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Ein kritischer Blick

von

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18.05.1879, Paris
 

"Emmeline. Bitte definiere der Klasse den Begriff 'Konservatismus'."

Emmeline Goulden stand auf und räusperte sich mit gleichgültiger Miene: "Konservatismus

ist eine auf das Bewahren des Bestehenden ausgerichtete Haltung, die sich daraus ergibt, dass von einem oder mehreren Menschen -liberale, solziale oder sonstige Veränderungen angestrebt werden."

"Bevor du dich wieder hinsetzt Emmeline, erläutere uns das Wort 'Liberalismus'" Madame Lacroix ließ den Blick über die Schar junger Damen schweifen, die in Kürze das Internat verlassen würden. Jede von ihnen würde ihren eigenen Weg gehen. Ein Großteil der Mädchen würde heiraten, Kinder bekommen und das Gelernte und ihr Wissen für immer verschließen. Dann gab es noch den anderen Teil, der versuchen würde selbstständig und frei zu sein, wobei nur ein paar der Mädchen es jemals schaffen werden. Und dann gab es noch Mädchen wie Emmeline Goulden. In sie legte die Direktorin Natalie Lacroix große Hoffnungen. Emmeline war die Art von Mensch, die zu ihrer Überzeugung stand. Und ihre Einstellung war durchaus als heldenhaft zu bezeichnen. Mutig und verwegen, und würde in den kommenden Jahren viel Schmerz und Leid in ihr Leben bringen. Doch Madame Lacroix wusste auch, dass Emmeline eine der wenigen war, die diese Tortur durchstehen konnte.

Madame Lacroix wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Emmeline zu.

Dieses Mal umspielte ein Lächeln Emmeline's Lippen als sie antwortete: "Der Liberalismus, übersetzt 'die Freiheit betreffend, ist eine philosophische und politische Ideologie, die die individuelle Freiheit als normative Grundlage der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung anstrebt." Emmeline atmete kurz ein und ergänzte dann: "Kurz gesagt bedeutet Liberalismus, Entscheidungsfreiheit und Gleichberechtigung."

Einige von Emmeline's Mitschülerinnen grinsten sich an. Sie kannten bereits die freiheitsliebenden Kommentare und ihre Einstellung. Mehr als die Hälfte der Klasse nahm es als kindlichen Unfug hin, während der Rest nicht umhin kam Emmeline für ihr Denken und Handeln zu bewundern.

"Du darfst dich wieder setzen Emmeline, deine Antworten waren korrekt." Madame Lacroix setzte sich an ihr Pult und notierte etwas in ein kleines Buch. Es klingelte zum Ende der Stunde, doch keines der Mädchen stand auf und rannte hinaus.

Als Natalie Lacroix mit ihrer Notiz fertig war, entließ sich die Klasse. "Ihr könnt gehen meine Damen."

Ruhig und gesittet steckten die Schülerinnen ihre Bücher ein und verließen den Raum.

Vom weitläufigen Flur aus nahmen sie die Treppe ins obere Stockwerk. Es war Mittagszeit und die Taschen wurden auf die Zimmer gebracht. Sie hatten nur zehn Minuten umsich wieder unten, dann jedoch im Speisesaal, zusammen zu finden.

Emmeline betrat mit ihrer Freundin Elisabeth Clayton, die genau wie Emmeline aus England stammte, das gemeinschaftliche Zimmer. "Was wirst du tun, wenn du deinen Abschluss hast?", fragte Elli mit unverhohlenem Interesse.

Emmeline seufzte: "Wenn es nach mir ginge würde ich in die Politik gehen. Es malt sich so schön sich vorzustellen, einfach in das Regierungsgebäude einzumaschieren, den Herren einen angenehmen Tag zu wünschen und sich ganz selbstverständlich neben sie ins Parlament zu setzen. Mit ihnen über die neusten Entwicklungen zu diskutieren und auch ernst genommen zu werden. Ich würde den Frauen gerne eine Stimme geben." Während Emmeline gesprochen hatte, glühte ihre Stimme regelrecht vor Eifer, doch nachdem sie geendet hatte, mischte sich ein bitterer Ton in die kleine Rede.

"Ach Emmeline. Line. Du bist eine der mutigsten Frauen die ich kenne, du wirst es schaffen! In zwei Wochen beginnen wir einen neuen Abschnitt unseres Lebens und wir werden dafür kämpfen, dass man uns anhört."

"Du willst mir helfen?" Ein Leuchten trat in die Augen von Emmeline.

Energisch nickte Elisabeth mit dem Kopf. "Natürlich. Ich denke genauso wie du. Ich will nicht mein Leben lang unter der Herrschaft eines Gatten und dem Rest der männlichen Bevölkerung stehen."

"Versprochen?"

"Versprochen!"
 

16.03.1898, Manchester
 

"Ich würde gerne die Herrin des Hauses sprechen." Emmeline stand vor der Tür der Villa Devonshire und taxierte mit regenverhangenen Augen den Diener der Familie.

"Lady Devonshire wünscht nicht sie zu sehen.", erwiderte der Bedienstete nur monoton und schickte sich an, die Tür wieder zu verschließen.

"Davon will ich mich selbst überzeugen." Mit einer unglaublichen Kraft und dem Überraschungsmoment auf ihrer Seite, verschaffte sie sich Eintritt ins Gebäude und stiefelte triefend in den Salon. Doch hier war Lady Devonshire nicht anzutreffen.

"Wenn Sie nicht auf der Stelle das Haus verlassen, rufe ich die Polizei." drohte der schmächtige Diener und hastete mit puterrotem Gesicht hinter Emmeline her.

Emmeline ignorierte den keifenden Mann und ging zum nächsten Raum, dem Nähzimmer. Es lag am Ende des Salons und die Tür dahin war relativ unscheinbar.

"Elli!" Emmeline starrte ihre Freundin an. Sie saß in einem der Sessel am Fenster und hielt eine Stickarbeit in den Händen. Erschrocken starrten Emmeline zwei braune Augen an, eines ummalt von blau und grün.

Entsetzt rannte Emmeline auf ihre beste Freundin aus Schultagen Elisabeth Devonshire zu und fiel vor ihr auf die Knie.

"Elli, was hat er mit dir gemacht?" Ihre Stimme zitterte und sie hob die Hand um die Untat mit den Fingern zu ertasten, doch bevor sie das Auge berühren konnte, wandte sich Elli ab. Was an ihren Augen nicht blau war, war angeschwollen und gerötet.

"Du solltest gehen, wenn William dich sieht wird er wütend." Elli verkniff sich die Tränen, während ihr bei jedem Wort die Stimme brach.

"Lady Devonshire hat recht. Sie sollten gehen." Die Missgunst und Abneigung des Dieners war nicht zu überhören.

Wieder ignorierte Emmeline seine Worte und flüsterte Elisabeth zu: "Ist es wegen meinem Besuch am Sonntag? Hat er gelauscht?" es kam keine Reaktion. "Komm mit mir! Du musst dich nicht derart erniedrigen lassen. Komm und kämpfe mit mir, dann kannst du dieses Schicksal nicht nur von dir abwenden, sondern auch tausenden von Frauen die Möglichkeit schenken, solchen Situationen zu entkommen. Ich werde dich unterstützen, wir können versuchen eine Scheidung in die Wege zu leiten." Ihre Stimme wurde immer flehender, denn je weiter sie sprach, desto mehr wurde ihr bewusst, dass sie ihre einst so starke Elli nicht mehr erreichen konnte.

"Emmeline, ich kann nicht."

"Wieso nicht?" Was konnte Elli nur an diesen Ort und diesen Mann binden? Was war mächtig genug Elli zu brechen?

"Ich kann meinen Sohn und das ungeborene Kind nicht im Stich lassen.", flüsterte sie so leise, dass es der Diener nicht hören konnte.

Für einen Moment wusste Emmeline nicht, was sie antworten sollte. "Wir schaffen das. Ihr könnt bei mir und meinem Mann unterkommen, wir unterstützen dich. Bitte tue es dir und deinen Kindern zu liebe..."

"Er nimmt sie mir weg." Ihre Stimme war mehr ein Jammern und kaum zu verstehen.

"Was ist hier los?", polterte es hinter den Beiden und sie fuhren erschrocken herum.

"Darling, ich ähm..."

Emmeline sah, wie sich Elisabeth auf ihrem Stuhl ganz klein machte und wie ihre Hände das Zittern begannen. In ihren Augen sah Emmeline nur noch panische, gehetzte Angst.

"Ich habe nur eine ehemalige Schulfreundin besucht, Lord Devonshire. Aber ich kam wohl ungelegen und werde mich deshalb zurückziehen." Mit hervorgestrecktem Kinn stand sie auf, strich dabei jedoch, ohne das es jemand anderes sah, behutsam über Ellis Bein.

Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete William Devonshire den unerwünschten Besuch. "Ich denke, es wird jeder Tag ungelegen für einen Besuch sein."

Emmeline nickte und ging zur Tür, die zum Salon führte. Sie würde direkt an William Devonshire vorbei müssen, um den Raum zu verlassen. Als sie ihn erreichte flüsterte Emmeline voller Überzeugung: "Der Tag wird kommen, an dem Männer wie Sie für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden." Sie sah, wie Lord Devonshire die Hand zu einer Faust ballte. Sie wusste, dass es ihn alle Kraft kostete, sie nicht zu schlagen. Es tat ihr weh zu wissen, dass diese Wut sich gleich gegen Elli richten würde. Und sie hatte nicht die Möglichkeit, einfach zu gehen. Nicht, solange sie sie nicht in Betracht zog.

Aufgebracht und zitternd vor Zorn eilte Emmeline auf die Straßen Manchesters, wo sie der strömende Regen empfing und die Tränen verschleierten, die sich ihre Bahnen suchten. Einige Minuten verstrichen, bevor Emmeline eine Kutsche anhielt, die sie nach Hause brachte. In der Kutsche sitzend ließ sie sich das Geschehene noch einmal durch den Kopf gehen. Gedankenverloren griff Emmeline in eine Tasche ihres Rockes und zog einen abgegriffenen Brief hervor. Der Absender war Lady Elisabeth Devonshire. Emmeline hatte ihn am Vortag erhalten und ihn immer und immer wieder gelesen.
 

Liebste Emmeline,
 

obwohl die Zeit im pariser Internat mit dir wunderbar war und die daraus entstandene Freundschaft mir fiel bedeutet, so muss ich sie dir mit diesem Brief dennoch aufkündigen.

Frage nicht weiter nach Gründen, unsere Leben verlaufen in unterschiedliche Richtungen und eine Freundschaft mit dir zu unterhalten raubt mir wertvolle Zeit, die ich lieber meiner Familie zukommen lassen möchte.

Bitte sieh von einem Besuch oder weiteren Kontakt ab.
 

Lebewohl

Elisabeth Marie Devonshire
 

Emmeline hatte jedes Wort bestimmt tausend mal gelesen, den Brief unendlich oft auf und zusammen gefaltet, doch egal wie oft sie die Zeilen auch las, die Aussage des Geschriebenen änderte sich nicht.

"Wir sind da.", rief der Kutscher und riss Emmeline aus ihren mit Trübsal gefüllten Gedanken. Er sprang von seinem Bock, öffnete Emmeline die Tür, klappte den Tritt herunter und hielt begierig die Hand auf.

Emmeline legte ein paar Münzen hinein und griff nach ihren Röcken, die schwer an ihr herunter hingen.

"Aber Herrin!" Anne, eine Angestellte des Hauses Pankhurst, empfing Emmeline. "Ich hole sofort Handtücher und lege Ihnen trockene Kleider bereit." Beeilte sie sich zu sagen und sobald die Türen hinter Emmeline verschlossen waren, eilte sie bereits die Treppe zu den Gemächern hinauf.

Emmeline entlohnte die Fürsorge mit einem Lächeln, dachte aber nicht daran Anne zu folgen. Stattdessen ging sie in den Salon. Hinter einer Trennwand erblickte sie auch schon ihren Mann, der an einem massiven, runden Mahagonitisch saß und eine Zigarre rauchte.

"Liebling, was ist passiert?" Sofort legte er seine Zigarre ab und stand auf um sie zu begrüßen und näher zu betrachten.

"Guten Tag Mr Russel." begrüßte sie die weitere Person im Raum. Ein Klient ihres Mannes, der die Ankunft der durchnässten Mrs Pankhurst mit Interesse beäugte. "Ich würde gerne mit dir reden, sobald du Zeit hast." fügte sie an Richard Pankhurst gewandt noch hinzu.

"Wir waren ohnehin fertig, nicht war Cliff?" Richard zog an seiner Zigarre.

Cliff Russel nickte und trank den letzten Schluck seines Brandys, bevor er sich entgültig erhob und sich verabschiedete.

Als der Mandant gegangen war, richtete Richard Pankhurst das Wort an seine Frau. "Schatz, möchtest du dich nicht erst umziehen? Ich könnte dir einen Tee kommen lassen. Noch bevor er ganz ausgesprochen hatte, wusste Richard Pankhurst, wie die Antwort lauten würde.

"Nein." Emmeline setzte sich auf den Platz, auf dem eben noch Cliff Russel gesessen hatte.

"Dann erzähl.", forderte ihr Mann und setzte sich ebenfalls. Er hatte eine realitätsnahe Vermutung über Emmelines Sorgen, doch er wartete, bis sie von sich aus erzählte.

"Ich bekam gestern einen Brief von Elli, in dem sie mir die Freundschaft kündigte und den den weiteren Kontakt verbot." Emmeline reichte ihrem Mann den Brief und fuhr fort: "Du kennst Elli und du wirst sicher zu dem gleichen Schluss kommen, dass es nicht unsere Elli ist, die da schrieb." Zur Antwort nickte ihr Mann, der den Brief bereits ein zweites Mal laß. Auch er vermutete William Devonshire hinter den Zeilen.

"Ich bin also heute zu den Devonshires gefahren, um mich selbst von Ellis Ernsthaftigkeit dieser Entscheidung zu überzeugen. Sie wollte mich erst gar nicht empfangen, aber als ich ihr Gesicht sah wusste ich auch weshalb sie meinen Besuch nicht wünscht." Emmeline zitterten die Hände und sie presste sie an ihren Schoß. "Richard, er schlägt sie! Sie hatte ein blaues Auge und ich bin mir sicher, dass sie nach meinem Erscheinen noch mehr Schläge hat einstecken müssen. Es ist nicht mehr die lebensfreudige Elli die vor mir saß. Sie sieht schlecht aus, wie ein gepeinigter Hund. Sie hat unbeschreibliche Angst vor William. -Und ich habe Angst um sie."

Richard Pankhurst hatte seine Frau noch nie weinen sehen, doch jetzt rollten wieder Tränen an den geröteten Wangen hinab. Richard überlegte einen Moment bevor er seine Meinung zu dem Thema sagte: "Liebling, auch wenn du das jetzt nicht gerne hörst, aber ich glaube nicht, dass du derzeit viel wirst ausrichten können." Er sah, dass seine Frau das gleiche dachte, aber zugleich auch, wie sehr sie diese Wahrheit traf. "Wir könnten ihr Obdach gewähren und uns um sie kümmern, aber ich vermute, dass du ihr das bereits angeboten, und sie diesen Vorschlag abgelehnt hat."

Wie gut er mich doch kennt, dachte Emmeline und schwieg. Sie konnte sich glücklich schätzen, einen so verständnisvollen Gatten zu haben. Und wieder schmerzte sie der Gedanke an Elli, die weit weniger Glück hatte.

"Und wie willst du jetzt vorgehen?"

"Ich weiß es noch nicht." Musste Emmeline ernüchtert gestehen.

"Vielleicht solltest du deine Aktivitäten in der Fürsorge etwas reduzieren, dann könntest du dich mehr auf Elisabeth konzentrieren. Und ein Einlenken, sei es auch nur zur Schau, könnte William Devonshire besänftigen."

Emmeline schüttelte mit dem Kopf. "Nein Richard, das kann ich nicht machen, die Frauen verlassen sich auf mich. Es sind zu viele einsame schwangere Frauen dort, die zu Lasten ihrer Gesundheit und ihrer ungeborenen Kinder schufften müssen."

"Du erzähltest von den armen Frauen. Ich finde es auch nicht gut, wie sie behandelt werden. Bis zur Entbindung Böden schrubben zu müssen und nur zwei Wochen nach der Geburt wieder die Knie wund zu scheuern, obwohl sie noch nicht einmal richtig stehen können, ist unmenschlich. Doch du musst abwägen, was dir jetzt wichtiger ist."

Emmeline presste die Lippen aufeinander. "Du hast recht." Sie lehnte sich in dem Sessel zurück und nahm sich einige Minuten, in denen sie über die Situation im Hause Devonshires und des restlichen Landes nachdachte.

Richard Pankhurst steckte sich in der Zwischenzeit eine neue Zigarre an, und wartete.

Als die Uhr Punkt drei schlug öffnete Emmeline die Augen und sagte: "So schwer es mir auch fällt, aber ich werde Elli zunächst ihrem Mann überlassen. Sie will von dort nicht weg und solange sie nicht gewillt ist, etwas gegen ihn zu unternehmen, kann ich nicht auf dem direkten Wege etwas für sie tun." Eine kurze Pause trat ein, während Emmeline sich die weiteren Worte zurecht legt, "Um was zu erreichen, muss ich die Aufmerksamkeit des Parlaments auf mich lenken und sie davon überzeugen, dass die Parität eingeführt wird. Wenn Frauen die selben Rechte wie Männer haben, könnte Elli sich von ihrem Mann scheiden lassen, ohne ihre Kinder zu verlieren. Sie könnte ihren Mann wegen der erlittenen Prügel sogar verklagen."

Richard sah das Funkeln in den Augen seiner Frau zurückkehren, dass er in den letzten Wochen arg misste.

"Du kannst immer auf meine Unterstützung zählen."

Seine liebevollen Worte brachten Emmeline zum Lächeln. "Du hast schon so viele Entbehrungen erleiden müssen. Die Politik, fehlende Mandanten, sogar das Geschäft haben wir wegen mir verloren. Und dennoch stehst du zu mir."

"Du hast mir im Gegenzug fünf wunderbare Kinder geschenkt. Und was soll ich mit einer Frau, die keinen eigenen Willen hat. Die einer leblosen Puppe gleicht?" Richard stand auf und nahm die Hand seiner Frau. Sie folgte seiner Aufforderung und erhob sich aus dem Sessel.

"Du bist eine beneidenswert, starke Frau und ich würde dich niemals eintauschen wollen." Richard zog Emmeline an sich heran und drückte sie fest an sich.

Emmeline schlang die Arme um den Rücken ihres Mannes und dankte Gott für Richard.

"Aber du solltest dich jetzt umziehen, sonst erkältest du dich noch.", sagte er liebevoll.

"Anne wird sicherlich schon böse mit mir sein, weil ich noch immer nass herumlaufe." Seufzte Emmeline mit einem Lächeln und löste sich von ihrem Mann.

Richard setzte sich wieder in seinen Sessel und griff nach einer Zeitung, die in der Halterung unter dem Tisch lag.

"Hgn."

Emmeline, die schon fast zur Tür raus war, drehte sich um und eilte zu ihrem Mann. "Alles gut bei dir?

"Nur mein Magen.", wiegelte er ab und schenkte ihr ein breites Lächeln. "Schon vorbei."

Skeptisch musterte Emmeline ihren Gatten. Es kam in letzter Zeit häufiger vor, dass er Schmerzen hatte. Doch er ließ sich auch nicht bewegen zum Arzt zu gehen.

Resigniert ging Emmeline in ihre Kammer und zog die trockenen Kleider an. Der Tee, den Anne bereitgestellt hatte, war bereits kalt, aber Emmeline trank ihn trotzdem. Vielleicht fiel es Anne dann nicht auf, und sie konnte sich die vorwurfsvollen Blicke ersparen, die die kleine Haushaltshilfe ihr definitiv zuwerfen würde.

"Mrs Pankhurst, der Tee ist angerichtet.", schallte es durch die geschlossene Tür.

"Vielen Dank Anne, ich werde gleich runterkommen. Gib meinem Gatten bitte bescheid."

"Jawohl, Herrin."

Emmeline hörte, wie sich die Schritte von der Tür entfernten, und dann wieder näher kamen, da die Treppe an ihrer Tür vorbeiführte. Bedrückt von den Ereignissen des Tages, setzte Emmeline sich auf ihr Bett. Wie sollte sie ihr Vorhaben nur in die Tat umsetzen? Bereits seit Jahren kämpfte sie für die Rechte der Frauen, aber mehr als spöttische Bemerkungen und Verachtung hatte sie bisher nicht erlangt. Sie wurde schon des Öfteren als Emanze bezeichnet. Sogar bespuckt wurde sie.

Emmeline bezweifelte, dass sie auf dem friedlichen Weg noch etwas erreichen würden, doch die Hoffnung hatte sie bis heute den Frieden bei ihren Aktionen wahren lassen.

"Mutter!!!"

Emmeline fuhr auf. "Christabel, was ist geschehen?"

Mit Tränen in den Augen und fleckigem Gesicht stand die älteste Tochter des Hauses in der Tür.

"Vater, er...Vater ist zusammengebrochen." Völlig aufgelöst warf sich Christabel in die Arme ihrer Mutter.

"Hör mir zu Kind!", beschwor sie Christabel und hielt sie von sich ab. "Wenn noch niemand den Arzt verständigt hat, so lauf und hole Doktor Berkley. Lauf!"

Christabel rannte die Treppe hinunter und Emmeline hinterher. Ohne Jacke riss Christabel die Haustür auf und rannte hinaus in den strömenden Regen.

Emmeline eilte in den Salon, wo sie ihren Mann noch vermutete, da die Tür weit aufgerissen war. "Liebling!", stieß sie hervor, als sie Richard am Boden liegen sah. Anne hockte neben ihm und hielt eine Flasche Riechsalz unter seine Nase, doch es kam keine Reaktion.

"Er atmet noch.", war das Einzige, das Anne sagte. Dann versuchte sie ihren Herren anzuheben, ihn auf einen Stuhl zu setzen, aber sie war zu schwach. Auch als Emmeline half, schafften sie es nicht, ihn aufzusetzen.

"Ich gehe Charles holen." Anne lief los um den Gärtner um Hilfe zu bitten. Noch bevor Anne mit Charles wieder da war, trat Christabel mit Doktor Berkley ins Zimmer. Zu Dritt hoben sie Richard Pankhurst auf ein Canapé.

Emmeline und Christabel, und einen Moment später auch Anne und Charles, stellten sich in einiger Entfernung auf und beobachteten Doktor Berkley.

"Er muss sofort ins Krankenhaus."

Charles rannte sofort los um die Pferde einzuspannen und auch Anne und Christabel liefen hinterher.

"Doktor?", wandte sich Emmeline an den Arzt.

"Es sieht schlecht aus. Ihr Mann wäre besser bereits vor Wochen in meine Praxis gekommen."

Kraftlos fragte Emmeline: "Was hat er?"

"Richard hat ein Magengeschwür. Es muss aufgegangen sein. Das bereitet derartige Schmerzen, dass er Ohnmächtig wurde."

Emmeline schlug die Hände vor den Mund. Sie wusste was das hieß: Tot.

Ein ersticktes 'Nein' drängte sich hervor, dann knickten unter Emmeline die Beine weg und sie fiel auf einen Hocker.

"Er wird die Nacht nicht überleben.", bestätigte Doktor Berkley.

"E-Emme-line."

Emmeline stürzte vom Hocker auf ihren Mann zu. Er atmete schwer und der Schmerz war ihm deutlich anzusehen.

"Ja? Ja Liebling?" Sie griff nach seiner Hand und drückte sie.

"Du- musst es schaffen." röchelte Richard und seine Augen wurden glasig. Emmeline achtete auf jedes Wort und versuchte sich alles einzuprägen. "Du musst das Unmögliche versuchen, um deinen Traum wahr werden zu- zu lassen." Er hustete und ein Schwall Blut ergoss sich über das Canapé und Emmeline's Kleider.

"Verlass mich nicht!," bettelte sie panisch. Aber der Kampf war schon verloren, bevor er begonnen hatte. Und keine fünf Minuten später lag ihr Mann, Richard Pankhurst, tot in ihren Armen.
 

"Was hast du jetzt vor Mutter?", fragte Estelle, die zweitälteste Tochter, während sie nach und nach, das Hab und Gut in Kartons verpackten.

Emmeline verräumte Bücher in Kartons. Sie sah blass aus und müde. "Zu allererst müssen wir Geld bekommen, damit wir die Beerdigung bezahlen können. Die Meisten Gegenstände aus diesem Haus und das Haus selbst werden versteigert. Und danach werde ich es wagen."

"Wagen?", wollte Christabel wissen.

"Ja, wagen." Emmeline schaute jede ihrer Töchter ins Gesicht. "Wir müssen das Unmögliche tun. Wir müssen Alles tun, um unsere Rechte durchzusetzen. Und sei es mit Gewalt. Es muss möglich sein, dass Frauen die gleiche gesellschaftliche und soziale Stellung beziehen, wie Männer. Es werden bestimmt genug Frauen in diesem Land sein, die sich gegen die Unterdrückung auflehnen."

"Ich habe gehört, dass es in den Staaten bereits zu Unruhen gekommen sein soll." Warf Christabel ein. "Auch sie versuchen ein Angleichung zu erwirken. Und das Wahlrecht für Frauen durchzusetzen."

"Dann sollte man für England das Gleiche fordern."

"Lass uns dafür kämpfen Mutter!"
 

Am 10. Oktober 1903 gründete Emmeline Pankhurst mit ihrer Tochter Christabel und vier weiteren Frauen in Manchester eine überparteiliche Frauen-Vereinigung: »Women's Social and Political Union«, der sich, drei Jahre später, die damals vierundzwanzigjährige Estelle Pankhurst anschloss. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Vereinigung bereits als Suffragetten (engl. suffrage = Wahl) bezeichnet. Vielen Widrigkeiten zum Trotz erwirkten die Frauen nach und nach das Wahl- und Mitbestimmungsrecht für Frauen. Am 29.03.1928, in Anwesenheit von Emmeline Prankhurst, wurde die "Equal Suffrage Bill" verabschiedet, womit allen Frauen Großbritanniens das Wahlrecht zugesprochen wurde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Melange
2015-04-20T14:02:01+00:00 20.04.2015 16:02
Hi,

Eine wirklich interessante Kurzgeschichte. Du schaffst es gut, in wenigen Szenen einen Ausschnitt dieses sicher ereignisreichen Lebens zu geben. Der Einzelfall ihrer Freundin Elli und die folgende Entschlossenheit sind gut gewählt für eine Kurzgeschichte. Auch der Tod ihres Mannes passt als Ende und gleichzeitig Anfang, obwohl es mir stellenweise ein bisschen zu dramatisch war. ^^;

Außerdem hat es mich etwas gestört, dass du an bestimmten Stellen Information in Gespräche packst, von denen man annehmen kann, dass sie eig beiden Gesprächspartnern bekannt sein sollte. ZB in der letzten Aussage von Christabel oder als Richard von ihren fünf Kindern redet. Ich weiß, es ist schwierig, so infodump zu vermeiden, aber es liest sich nun mal etwas zu gewollt. Ist vllt auch nur mein Eindruck.

Abgesehen davon merkt man als Leser auch, dass du recherchiert hast. Kleinigkeiten wie die Anrede, die Kutschen und Kleidung hast du alle (soweit ich das beurteilen kann) gut eingefügt. Das bringt auch eine realistische Atmosphäre mit sich.

Wie gesagt hat mir die Geschichte sehr gut gefallen und von den Suffragetten wusste ich vorher auch nicht so viel. Danke dafür! Ich hoffe, der Kommentar hilft dir ein wenig. :)

Liebe Schreibziehergrüße~
Von:  Ninjagirl
2012-09-20T08:36:33+00:00 20.09.2012 10:36
Von den Suffragetten hatte ich zwar schon gehört, aber nicht von dem Weg zu ihnen (oh nein, ich hab was gelernt :D ). Das war auf jeden Fall echt interessant und Emmeline hat mir mit dieser Charakterisierung sehr gut gefallen.
Ich glaube zum Ende hin ist noch ein Kommentar von dir oder einem Beta drin (ist in Klammern und bezieht sich auf den Tee), das war etwas verwirrend. ^^ Von den Charakteren hätte ich mir eigentlich mehr Beschreibungen gewünscht, denn das Geschehen selbst und die Umgebung waren meist bildlich dargestellt.
Es entstand vor allem ein gutes Bild der Protagonistin und ich hatte viel Freude daran, mehr von ihrem Leben zu erfahren. Und Christabel ist ein wirklich seltsamer Name xD Vielen Dank für die lehrreiche Fic :)
LG, Nin


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