnauze des Giganten weiter näherte.
 

In Dhaôma blieb das Herz einen Moment stehen, als er sah, wie Mimoun plötzlich in seinem Fluchtversuch verharrte und schlitternd mit beiden Füßen auf dem Eis zum Stehen kam. Verkrampft und geduckt wartete sein schwarzhaariger Beschützer auf diesen riesigen Drachen.

„Nein!“, wisperte Dhaôma, sich die schlimmsten Dinge ausmalend, die gleich passieren würden. In seinem Geist sah er, wie Mimoun in dem Schlund verschwand, nicht einmal genug, um den Drachen zu sättigen. Er sah vor sich, wie Mimoun blutüberströmt auf einem dieser spitzen, stalagmitenähnlichen Zähne steckte, die Augen leer und gebrochen…

In der Realität splitterte das Eis, als der weißgraue Drache sich vorwärts schob, und sein Maul wieder schloss. Die scharfen Scherben schossen durch die Luft, aber die Haut des Drachens durchdrangen sie nicht, als sich die ovalen Nüstern blähten. Sekundenlang geschah nichts, dann stieß der Drache einen Schrei aus, der so tief war, dass das Wasser vibrierte, das Eis völlig barst und in den Mägen der beiden Menschen ein Gefühl der Angst entstand, weil es jenseits alles Hörbaren lag. Im nächsten Moment brach Mimoun ein.
 

Das Wasser schlug über ihm zusammen, kurz nachdem er ein letztes Mal verzweifelt Luft geholt hatte. Um sich herum sah er die Luftblasen emporschweben und sank selbst noch tiefer. Ein angestrengtes Auffächern der Flügel verhinderte weiteres Absinken, doch er kam nicht wieder nach oben, so sehr er auch mit den Füßen strampelte, wie er es von dem Magier kannte. Am Rande bekam Mimoun mit, wie Tyiasur im Kreis um ihn herum schoss, sich an der Kleidung festkrallte und zog - ohne Effekt.

Das Wasser geriet in Bewegung. Der Druck schob den Geflügelten in Richtung Ufer, aber im gleichen Maße auch weiter nach unten. Die Nase des großen Grauen pflügte durch das Wasser, traf auf das kleine, verzweifelt ums Überleben kämpfende Geschöpf und hob es aus der nassen Umklammerung heraus. Keuchend und zittrig blieb Mimoun liegen. Seine Finger fuhren suchend über die Schuppen, suchten eine Möglichkeit sich festzuhalten.
 

Dhaômas Magie hatte ihn verlassen, bevor er etwas tun konnte. Das lag nicht etwa daran, dass sie erschöpft gewesen wäre, nein, sein Kopf hatte ihm die Kontrolle über alles verwehrt, das ihm gehörte: seine Magie und sein Körper. Als Mimoun versank und dieses Ungeheuer hinterher tauchte, wusste er einfach, dass er nichts mehr machen konnte. Ihm versagten die Knie und er sank bis in die Grundfesten erschüttert zu Boden.

Verloren, schoss es ihm durch den Kopf und alles wurde weiß, als er sich weigerte, das als Wahrheit zu akzeptieren.

Und dann tauchte Mimoun wieder auf. Auf der Nase des Drachens liegend, triefend nass. Es dauerte endlos, bis Dhaôma verstand, was sich hier abspielte, dass sein Freund am Leben war, dass der Drache ihn nicht gefressen hatte, dass er ihn nicht verloren hatte.

Ein Schluchzen schüttelte ihn und Erleichterung brach sich in Form von Tränen ihre Bahn. Der Braunhaarige hatte nicht einmal genug Kraft in seinen Muskeln, um sich über die Augen zu wischen.
 

Langsam kam Mimouns heftiger Atem wieder zur Ruhe und er stemmte sich hoch. Zumindest versuchte er es, denn er rutschte ein Stück von der glitschigen Nase herunter. Hastig begab er sich wieder in die Liegende. Das half ihm auch nicht, als eine nachlässige Bewegung des gigantischen Kopfes ihn mit Schwung ans Ufer warf. Die unglückliche Landung trieb ihm alle Luft aus den Lungen, dennoch machte ihn momentan nichts glücklicher, als Erde unter sich zu spüren.
 

Kaum sah Dhaôma den Geflügelten ‚landen’, hastete er auch schon auf ihn zu. Er bildete sich ein, ein hässliches Knacken gehört zu haben. „Mimoun! Mimoun, Mimoun, bist du okay?“, stammelte er, während er versuchte, ihn auf den Rücken zu drehen. Die schmalen Finger zitterten und er spürte, wie unter der Oberfläche seiner Haut seine Magie brodelte wie ein ungeduldiges Tier.
 

War alles in Ordnung? Ja. Er war nicht mehr im Wasser und am Ertrinken. Dennoch schmerzte seine Brust tierisch. Und die Bewegung durch den Magier machte es nicht besser.

„Ich hasse Wasser.“, murmelte er, begann zu husten und krümmte sich leicht zusammen, da die ruckartigen Bewegungen seine Schmerzen verstärkten.
 

Die Schmerzen, die sich auf Mimouns Gesicht abzeichneten, waren ihm Warnung genug. Er gab dem Drängen unter seiner Haut automatisch nach, die Linien auf seinen Wangen begannen zu leuchten, wie sie nur selten gestrahlt hatten, und wie in einem magischen Sog pulste die Magie in Mimoun hinein, heilte einige geprellte und gebrochene Rippen, regenerierte und säuberte eine mit Wasser gefüllte Lunge und richtete eine ausgekugelte Schulter. Das entstehende schnalzende Geräusch war derartig eklig, dass sich ihm beinahe der Magen umdrehte.

Erschöpft brach er über dem Geflügelten zusammen und lehnte seine Stirn gegen die Flügel. Noch immer zitterte er, diesmal mehr vor Überanstrengung als vor Angst. „Irgendwann einmal bin ich nicht da, um dich von dieser Art Verletzungen zu befreien, dann werde ich dich verlieren.“ Hart schluckte er weitere Tränen herunter, die ihm in den Augen brannten. „Lass nicht zu, dass das passiert.“ Wieder schluckte er und seine bebende Stimme brach. „Bitte!“
 

Mit geschlossenen Augen und einem leisen Seufzen ließ der Geflügelte diese altbekannte und gewohnte Prozedur über sich ergehen. Himmel, war er verwöhnt geworden.

Nach den Worten seines Freundes hatte Mimoun erwidern wollen, dass Verletzungen vorher auch ohne seine Hilfe geheilt waren, doch stattdessen schloss er das zitternde Bündel fest in seine Arme.

„Scht.“ Vorsichtig setzte er sich auf und wiegte ihn hin und her. „Ich habe es dir doch versprochen. Ich werde dich niemals allein lassen. Ich werde immer an deiner Seite sein.“

Ein starker Wind ließ die zwei Ineinanderverschlungenen ein Stück das Ufer hinaufrollen und brachte Mimoun mit den Gedanken wieder zu ihrem Zuschauer.
 

„Ihr seid ziemlich schwach für Auserwählte.“, erklang es in ihren Köpfen, während sie wieder ein Stückchen zum Ufer zurückrollten. Die Stimme war nicht unangenehm, aber so dunkel, dass man sich einbilden konnte, dass sie gar nicht da war. Der Drache hatte ausgeatmet, das hatte sie weggeweht.

Verschnupft stemmte sich Dhaôma hoch. „Hätte es keine andere Möglichkeit gegeben, uns zu begrüßen?“, fragte er, verspürte Wut bei dem Gedanken, dass dort ein magiebegabter Drache vor ihnen aus dem Wasser schaute. „Wer bist du überhaupt?“

„Man nannte mich Hondaran, Der Mit Den Wellen Gleitet.“

Eher noch verursachte er diese Wellen, aber vielleicht war er ja nicht immer so groß gewesen.

„Also, ihr seid hier, um Lesley zu finden.“ Seine grünblauen Augen wurden wieder von dem durchsichtigen Lid überzogen, als er blinzelte. „Er wird sich freuen, jemanden zu haben, dem er etwas erzählen kann. Findet ihn bitte bald.“
 

„Schon wieder einem Drachen helfen?“, hakte Mimoun nach und seufzte. Sie klapperten die ganze Insel ab und halfen jedem wieder auf die Sprünge, der ihrer Hilfe bedurfte. Wie hatte die Welt vorher nur ohne sie überlebt? „Na dann los. Wir wollen seine Wartezeit ja nicht unnötig in die Länge ziehen.“

Der Geflügelte wandte sich seinem Freund zu und strich ihm vorsichtig ein paar Fransen aus dem Gesicht. Seine eigene Mimik drückte Sorge aus, als er fragte: „Geht es? Soll ich dich mal wieder für eine Weile tragen?“
 

„Geht schon.“ Dennoch reckte er seinem Freund die Hände entgegen und ließ sich auf die Beine ziehen. Ganz wackelig waren sie, aber das war ja auch kein Wunder nach all der Aufregung. Eigentlich sollte er sich langsam mal daran gewöhnen, damit es nicht immer so schlimm für ihn aussah.

„Wir warten auf euch.“, erklang es erneut in ihren Köpfen, dann tauchte der Kopf unter Wasser, ohne eine einzige Welle zu erzeugen.

Entgeistert starrte Dhaôma auf den träge dahin treibenden Eismatsch. „Was war das denn für einer?“, wollte er kopfschüttelnd wissen. „Ist das bei Drachen immer so, dass sie Forderungen stellen, ohne einen zu Wort kommen zu lassen, ob es einem auch gefällt?“
 

„Ihre Insel, ihre Regeln“, zuckte der Geflügelte mit den Schultern. Sein Blick glitt ebenfalls über das Wasser, aber er hoffte seinen Drachen zu finden, der wahrscheinlich schon wieder abgetaucht war. Mit einem Ruf lockte er Tyiasur zu sich und strich ihm über Kopf und Rücken. „Ich hoffe, du lernst nicht reden, dann kannst du auch keine Regeln aufstellen.“ Spielerisch stupste er an die kleine Schnauze und erntete einen verdutzten Blick. „Bleib bitte in der Nähe.“, wies er ihn an, als er dem Kleinen mit einer bezeichnenden Handbewegung die Erlaubnis gab, weiter durchs Wasser zu jagen.

Seufzend schätzte er ihre Chancen ab. Dieser Drache lebte im Wasser. Also musste sein Freund irgendwo am Rande dieses Gewässers zu finden sein. Je nachdem, für welche Richtung sie sich entschieden, würden sie länger oder kürzer brauchen.

„Rechts, links, Pause?“ Sein Finger wies dabei bezeichnend in die gewiesenen Richtungen.
 

„Da lang.“, zeigte Dhaôma in die Richtung, die er schon eingeschlagen hatte. „Und Pause machen wir, wenn wir eine Stelle finden, die der Drache nicht überschwemmt hat, so dass wir trocken sitzen können. Außerdem wollte ich baden. In dem Eismatsch ist mir das definitiv zu kalt.“

Sie machten sich auf den Weg, immer am Ufer entlang, während ihre Kleider trockneten. Irgendwann ging die Sonne unter und sie richteten sich ein Lager in einer windgeschützten Senke ein. Dhaôma wäre am liebsten in diesem fantastischen Wasser schwimmen gegangen, aber er traute sich nicht, also wusch er sich nur.
 

Von Wasser hatte Mimoun erst einmal die Nase voll. Ihm war sogar der Appetit auf Fisch fürs Erste vergangen. Das hinderte den Geflügelten jedoch nicht daran, mit verschränkten Armen und finsterem Blick dicht am Ufer zu stehen und die ruhige Oberfläche des Sees im Auge zu behalten. Selbst als sein Freund sich abwandte, blieb seine Aufmerksamkeit einen Moment länger als nötig darauf hängen.

Seinen Magier zwang er mit einem Kuss auf die Schläfe und einer bezeichnenden Handbewegung zu ihrem Lager sich auszuruhen. Mimoun wusste, von wem die Eisdecke gekommen war, dazu die Heilung seiner anscheinend schweren Verletzungen. Er würde nicht zulassen, dass Dhaôma jetzt noch ihr Abendessen wachsen ließ.

Noch einmal wanderte sein Blick über die leicht gekräuselte Wasseroberfläche, dann verschwand er im Dickicht, auf der nervenaufreibenden Suche nach Grünfutter.
 

Es war, als würde die Müdigkeit Dhaôma in die Träume rufen, aber er wollte nicht schlafen, ohne zu wissen, dass Mimoun an seiner Seite und sicher war. Kaum sah er den Schwarzhaarigen und seinen kleinen blauen Wirbelwind durch die Bäume treten, war er aber auch schon weg.
 

Am nächsten Morgen aß er dann Mimouns Funde: eine große hölzerne Nuss mit weißem Inhalt, die aufgeplatzt war, und ein paar süße Beeren, die laut Mimoun ebenfalls auf Bäumen wuchsen und goldgelb waren. Die Kerne bewahrte er auf – aber die weiße Frucht hatte keine, so sehr er sie auch suchte.

Sie gingen den See weiter entlang und achteten darauf, dem Ufer nicht allzu nahe zu kommen. Und schon gegen Mittag erblickten sie zwischen den Bäumen etwas, das aussah, wie Häuser. Oder vielleicht waren sie auch nur entfernt damit zu vergleichen, denn sie waren zugewuchert und die steinernen Wände besaßen keine Dächer, aber sie waren groß und viele.

Neugierig geworden gingen sie hinüber und scheuchten ein paar Ratten auf. Begeistert ging Tyiasur auf sie los, grub seine scharfen Zähne in den Nacken einer großen Braunen und wand sich gewohnheitsmäßig um ihren flauschigen Körper, um den Halt nicht zu verlieren. Es war ein Fehler. Die Ratte versenkte ihrerseits ihre Zähne in dem Feind und Blut sickerte über die Schuppen des Blauen, während dieser in Raserei verfiel.
 

In den ersten paar Sekunden war Mimoun stolz auf seinen kleinen Liebling, dass dieser so eigenständig war, sich selbst Gegner zum Erproben zu suchen, und trainierte. Doch als das erste Blut floss, mischte er sich mit einem wütenden Knurren ein. Niemand verletzte seinen Drachen ungestraft. Seine Hand griff in das sich windende Knäuel aus Schuppen und Fell, schloss sich um den Blauen. Beinahe zeitgleich gruben sich die Zähne der Ratte und die rückwärts gerichteten Stacheln von Tyiasurs peitschendem Schwanz in seine Haut. Mit einem Zischen ergriff der Geflügelte mit der zweiten Hand die Ratte und trennte mit einem entschlossenen Ruck die zwei Gegner. Der Pelzball flog in hohem Bogen ins nächste Gebüsch. Mit einem Quieken schoss sie davon. Fauchend wand sich Tyiasur in dem Griff des Geflügelten, wollte dem Feind hinterher, nur ein scharfer Befehl Mimouns ließ ihn zusammenzucken, Ruhe geben.

„Ist ja nicht zu fassen. Ein kleiner Rabauke bist du!“ So wirklich konnte er seinem Drachen nicht böse sein, als er sich über die kleinen Kratzer auf seiner Hand leckte. „Bei der weiteren Erkundung bleibst du hier.“, bestimmte er und ließ ihn auf seiner Schulter Platz nehmen. Schon im nächsten Atemzug begann er zu lehrmeistern. „Lege dich nur mit Gegnern an, die du einschätzen kannst. Ausweglose Kämpfe nur in ausweglosen Situationen beginnen. Schnell wunde Punkte finden und nutzen. Selbst deine Deckung nicht vernachlässigen.“
 

Kichernd folgte Dhaôma den beiden und wollte ihre Wunden gerade heilen, als seine Aufmerksamkeit jäh von einem fantastischen Ausblick gefesselt wurde. In einer Senke vor ihnen breitete sich eine Stadt aus, die Gebilde, an denen sie gerade vorbeigekommen waren, verschwanden im Vergleich dazu förmlich. Sie war rund in ihrer Architektur und bestand aus sechs konzentrischen Ringen. Jeder Ring wurde von Säulen flankiert, auf denen Statuen von Geflügelten und Magiern standen oder saßen, jeweils mit einem Drachen abgebildet. Teilweise wurden sie überwuchert von Ranken – Brombeere, Efeu, Jelängerjelieber, Gold- und Blauregen – teilweise waren sie eingestürzt und lagen zerstört am Boden. Die Gebäude waren verschnörkelt und jede Wand war verziert mit Drachenfresken und alten Schriften, dazwischen wuchsen Büsche und Bäume, deren Wurzeln einige der Steine derart fest umschlungen hielten, dass nur sie die Bauten am Einstürzen hinderten. Und zwischen den Häusern konnte man hier und da Wasser glitzern sehen, das offenbar durch Kanäle und Risse in vorgefertigte und natürlich entstandene Wasserbecken plätscherte.

„Ai!“, rief der Braunhaarige aus und begann zu strahlen. „Der Wahnsinn! Wir haben den Ort gefunden, an dem die Drachenreiter gelebt haben!“



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  KuroMikan
2014-12-01T18:33:08+00:00 01.12.2014 19:33
hallö ^^
also ich fand irgendwie doof das der drache abgehauen ist -.-
aber man kann bekanntlich nicht alles haben ^^
an dieser stelle wollte ich gern einen kommentar zu entwas im kapitel abgeben habe aber leider vergessen was ich schreiben wollte.... -.-° sry
die lava drachen fand ich auch total cool :)

und meinen erstern gedanken zu glühwürmchen bestaunen und gepolsterter höhle kannst du dir ja denken *grins... schade :) *

und jetzt suchen sie einen neuen drachen.. auf gehts XD

lg Mikan
Antwort von:  Wernes23
02.12.2014 23:07
Also KuroMikan was du nur wieder denkst. Das ist ja fast verboten^^

Aber hast recht, es wird Zeit
Antwort von:  KuroMikan
04.12.2014 16:03
hahaha XD also wenn du denkst ich würde mich jetzt schämen... *fail* XD
Antwort von:  Wernes23
04.12.2014 17:48
Denk dran. Kleine Kinder lesen das auch o.O
Antwort von:  Shirokko
04.12.2014 18:17
echt?
Antwort von:  Wernes23
04.12.2014 18:39
Wahrscheinlich
Antwort von:  KuroMikan
05.12.2014 10:06
wenn du kein p18 rein machst musst dus einfach "sanftmütig" schreiben... dann gibts auch keine probleme soweit ich das gesehn hab...
und ich hab mich als ich noch nicht 18 war immer riesig darüber gefreut wenn ich es trotzdem lesen durfte XDDD
Antwort von:  Zebran20121
06.12.2014 03:15
ehrlich gesagt war das auch mein Gedanke bei den Glühwürmchen der gepolsterten höhle perfekter Moment für ein Liebesgeständnis und anderen Sachen kommt aber vielleicht noch die Geschichte ist ja noch lange nicht beendet


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