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Atemzug

Grey Mr. Grey
von

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Die Stadt Geek lag in tiefem Grau. Schon seit einigen Stunden regnete es ununterbrochen. Das Wasser floss in Strömen über den matschigen Boden und nahm alles mit sich, was sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachte.

Bei einem solchen Sauwetter blieben die Stadtbewohner in ihren Häusern und Hütten, um Schutz vor dem hämmernden Regen zu finden. Und wenn man kein Zuhause besaß, wie die meisten Bewohner der Unterstadt, so stellte man sich zumindest irgendwo unter und wartete darauf, dass die dunklen Wolken weiterzogen. Deshalb waren die sonst so belebten Straßen wie leergefegt.

Nur ein Mann hatte es nicht bis nach Hause geschafft, sondern war auf seinem Weg zusammengebrochen und lag nun reglos am Boden. Die dicken Tropfen prasselten auf seine zerfetzte graue Kleidung.

Auf den ersten Blick sah es aus, als sei er tot, doch bei genauerem Hinsehen fiel auf, dass sich sein Brustkorb langsam hob und senkte. Er atmete noch. Doch von »leben« konnte nicht die Rede sein. Jedenfalls war der Mann weder Herr seiner Sinne, noch seines Verstandes. Denn beides befand sich gerade in den Weiten der Welt, irgendwo in dem Unendlichen.

Den ganzen Abend hatte sich der Mann das Hirn vernebelt, hatte sich Traumpulver durch die Nase gezogen und ungünstig viel Ge-Tex inhaliert, bis er schließlich beschlossen hatte, nach Hause zu gehen und sich vor dem aufkommenden Regen zu verstecken. Doch auf ebendiesem Weg hatte die volle Wirkung beider Rauschmittel eingesetzt und ihn wegkatapultiert an einen Ort fernab der Realität. Es war ein Ort des Unbegrenzten, ein Ort des Traumes. Ein Ort an den er sich klammerte, weil er eine Art Wärme für ihn bereithielt, die ihm im wahren Leben verwehrt blieb.

Doch jäh wurde er fortgerissen aus seiner Fantasie und Stück für Stück zurück in die Wirklichkeit geholt.

Der Mann mit dem Namen Stix Grey hustete schwer, als er aufwachte. Da er mit dem Kopf in einer Pfütze lag, war ihm beim Einatmen Wasser in die Lunge getreten, das er nun unter einem Hustenanfall zurück auf den Boden spuckte. Dann setzte sich der triefendnasse Körper langsam in Bewegung und Stix richtete sich auf, noch immer verwirrt und nicht ganz bei Verstande.

Mit den eingefrorenen, steifen Fingern versuchte er seinen Hut zu ertasten, der ihm bei dem Sturz vom Haupt gefallen war. Doch als er bemerkte, wie seine Finger ihm nicht gehorchen wollten, wie er nicht einmal in der Lage war, seine Arme und Beine mehr als ein paar Fingerbreiten zu bewegen, wie er erkannte, dass er machtlos war, fing er an zu wimmern. Tränen schossen über seine Wangen, wie der Regen über die Dächer, und ihr Salz brannte in seinen aufgeschürften Wunden.

Wie ein Idiot saß er nun auf dem nassen, dreckigen Boden und heulte sich die Seele aus dem Leib.

Scheiße! Dieser verdammte Idiot war ich!

Die Erkenntnis traf mich hart und als meine Seele zurück in ihren Körper glitt, hatte es dieselbe Wirkung wie ein kräftiger Faustschlag in die Magengegend: Ich musste mich übergeben. Wie immer, wenn ich zu viel des Guten genossen hatte, hatte mein Ich seine sterbliche Hülle verlassen, war geschwebt und hatte die Welt gesehen. Hatte sich nicht mit dem dreckigen Nichtsnutz identifiziert, den es dort am Boden jammern gesehen hatte. Doch es hatte seinen Weg zurück gefunden.

Die Kotze mischte sich mit dem Regenwasser und wurde die Gasse hinunter getragen. Einen Moment lang folgte ich ihr mit den Augen, dann wandte ich mich ab und kroch ein Stück vorwärts, um an den Hut zu gelangen. Mit einer ungeschickten Bewegung griff ich danach und setzte ihn auf meinem Kopf ab.

Für einen Augenblick blieb ich so am Boden liegen und atmete tief durch, während ich die Kette um meinen Hals fest umklammert hielt. Sie war ein Geschenk meines großen Bruders gewesen und ich hatte das lächerlich kindliche Gefühl, wenn ich seine Kette berührte und mir fest wünschte, er wäre hier, würde er wirklich da sein, mir aufhelfen und mich nach Hause bringen. Mich retten vor mir selbst.

Doch mein Bruder war nicht da, schon seit mehr als zwanzig Jahren nicht. Also musste ich mich allein aufraffen, wie an jedem anderen Tag auch.

Schwer atmend versuchte ich meinen knochigen Körper hochzustemmen. Ich musste all meine Kraft aufwenden, doch schließlich gelang es mir, aufzustehen. Mit jedem wackeligen Schritt, den ich tat, drohten meine Beine nachzugeben, als würde ich ein immenses Gewicht mit mir herumschleppen.

Der alte Mantel, der auf meine Schultern drückte, hatte sich mit Wasser vollgesogen und schien eine Tonne zu wiegen. Einst hatte er mir gute Dienste erwiesen, damals, als ich noch als Ermittler tätig war. Er hatte mich bei Observationen vor Wind, Kälte und Regen geschützt. Ich erinnerte mich kurz an alte Zeiten, dachte daran, wie viel dieser Mantel und ich schon erlebt hatten und wie sehr er mich doch geprägt hatte. Es war ebendieser Mantel, an dem man mich erkannte. Ja, dieses Kleidungsstück hatte mir einen Namen gegeben, der sich in die Gedächtnisse aller Straftäter eingebrannt hatte: Grey Mr. Grey.

Doch heute war dieses Ding von Motten zerfressen, löchrig und nutzlos – beinah schon eine Belastung. Die vergilbten Abzeichen an Brust und Ärmeln waren das einzige, das daran erinnerte, dass ich einst ein Mann gewesen war, der sowohl geliebt, als auch gefürchtet wurde, der Ehre und Stolz besessen hatte, der als einer der Besten in seinem Beruf gegolten hatte. Der Mantel war ein Relikt aus längst vergessener Zeit. Abgenutzt und zerfetzt. Mit der Zeit verschlissen. Genau wie ich.

Ich sog die kalte Luft ein. Die Unterstadt Geeks stank nach Armut, Krankheit und Exkrementen. Kein schöner Ort zum Wohnen. Wer wollte schon hier leben, inmitten von Ratten und Schmutz? Zwischen Bettlern und Krüppeln? Neben Dieben und verhungernden Kindern?

Ich für meinen Teil hatte niemals hier leben wollen. Aber wie sagt man so schön? Wer viel hat kann viel verlieren. Und ich hatte alles verloren. Meinen Job, mein Haus in der Oberstadt, all meine Kontakte, die ich früher so penibel gepflegt hatte, meinen einzigen Freund und vor allem meine Hoffnung. Diesen winzigen Lichtschimmer in all dem Dreck und der Finsternis, den man so dringend benötigt, um sich aufzuraffen und sich der Welt entgegenzustellen. Ich war die Leiter nach oben geklettert, hatte die Mühen des Aufstiegs auf mich genommen und hatte schon fast das Ende erreicht, den sicheren Punkt an der Spitze. Doch dann war irgendetwas passiert, an das ich mich heute nicht mehr erinnern konnte, und ich war gefallen. Und als ich auf dem Boden aufschlug, hatte ich mir mehr als nur ein paar Rippen gebrochen.

Ich war gefallen, wie viele andere vor und wahrscheinlich noch viele andere nach mir.

Ich erreichte einen überdachten Hauseingang in der Gasse der Katzenaugen, an dem ich kurz stoppte, den kleinen Beutel mit Traumpulver aus meiner Manteltasche fingerte und mir eine Messerspitze von dem nassgeregneten Zeug durch die Nase zog.

Manchmal könnte ich mich für meine Dummheit ohrfeigen! Als hätte ich mich noch nicht genug zugedröhnt, nein, ich musste natürlich noch einen draufsetzen.

Das Traumpulver wirkte schnell, selbst in dem klumpigen zustand, und ich fühlte förmlich wie mein Hirn zu arbeiten begann. Doch auch die nun erhöhte Auffassungsgabe und die gesteigerte Reaktion und Konzentration verhinderten nicht die Abstoßreaktion meines Körpers, die sich darin zeigte, dass ich kurzzeitig zusammenbrach und mich erneut übergab.

Als ich mich wieder gefangen hatte, setzte ich meinen Weg fort. Und diesmal war ich deutlich schneller unterwegs als zuvor. Es dauerte nicht lange, bis ich vor der massiven, aber mitgenommenen Tür stand, die in das Innere meines kleinen Hauses führte.

Ich wollte nun nichts lieber, als endlich ins trockene kommen, den Kamin anwerfen und meine durchnässten Glieder von diesem schweren Mantel befreien. Ich wollte mich auf die harte Matratze werfen und meinen Rausch ausschlafen.

Also streckte ich die Hand nach der Tür aus, machte auf dem Absatz kehrt und ging in die entgegengesetzte Richtung.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von: abgemeldet
2014-12-09T18:54:07+00:00 09.12.2014 19:54
Endlich kommte ich dazu, mal deine Geschichte anzufangen. Ich hab sie schon viel zu lange auf meiner Liste :)

Zu allererst: Ich finde, du hast einen unheimlich angenehmen Stil. Nicht nur, dass er sich sehr schön flüssig lesen lässt, du streust einfach auch so viele Perlen von Sätzen hinein, dass es eine wahre Freude ist. Gerade am Anfang folgt eine wunderbare Beschreibung auf die nächste!

Die dicken Tropfen prasselten auf seine zerfetzte graue Kleidung und trommelten eine traurige Melodie.

Du schaffst es, eine melancholische Stimmung aufzubauen. Gerade bei diesem Satz sieht man, dass du viel und gut beschreibst, du wählst passende Adjektive und lässt den Satz dann auf eine absurd-traurig-schöne Weise enden, die unerwartet ist. Das mag ich und finde ich an deinem Stil super!

Ich finde das erste Kapitel wirklich faszinierend. Es trifft genau meinen Geschmack und bei mir einen Nerv; ich fand es spannend und konnte kaum aufhören zu lesen - genau das hat bei mir selten eine Geschichte auf Mexx bewirkt (wohl ein Grund, warum ich hier so selten etwas lese).

Gerade in der Mitte, als die Erkenntnis, dass der Ich-Erzähler dieser Idiot ist, fand ich grandios und hat mich wirklich zum Schmunzeln gebracht. Was für ein Kniff! Ich muss aber zugeben, ich war gleichzeitig skeptisch, weil ich deinen Stil sehr mochte und eigentlich nicht für den Ich-Erzähler zu begeistern bin.
Allerdings hast du es geschafft, mich vom Gegenteil zu überzeugen:

Einen Moment lang folgte ich ihr mit den Augen, dann wandte ich mich ab und kroch ein Stück vorwärts, um an den Hut zu gelangen.

Ich meine...WTF? Dieser Satz...ist eklig. Ist bescheuert. Er folgt ihr mit den Augen?
Dieser Satz ist einfach so realistisch und gleichzeitig so absurd witzig, dass er sofort all meine Vorurteile über Bord geworfen und mit dem Regen davon schwimmen hat lassen! Mit diesem Satz hat mich der werte Charakter einfach gefangen und ich fürchte, er lässt mich nicht mehr so leicht los ;)

Ich mag auch sehr die Welt, die du aufbaust. Ich bin ja persönlich ein Fan von dieser "Oberstadt" und "Unterstadt" Einteilung, von der extremen Schwere zwischen Arm und Reich, weil man damit ziemlich gut spielen kann. Und ich finde, die Armut beschreibst du in deinem Stil einfach brilliant! Und auch, wie er eigentlich niemals dort langen wollte - und doch landete.

Ich bin einfach sehr gefesselt - und das Ende... ja, ich denke, das ist zukunftsweisend. Was für eine Geschichte!
Ich ziehe meinen imaginären Hut davor.

Liebe Grüße
Lichti
Von: abgemeldet
2014-11-20T17:22:10+00:00 20.11.2014 18:22
Hallo.

Lange her, dass ich was von dir gelesen habe. Zuletzt habe ich eher bei Zeitlos reingeschaut, wenn ich mich nicht irre. Aber dies hier ist ja wieder eine in sich geschlossene Geschichte. Soweit ich mich erinnere, hatte ich schon einen recht guten Thriller von dir gelesen. Wie dem auch sei, ich fand den Link unter einem Eintrag und da bin ich.
Mir gefällt das Cover sehr. Ein wenig düster und geheimnisvoll. Das Thema Dunkelheit scheint hier eine große Rolle zu spielen. Dementsprechend finde ich auch die vorhandene Kurzbeschreibung super.

Die dicken Tropfen prasselten auf seine zerfetzte graue Kleidung und trommelten eine traurige Melodie.
Der Einstieg in das Kapitel gefällt mir sehr, besonders diesen Satz mag ich, da er sehr malerisch beschreibt. In wenigen Sätzen erfahre ich einiges über Geek und die Umstände, in denen die Bewohner leben.

Mit einer ungeschickten Bewegung griff ich danach und setzte ihn auf meinem Kopf ab.
"Absetzen" finde ich irgendwie unpassend. Keine Ahnung, ob es da eine bestimmte Regel für gibt, aber "setzte ihn auf meinen Kopf" klingt für mich angenehmer.

Ich erinnerte mich kurz an alte Zeiten, dachte daran, wie viel dieser Mantel und ich schon erlebt hatten und wie sehr er mich doch geprägt hatte.
Die Überleitungen, die du hier schaffst, finde ich sehr gelungen. Erst gewinnen wir durch die Kette Einblick in Stix' Leben, dann geht es weiter über den Mantel. Es wirkt damit weniger erklärend und mehr erzählend.

als endlich ins trockene kommen, -> Trockene

Also streckte ich die Hand nach der Tür aus, machte auf dem Absatz kehrt und ging in die entgegengesetzte Richtung.
Huh, das ist interessant. Verdammt, jetzt müsste man sofort weiterlesen, um zu erfahren, was ihn dazu bewogen hat.

An diesem ersten Kapitel habe ich nichts auszusetzen. Grammatik, Ausdruck, Zeichensetzung und so weiter und so fort, ist sehr gut. Das was ich über deinen Charakter Stix Grey erfahre, ist sowohl neugierweckend als auch nachvollziehbar. Eigentlich bleibt mir nichts weiter zu sagen übrig. Solider Einstieg.

Liebe Schreibziehergrüße,
abgemeldet
Von:  Veluna
2013-09-12T14:25:27+00:00 12.09.2013 16:25
Hallöchen :)

Ich bin durch meine Freundin Azahra, auf deine Geschichte aufmerksam geworden. Nachdem ich das Interview gelesen hatte, dachte ich mir, muss ich doch mal sehen, wer da gewonnen hat.
Ich muss sagen, ich war nicht überrscht, denn dein Schreibstil ist wirklich schön.
Du schreibst mit Leidenschaft, das merkt man. Du liebst es ins Detail zu gehen und die Dinge auch schon zu beschreiben, was ich persönlich auch richtig toll finde.
Vor allem hat mir der Name Stix Grey gefallen, denn genau das ist ein Name, den sich die Menschen merken. So wie "Skmoky Barett" bei Cody Mcfadyen. Das ist auch ein Name den man nicht mehr vergisst.
Was mir auch gefallen hat, war die Verbindung zu seinem Mantel, der sein eigenes kaputtes Leben im Grunde ja darstellt.

Ein paar kleine Fehler habe ich entdeckt und ein zwei Sätze hättest du noch ein wenig schöner formulieren können. Was mich ein wenig verwirrt hat, war der Perspektivenwechsel am Anfang.

Was ich nun natürlich wissen will, ist, was dem Mann passiert ist.
In den nächsten Tagen werde ich weiterlesen und wieder einen Kommentar hinterlassen :)

Liebe Grüße
Veluna


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www.facebook.com/SylviaHammacher
Lesen heißt durch fremde Hand träumen.~Fernando Pessoa
Antwort von:  TommyGunArts
12.01.2014 17:46
Ich weiß, es kommt spät, aber vielen Dank für deinen so ausführlichen Kommentar.
Freut mich sehr, dass du dir die Zeit dafür genommen hast :)
Du hattest recht, an einigen Stellen passte vieles noch nicht. Deshalb habe ich einfach mal eine kleine Komplettüberarbeitung vorgenommen. Sowas werde ich demnächst öfter machen ;)
Danke dir :D
Von:  w-shine
2013-01-13T17:03:36+00:00 13.01.2013 18:03
Hallöchen :)

Dann schau ich mir doch mal das erste Kapitel deines neuesten Werkes an. Gefällt mir schon mal gut. Die düstere Atmosphäre ist dir gut gelungen. Ich konnte mir das Trommeln des Regens sehr gut vorstellen, auch wenn es hier ausnahmsweisemal nicht regnet.
Der Sprung vom Allwissenden-Erzähler zur Ich-Perspektive hat mich etwas verwirrt... Es hat ein paar Momente gedauert, bis ich begriffen habe, dass es jetzt aus Grey's Sicht weitergeht. Den Umschwung fand ich irgendwie nicht so gut.
Seine Gedankengänge haben mir dann aber wieder gut gefallen vor allem dieser Satz hier:

"...von dem heute nur noch so viel übrig war, wie von dem Mantel."

Ein toller Vergleich zwischen dem Mantel und Grey selbst!
Da fragt ich mich nun natürlich, was inzwischen passiert ist und warum er so geworden ist.
Und im letzten Satz: Er geht nicht nach Hause, hab ich das richtig begriffen?
Auf jeden Fall lädt der Anfang schon mal zum Weiterlesen ein :)

LG Shine
Von: abgemeldet
2013-01-10T18:20:42+00:00 10.01.2013 19:20
Jetzt geht es :)
(Prooooooobekommentar xD )


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