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Feigning Sane

Justified
von

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Kentucky bestand aus mehr toten als lebenden Menschen. Zumindest kam es Raylan inzwischen so vor, obwohl er sich zuvor darüber nie ernsthafte Gedanken gemacht hatte. Andererseits hatte dazu auch kein Anlass bestanden. Tot war tot – und Raylan war sich durchaus bewusst, dass er einige dieser halb verwesten Leichen einst unter die Erde gebracht hatte.

Zu guter Letzt waren da die drei Männer von Nick Augustin gewesen, von denen Raylan einer bereits wieder über den Weg gelaufen war. Der lag jetzt erneut und vollständig tot irgendwo an einer Straßenecke, an der sich wahrscheinlich die Bussarde auch über die letzten Hautfetzen und Innereien hermachten. Leid tat es Raylan um ihn nicht. Er hatte selbst Schuld gehabt, sich die Frechheit herauszunehmen, Winona und seine ungeborene Tochter zu bedrohen.

Vielleicht sollte er die zwei anderen auch suchen gehen, ging es Raylan durch den Kopf, als sie in der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes standen, in dem sich auch das Marshal Field Office befand.

Von beidem war jedoch nicht mehr viel übrig. Aus dem einst zivilisierten Lexington war ein Schlachtfeld geworden. Es war von Untoten überrannt, die wie in einem billigen Hollywoodstreifen nach ihrem Fleisch lechzten. Viel für Filme hatte Raylan noch nie übrig gehabt, doch Tim erinnerte ihn regelmäßig an diese Tatsache.

„Lange werden wir die Stellung nicht mehr halten können“, entwich es Raylan, obwohl seine Worte beinahe gänzlich in dem Kugelhagel untergingen, welcher die Halle immerzu erschütterte. Dabei waren Art, Tim und er die einzigen Ordnungshüter hier, was nur durch die kugelsicheren Westen mit der Marshalaufschrift und ihren Abzeichen erkenntlich wurde. Bei allen anderen handelte es sich um Anwälte, Richter und Journalisten, die einem selbst am Tag des jüngsten Gerichts – wie einige diese Invasion nannten – noch versuchten einen Kommentar aus der Nase zu ziehen. Doch Raylan konnte sich nicht beschweren, einige von ihnen hatten sich als ganz annehmbare Schützen herausgestellt, nachdem man ihnen gezeigt hatte, wie man die Sicherung einer Pistole löste.

Kugeln flogen, bohrten sich in verfaulte Körper und holten sie von den Beinen, bis sie sich wieder hochkämpften und sich weiter durch die eingeschlagene Glastür am Eingang drängten. Ihre Vorgänger lagen bereits mit Kopfschüssen in der Halle verteilt, die Lebenden von den Toten nur durch die in eine Reihe verschobenen Bänke und Stühle getrennt. Diese Abgrenzung war jedoch mehr Schein als Sein.

„Trotzdem“, erwiderte Tim, der seine Worte irgendwie trotz des Krachs aufgeschnappt hatte. Er trug eine dunkelblaue Baseballmütze verkehrt herum auf dem Kopf, das Gewehr im Anschlag tragend. „Das bleibt trotzdem das sicherste Gebäude in der Stadt – was auch immer das jetzt noch heißen mag.“

„Stimmt“, gab Raylan zu. „Was auch immer das bei Glastüren und Fahrstühlen heißen mag...“

Beide Männer warfen sich einen langen Blick zu, bevor sie ihre Waffen mit der Munition aus der mitgebrachten Tasche zwischen ihnen nachluden. Es waren routinierte Handbewegungen. Altes Magazin raus, neues rein, einrasten lassen. Verschossene Patronen fielen klimpernd zu Boden, als Tim neue in das Gewehr schob und es geräuschvoll zuklappte.

Doch diese Biester waren genauso unaufhaltbar wie die Flut es war. Sie kam und ließ das Wasser weiter und weiter den Sand hinaufkriechen. Genauso war es mit den verwesten Männern und Frauen und Kindern mit ihren dreckigen und fehlenden Gesichtern und Gliedmaßen. Mit jedem weiteren, der es in das Interieur der Halle schaffte, stieg die Unruhe in den Menschen um sie herum. Sie äußerte sich in panischen Stimmen, die sich zu dem Stöhnen und zu den schleifenden Schritten gesellten, und in verfehlten Schüssen. Mehr und mehr Untote kamen auf sie zu, während weniger und weniger Kugeln ihr Ziel trafen.

Neben ihm presste Tim sein Gewehr gegen seine Schulter und schaltete drei von ihnen hintereinander aus. In der Genauigkeit war Raylans Kollege ihm voraus, dessen war sich jeder im Büro bewusst gewesen. Aber Raylan hatte auch keine Ausbildung als Scharfschütze genossen – was sich nach all den Jahren als ein echter Fehler auf seiner Seite herausstellte.

„Macht euch bereit zum Zurückziehen!“, brüllte Art weiter links von ihnen und deutete mit einer wiederholenden Handbewegung zu den Fahrstühlen hinter ihnen.

Er trug noch immer das rotkarierte Hemd mit der dunkelblauen Krawatte, doch es hatte ohnehin niemand Zeit gehabt, um nach Hause zu gehen. Nein, Art hatte nur seine Frau abgeholt, bevor er wieder hier erschienen war. Raylan selbst hatte mit dem Gedanken gespielt, zu Winona zu fahren. Sie war außerhalb Kentuckys bei ihrer Mutter, weil ihr hier die Sicherheit durch Raylans Feinde genommen worden war. Ein Teil von ihm wusste jedoch, dass sie wahrscheinlich besser ohne ihn aufgehoben war. Zudem war das Problem mit den wiederauferstehenden Toten laut den Medien ohnehin lokal. Wahrscheinlich saß Winona mit einer Tasse Kaffee – nein, Tee, immerhin war sie schwanger – bei ihrer Mutter auf der Veranda und blätterte durch eines der gekauften Babybücher.

„Willst du da Wurzeln schlagen?“, riss ihn Tim aus den Gedanken, indem er Raylan zusätzlich noch einen Ellenbogen in die Seite stieß. Zeitgleich schlang sich der Jüngere den Träger der Munitionstasche um die Schultern und schleppte sie zu dem von einem Anwalt aufgehaltenen Fahrstuhl.

Raylan blinzelte ein, zweimal und sein Blick blieb auf zwei Untoten haften, die auf ihn zu gewackelt kamen. Ohne ein Zögern schickte er sie dorthin zurück, wo sie hergekommen waren. Noch bevor sie jedoch auf dem Boden aufgeschlagen waren, joggte er ebenfalls zu den Fahrstühlen. Die Türen schlossen sich mit einem Quietschen und nahmen ihnen die Sicht auf die ehemaligen Einwohner Lexingtons, als ihre kleine Gruppe in das Stockwerk des Marshal Field Office fuhr.

„Und ich hab immer gedacht, dass so etwas erst passiert, nachdem ich in Rente bin“, murmelte Art hinter ihm und Raylan warf ihm einen skeptischen Blick über seine Schulter hinweg zu, ebenso wie einige andere es taten.

„Ich meine, wie kann die Welt innerhalb von zwei Tagen so den Bach runtergehen?“, fuhr dieser jedoch unbekümmert fort. „Das hat alles mit euch und eurer komischen Leiche angefangen. Ja, da brauchst du mich nicht so anzugucken, Raylan.“

Tim, der neben ihm an der Wand des Fahrstuhls lehnte, senkte den Blick auf seine Schuhe. „Selbst ich dachte, dass das höchstens passiert, wenn ich mal in Rente bin. Und sicher nicht in Kentucky, eher in Atlanta oder so.“ In dem trockenen Ton, in dem er das sagte, vermochte Raylan nicht zu sagen, ob es als Scherz oder Ernst gedacht war. Aber würde ein Mann, der in seinen Zwanzigern irgendwo in Afghanistan mit einem Scharfschützengewehr gesessen hatte, wirklich daran glauben, jemals das Rentenalter zu erleben? Raylan war sich da nicht so sicher.

„Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht“, warf er ein, als er seine Glock wieder in das Holster an seiner Hüfte steckte.

Art schnaubte hinter ihm. „Das ist dein Problem, Raylan. Du machst dir zu wenig Gedanken. Stimmt’s oder hab' ich recht, Tim?“

Inzwischen hielt der Fahrstuhl und die Türen öffneten sich, um ihr Büro zu zeigen, in dem einige Frauen und Kinder es sich bequem gemacht hatten. Decken waren ausgebreitet worden, Leute saßen auf Kissen und an den Wänden. Plötzlich war aus dem Marshal Field Office ein kleines Motel geworden.

„Ich ziehe es vor neutral zu bleiben“, erwiderte Tim, als er sich mit der Munitionstasche und seinem Gewehr als erstes aus dem Fahrstuhl schob.
 


 

Das Rattern der Klimaanlage war das einzige Geräusch, als sie den Gang entlang schritten. Tim war ihm dicht auf den Fersen, beinahe wie ein zweiter Schatten. Nur war er einer, der ihm den Rücken stärkte und kein Problem damit hatte, die Initiative zu ergreifen. Zu einer Zeit wie dieser stellte sich das als noch nützlicher heraus, als vor einer Woche noch, als nur Kleinkriminelle und die Mafia aus Detroit ihnen an die Wäsche gewollt hatten. Die gute alte Zeit – Raylan vermisste sie glatt ein wenig.

„Ich hätte diesen Gang auch allein übernehmen können“, ließ er jedoch lediglich verlauten, als sie damit begannen die Türen zu öffnen und einen Blick in die Zimmer dahinter zu werfen. Das erste stellte sich dabei als ein einfaches Abstellzimmer heraus, in dem einige alte Computer und Aktenschränke untergebracht waren. „Besonders viel werden wir sowieso nicht finden.“

Tim ging in der Zwischenzeit die Türen auf der anderen Seite des Ganges durch, nahm sich jedoch die Zeit, um Raylan einen abschätzenden Blick zuzuwerfen. „Art hat gesagt, ich soll sichergehen, dass du dich nicht verläufst. Du willst mich doch nicht in Verruf bringen, oder, Raylan?“

„Irgendwie kriege ich das Gefühl, dass es keine Rolle spielt, was ich dazu sage“, antwortete dieser, als er die Tür zur Abstellkammer zuzog. Er schlenderte weiter. „Ich meine, was denkt ihr eigentlich von mir? Dass ich mich heimlich aus dem Staub mache, sobald ihr blinzelt?“

„Das wäre ja nicht das erste Mal.“

Daraufhin legte Raylan nickend den Kopf schief. Er hatte eine gewisse Neigung dazu, wenn er ehrlich mit sich selbst sein sollte. „Als ob das jetzt noch so einfach wäre.“ Bevor die Fernsehsender in konstante Statik gewechselt hatten, weil sich niemand mehr hatte finden lassen, der noch irgendetwas zu sagen hatte oder die Kamera bedienen wollte, waren bereits Meldungen über das Militär übertragen worden. Es wusste niemand genau, woher das Phänomen stammte, welches die Toten aus ihren Gräbern steigen ließ. Die immer wiederkehrende Vermutung waren jedoch Chemikalien, die in den Boden gedrungen waren. Dennoch waren die Straßen gesperrt worden und dieser Teil von Kentucky stand inzwischen unter Quarantäne. Keiner betrat ihn, keiner verließ ihn – und obwohl sich Raylan für gut hielt, machte er sich keine Hoffnungen gegen eine bewaffnete Einheit mit Panzer und Maschinengewehre ankommen zu können, um Winona zu erreichen.

Als wollte das Schicksal Raylan auf die Probe stellen, kam er zu der nächsten Tür, auf der ihm ein kleines Schildchen mit dem Namen Michael Reardon begrüßte. Das war der exzentrische Richter, für den Winona als Stenographin gearbeitet hatte. Was aus diesem geworden war, vermochte Raylan nicht zu sagen. Ihre letzte Begegnung lag bereits eine ganze Weile zurück und zu ihrer kleinen Gruppe Überlebender gehörte er ebenfalls nicht. Schade eigentlich, er war ein guter Mann gewesen. Aber vielleicht hatte er es auch noch rechtzeitig aus der Stadt geschafft und sich irgendwo zurückgezogen, wo es keine Friedhöfe oder vergrabene Tote auf Privatgründstücken gab. Existierten solche Orte überhaupt noch in Kentucky? Hatte nicht mittlerweile jeder eine Leiche im Garten? Hah, selbst Raylan hatte drei zu verzeichnen, obwohl er längst nicht mehr in dem Haus seiner Familie lebte.

„Ich schätze, Art ist bloß besorgt“, sagte Tim. Das Gewehr trug er noch immer im Arm, als erwartete er, dass einer der Toten hier oben aus einer schattigen Ecke springen würde. Es war seltsam, wie ein einzelner Mann auf den ersten Blick so entspannt wirken konnte und doch eine gewisse Unruhe in sich tragen musste, um die Waffe ständig im Anschlag zu haben.

Raylan zögerte nicht, als er die Tür zum Büro des Richters verschlossen vorfand. Er zog seine Pistole hervor, nahm den Lauf in die Hand, drehte sich weg und schlug damit das kleine Fenster in der Tür ein. Anschließend fasste er hindurch und öffnete sie.

„Wegen Rachel“, antwortete er schließlich auf Tims Worte, als beide das Büro betraten. Das Vorzimmer bestand aus dem Schreibtisch der Sekretärin und einer kleinen Kochnische, während eine weitere Tür zu dem Zimmer des Richters führte.

„Wegen Rachel“, stimmte Tim tonlos zu. Er besah sich aufmerksam den Innenraum, bevor er zur Kochnische herüberwanderte und die Schränke öffnete.

Rachel Brooks, ein weitere Deputy Marshal, gehörte ebenfalls zu den vermissten Personen. Wenn sich Raylan recht erinnerte, hatte Art sie vor zwei Tagen losgeschickt, weil ein paar Irre einen Supermark überfallen und sich darin mitsamt Geiseln verbarrikadiert hatten. Allerdings konnte niemand mit Gewissheit sagen, was dort eigentlich geschehen oder wie es ausgegangen war. In dem Chaos war es untergegangen wie ein Stein im Wasser es tat und als Raylan und Tim hingefahren waren, war keine Spur von ihrer Kollegin gewesen.

Ein Seufzen kam über Raylans Lippen, als er zum Schreibtisch schlenderte und dort in die Hocke ging, um die Schubladen durchzugehen. Akten, Akten, mehr Akten.

„Erdnüsse...“, murmelte Raylan, als er zwischen all dem Papierkram eine Snacktüte hervorzog. Damit würden sie bestimmt all die hungrigen Mäuler stopfen können, die im Office auf die Rückkehr ihrer Jäger und Sammler warteten.

„Da bist du erfolgreicher als ich“, gab Tim zurück, der drei Büchsen vor sich auf der Anrichte stapelte. „An Instantkaffee soll es uns aber nicht mangeln.“

„Ich werde ohne Koffein sowieso nie richtig wach.“ Mit diesen Worten erhob sich Raylan und trat auf Tim zu, um ihm eine der Büchsen abzunehmen. „Lass uns die restlichen Zimmer durchsuchen. Vielleicht gibt’s da mehr Instantkaffee.“



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