Eine unglaubliche Nachricht
Es war Anfang August, als Kari mit gemischten Gefühlen zum Training ging. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, zuzugeben, dass T.K. ihr irgendwie fehlte und er heute nicht dabei sein würde. Sie hatten in den letzten Wochen recht viel Zeit miteinander verbracht, wenn sie in der Schule nebeneinander saßen und gemeinsam nach Hause gingen oder sich jetzt in den Ferien ab und an mit den anderen zum Baden getroffen hatten. Sie hatte ihn wieder in ihr Leben integriert und er war nun ein fester Bestandteil in der kleinen Freundesgruppe um sie herum. Seit ihrem ersten Strandtag umarmten sie sich nun auch immer, wenn sie sich sahen. Zur Begrüßung und zum Abschied. Zwei Tage, bevor er abgereist war, hatte sie ihn das letzte Mal gesehen. Auch an jenem Tag waren sie am Strand gewesen. Woanders hielt man es bei diesem Wetter ohnehin kaum aus. Er hatte versprochen, ihr eine Karte zu schreiben. Dann war er in seine Straße abgebogen und sie hatte ihm noch hinterher geblickt.
Kari erreichte die Umkleidekabinen, zog sich um und ging gemeinsam mit Nana in die Halle, um sich schon ein wenig aufzuwärmen. Sie schaute hinüber aufs Nachbarfeld zu den Basketballern, die ebenfalls gerade dabei waren, sich zu erwärmen, indem sie immer zu zweit über das Feld preschten und sich die Bälle zupassten. Ihr Blick fiel auf Shinji. Sie hatten sich in den letzten Wochen gegenseitig keines Blickes gewürdigt. Kari war noch immer ziemlich sauer auf ihn und seine Kumpels und wusste nicht, ob sich dieses Gefühl jemals wieder legen würde. Dabei hatte sie ihn am Anfang noch ganz nett gefunden, wenn auch ein wenig aufdringlich. Wie hatte sie nur so naiv sein können, nicht auf die Idee zu kommen, dass er nur das Eine im Sinn hatte?
Offensichtlich hatte sie ihn etwas zu lang beobachtet, denn er erwiderte ihren Blick. Sie bemühte sich um einen abweisenden Gesichtsausdruck und wandte sich schnell wieder ab. In diesem Moment betrat Nobuko das Feld und hielt eine Art Broschüre in den Händen. Sie wirbelte die Arme durch die Luft und winkte somit die Mädchen zu sich heran.
„Mädels, ich habe heute eine Ankündigung für euch“, begann sie und strahlte über das ganze Gesicht. Die Augen aller waren interessiert auf sie gerichtet. „Und zwar habe ich Post bekommen, nämlich von der Juilliard School in New York.“
Sofort breitete sich aufgeregtes Getuschel aus und alle sahen sich in der Gruppe um. Kari riss die Augen auf und schlug sich eine Hand vor den Mund. Konnte das sein? Sie selbst hatte sich mit Nobukos Hilfe an der Juilliard, einer Schule der darstellenden Künste in New York, beworben. Und zwar war die Juilliard nicht irgendeine Schule, sondern gehörte zu den führenden Schauspielschulen in den USA und genoss weltweites Ansehen. Kari hatte sich natürlich für den Bereich Tanz beworben. Aber sollte die Juilliard jetzt tatsächlich an ihr interessiert sein? Das konnte doch gar nicht sein.
Nana krallte die Fingernägel schmerzhaft in ihren Oberarm und starrte sie mit großen Augen an.
„Wir haben jemanden unter uns, die sich an dieser Schule beworben hat. Jetzt haben sie sich bereit erklärt, ihren Talentscout herzuschicken und sich das Mädchen Ende August während unseres Auftritts anzusehen“, verkündete Nobuko mit einem breiten Lächeln im Gesicht. „Sie hat dann die Chance, ein Stipendium zu erhalten und an der Schule Tanz zu studieren!“
Nana schnappte nach Luft und krallte die Fingernägel noch tiefer in Karis Arm. Kari glaubte, dass der Schmerz das Einzige war, das sie davon abhielt, auf der Stelle umzufallen.
Nobukos Augen suchten Kari in der Gruppe, fanden sie und sie kam auf sie zu. Die anderen Mädchen beobachteten sie mit weit aufgerissenen Augen.
Als Nobuko Kari erreichte, blieb sie stehen, schüttelte ihr die Hand und drückte ihr anschließend die Broschüre in die Hand. „Herzlichen Glückwunsch, Kari. Ich bin so stolz.“ Kari konnte sogar Tränen in ihren Augen erkennen.
Nana kreischte Kari ins Ohr und fiel ihr um den Hals. „Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott!“
Auch die anderen Mädchen scharten sich nun um Kari, beglückwünschten und umarmten sie und redeten alle gleichzeitig auf sie ein. Alle bis auf Aya, die sich am Rande aufhielt und Kari mit abfälligem Blick musterte.
Die Aufregung blieb von den Basketballern nicht unbemerkt, sodass nach und nach einige zu der Mädchengruppe stießen, um den Grund für die allgemeine Freude zu erfahren. Dann gratulierten auch einige der Jungs Kari und mischten sich in die Gespräche ein, bis schließlich Nobuko und der Trainer der Jungs dem ein Ende bereiteten mit dem Hinweis, sie müssten nun langsam mal anfangen. Es dauerte noch eine Weile, bis sich die allgemeine Aufregung so weit gelegt hatte, dass sie mit dem Training beginnen konnten. Kari war das Ganze ziemlich unangenehm. Sie stand gar nicht gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Und sie war noch immer sprachlos. Sie wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Die Juilliard interessierte sich tatsächlich für sie. Sie hatte die einmalige Chance, ein Stipendium für diese berühmte Schule zu erhalten. Noch konnte sie das nicht glauben.
Nach dem Training auf dem Nachhauseweg redete Nana ununterbrochen auf sie ein, wie sehr sie sich für Kari freuen würde, dass das unglaublich und eine riesige Chance wäre, dass sie berühmt werden konnte, dass sie in New York wohnen würde. Unterdessen fühlte sich Kari, als wäre sie in einer Trance. Sie bekam kaum etwas von dem mit, was um sie herum passierte. So war sie überrascht, als sie plötzlich im Wohnzimmer ihrer Wohnung stand. Ihre Eltern saßen auf der Couch und sahen sie fragend an.
„Geht's dir gut? Du siehst so blass aus“, fragte Yuuko und musterte sie skeptisch.
Kari machte den Mund auf, um ihr zu antworten, brachte jedoch noch immer kein Wort heraus. Sie ging zur Couch und drückte ihrer Mutter die Broschüre in die Hand. Ihre Eltern steckten die Köpfe zusammen und beugten sich über die Broschüre.
„Sehr geehrte Hikari Yagami, wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass sie die erste Bewerbungsrunde für die Juilliard School erfolgreich bestanden haben“, las Yuuko das persönliche Anschreiben vor. An dieser Stelle schien ihr jedes weitere Wort im Hals stecken zu bleiben und sie und Susumu starrten Kari mit großen Augen an, genau wie die Mädchen vorhin. Susumu las den Rest des Briefes laut vor, dann sah er sie an. Für einige Sekunden sagte keiner von ihnen etwas.
„Du möchtest also wirklich nach New York gehen?“
„Ja“, sagte Kari nach einer Weile.
Dann herrschte wieder für einige Augenblicke Stille. Doch dann stand Yuuko auf, ging zu ihr, schloss sie in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Meine Kleine. Meine Süße. Ich kann's nicht glauben“, brachte sie hervor und ließ Kari gar nicht mehr los. „Ich bin wirklich stolz auf dich.“
Anschließend nahm auch ihr Vater sie in die Arme.
„Naja, noch habe ich das Stipendium ja nicht“, sagte Kari langsam.
„Aber sie kommen extra hierher, um dich zu sehen“, erwiderte Yuuko. „Das ist großartig. Und du wirst sie überzeugen. Auch, wenn ich eigentlich gar nicht will, dass du so weit weg gehst.“ Bei den letzten Worten brach ihre Stimme und sie hielt sich eine Hand vor den Mund. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und Susumu legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Nur, dass du es weißt: Wir stehen hinter dir und unterstützen dich. Egal, was passiert.“
„Danke“, sagte Kari mit erstickter Stimme.