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Shinigami Haken Kyoukai desu - Shinigami Dispatch Society

von

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Irrungen und Wirrungen

Kayden hielt Lilys Handgelenke fest und drückte sie gegen die Wand, während sie versucht sich frei zu kämpfen.

„Lass mich los!“, rief sie verzweifelt und ihre Nägel gruben sich in Kaydens Handgelenke.

Der junge Shinigami drückte ihre Arme nach unten und trat näher an sie heran.

„Machst du dich jetzt noch an meinen Mentor ran, du kleine Schlampe?!“, fuhr er sie wütend an. „Denkst du, nur weil du ihn rumkriegst, wird seine Aussage dir helfen hier zu bleiben? Ich wäre froh, wenn sie dich zum Tode verurteilen! Merkst du es nicht? Du bist hier unerwünscht! Niemand sieht mehr in dir als bloßes Spielzeug! Selbst dein ach so hoch geschätzter Mentor Knox. Er kann doch gar nichts anderes in dir sehen, denn du bist Nichts. Du bist weder ein guter Shinigami noch eine gute Frau!“

Lily knurrte und befreite ihre Hand. Sie holte aus und schlug Kayden hart ins Gesicht.

Ronald verzog bei dem Geräusch das Gesicht.

Kayden sah auf und hatte Lilys Handabdruck im Gesicht. Ein feiner Kratzer zog sich mit über seine Wange. Er sah wütend aus.

Er näherte sich den Beiden. Sie hatten ihn nicht bemerkt und waren ganz in ihrem Streit vertieft.

Kayden hielt Lily an der Schulter fest und baute sich vor ihr auf. Seine Faust ballte sich, während Lily zusammen zuckte als sich seine Hand hob und ausholte.

Ronald packte den Lehrling am Handgelenk und hielt ihn fest.

Es war gegen die Anweisung von William. Er nahm Kontakt zu ihr auf und näherte sich ihr wieder. Aber es war ihm egal, was William dachte. Es ging hier um seine Schülerin, die ihm wichtig war und er konnte nicht einfach so tatenlos zusehen, wie sie geschlagen und beleidigt wurde. Wenn niemand etwas dagegen tat, würde er es eben selbst tun!

Kayden versuchte seinen Arm aus Ronalds eisernen Griff zu befreien.

„Lass mich los, du Penner!“, rief er und sah ihm dabei ins Gesicht.

Sein Griff festigte sich. Mit kalten Augen sah er zu Kayden herunter und schob seine Brille zu Recht, wie es William oft genug tat.

„Spricht man so mit seinem Vorgesetzten?“, fragte er kalt. „Sei froh, dass ich nicht dein Mentor bin, Junge, sonst würdest du jetzt solange auf dem Trainingsplatz Runden laufen bis du auf dem Zahnfleisch daher kommst! Wir erheben niemals, ich wiederhole NIEMALS, die Hand gegen einen Kollegen und sei er uns noch so wider! Habe ich mich da klar ausgedrückt?!“

Kayden nickte ärgerlich.

„Wenn ich dich noch mal dabei erwische, wie du Hand an meine Schülerin legst, wirst du dein blaues Wunder erleben. Also mach, dass du hier weg kommst. Verschwinde aus meinem Blickfeld!“, zischte er wütend. Er sprach leise, aber deutlich genug, so dass Kayden und Lily ihn hören konnte. Ronald nickte mit dem Kinn den Flur entlang und zog ihn am Handgelenk von Lily fort.

Wütend sah der Lehrling zu Lily und richtete sein Jackett ehe er in sein Zimmer am anderen Ende des Flures verschwand.

Zufrieden mit sich nickte Ronald und sah dem Jungen nach, um sicher zu gehen, dass er wirklich verschwunden war.

Seine Wut legte sich und sein Herz begann zu klopfen.

Er hatte gar nicht darüber nachgedacht, was er getan hatte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er irgendetwas zu Lily sagen sollte immerhin hatte er durch die Aktion Kontakt zu ihr aufgenommen.

Was sollte er sagen?

Er hatte keine Ahnung. Sein Kopf war mit einem Mal wie leer.

Langsam drehte er sich zu Lily herum.

Sie stand an die Wand gepresst da und zitterte. Ängstlich sah sie zu Ronald auf.

„Ist…ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er vorsichtig und machte einen kleinen Schritt auf sie zu.

Zaghaft nickte Lily und wich dabei seinem Blick aus.

Ronald erwiderte ihr nicken und schwieg. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Williams Anweisung hing in seinem Kopf fest und erinnerte ihn daran, in was für Schwierigkeiten sie beide steckten.

Lily schien es ähnlich zu gehen. Nervös biss sie sich auf die Unterlippe und faltete die Hände immer wieder. Leise knackten ihre Fingerknöchel.

Sollte er vielleicht einfach so wieder seinen Weg gehen? Aber er hatte sie vor Kayden als seine Schülerin bezeichnet. Sie mussten miteinander reden. Doch wie fing man so etwas am besten an?

„Mr. Knox…“, fing Lily leise an und holte ihn damit aus seinen Gedanken. „Wegen heute Mittag…also, das in der Mensa…es…es tut mir Leid…“

Überrascht weiteten sich seine Pupillen.

„Wie bitte?“, fragte er verblüffte. Hatte er tatsächlich richtig gehört?

„Es tut mir Leid wegen heute Mittag.“ Ihre Stimme klang diesmal fester und sicherer. „Ich habe überreagiert. Aber das heißt nicht, dass ich Ihnen vergebe!“

„Haben Alan, Eric und Grelle mit Ihnen gesprochen?“

Sie nickte.

Ein leises Lachen entfuhr ihm.

Die anderen hatten also auch mit ihr gesprochen, damit sie sich wieder vertragen konnten.

„Was ist daran so witzig?“, fuhr sie ihn an.

„Nichts. Schon in Ordnung“, antwortete Ronald und ignorierte dabei ihren wütenden Blick. „Miss McNeil, können wir vielleicht miteinander reden? Wie wäre es bei einem Spaziergang in der Gartenanlage?“

„Ich wüsste nicht vorüber“, gab sie zurück.

„Ich dagegen schon. Bitte, lassen Sie mich erklären, warum ich gehen musste. Danach können Sie immer noch sauer auf mich sein. Miss McNeil, ich bin es nicht gewohnt zu betteln und erst recht nicht bei einem Schüler oder einer Frau. In diesem Fall verkörpern Sie sogar beides. Also, was ist? Hören Sie mir zu oder wollen Sie lieber weiter sauer auf mich sein?“

Lily zögerte und musterte ihn vom Kopf bis zum Fuß.

„Nachdem ich Sie gerade gerettet habe, glaube ich, eine Chance verdient zu haben“, versuchte er zu scherzen und grinste sie neckisch an.

„Na gut“, seufzte sie. „Ich werde Ihnen zuhören und wenn es meine Meinung nicht ändert, lassen Sie mich in Ruhe!“

„Einverstanden.“

Ronald war stolz auf sich. Der erste Schritt war getan. Sie würde ihm wenigstens zuhören. Es war ein kleiner Anfang für einen Neustart zwischen ihnen.

Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter und hinaus in die Anlage, die an das Wohngebäude grenzte.

Es war ein bewölkter Nachmittag und die Luft hing schwer über ihnen. Es war warm und feucht. Vielleicht würde es noch gewittern und regnen.

Seite an Seite liefen sie durch den gekiesten Weg durch den Garten.

Lily hob ab und zu den Kopf, um Ronald anzusehen, doch er zeigte keine Regung. Dabei arbeitete sein Gehirn auf Hochtouren und es war ein Wunder, dass Lily nicht die Zahnräder rattern hörte.

Fieberhaft überlegte er, wie er das kommende Gespräch am besten anfangen sollte.

„Kommt da heute noch was?“, fragte Lily, als sie die Rosenbuschecke hinter sich gelassen hatten und nun zur Baumallee kamen.

Ronald zuckte zusammen. Er hatte sich so sehr an die Stille gewöhnt, dass er damit nicht gerechnet hätte. Vorsichtig nickte er und betrachtete sie aus dem Augenwinkel.

Sie sollte nicht glauben, er würde sie anstarren. Er musste sich wie ein Mentor verhalten. Sachlich und nüchtern. Vor ihm stand seine Schülerin und nicht das Mädchen, dass er möglicherweise mochte.

Langsam atmete er aus.

„Wo waren Sie?“, fragte Lily und half ihm damit das Gespräch anzufangen.

„Ich war in Tibet in der Menschenwelt. In einem Kloster der Shaolin Mönche“, antwortete und vergrub seine Hände in die Hosentasche.

Lily nickte bloß zu seiner Antwort.

Ronald wies auf eine Bank unter einer Eiche. „Setzen wir uns.“

Lily folgte der Aufforderung und ließ sich auf der Sitzgelegenheit nieder.

Ronald setzte sich daneben, ließ jedoch genügend Abstand zwischen ihnen.

Sie schwiegen wieder. Innerlich fluchte Ronald. Dabei hatte er gerade einen sehr guten Einstieg für das Gespräch gehabt.

Leise räusperte er sich. „Es tut mir leid, was alles passiert ist. Ich bin morgens wirklich sehr verpeilt.“

Mit einem Seitenblick auf Lily konnte Ronald erkennen, dass sie verwirrt war und darüber nachdachte, wovon er sprach.

Ihre Stirn hatte sich in Falten gelegt und angeregt dachte sie nach. Dann weiteten sich ihre Augen als es ihr wieder einfiel.

„Das hatten wir schon geklärt“, sagte sie nüchtern.

„Ich wollte es nur noch mal erwähnen.“

Sie grinste, doch es war ein merkwürdiges und gezwungenes Grinsen.

Ronald wusste, sie war noch immer sauer auf ihn und hatte sich nur entschuldigt, weil Alan, Eric und Grelle auf sie eingeredet hatten. Wahrscheinlich war sie auch nur deshalb mit ihm mitgegangen, weil die anderen ihr geraten hatten, sich mit ihm auszusprechen.

„Na denn“, sagte sie und lehnte sich nach vorne. Ihre Hände faltete sie ineinander während sich ihre Fingerkuppen in einem gleichmäßigen Takt immer wieder berührten. Ein sicheres Zeichen für ihre Ungeduld und innere Wut. Wenn er genauer hinsah, war ihr Lächeln eher eine Grimasse.

„Ihr Mentor, Alan und Eric haben mir erzählt, was Sie in den letzten beiden Wochen durchgemacht haben.“

„So? Haben Sie das?“ Lily klang abweisend. Ihm war dennoch nicht entgangen, dass sie dabei zusammen gezuckt war wie ein geschlagener Hund.

„Ja, haben sie und ich hatte auch schon eine kleine Kostprobe davon.“

„Okay.“

„Hören Sie“, sagte Ronald. „Ich wollte nicht, dass es so endet. Ich wollte überhaupt nicht, dass Sie in irgendwelche Schwierigkeiten geraten!“

„Schwierigkeiten?“, schnaubte Lily und ihre Stimme klang bedächtig ruhig. „Sie wissen gar nichts!“

Ronald konnte etwas Kaltes auf seinem Gesicht spüren, doch er ignorierte es. Sollte es doch ruhig regnen. Die Bäume würden einen sicheren Schutz bieten.

Lily klang ungläubig, genauso wie die Andere vorhin.

„Ja, das stimmt. Ich weiß wirklich nicht, wie es für Sie war und ich hätte es Ihnen gerne erspart!“, gab er wütend zurück. Langsam war er genervt davon für alle der Buhmann zu sein. Zwar hatte er seine Freunde davon überzeugen könne, aber viel wichtiger war es doch Lily davon zu überzeugen, dass er ihr nie hatte schaden wollte. Immerhin betraf es sie doch am meisten.

„Was soll diese freundliche Art auf einmal?“, fuhr sie ihn an und sprang von der Bank auf, während sich über ihren Köpfen ein Regenschauer bereit machte nieder zu prasseln.

In den Blättern der Bäume raschelte es, als die Tropfen darauf fielen und sich immer mehr ausbreiteten, so dass auch der Baum kein Schutz mehr für sie beide bot.

Innerhalb weniger Sekunden, waren sie beide durchnässt.

„Sie haben vollkommen Recht! Sie wissen gar nichts!“, schrie sie ihn weiter durch den Lärm des Regens an.

Ronald sprang nun ebenfalls auf. Seine Kleidung klebte ihm am Körper und seine Haare hingen ihm im Gesicht, während der Regen unaufhörlich über sein Gesicht lief. Er hatte Mühe überhaupt etwas zu erkennen, weil er so oft durch das Wasser blinzeln musste, was ihm in die Augen lief.

„Lassen Sie mich bitte ausreden!“, rief er verzweifelt.

„Nein!“, schrie sie mit erstickter Stimme und gequältem Gesicht. „Ihre freundliche Art können Sie sich dahin stecken, wo die Sonne nicht scheint! Ich falle darauf nicht mehr rein! Ich brauche Ihr Mitleid nicht! Sie wollen mich doch nur genauso fertig machen, wie alle anderen! Nicht mit mir!“

Mit geballten Fäusten und wütendem Gesicht lief sie an ihm vorbei und direkt auf das Wohngebäude zu.

Ronald grummelte leise und folgte ihr mit schnellen Schritten.

„Warten Sie!“, rief er ihr nach und hinterließ kleine Pfützen und nasse Fußspuren im Flur des Wohngebäudes.

Lily ignorierte ihn und wütend folgte er ihr. Ronald rief ihr immer wieder nach, doch es war, als würde er mit einer Wand reden. Doch er musste mit ihr reden. Je mehr Zeit verstrich, desto weniger würde er noch einmal an sie heran kommen, um alles aufzuklären.

Lily rannte bereits die Treppen in den neunten Stock hoch und Ronald folgte ihr auf Schritt und Tritt.

So schnell würde er sich nicht abschütteln lassen. Diese paar Treppen waren eine Kleinigkeit im Gegensatz zu dem Training der Mönche.

„Miss McNeil, warten Sie doch! Bitte!“, rief er ihr nach und nahm zwei Stufen auf einmal nach oben.

Ronald hörte ihren Schlüsselbund klappern und beeilte sich die letzten Treppen zu nehmen.

Seine Schülerin stand schon an der Tür und schloss sie auf. Sie schaute kurz über die Schulter. Als sie ihn erblickte, öffnete sie schnell die Tür und gab ihr einen kräftigen Stoß, damit sie ins Schloss fiel.

Ronald sprang nach vorne und drückte sie mit seiner Hand wieder auf.

Sein Herz raste und er keuchte.

„Sie sind verdammt schnell“, schnaufte er und schloss die Tür hinter sich.

Lily hatte sich ans andere Ende vom Zimmer gestellt und versuchte ruhig zu atmen. „Sie aber auch“, gab sie ruhig zurück. „Jetzt verlassen Sie sofort mein Apartment! Ich will Sie nicht sehen!“

„Nein“, sagte er bestimmt. Wenn sie ihn jetzt aus der Wohnung warf, würde die Gerüchteküche nur noch mehr am Brodeln. „Ich sagte, ich will mit Ihnen reden und das werde ich auch!“

Lily zuckte unter seiner lauten Stimme zusammen, nickte aber. Sie sah nach draußen in den Regen.

„Dann legen Sie mal los“, sagte sie kühl.

Ronald wischte sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und seine Brille ab, um sie wie gewohnt mit seinem Hemd zu putzen, doch es war klitschnass. Er setzte die Brille wieder auf und zum ersten Mal hatte er wirklich Zeit seine Schülerin nach all der Zeit ordentlich zu mustern.

Erst jetzt fielen ihm die vielen kleinen Veränderungen auf. Vieles lag auch an den nassen Sachen, dass einiges sichtbar wurde.

Wieso war ihm das nicht schon vorher aufgefallen? Einiges war so offensichtlich, aber offenbar war er so in seiner Welt und Gedanken gewesen, dass er es vollkommen übersehen hatte.

Anstatt des Rockes, trug sie eine lange Hose. Etwas, was ihm sofort hätte auffallen sollen.

Auch das Hemd hing an ihr, als wäre es um ein paar Nummern zu groß, genauso wie die Hose. Der Gürtel war eng geschnürt.

Jetzt wo sie so da stand und natürliches Licht herein fiel, fielen ihm auch die dunklen Augenringe auf und das sehr blasse Gesicht.

Vorsichtig ging Ronald auf sie zu, blieb aber sofort stehen, als sie ihn mit kalten Augen ansah.

Er verharrte mitten im Raum und musterte sie weiterhin, was sie gar nicht zu mögen schien.

Lily fixierte ihn immer noch mit einem kalten Blick.

„Warum sind Sie einfach gegangen? Warum haben Sie mich mit all dem Mist hier alleine gelassen?“, fragte sie nach einer Weile des Schweigens mit halbwegs ruhiger Stimme. Ihr Blick war noch immer kühl und abweisend.

„William hatte mich vor die Wahl gestellt. Entweder ich unterschreibe die Kündigung und wir fliegen beide aus der Society oder…“ Er ließ kurz die Worte kurz wirken und unterbrach sie, ehe sie in einen lauten Protestschrei beginnen konnte. „Oder ich verschwinde solange in die Menschenwelt bis die Untersuchung zu einem Ergebnis gekommen ist.“

„Sie haben sich also für Letzteres entschieden, nur damit wir beide nicht gekündigt werden?“ Das schien sie aus der Fassung zu bringen.

Ronald nickte. „Spears war der Meinung, dass es eine gute Idee sei, wenn ich verschwinde, damit ein wenig Abstand zwischen uns geschaffen wird und vielleicht auch die Gerüchte von selbst verschwinden. Ich wollte Ihnen also nicht wehtun, sondern ganz im Gegenteil. Als meine Schülerin wollte ich Sie davor schützen. Na ja und mich auch irgendwie.“ Er zog die Schultern verlegen hoch. „William meinte, dass er uns nicht das Gegenteil nachweisen könnte im Moment und selbst wenn die Untersuchung das Gegenteil herausfindet, würden wir beide einen Eintrag in die Dienstakte bekommen. Ich habe ihm mehrmals versucht zu erklären, dass da nichts ist, aber er blieb stur und behaarte auf diese Optionen. Er sagte, er hätte gesehen, wie ich Sie über den Flur in Ihr Zimmer getragen hätte und das es doch sehr eindeutig gewesen sei.“ Ronald verzog dabei ein wenig das Gesicht. Wenn er daran zurück dachte, konnte er nicht erkennen, wo dort etwas eindeutig gewesen sei. Er hatte Lily ja nicht an den Hintern gepackt oder sonst wo berührt, sondern nur über seine Schulter getragen. „Nachdem ich mich dann für den Weggang entschied, hatte er mir verboten mit Ihnen zu sprechen. Ich durfte Ihnen höchstens sagen, wer Ihr neuer Mentor wäre. Mehr nicht. Es tut mir leid, wie sich alles entwickelt hat. Ich dachte, ich täte was Gutes.“

„Wie kommen Sie auf die Idee das ohne mich zu entscheiden?“, fuhr sie ihn wütend an. „Sie hätten mich ja wenigstens fragen können! Oder mich dazu holen können!“

„Das habe ich ja zu William gesagt, aber er hat es nicht erlaubt! Sonst hätte ich es sofort getan!“

Lily sah ihn wütend an. Es war nur für einen kurzen Moment, dann sah sie wieder aus dem Fenster.

„Ich sehe, es wäre egal, wie ich mich entschieden hätte, es wäre falsch gewesen.“ Nun wurde er langsam sauer. Er redete sich um Kopf und Kragen und versuchte ihr alles zu erklären. Sie äußerte sich nicht einmal dazu und sah ihn nur mit feindlichem Blick an. Langsam wusste Ronald auch nicht mehr weiter, was er noch sagen sollte. „Eigentlich dürfte ich immer noch kein Wort mit Ihnen reden.“

„Warum tun Sie es dann?“

„Weil ich wieder Ihr Mentor werden will.“

Lily schnaubte abfällig. „Soll das auch Ihre Erklärung für Ihr Verhalten in der Mensa sein?“

„Es tut mir leid“, sagte er und langsam wusste Ronald nicht mehr weiter. „Ich wollte nur die Anweisung befolgen, aber…aber Alan hat Recht. Es ist mir wichtiger, dass wir wieder miteinander reden, anstatt Williams Anweisung.“

Langsam drehte sie sich um und öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, wurde aber unterbrochen.

Ein Klopfen am Terrassenfenster unterbrach sie.

Ronalds Kopf flog herum.

Nakatsu stand dort und klopfte dagegen. Sein Blick begegnete Ronalds und er seine Miene verfinsterte sich.

Wie war er auf die Terrasse gekommen? War er von seinem Balkon über das Geländer gesprungen, um zu ihrem zu kommen?

Der Junge war verrückt oder einfach nur dumm genug, um den Mut zu haben darüber zu springen. Oder vielleicht beides.

Lily ging zur Terrassentür und öffnete sie dem Jungen, der ein wenig nass geworden war.

Sofort sprang er in das Apartment und sah ihn wütend an. Doch dann wandte er seine Aufmerksamkeit sofort Lily zu.

„Geht es dir gut? Du bist ja total nass. Geh lieber duschen und zieh dir was Trockenes an.

Du erkältest dich sonst noch.“

Lily nickte. „Ja, mach ich gleich.“

„Was macht er eigentlich hier? Hat er dir wehgetan?“ Wieder sah Nakatsu Ronald böse an.

„Ich...“

„Er hat nichts getan!“, unterbrach sie Ronald sofort. „Er wollte nur mit mir reden. Das ist alles. Wir waren auch gerade fertig.“

„Und was hat er dir für Lügen erzählt?“

Lily zog die Schultern hoch. „Ich werde erst einmal selbst darüber nachdenken müssen. Ok?“

Nakatsu nickte und blickte Ronald weiterhin kühl an.

„Gut…“, sagte Ronald und wippte kurz hin und her. „Ich werde dann mal gehen. Erholen Sie sich gut. Wir können ja ein anderes Mal weiter reden. Es würde mich zumindest sehr freuen.“

Eher er sich umdrehte, schenkte er ihr noch ein kleines Lächeln und öffnete die Tür. Er verließ das Zimmer und seufzte im Flur auf.

Das war kein großer Erfolg. Aber was hatte er schon erwartet? Das sie ihm verzeihen würde und alles dann Friede, Freude, Eierkuchen sein würde? So war die Welt eben nicht. Es brauchte eben seine Zeit.

Ronald bemerkte einen Zettel an der Tür, auf dem in großen Lettern „Shinigamihure“ drauf stand. Wütend riss er ihn ab und knüllte ihn zusammen. Das Papier stopfte er in seine Hosentasche

„Mr. Knox“, sagte eine männliche Stimme und Ronald zuckte zusammen.

Er wusste genau, zu wem diese Stimme gehört und diese Person hatte gerade mitbekommen, wie er aus Lilys Zimmer kam, aus dem Zimmer der Person zu der er Kontakverbot hatte. Das war eindeutig nicht sein Tag. Ronald wusste, das würde Ärger geben.

„Mitkommen“, befahl Spears und schloss seine Wohnungstür auf und Ronald folgte ihm wiederwillig.

Viel Zeit zum Umsehen hatte er jedoch nicht, denn William ging zielstrebig zu seinem Schreibtisch und setzt sich dahinter. Er ignorierte die mauzenden Katzen zu seinen Füßen.

Es überraschte ihn, dass William ein Tierfreund war, aber Ronald konnte sich jetzt nicht mit den Vorlieben seines Vorgesetzten befassen.

Aus dem Augenwinkel nahm er ein großes Aquarium mit Zierfischen wahr, dessen Filter ein gluckerndes Geräusch von sich gab.

Ronald stand vor dem Schreibtisch seines Chefs wie ein kleines Kind, das etwas falsch gemacht hatte und hatte das Gefühl, es würde nicht nur bei einer Predigt bleiben.

Mit einem undefinierbaren Blick wurde er von William gemustert, während er sich die Brille richtete.

„Sie haben meine Anweisung missachtet, Mr. Knox.“ Seine Stimme war eiskalt und scharf wie ein Messer.

„Mr. Spears, ich weiß, aber…“

„Seien Sie ruhig“, unterbrach er ihn.

Sofort schwieg Ronald und versuchte ruhig zu bleiben.

William zog eine Akte aus seiner Schublade und schob sie ihm herüber. „Das ist für Sie. Lesen Sie es und geben mir die Akte bis zu dem Anhörungstermin wieder. Darin stehen die mir bekannten Angriffe auf Miss McNeil. Ich denke, Sie sollten wissen, was alles geschehen ist. Es könnte von Vorteil für die Anhörung sein. Ich bin sicher, es gab noch mehr, von dem ich allerdings nichts weiß.“

Vorsichtig griff Ronald zur Akte, als wäre sie ein gefährlicher Gegenstand, der ihn beißen könnte, wenn er ihn berührte. Langsam nahm er sie in die Hand.

Die Akte war nicht allzu dick, aber auch nicht allzu dünn. Es gab einiges, was er lesen musste.

Ronald wurde bewusst, dass es nicht nur Sprüche waren, die Lily zu ertragen hatte. Er hatte es geahnt, aber nun hatte er den Beweis in dafür in der Hand.

Er drückte sie an sich, als würde sie ihm Schutz geben vor Williams Schimpftirade oder als wäre sie etwas wertvolles, was er schützen musste.

„Sie haben also meine Anweisung missachtet und mit der jungen Frau geredet.“ Es war keine Frage, sondern Feststellung. Er seufzte leise. „Das spielt aber keine Rolle. Es war offensichtlich keine gute Entscheidung Sie fortzuschicken.“

Ronald stutzte. Hatte er sich verhört oder gab William tatsächlich einen Fehler zu? Er war verwirrt. Wenn er keinen Fehler gemacht hatte, wieso behandelte William ihn dann so?

„Es ist vielleicht sogar ganz gut, dass Sie mit ihr gesprochen haben“, fuhr Spears fort.

„Ist die Anweisung damit aufgehoben?“, wagte Ronald zu fragen.

William T. Spears nickte. „Ja, ist es.“

Innerlich stieß er einen Jubelschrei aus. Er war also noch einmal davon gekommen und hatte nichts verkehrt gemacht. Ronald durfte wieder mit ihr reden! Immerhin etwas positives.

„Von der Arbeit sind Sie dennoch suspendiert bis das Gericht eine Entscheidung getroffen hat und ob Sie danach noch mal zu ihrem Mentor werden, ist auch noch nicht klar. Auch, wenn die Anweisung aufgehoben ist, seien Sie bitte diskret.“

Er nickte. Damit konnte er leben.

„Morgen früh haben Sie einen Termin auf der Krankenstation. Dort werden ihre medizinischen Daten aufgenommen für die Verhandlung. Seien Sie also pünktlich. Sie können dann gehen.“

„Ist gut.“ Ronald nickte. „Wiedersehen.“

Langsam ging er aus dem Apartment und der Gedanke, dass er wieder mit Lily sprechen durfte, erfüllte ihn mit Freude. Egal, was an diesem Tag passiert war, diese Neuigkeit machte alles wett.

Ohne weitere Umwege ging er sofort in sein Apartment und machte sich daran die Akte zu studieren.

Es war wirklich eine Menge, was geschehen war und er konnte Lily nun noch mehr verstehen, weshalb sie so sauer auf ihn war.

Nach fünf Seiten schlug er die Akte zu und warf sie aufs Sofa in die Ecke. Müde fuhr sich Ronald über die Augen und atmete tief ein.

Er sollte ins Bett gehen und schlafen. Dieser Tag war anstrengend gewesen, obwohl er nicht gearbeitet hatte und die Akte konnte er auch noch morgen zu Ende lesen. William hatte ihm bis zur Anhörung Zeit gegeben.

Ronald stand auf und ging in sein Schlafzimmer. Die Kleidung war schnell abgelegt und er ließ sich erschöpft in die Kissen fallen. Es dauerte auch nicht lange bis er dann einschlief.
 

Alyssas Blick fiel auf die dunkelrote Blutspur, die sich im frisch gefallenen Schnee abzeichnete.

Ihr Herz schlug lautstark und sie zitterte, nicht nur durch die Kälte, die sich an diesem kalten Morgen über die Stadt London gelegt hatte.

Es war ihr erster Besuch in der Menschenwelt als Schülerin und durfte obendrein ihrem Mentor Undertaker bei seiner Arbeit zusehen.

Kalter Wind fuhr ihr über das Gesicht und brannte ihr in den Augen, trotz der schützenden Brille. Die dünnen Handschuhe der Uniform schützten auch nicht wirklich und ihre Hände fühlten sich steif an. Durch jede Ritze der Kleidung zog der Wind unbarmherzig und ließ sie frösteln. Alyssas Beine fühlten sich wund an und sie wusste, sie waren gerötet vor Kälte.

Sie zog den Schal ein Stück höher, damit ihr Hals geschützt war und stampfte weiter durch den weißen Pulverschnee, während frischer gerade aus den dicken Wolken über ihnen fiel.

Er setzte sich auf Haare und Kleidung ab, aber schmolz sofort.

Zitternd hauchte sich Alyssa in die Handfläche und rieb sie kräftig aneinander, um sich aufzuwärmen, während kleine Atemwölckchen in der Luft sichtbar wurden.

Vorsichtig warf sie einen Blick zu Undertaker, dem die Kälte offensichtlich nichts ausmachte. Er zitterte nicht wie sie und er zeigte auch sonst keine Anzeichen davon, dass ihm kalt war, obwohl sein Gesicht gerötet war.

In seiner rechten Hand hielt er seine Todessense eisern fest. Seine Haare hatte er nach hinten gebunden, damit sie ihm nicht ins Gesicht fielen. Mit der freien linken Hand schob er sich seine Brille ein Stückchen höher.

Alyssa hatte Mühe mit ihm Schritt zu halten und musste immer wieder durch den Schnee rennen, um aufzuholen. Sie traute sich kaum ihn anzusprechen, doch das Schweigen zwischen ihnen war bedrückend.

Alyssa gestand sich nur ungern ein, dass Undertaker sie als Mentor nervös machte.

Er war immer so schweigsam und sein Gesicht zeigte nie eine Regung. Ständig sah er sie mit dem gleichen Gesichtsausdruck an und nie konnte sie sagen, ob sie etwas falsch gemacht hatte oder richtig. Er war ein Buch mit sieben Siegeln für sie. Sie saß meistens steif in seinem Büro, wenn sie ihre Aufgaben machte und er seine erledigte. Alyssa traute sich dann immer kaum ein Geräusch zu machen oder zu fragen, weil sein Blick dann immer so kalt war, dass sie glaubte, sie sei dumm und müsse es doch eigentlich wissen.

Zu gerne hätte sie ihn einmal lachen gesehen und wenn es über ihre Tollpatschigkeit sei. Sie hatte am Anfang oft genug versucht einen Scherz zu machen und kam sich dann unter seinem abweisenden Blick dumm und kindlich vor.

„Wo bleiben Sie?“, fragte Undertaker mit kühler Stimme und blieb stehen. Er drehte sich um und stemmte eine Hand in die Hüfte. „Trödeln Sie nicht. Dafür haben wir keine Zeit.“

„Ich komme ja schon“, antwortete sie und lief durch den Schnee auf ihn zu.

„Sehen Sie die Blutspur?“, fragte er und deute in den Schnee.

„Ja, sie wird immer kräftiger.“

Undertaker nickte. „Der Todeskandidat ist in der Nähe und verliert immer mehr Blut.“

„Das heißt?“, fragte sie vorsichtig und sah sich in den verlassenen Straßen Londons um.

„Das heißt, dass er bald sterben wird und wir unsere Aufgabe nachgehen sollten anstatt hier rumzustehen“, gab er kühl zurück und Alyssa schauderte es bei seinen Worten.

Sie folgte ihm wortlos weiter während ihr Herz noch immer kräftig gegen ihre Brust klopfte.

Alyssa bewunderte Undertaker für seine Stärke und sein Wissen. Eines Tages wollte sie auch so geachtet werden wie er. Aber sie wollte auch von ihm geachtet werden.

Ein Seufzer entfuhr ihr.

Das würde sicherlich nie passieren.

Er lobte sie nicht einmal, wenn sie bestimmte Aufgaben gut erledigte oder sprach mit ihr mal über private Dinge. Undertaker wechselte nur das Nötigste mit ihr. Wenn jemand Alyssa fragen würde, was er gerne aß oder trank, würde sie keine Antwort geben können. Sie wusste es schlicht und ergreifend einfach nicht. Dabei wollte sie so vieles über ihn wissen. Oft glaubte sie auch, dass er gar kein Herz hatte, das in seiner Brust schlug, während ihres in seiner Gegenwart dafür umso mehr pochte.

Nur ungern gab sie es selbst zu, aber Alyssa liebte diesen kühlen Mentor, auch wenn er sie ignorierte und nie eine Regung zeigte. Sie wusste auch, dass sie es geheim halten musste, weil er sie sonst nicht mehr unterrichten dürfte.

Erneut seufzte Alyssa und ihr Herz wurde schwer bei dem Gedanken ihm nie näher sein zu können wie jetzt.

„Was stehen Sie da rum und träumen? Beeilung!“, rief Undertaker und Alyssa schloss schnell zu ihm auf, damit sie ihre Aufgabe erledigen konnten.

Die Kälte war unerträglich und sie wollte nur noch nach Hause. Am besten ein heißes Bad nehmen und ein paar Kekse essen.

Sehnsüchtig seufzte sie und hoffe, dass der Todeskandidat oder die Kandidatin nicht mehr weit weg wäre.

„Genießen Sie den Ausflug in die Menschenwelt?“, fragte Undertaker mit einem mal in die morgendliche Stille hinein. Hatte sich Alyssa verhört oder sprach er wirklich ein Wort mir ihr und interessierte sich für sie? Schwang da ein wenig Sarkasmus mit?

Verblüfft sah sie Undertaker an.

Alyssa hatte das ganze halbe Jahr darauf gewartet mit ihm ein normales Gespräch zu führen und in Gedanken hatte sie alle möglichen Szenarien durchgespielt, aber nun wo es soweit war, war ihr Kopf leer und ihr Herz schlug laut und kräftig gegen ihren Brustkorb.

„Haben Sie Ihre Zunge verschluckt?“, fragte er nachdem sie keine Antwort und ein kleines Lachen schwang in seiner Stimme mit.

War der Weltuntergang nahe oder musste sie gleich sterben? Wieso sprach er mit einem Mal mit ihr? Wieso zeigte er nach all der Zeit Interesse an ihrem Leben und ob ihr etwas gefiel? Seit wann konnte er Lachen?

Alyssa schüttelte den Kopf. „Ich kann mir etwas Besseres vorstellen als bei so einer Kälte das erste Mal in der Menschenwelt zu sein.“

„So?“ Fragend hob er eine Augenbraue. „Was denn zum Beispiel?“

„In der heißen Wanne liegen oder eingekuschelt im Bett und dazu ein paar Kekse“, grummelte sie und vergrub die Hände in den Taschen ihres Mantels.

„Sie meinen doch nicht etwa die Kekse, mit denen Sie jeden Tag den Schreibtisch voll krümeln, oder?“

„Doch genau die!“ Es war verblüffend, wie leicht sie sich mit ihm unterhalten konnte und wie angenehm es war, auch wenn seine Stimme noch immer sehr distanziert wirkte.

„Was finden Sie nur an denen?“

„Sie sind lecker!“, erwiderte sie und zupfte an ihrem Schal. „Sie sollten Sie mal probieren. Das Rezept ist von meiner Mutter.“

„Ich mag keine süßen Sachen.“

„Oh…verstehe…“ Alyssa wickelte ihren Schal ab, nur um ihn neu zu binden. Ständig rutschte er ihr herunter und ihr Hals war ungeschützt der Kälte ausgeliefert.

Undertaker nahm ihr mit einem genervten Seufzer die beiden Enden des Schals aus der Hand und zog sie näher an sich heran.

„Das kann man sich ja nicht mehr mit ansehen, wie Sie an dem Ding rumzupfen!“, kommentierte er ihren fragenden Blick.

Scharf zog Alyssa die Luft ein und hielt den Atem an, während er ihr mit kurzen Handgriffen den Schal so band, dass er den Hals schützte und sie ihn auch über die Nase ziehen konnte, um das Gesicht zu wärmen.

„Eines müssen Sie zugeben, Sie sind ein Chaot.“

Vorsichtig nickte sie. „Ein wenig…ja…“

Alyssa konnte durch den dünnen Stoff der Handschuhe seine warmen Hände fühlen und die Berührung verursachte ihr einen angenehmen Schauer.

„Ihnen ist wirklich kalt, oder?“, fragte er und seine Gesichtszüge wurden eine Spur weicher.

Sie nickte leicht und zog den Schal bis über die Nase, damit er nicht merkte, wie sie errötete. Obwohl sie es mit Sicherheit auch auf das Wetter schieben konnte.

„Wenn das Wetter besser wäre, hätte ich Ihnen die Stadt zeigen können. Immerhin sind bald Ferien und es würde nicht auffallen, wenn wir ein bisschen länger fort wären.“

Ein paar kleine Jungen liefen an ihnen vorbei und lachten lautstark, während sie über gefrorene Pfützen schlitterten. Es war das erste Lebenszeichen an diesem Morgen.

Aus dem Augenwinkel sah Alyssa Licht in einem großen Schaufenster mit Spielzeug angehen. In dem Schaufenster hing ein Tannenkranz mit einer großen roten Schleife, während das Spielzeug zu ihnen herüber starte.

Der Geruch von gerösteten Kastanien stieg ihr in die Nase.

Ihr Magen knurrte leise und erinnerte sie daran, dass sie noch gar nicht gefrühstückt hatte.

Alyssa schüttelte den Kopf.

„Es ist schon in Ordnung“, murmelte sie in den Stoff ihres Schals.

In der Ferne Schlug die Glocke einer Kirchturmuhr und erfüllte die Stille. Eine kleine Gruppe von Menschen stellte sich in die Nähe des Spielzeuggeschäftes.

Es waren Männer und Frauen aus unterschiedlichen Altersgruppen. Auch zwei kleine Kinder waren dabei. Sie hatten sich alle dick angezogen und hatten Musikinstrumente bei sich. Ihre Gesichter waren vor Kälte gerötet. Einer der Männer mit einer dicken knubbeligen Nase, sah dabei eher aus als hätte er einen über den Durst getrunken. Ein Mann stimmte seine Gitarre und schlug die ersten Töne an, während eine Frau mit dem Tamburin im Takt mitspielte. Sie alle stimmten ein Weihnachtslied an, was durch die Straße hallte. Ein kleiner Junge hielt eine alte Büchse in der Hand in der ein paar Münzen lagen.

Warum wollte Undertaker mit einem mal Zeit mit ihr verbringen? Wieso war er so nett zu ihr?

Alyssa war verwirrt. Er war doch sonst nicht so zu ihr.

Woller er sich einen Spaß mit ihr erlauben? Wollte er sie testen, ob sie den Versuchungen in der Menschenwelt widerstehen konnte? Oder meinte Undertaker es wirklich ernst, wenn er vorschlug, ihr die Stadt zu zeigen?

Aus welchem Grund tat er das? Er zeigte doch sonst nie Interesse.

„Dann lassen Sie uns mal weiter gehen und die Arbeit beenden“, sagte er mit ruhiger Stimme und setzte den Weg fort.

Alyssa nickte bekräftigend und folgte ihm weiter bis sie London fast verlassen hatten. Nur noch vereinzelt standen Häuser in der Landschaft. Der Schnee hatte den Weg verschluckt. Die Straße war also komplett verschwunden. Die Bäume wirkten, als wären sie mit Puderzucker überzogen fast wie aus einem Traum.

Ohne die schützenden Häuser der Stadt war der Wind auf der offenen Landschaft noch Kälter und beißender auf der Haut.

Das Blut zeigte ihnen deutlich den Weg.

Langsam wurde Alyssa jedoch nervös. Es war das erste Mal, dass sie jemanden zusah, wie er starb. Sie hatte sich am Anfang gefreut und gedacht, es würde sogar aufregend werden, doch nun beschlich sie das Gefühl, nicht bereit dafür zu sein und wäre am liebsten Rückwärts zurück nach Hause gelaufen.

Aber es ging nicht. Sie musste es nun durchstehen. Wenn sie jetzt kniff, würde sie jegliche Achtung bei Undertaker verlieren, sollte sie jemals welche bei ihm gehabt haben. Alyssa könnte ihm dann nie wieder in die Augen sehen. Auch könnte sie ihren Kollegen nicht mehr in die Augen sehen und sich selbst schon gar nicht.

Undertaker blieb stehen. Mit einer Hand gebot er ihr ebenfalls stehen zu bleiben.

Verwirrt hielt sie neben ihn an und sah fragend zu ihm auf.

„Wir sind da“, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage.

Alyssa sah sich um. Sie konnte Niemanden entdecken. Lediglich ein Schrei von einem Baby drang an ihr Ohr. Ihr Herz pochte. Es würde doch wohl nicht das Baby sein, das sterben musste? War es nicht zu grausam einen Schüler gleich so einen Tod vorzusetzen?

Hart schluckte sie und biss sich auf die Unterlippe. Was würde passieren, wenn es so war und sie zusehen musste, wie ein unschuldiges Kind starb?

„Bleiben Sie hier stehen und rühren Sie sich nicht vom Fleck“, sagte er. „Es ist besser, wenn sie beim ersten Mal nicht allzu nahe dabei sind. Außerdem gab es hier irgendwo einen See und ich möchte nicht, dass Sie hineinfallen während ich arbeite.“

Ein Stein fiel ihr vom Herzen. Sie würde also in einem sicheren Abstand bleiben. Erleichtert atmete sie aus, während Undertaker weiter ging.

Seine Schritte knirschten auf dem Schnee und hinterließen frische Spuren.

Unsicher was sie tun sollte, wippte sie mit den Füßen auf und ab und ging ein paar Schritte zurück, um noch mehr Abstand zwischen sich und dem baldigen Geschehen zu bringen.

Undertaker kniete sich in den Schnee und grub ein wenig davon zur Seite.

Der Schrei des Babys wurde lauter und Alyssa wurde bewusst, dass dort jemand lag, den der Schnee verdeckte.

Alyssa reckte den Hals, um mehr sehen zu können und schon im nächsten Augenblick setzte Undertaker den leblosen Körper einer Frau hoch.

Sie war blau angelaufen und der Körper hatte sich versteift. In ihren Armen hielt sie ein blutiges Tuch mit dem Neugeborenen darin. Undertaker strich ihr ein paar Haare aus dem Gesicht.

Es war fast schon zärtlich und Alyssa biss sich auf die Unterlippe, während sich ihre Hand zur Faust ballte.

In ihrem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus.

Sie wusste, es hatte nichts zu bedeuten und er trat nur seine Arbeit, aber dennoch konnte sie den Anblick nicht ertragen, wie er die Frau berührte.

Alyssa war eifersüchtig auf jemand totes!

Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie sich dafür selbst in den Hintern getreten. Es war dumm und kindisch. Wenn sie sich weiter so benahm, würde sie selbst nach ihrer Ausbildung keine Chance bei ihm haben.

Sie ging wieder ein paar Schritte rückwärts. Der Schnee knirschte laut.

„Bleiben Sie stehen!“, rief Undertaker ihr zu und sie hielt inne. Er zog seine Sense und stieß damit in ihrem Leib.

Sofort stiegen unzählige Cinematic Records auf und die Sense sog sie in sich auf wie ein Schwamm das Wasser.

Alyssa starrte auf die Stränge und ihr Mund klappte auf.

Dieser Anblick war überwältigend und traurig zugleich.

Was würde mit dem Kind geschehen? Würde es ebenfalls sterben noch ehe es überhaupt eine Chance hatte zu leben? Oder würde er es mitnehmen und dafür sorgen, dass jemand es aufnahm? Wo würde er es hinbringen?

In ihren Augen bildeten sich Tränen und sie wandte den Blick ab. Wieder ging sie ein paar Schritte zurück. Sie wollte Abstand zwischen sich und dem Geschehen bringen, noch mehr als ohnehin schon bestand.

„Bleiben Sie stehen!“, rief ihr Undertaker erneut zu. Er sah sie mahnend und besorgt an. Es wirkte, als würde er aufspringen wollen, um zu ihr zu laufen, aber das war sicherlich nur Einbildung. Undertaker wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Lebenserinnerungen zu und wartete darauf, dass auch die Letzte genommen war.

Er legte den Körper zurück in den Schnee und ging wieder auf Alyssa zu.

Das Kind schrie immer noch.

„Was…was ist mit dem Baby?“, fragte sie vorsichtig und wischte sich ein paar Tränen aus dem Augenwinkel.

„Es steht nicht auf meiner Liste. Also geht es uns nichts an“, antwortete er kühl.

„Was? Aber es wird sterben, wenn es dort liegen bleibt!“ Wie konnte er nur so herzlos sein?

„Dann wird es ein Kollege abholen. Unsere Arbeit ist beendet. Wir haben hier nichts mehr zu Suchen.“

„Aber…“ Sie machte Anstalten wieder ein Stück zurück zu weichen. Alyssa konnte nicht glauben, dass sie einfach so gehen und das Baby alleine in der Kälte zurück lassen sollten. „Können wir denn nichts tun?“

Undertaker schüttelte den Kopf. „Nein. Wir dürfen uns nicht allzu sehr in das Schicksal der Menschen einmischen und jetzt bleiben Sie stehen!“

„Das glaub ich nicht! Wir müssen etwas tun! Wir müssen es irgendwohin bringen!“

Undertaker schüttelte erneut den Kopf. „Das ist uns nicht erlaubt und jetzt bleiben Sie bitte stehen!“

Alyssa wich vor ihm zurück und ihre nassen Haare peitschten ihr ins Gesicht als sie den Kopf schüttelte.

„Bleibe Sie stehen, bitte!“ Seine Stimme wurde lauter und Alyssa schreckte zusammen.

Ein lautes Knacken erfüllte die Luft und Undertakers Augen weiteten sich. „Kommen Sie sofort her! Da ist der…“

Der Rest des Satzes ging in einem weiteren Knacken unter, gefolgt von einem lauten platschen.

Alyssa schnappte nach Luft, doch anstatt Sauerstoff schluckte sie eiskaltes Wasser. Ihr Herz setzte für einige Sekunden aus und fing an stark zu pochen. Panik breitete sich in ihrem Körper aus während sich das Wasser wie tausend stechende Nadeln anfühlte. Sie wollte nach oben schwimmen, doch konnte sich kaum bewegen. Die Kleidung war schwer und hatte sich vollgesaugt. Sie zog sie unbarmherzig nach unten.

Davor hatte Undertaker sie also warnen wollen. Deshalb hatte er immer wiederholt sie solle stehenbleiben. Er hatte extra den See erwähnt. Aber sie hatte nicht auf ihn gehört!

Alyssa fluchte über sich selbst.

Etwas packte sie am Arm und zog sie an die Oberfläche.

Prustend holte sie Luft und spuckte Wasser aus.

Undertaker hatte ihr Handgelenk fest umschlossen. Er lag flach auf dem Bauch auf dem gebrochenen Eis. Er hielt sie eisern fest und rutschte langsam zurück zum sicheren Ufer, während er sie aus dem Eis zog.

Zum Glück war er da und hatte sie heraus ziehen können.

Keuchend und zitternd ließ sie sich auf dem festen Boden am Ufer fallen.

„Ich sagte doch, Sie sollen stehen bleiben.“ Undertaker klang vorwurfsvoll.

„Tut mir leid…“, keuchte sie und hustete. Ihre Lunge brannte vor Schmerz und sie hatte Mühe zu atmen. „Danke….“

„Wir sollten zurück zur Society ehe Sie sich einen Schnupfen holen. Können Sie laufen?“, fragte er und reichte ihr die Hand, damit sie aufstehen konnte.

Wenn ihr nicht so kalt gewesen wäre, hätte sie innerlich vor Freude aufgeschrien, weil sie seine Hand nehmen durfte. Aber sie war nass bis auf die Knochen und fror. Jetzt bräuchte sie umso sehr ein warmes Bad, Kekse und einen Tee.

Schwankend stand sie an dem Ufer und klammerte sich mit beiden Händen an ihren Mentor fest, um nicht umzufallen.

Undertaker war warm und wehrte sich nicht dagegen, dass Alyssa sich an ihm fest hielt. Im Gegenteil. Er stützte sie mit beiden Händen ab.

Ein Glücksgefühl breitete sich in ihrem Körper aus.

Ihr Mentor war also nicht so kalt wie er tat. Er hatte auch eine nette Seite.

„Kommen Sie, ich trag Sie zurück. Dann geht es schneller.“ Ohne weiter ein Wort zu sagen, hob er sie auf seine Arme und trug sie den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Das Baby war vergessen.

Alyssa schwebte auf Wolke sieben.

So nahe war sie ihrem Mentor in der ganzen Zeit nicht gekommen und ihr Herz pochte vor Nervosität. Sie drückte sich näher an ihn heran. Undertaker war warm und am liebsten wäre sie in seinem Arm eingeschlafen, aber sie wusste, wenn sie einschlief, könnte sie erfrieren. Sie musste wach bleiben.

Vorsichtig sah sie zu ihrem Mentor auf und begegnete seinem kühlen Blick.

Sofort wich jede Freude. Aber hatten sich seine Pupillen für einen Moment geweitet? Fühlte er sich so unwohl dabei, sie zu tragen? Warum trug er sie dann?

Die Berührung seiner Hände ging ihr unter die Haut und die Wärme kribbelte auf ihrem kalten Körper. Er machte sie noch immer Nervös und sie vergrub ihr Gesicht an seine Brust.

Alyssa konnte seinen Herzschlag spüren.

Stark und kräftig schlug es in seiner Brust. Ein wenig zu schnell und zu aufgeregt als würde es tanzen.

Es war sein Herzschlag, den sie spüren und hören konnte.

Fasziniert lauschte sie dem Pochen und legte eine Hand auf die Stelle.

Ihr Herz schlug fast genauso schnell wie seines, aber nur fast. Ihres schlug doch um einiges schneller als seines.

Sie wusste genau, dass es nicht nur an der Kälte lag, sondern auch an dem Mann, den sie liebte und der sie gerade in seinen Armen trug.

„Ist mein Herzschlag so faszinierend?“

Alyssa schreckte auf und sah in Undertakers amüsiertes Gesicht.

Sofort röteten sich ihre Wangen.

„Haben Sie etwa gedacht, ich habe kein Herz?“

Hatte sie das gedacht? Hatte sie es geglaubt?

Alyssa hatte ihn immer als kühl und unnahbar empfunden, doch sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht. Manchmal hatte sie sogar im Spaß gedacht, er sei ein Mann ohne Bedürfnisse. Denn sie sah ihn nie in der Mensa essen und er war immer zuerst im Büro und ging auch erst nach ihr.

Wenn Alyssa genau darüber nachdachte, kannte sie ihn nur mit der Arbeit. Sie hatte versucht, sich Undertaker schlafend vorzustellen oder beim Essen und das war schon ein verstörender Gedanke gewesen. Ihn mit einer Frau oder in anderen Dingen zu sehen, hatte sie erst gar nicht versucht.

Aber dort war der Beweis, dass er ein Wesen wie sie war. Der Beweis war in seiner Brust und schlug gesund und kräftig. Der Herzschlag war unter ihrer Hand und er war lebendig.

Während des ganzen Rückweges konnte sie es spüren und verglich es immer wieder mit ihrem eigenen und als sie zurück auf dem Gelände der Shinigami Dispatch Society waren, wollte Alyssa am liebsten im Boden versinken.

Alle starrten sie an, denn jeder sah ihren Mentor an. Es war auch nicht einfach ihn zu übersehen, was nicht an seiner Kleidung oder den langen Haaren lag, sondern an der Tatsache, dass er der beste Shinigami in der Society war.

Alyssa fühlte sich immer unwohler in seinen Armen, doch er würde sie auch den Rest des Weges zum Wohngebäude tragen. Ihn störte es nicht, dass er von den Kollegen gemustert wurde.

Sie machte sich so klein wie möglich in Undertakers Armen und sah auf seinen Mantel als wäre das Webmuster das Interessanteste, was sie je gesehen hatte. Ihre langen weißen Haare bildeten einen guten Vorhang, damit niemand ihr rotes Gesicht sehen konnte.

Ein Shinigami begrüßte und Undertaker. „Kommen Sie auch nachher zum Fest?“

Undertaker schüttelte den Kopf.

„Wollen Sie etwa arbeiten?“, fragte der Kollege verblüfft.

„Nein, ich werde mich um Miss Campell kümmern. Sie ist bei ihrem ersten Ausflug in die Menschenwelt in einen See eingebrochen. Der Bericht muss auch noch fertig werden.“

„Ah, verstehe. Aber ein bisschen Spaß sollten Sie sich trotzdem gönnen.“

Undertaker nickte, sah jedoch nicht begeistert aus, dass der Shinigami ihn darüber belehren wollte, dass er zu viel arbeiten würde.

„Nun gut, dann wünsche ich Ihnen ein gutes Fest und schöne Ferien. Wir sehen uns dann im neuen Jahr.“

Der Kollege verabschiedete sich und Undertaker brummte eine Verabschiedung.

Alyssa versuchte sich noch kleiner zu machen und starrte weiterhin auf den Mantel ihres Mentors.

Überall hörte sie Begrüßungen und Fragen zum Fest und den Ferien.

Die Shinigami der Society schienen dieses Jahr ganz versessen auf den alljährlichen Weihnachtsball und die damit verbundenen Ferien.

Die Society war geschmückt und überall leuchteten Kerzen. Der Duft von Tannengrün hing in der Luft und an den Treppengeländern du Fenstern sah man grüne Kränze mit einer großen roten Schleife.

Die Dame am Empfang der Society hatte einen kleinen Teller mit Gebäck auf dem Tisch stehen, das nach Zimt roch und einen fruchtigen Tee. Auch ein kleiner Blumentopf mit einem Weihnachtsstern stand dort.

Im Eingang war eine große Tanne aufgebaut, die mit ein paar bunten Kugeln und Lametta geschmückt war. Im Flur des Wohngebäudes stand ebenfalls ein geschmückter Baum.

Von den Fenstern hingen lange Eiszapfen gefährlich herunter. Sie wirkten wie lange Speere.

Über der Eingangstür zum Wohngebäude hing ein Mistelzweig, den beide geflissentlich ignorierten.

Alyssa hatte nur kurz aufgesehen und schnell wieder den Blickgesenkt, ehe in ihrem Kopf eine Vorstellung entstand, die eh nicht eintreffen würde. Sie durfte nicht dran denken, sonst schlug ihr Herz wieder als wäre sie einen Marathon gelaufen.

Irgendjemand hatte kleine Schellen aufgehängt, so dass diese jedes Mal klingelten, wenn die Eingangstür geöffnet wurde.

Eine Gruppe bestehend aus Kolleginnen kam ihnen entgegen.

Sie waren alle schon in ihren Abendkleidern, rochen nach frischer Seife und Make-up zierte ihre Gesichter. Ein leichter Duft von Parfüm lag in der Luft.

Die Frauen lachten, begrüßen Undertaker und warfen ihm verliebte Blicke zu. Ein paar von ihnen riefen „Bis später“ zu, doch Alyssas Mentor gab keine Antwort.

Er stieg die Treppe hoch und sagte kein Wort.

Alyssa starrte auf das Webmuster des Mantels, ohne wirklich etwas zu sehen.

Undertaker sprach nun wieder kein Wort und hatte seine Schultern gestrafft. Er war so kühl und distanziert wie vor dem kleinen Unfall.

Aber sie traute sich nicht zu sagen. Wieder war Alyssa viel zu Nervös, um auch nur ein kleines Wort heraus zu bringen.

Ging es Undertaker vielleicht ähnlich? Oder wollte er nur so tun als wäre alles normal?

Alyssa wünschte sich inzwischen, sie könnte in ihrem Zimmer sein. Nur sie und er alleine. Er könnte sie dann weiter im Arm halten. Aber was dachte sie da?

So etwas würde nie geschehen. Sie würde nie alleine mit ihm sein und er würde sie nie privat im Arm halten. Sicherlich würde er sie vor ihrer Zimmertür absetzten und alleine stehen lassen.

Seine Arbeit war dann getan. Er hatte seine Schülerin sicher zurück in die Society gebracht. Mit Sicherheit würde er sich in sein Büro verkriechen und die Berichte schreiben.

Ihr Herz wurde schwer, wenn sie daran dachte, dass er sie gleich alleine lassen würde. Alyssa zählt ein Gedanken die Etage, die er bereits hochgegangen war.

Nur noch drei Etagen und seine Arme würden sie nicht mehr länger tragen. Nur noch drei Etagen und sie würde seinen Herzschlag nie wieder hören.

Nur noch zwei Etagen und er würde sie absetzten. Nur noch zwei Etagen und Undertaker würde ihr sagen, sie solle in ihr Zimmer gehen.

Nur noch eine Etage und sie würden sich verabschieden. Nur noch eine Etage und sie würden sich bis zum neuen Jahr nicht mehr sehen.

Alyssas Hand grub sich in ihren Wintermantel, der noch immer nass was und erst jetzt fiel ihr auf, wie kalt sie eigentlich war. Auch bemerkte sie, dass sie zu zittern angefangen hatte ohne es zu merken.

Undertaker sah zu ihr herab bis sie ihn ebenfalls ansah.

„Können Sie den Rest laufen?“, fragte er leise.

Vorsichtig nickte Alyssa und er ließ sie herunter.

Sie standen vor seiner Zimmertür und er schloss auf.

Alyssa war verwirrt.

Wieso hatte er sie nicht vor ihrer Zimmertür abgesetzt, an der sie vorbeigelaufen waren? Wollte er, dass sie mit in sein Apartment ging oder sollte sie sich verabschieden und in ihr Zimmer gehen?

„Was stehen Sie da rum?“, fragte Undertaker mit einem kalten Unterton in der Stimme. „Kommen Sie rein und machen Sie die Tür zu!“

Alyssa schritt über die Schwelle während er das Licht anschaltete.

Sie hatte sich inzwischen an die blassen Farben in seinem Büro gewöhnt und die Ordnung die dort herrschte. Seine Wohnung war genauso blass und unpersönlich.

Es gab kaum Farbe in dem Zimmer und es gab keine persönlichen Gegenstände. Nur ein paar Bücher und Papiere lagen auf dem Schreibtisch.

Es gab keinerlei Unordnung in dem Wohnzimmer. Die Sofakissen waren ordentlich aufgereiht und eine Decke lag zusammengefaltet am einen Ende der Sitzgelegenheit.

Kein Staubkorn befand sich auf dem Schrank und kein Fussel auf dem Boden.

So viel Ordentlichkeit behagte Alyssa ganz und gar nicht.

Es machte sie Nervös und sie hatte den Eindruck in einer perfekten Welt zu sein. In ihrem Kopf tauchten dann Fragen auf, ob sie sich überhaupt setzten durfte oder ob sie überhaupt etwas essen durfte, weil sie damit wohl Unordnung machen würde.

Alyssa hatte das Gefühl allein dadurch, dass sie in der Tür stand die Wohnung dreckig zu machen.

Sicherlich sahen die anderen Räume genauso sauber aus, dass man beinahe vom Boden essen konnte.

Undertaker verschwand in ein Nebenzimmer.

Alyssa hatte ein Teil von einem Schrank gesehen und ein ordentlich gemachtes Bett.

Dort war also das Schlafzimmer.

Neugierig sah sie sich um und überlegte, ob sie sich setzten sollte immerhin war sie noch immer nass bis auf die Knochen.

Am Fensterbrett standen ein paar Topfpflanzen, die ein wenig Farbe in das kahle Zimmer brachten.

Undertaker kam aus dem Schlafzimmer zurück.

„Was stehen Sie da rum? Ab mit Ihnen ins Badezimmer und unter die heiße Dusche oder wollen sie krank werden?“

„Aber…das…ich kann auch bei mir duschen…“, nuschelte sie verlegen.

Alyssa konnte es kaum glauben, dass sie tatsächlich bei Undertaker in der Wohnung stand und auch noch bei ihm duschen sollte.

„Nein“, sagte Undertaker bestimmt und ging ins Badezimmer. „Mit einer Unterkühlung ist nicht zu spaßen und ich will ein Auge auf sie haben. Der Papierkram wird die Hölle sein, wenn Ihnen etwas passiert.“

Es ging ihn also nur darum, dass er keinen Rechenschaftsbericht ablegen musste.

„Wo bleiben Sie?“, fragte er aus dem Badezimmer. „Kommen Sie her und gehen sofort unter die Dusche!“

Alyssa gehorchte widerwillig.

Das Badezimmer war genauso sauber, wie das Wohnzimmer und auf einer Ablage lagen frische Handtücher.

Alles wirkte wie neu, so als ob der Besitzer es nie benutzen würde.

Undertaker klopfte auf die Handtücher.

„Damit können Sie abtrocknen, wenn Sie fertig sind. Ihre nasse Kleidung könne sie nachher mir geben. Ich werde sie dann aufhängen und während sie trocknet, ziehen Sie das hier an.“ Er deute auf ein paar trockene Kleidungsstücke, die er aus dem Schlafzimmer geholt hatte. „Während Sie unter der Dusche sind, werde ich ein wenig Tee kochen. Das wird Sie zusätzlich wärmen.“

Undertaker verließ mit diesen Worten das Badezimmer und schloss die Tür hinter sich.

Etwas unbeholfen stand Alyssa in dem Raum und traute sich kaum, sich zu bewegen.

Es machte ihr ein wenig Angst, dass ihr Mentor so nett war und sich so um sie Sorgte. Das war untypisch für ihn und fremdartig.

In Gedanken versuchte sie sich zu erinnern, ob er jemals so besorgt um sie war oder ob er jemals so viel mit ihr gesprochen hatte wie am heutigen Tage. Doch Alyssa konnte sich nicht erinnern, dass es je so gewesen war.

Immer war er wortkarg und distanziert.

Der Einbruch ins Eis hatte doch sein Gutes gehabt und ohne diesen kleinen Unfall wäre sie ihm sicherlich nicht so nahe gekommen.

Alyssa musste grinsen und unterdrückte ein freudiges Kichern.

Laut klopfte es an der Tür und sie schreckte zusammen. Ihr Herz setzte für einen Moment aus.

„Miss Campell, ich höre die Dusche nicht. Gehen Sie unter die Dusche und wärmen sich auf!“ Undertaker klang ungeduldig und herrisch.

„Ja!“, rief sie zurück und fragte sich, ob ihr Mentor wirklich glaubte, dass sie eine Erinnerung bräuchte, weshalb sie in seinem Badezimmer in triefnassen Kleidern stand.

„Dann beeilen Sie sich!“, rief er zurück und klang ungeduldig.

Alyssa traute ihm durchaus zu, dass er solange vor der Tür stehen würde bis er das Wasser der Dusche hören würde. Vorher würde er sicherlich keine Ruhe geben. Wenn er nicht ihr Mentor wäre und ein Mann, war sie sich sicher, würde er sogar im Badezimmer stehen und zusehen, dass sie auch wirklich anständig warm duschte.

Bei diesem Gedanken errötete Alyssa und verwarf diesen Gedanken schnell, ehe er in eine Richtung ging, die nicht jugendfrei war.

Sie schüttelte den Kopf und merkte, wie ihre Wangen glühten. Eine Dusche bräuchte sie jetzt sicherlich nicht mehr, aber Alyssa konnte ihm schlecht sagen, wieso nicht mehr und selbst wenn sie es konnte, würde er auf eine Dusche bestehen. Vielleicht sogar eine kalte.

Schnell zog sie den nassen Schal von ihrem Hals und den schweren Mantel aus. Dicke Wassertropfen fielen auf die Fliesen und bildeten schnell eine Pfütze.

Alyssa legte ihre Brille auf das Waschbecken ab und zog ihre Bluse, Krawatte, Schuhe, Strümpfe, den nassen Rock und die Unterwäsche aus.

Sie legte die Sachen auf einen Haufen in die Ecke, um nicht viel Unordnung zu verursachen und das Badezimmer mit unnötig vielen nassen Pfützen aus Eiswasser zu füllen. Undertaker würde sie sonst mit Sicherheit zum Putzen verdonnern und darauf hatte sie absolut keine Lust.

Alyssa stieg in die Dusche und stellte das Wasser auf eine angenehme Temperatur.

Obwohl es nur lauwarm war, fühlte es sich auf ihrer kalten Haut kochend heiß an und von der Kälte waren einige Körperstellen rot angelaufen. Sie hatte die Kälte kaum bemerkt.

War Undertaker vielleicht früher auch einmal im Eis eingebrochen, dass er wusste, wie schlimm eine Unterkühlung war? War das der Grund, wieso er sie beobachten wollte?

Eine andere Erklärung fiel ihr nicht ein, warum er sich sonst solche Sorgen machen sollte.

Aber konnte sie nicht auch in ihrem Zimmer duschen und konnte er sie nicht auch dort beobachten?

Wenn Alyssa genau darüber nachdachte war es keine so gute Idee.

Ihr Zimmer war nicht ganz so aufgeräumt und steril, wie das ihres Mentors. Es lagen ein paar Kleidungsstücke herum und in ihrer Küchennische stand noch das schmutzige Geschirr vom letzten Backen. Im Badezimmer lagen auch schmutzige Handtücher auf dem Boden vom Morgen und eine schmutzige Uniform, die sie noch waschen musste.

An ihr Schlafzimmer wollte sie nicht denken.

Das Bett war gar nicht gemacht und ein paar Bücher lagen auf dem Nachttisch und dazu ein Teller mit Kekskrümeln.

Wenn Alyssa es also genau überdachte, war es also gar nicht so schlecht, dass sie bei ihm war.

Das warme Wasser lief weiterhin über ihren kalten Körper und wärmte sie auf, während sie sich fragte, wie Undertaker wohl auf ihr geordnetes Chaos reagieren würde, sollte jemals ihr Apartment betreten.

Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen als sie sich seinen entsetzten Gesichtsausdruck vorstellte.

Alyssa stellte die Temperatur des Wassers ein wenig höher ein und griff zur Ablage für die Seife. Doch da lag keine Seife, die nach Lilien und Patchouli duftete, wie bei ihr im Badezimmer. Stattdessen griff sie nach einer Flasche mit flüssiger Seife.

Vorsichtig nahm sie die Flasche mit der Seife in die Hand und sah sich nach allen Seiten um, als ob ihr Mentor gleich auftauchen würde, um sie auszuschimpfen, dass sie seine Sachen anfasste.

Zögerlich schnupperte sie daran.

Es roch nach Zitrone und sehr erfrischend, aber auch ein leichter Geruch von etwas erdigem mischte sich darunter. Alyssa konnte nicht sagen, was es war, aber es roch angenehm und männlich.

Unweigerlich fragte sie sich, ob Undertaker jemals so gerochen hatte, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass er nach Zitrone der dergleichen gerochen hatte. Wenn sie darüber nachdachte, war sein Geruch immer sehr dezent und so gut wie gar nicht da. Meist erinnerte sein Duft an feuchte Erde.

Gedankenverloren starrte sie auf ihre Handfläche, wo das flüssige Shampoo zu verlaufen begann.

Ein ungeduldiges Klopfen riss sie aus den Gedanken und Alyssa drehte den Kopf zur Tür.

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen da drin, Miss Campell?“, rief Undertaker durch die Tür und klopfte abermals. „Ich hoffe, Sie haben nicht vor, das fortzuführen, was sie im eiskalten See begonnen haben. Die Duschkabine ist nicht tief genug, um sich darin zu ertränken, sollten Sie auf dumme Gedanken kommen.“

„Ich bin gleich fertig“, rief sie zurück und war verwirrt. Hatte ihr Mentor gerade versucht einen Witz zu machen? Wollte er sie vielleicht aufheitern oder zum Lachen bringen?

Alyssa rieb sich mit der Seife ein und beschloss bei nächster Gelegenheit in der Stadt danach Ausschau zu halten. Es roch wirklich gut und angenehm.

Schnell spülte sie den Schaum ab und stellte das Wasser ab ehe sie aus der Duschkabine stieg. Sie griff nach einem Handtuch auf der Ablage und trocknete sich damit schnell ab bevor es kalt werden würde.

Erst jetzt besah sie sich die Kleidung, die ihr Mentor für sie bereit gelegt hatte.

Es war eine schlichte lange dunkle Hose und ein dicker Rollkragenpullover. Die Kleidung war um einige Nummern zu groß und zu lang für sie, doch Alyssa hatte keine andere Wahl, wenn sie nicht im Handtuch oder gar nackt vor ihrem Mentor stehen wollte.

Sie zog sich die viel zu großen Sachen an und krempelte die Hosenbeine mehrmals um, damit sie nicht über den Stoff stolperte. Dennoch war ihr die Hose immer noch viel zu lang. Der Hosenbund rutschte ihr von der Hüfte und sie musste aufpassen, dass die Hose nicht gänzlich runter rutschte. Der Rollkragenpullover war nicht viel länger und hätte von der Länge ein kurzes Kleid sein können. Die Ärmel hingen über ihren Händen und auch hier krempelte sie den überflüssigen Stoff soweit zurück wie es nur ging.

Die Haare hingen ihr feucht auf den Schultern und würden an der Luft trocknen.

Alyssa nahm ihre Brille und ging aus dem Badezimmer heraus.

Ihr Mentor kam gerade mit einem Tablett Tee ins Wohnzimmer und lächelte sie an.

Sie traute ihren Augen nicht.

Träumte sie oder spielten ihre Augen ihr einen Streich? Sollte sie vielleicht in die Brillenabteilung gehen und einen Sehtest machen, ob sich ihre Sehstärke verändert hatte?

Undertaker, der Mann ihrer schlaflosen Nächte, lächelte sie an!

Irgendetwas ging nicht mit rechten Dingen zu. Seit wann scherzte er? Seit wann lächelte er und seit wann sorgte er sich um sie oder sprach ein Wort mit ihr? War sie vielleicht krank und der Arzt von der Krankenstation hatte vergessen ihr etwas zu sagen?

„Setzen Sie sich“, sagte ihr Mentor und wies mit einer einladenden Geste auf den freien Platz neben sich.

Langsam bewegte sie sich auf das Sofa zu und hielt dabei den Hosenbund ordentlich fest, während sich die Ärmel lösten und der Stoff über ihren Händen hing.

Auch die umgekrempelte Hose löse sich an den Beinen und sie merkte, wie sie mehrmals auf den Saum trat und drohte zu stolpern. Zum Glück fiel sie nicht hin, sondern konnte jedes Mal ihr Gleichgewicht halten.

Undertaker schüttelte den Kopf und griff mit einem Schmunzeln zur Decke neben sich.

Sobald Alyssa sich gesetzte hatte, breitete er die Decke aus und legte sie ihr um die Schultern, so dass sie sich darin einkuscheln konnte.

Auf dem Tisch vor ihr stand eine dampfende Tasse mit Tee.

Undertaker griff nach ihren Händen und krempelte mit schnellen Handgriffen den Stoff wieder um, so dass sie ihre Hände frei nutzen konnte. Dasselbe tat er mit dem überschüssigen Saum der Hose.

„So wie es aussieht, müssen sie noch jede Menge Spinat essen, um in die Kleidung zu passen“, witzelte er und nahm seine Tasse Tee zur Hand.

Alyssa konnte nicht anders als ihren Mentor verblüfft anzustarren und in die Augen zu sehen, die hinter der Brille versteckt waren. Ein wehmütiger Seufzer entglitt ihr.

„Das war nur ein Spaß. Kein Grund zum Seufzen“, sagte er schnell und deutete ihre Reaktion als traurig. „Ich weiß, dass Ihnen meine Kleidung zu groß ist, aber zum aufwärmen sollte es reichen bis Ihre trocken ist. Es ist besser als gar nichts.“

Alyssa nickte geistesabwesend und trank einen kleinen Schluck Tee.

„Jetzt kommen Sie, Miss Campell. Ich beiße Sie schon nicht.“

„Ich glaube, Sie wurden von etwas gebissen“, gab sie zurück und schlug sofort die Hand vor den Mund. „Oh…es…es tut mir leid…es ist mir so rausgerutscht…“

Undertaker sah sie überrascht an, fing aber kurz darauf an zu lachen. „Vielleicht hat mich ja wirklich was gebissen. Aber trinken Sie erst mal Ihren Tee.“

Wieder nickte Alyssa und nahm einen weiteren Schluck aus der Tasse.

„Warum durften wir dem Baby nicht helfen?“, fragte sie nach einem Moment des Schweigens und sah in die Tasse.

„Weil wir uns damit in das Schicksal dieses Kindes einmischen würden. Das ist uns leider nicht erlaubt. Wir würden eine sehr hohe Strafe bekommen, wenn wir das tun würden“, erklärte er.

„Verstehe“, seufzte Alyssa und stellte die Tasse zurück auf den Tisch. „Ich hätte dem Kind nur gerne geholfen.“

„Ich auch, aber wir müssen uns auch an die Regeln halten“ Vorsichtig strich er ihr über den Kopf und fuhr mit den Fingern zwischen ihrer schwarzen Strähne entlang.

„Es ist aber ungerecht…“ Sie musste an das Kind denken, was wohlmöglich noch immer in der Kälte lag und Schrie. Aber vielleicht war es auch mittlerweile erfroren und ein Kollege hatte es abgeholt. Bei dieser Vorstellung bildeten sich Tränen in ihren Augen und sie musste schluchzen.

„Es ist immer hart, jemanden sterben zu sehen und nichts für die Hinterbliebenen tun zu können“, sagte ihr Mentor und legte den Arm um ihre Schulter, damit sie sich an seiner Brust ausweinen konnte. „Besonders das erste Mal ist hart. Es ist also in Ordnung, wenn Sie weinen.“

Sie nickte stumm und schniefte lautstark. Aber das Baby war nicht der einzige Grund, weshalb sie weinte.

Alyssa hatte immer den Gedanken verdrängt, dass sie nie eine Chance bei ihm haben würde. Sie wusste genau, dass sie zu unterschiedlich waren. Er war viel zu alt für sie und viel zu versessen auf die Arbeit als dass er sich jemals für sie interessieren würde.

Dieser Gedanke hatte sich in den letzten Stunden immer mehr in ihr Bewusstsein gebohrt und es schmerzte.

„Hier.“ Undertaker hielt ihr ein weißes Taschentuch vor die Nase. „Putzen Sie sich die Nase und trocknen sich die Tränen. Es ist alles ok und es ist nichts dabei, wenn Sie weinen.“

„Warum sind Sie so nett zu mir?“, fragte sie und wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen. Sofort bildeten sich neue Tränen. Was tat sie eigentlich? Sie weinte sich bei dem Mann die Augen aus, der der Grund war, weshalb sie weinen musste, auch wenn ihm das selbst gar nicht bewusst war. „Sie sind doch sonst nicht so freundlich zu mir.“

„Sie sind meine Schülerin“, antwortete er und zog die Schultern hoch. Undertaker griff zur Tasse und trank daraus. „Wenn ich ehrlich bin, sind Sie sogar meine erste Schülerin.“

Alyssas Augen weiteten sich.

Sie hatte immer gedacht, Undertaker hatte schon mehrere Schüler gehabt.

„Hatten Sie also vor mir keine Schüler? Wieso nicht?“, fragte sie.

„Weil ich keine wollte.“

„Warum haben Sie sich dann als Mentor gemeldet?“

„Weil jeder Shinigami mindestens einen Schüler gehabt haben muss und damit die Obersten endlich Ruhe geben, hab ich mich eben dieses Jahr dazu gemeldet.“ Er zog die Schultern hoch und trank erneut einen Schluck.

Alyssa sah auf die Tischplatte.

Er hatte also wirklich kein Interesse an ihr. Undertaker hatte nicht mal wirkliches Interesse daran, sie zu unterrichten. Wie sollte er da Interesse an ihr haben sowohl als Schülerin als auch als Frau.

„Sind Sie deshalb so kühl und abweisend zu mir?“, wagte sie zu fragen und umklammerte die Teetasse. „Warum beantragen Sie denn nicht, dass mir ein anderer Mentor zugewiesen wird, wenn Ihnen meine Ausbildung egal ist?“

Ein Schnauben entfuhr ihm. „Sie haben ja keine Ahnung.“

„Wenn Sie den Mund nicht aufmachen, kann ich auch schlecht eine haben“, konterte sie zurück und in diesem Augenblick war es ihr egal, dass er ihr Mentor war.

Sie ließ ihn nicht aus den Augen und wartete auf eine Reaktion.

Er wirkte gequält, als würde er mit sich ringen. Ein Seufzer entfuhr ihm.

„Ich hasse es, was Sie mit meinem Leben anstellen“, sagte er ruhig und sah stur auf die Wand gegenüber.

„Was…ich mit…Ihrem Leben…anstelle?“, wiederholte sie ungläubig.

„Ist hier irgendwo ein Echo?“

„Was stelle ich denn mit Ihrem Leben an?“

„Sie stellen es auf den Kopf. Ganz einfach.“

„Warum lassen Sie es denn zu, wenn ich Ihnen eh egal bin?“

„Egal?“, schnaubte er und sah sie direkt an. In seinem Blick lag Wut, aber nicht auf sie. Er seufzte leise und verdrehte die Augen. Seine Haltung verriet Resignation. „Sie sind laut, aufdringlich, neugierig, fröhlich, witzig…Manchmal sind Sie die reinste Pest, wenn Sie versuchen nicht aufzufallen und dabei kläglich scheitern, weil sie zum Beispiel nicht widerstehen können Ihre Kekse zu essen. Aber egal…egal waren Sie mir von Anfang an nicht.“

Alyssas Herz schlug mit jedem Wort schneller und ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Hart schluckte sie und wusste nicht, was sie daraufhin sagen sollte. In ihrem Magen kribbelte es.

„Was ich damit sagen will…“, begann er und zog sie näher zu sich.

Alyssa zog die Luft ein und hielt den Atmen gespannt an.

Sie waren sich so nahe, dass sich ihre Gesichter fast berührten.

„Müssen…müssen Sie nicht zum Weihnachtsball?“, fragte sie schnell und hoffte, die Atmosphäre zu lockern.

„Ich gehe nicht hin. Dieser ist nicht anders als die anderen davor auch“, antwortete er und verzog bei dem Gedanken das Gesicht. Undertaker machte keine Anstalten sie los zu lassen. Sein warmer Atem streifte ihr Gesicht. „Was wollte ich eigentlich sagen? Ach ja…Sie sind mir wirklich nicht egal. Ich mag Sie.“

Alyssa konnte kaum noch denken. Das Kribbeln erfüllte ihren ganzen Körper und lähmte sie.

Sie war ihrem Mentor viel zu nahe, sie war ihm so nahe, dass sie jede einzelne Wimper sehen konnte und ihr blasses Gesicht in den Gläsern seiner Brille. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, so dass es schon schmerzte.

Von diesem Moment hatte sie geträumt, doch nun wo er da war, fürchtete sie sich ein wenig vor den Konsequenzen und vor dem, was danach passieren würde.

Undertaker senkte die Lider und beugte sich zu ihr herunter. Seine Finger gruben sich in ihre noch immer feuchten Haare.

Alyssa schloss die Augen und wartete darauf, was passieren würde. Vielleicht würde er sie auch nur im Arm halten, wie ein guter Freund und sie machte sich ganz umsonst verrückt.

Nur wenige Sekunden später konnte sie seinen Mund auf ihren spüren.

Die Festlichkeiten und Ferien waren vergessen. Der Tee, der dampfend auf dem Tisch stand, wurde ignoriert.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Akai_Hana
2013-09-07T15:45:12+00:00 07.09.2013 17:45
Dieses Kapitel ist eins der besten!!
Das Ron endlich realisiert, was Lily durch gemacht hat
Und Alyssa mit Undertaker... *beisst in ein Taschentuch wie im Anime* >///<
Ah ich hab keine Worte dafür n.n~
Von:  AkaiOkami
2013-09-04T13:56:54+00:00 04.09.2013 15:56
Das ist einfach nur cool vorallem am ende, mehr kann ich dazu nicht sagen


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