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The darkest thrill

NaruSasu
von

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The world won't listen

Es ist ironisch, findet Naruto, wie zeitlos sich die lauen, unbekümmerten Nächte auf ihrem Dach angefühlt haben, wenn sie schon wenige Tage später auf ihr abruptes Ende treffen, als die regnerische Zeit des Sommers anbricht und tagelange Wolkenbrüche das Klima zwar angenehm herunterkühlen, es aber drückend und trist zurücklassen. Mit einem Regenschirm bewaffnet, der eigentlich Sasuke gehört und der letzte seiner Art war, trottet er über das nasse Straßenpflaster auf dem Heimweg nach einem frustrierenden Tag. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, bei ein paar Plattenlabels persönlich nachzuhaken, denn außer Absagen direkt ins Gesicht hat sich nicht viel ergeben und er war nicht ganz darauf vorbereitet, wie sehr ihm das auf den Magen schlägt. Sasuke hat sich erfolgreich gedrückt und ihm wahrscheinlich auch irgendwo davon abgeraten auf seine "Mach, was du willst, aber mach es alleine"-Weise und es stört Naruto nicht einmal, dass er sich den ganzen Ernüchterungen und Rückschlägen alleine stellen musste, denn wenn er eines gelernt hat in seinen drei Jahren turbulenter Quasi-Freundschaft mit Sasuke, dann ist es, dass er auf moralische Unterstützung nicht zu hoffen braucht. Aber dennoch; wenn er seinen Blick hebt von dem kleinen Ausschnitt Gehweg, den er unter seinem Schirm sehen kann, die Straße vor ihm entlang in ihrer nass schimmernden Einsamkeit zu all den Häusern rechts und links, in deren Fenstern helle Zimmer leuchten, da wünscht er sich, Sasuke wäre jetzt hier. Jemand, der ihn ablenkt, von dem er ein paar verstreute Regentropfen wegbürsten kann, die auf seiner Jacke glänzen, den er unter einer Laterne küssen kann, nasse Lippen, die sich gegeneinander bewegen. Aber das würde Sasuke wahrscheinlich nicht mitmachen, wäre ihm zu schwul, zu romantisch.

 

Er kehrt nach Hause in eine leere, dunkle Wohnung. Die Vorhänge sind zugezogen und es sieht noch genauso aus wie heute Mittag, als Naruto das Haus verlassen hat, nur dass sich inzwischen ein weiterer Teller zu dem Stapel in ihrer Spüle gesellt hat, der schon seit über einer Woche nicht mehr angerührt wird. Im Grunde ist es ein kleines Kunstwerk und eine Meisterleistung der Raumnutzung, findet Naruto, aber langsam spielt sogar er mit dem Gedanken, etwas dagegen zu tun, bevor es sein eigenes Ökosystem entwickeln kann. Allerdings nicht heute, nicht solange er noch Wege finden kann, ohne Geschirr auszukommen, auch wenn das bedeutet, dass zum vierten Tag in Folge Instantsuppen auf seinem Speiseplan stehen. Eigentlich könnte sich genauso gut Sasuke darum kümmern, aber irgendwie ist das auch der Grund für den Zustand ihrer Wohnung, harmlose Prokrastination ist zu einem impliziten Kontest geworden, wer das Chaos am längsten erträgt, und Naruto ist sich noch nicht sicher, ob irgendjemand einen solchen Kampf gegen Sasuke gewinnen kann.

 

Dass sein Mitbewohner fehlt, macht sich nicht zuletzt an der abgeschlossenen Tür oder dem einen Schuhpaar weniger bemerkbar, das sonst verstreut auf dem Boden liegt. Vielleicht muss er arbeiten oder vielleicht ist er auch einfach nur in weiser Voraussicht geflohen, bevor ihm Naruto seine Klagelieder vorsingen kann; es ist nicht so, als würde er irgendetwas davon ankündigen. Also tut Naruto das nächstbeste, was ihm einfällt, und verbringt den Abend mit einem Plastikbecher Suppe und einer der Castingshows, die seit geraumer Zeit wie Pilze aus dem Boden schießen, während er versucht, sich nicht wie eine einsame Ehefrau zu fühlen, die bis spät in die Nacht auf ihren Mann wartet.

 

Naruto liegt längst im Bett, als er das Schloss knacken hört und kurz darauf die schlurfenden Schritte durch das Zimmer nebenan. Ein unterdrückter Fluch stört die monotonen Geräusche und Naruto kichert leise bei dem Gedanken daran, dass Sasuke wahrscheinlich über seine eigenen Schuhe gestolpert ist, weil er keine Lust hatte, das Licht anzuschalten. Die Tür zum Schlafzimmer öffnet sich und Sasuke gleitet in einer fließenden Bewegung hinein, die man fast als heimlich bezeichnen könnte, würde das Scharnier nicht so verräterisch quietschen.

 

"Wie ist es gelaufen?", fragt er ohne Naruto anzusehen und erst nachträglich flackert sein Blick zu ihm herüber, um sich zu vergewissern, dass er noch nicht schläft. Im fahlen Straßenlicht zeichnet sich seine schmale Silhouette ab, hängende Schultern, nasser Glanz in den Haaren, der verrät, dass Sasuke seinen Schirm wohl vermisst hat. Ein Wassertröpfchen landet auf Narutos Unterlippe, als er sein Shirt über den Kopf zieht und sich trockenschüttelt.

 

"Nicht gut. Der eine hat mir die CD sogar wieder zurückgegeben. Er meinte, es wäre nicht schlecht, aber sie glauben nicht, dass sie damit was anfangen können."

 

"Und die anderen?"

 

"Die konnten sich gar nicht mehr an uns erinnern", seufzt Naruto und rutscht ein Stück, als sich Sasuke zu ihm legt. "Aber lass uns über was anderes reden. Das deprimiert mich nur."

 

"Oder wir reden überhaupt nicht", schlägt Sasuke vor, aber er hält immer noch trägen Augenkontakt zu Naruto anstatt sich wegzudrehen. Vor einiger Zeit noch wäre das nicht so abgelaufen, vor ein, zwei Jahren hätte er noch gemeint, was er gesagt hat und die Konversation eigenmächtig für beendet erklärt, aber das ist zu einem Relikt der Vergangenheit geworden und es ist so entspannend, wieviel leichter er es ihm macht. Kein Kampf um ein kurzes Gespräch mehr, kein Bangen vor den Konsequenzen ungefilterter Liebesbekundungen—auch wenn Sasuke faktisch immer noch keine Sozialkompetenzen hat, aber das macht seinen eigenwilligen Charme irgendwie aus.

 

"Nächste Woche ist dein Geburtstag", wirft Naruto plötzlich ein; er weiß noch nicht ganz, worauf er hinaus möchte, aber es ist ihm gerade wieder eingefallen und manchmal scheint es so, als müsste Sasuke daran erinnert werden.

 

"Ich weiß."

 

"Feierst du?", fragt er nach und einen irritierten Blick von Sasuke später muss er einsehen, dass er sich die Antwort auch eigentlich selbst hätte geben können. "Warum nicht?"

 

"Was gibt es denn zu feiern?", grummelt Sasuke, überlegt es sich aber nochmal anders und formuliert um. "Ich feiere meinen Geburtstag schon seit Jahren nicht."

 

"Wirklich? So gar nicht? Das klingt echt traurig."

 

"An meinem neunzehnten war ich feiern, wenn dich das beruhigt. Und dann kam so ein Idiot und hat mir sein Bier übergeschüttet."

 

"Aw, das klingt ja echt mies", bekundet Naruto sein aufrichtiges Mitleid und überlegt, ob das vielleicht der Grund für diese Geburtstagsantipathie sein könnte, als sich Sasuke vollends zu ihm umdreht und ihm mit der Handfläche gegen die Stirn schlägt.

 

"Das warst du."

 

"Was? Im Ernst? Das war dein Geburtstag?", blinzelt Naruto überrascht irgendwo zwischen Lachen und Beunruhigung. Die Details des Abends sind nicht mehr alle präsent, aber er kann Sasukes  angriffslustigen Blick sehen, wenn er die Augen schließt, und den verschütteten Becher Bier auf glitschig schmutzigem Boden und seine isolierte Gestalt in der dunkelsten Ecke des Raumes. Im Grunde hat sich seitdem nicht viel verändert. "Das wird ja immer trauriger."

 

"Es ist nur irgendein Tag", seufzt Sasuke augenrollend und dreht Naruto dann endgültig den Rücken zu.

 

---

 

Ganz kann Sasuke Feierlichkeiten in diesem Jahr aber doch nicht vermeiden, auch wenn es nur ein kleiner akustischer Gig ist, der am Abend vor seinem Geburtstag stattfindet und in erster Linie dazu dient, Naruto verdrängen zu lassen, wie düster es momentan für sie aussieht. So ernüchternd jede einzelne Absage von selbst den kleinsten Independent Labeln ist, so motivierend fühlt es sich an, live die Reaktionen von einem Publikum zu beobachten, das zumindest etwas Spaß an dem hat, was er so von sich gibt. Vielleicht sind es nur Zufälle, aber manchmal meint Naruto, ein paar Gesichter wiederzuerkennen.

 

Heute gesellen sich nach dem Auftritt sogar angetrunkene Gäste zu ihrem Tisch und geben ihnen eine Runde Bier aus. Naruto macht freudestrahlend Platz, um so viele Menschen wie möglich um sich zu scharen und sich in positivem Feedback zu sonnen, während sich Sasuke zusammengedrückt zwischen Naruto und der Wand wiederfindet, Gespräche abwimmelt und sich daran erinnern muss, dass Sozialisieren für eine erfolgreiche Musikkarriere wichtiger ist als er gerne hätte. Solange sein Glas voll ist, lassen sich die fremden Menschen zumindest tolerieren. Die Aufmerksamkeit geht in solchen Situationen ohnehin immer schnell auf Naruto über und das ist nicht das Schlechteste, was ihm passieren könnte, findet Sasuke. Win-Win für alle Parteien; eine Gelegenheit für Naruto, sich in Selbstdarstellung zu üben vor Leuten, die das auch tatsächlich interessiert, und die Möglichkeit, sich aus alldem auszuklinken für Sasuke.

 

Zu weit können seine Gedanken jedoch nie abdriften, bevor ein gelegentlicher Ellbogen in seine Rippen stößt, wenn Naruto beim Gestikulieren den Platzmangel vergisst und von Zeit zu Zeit verirrt sich auch mal eine Hand auf Sasukes Oberschenkel als kleine Erinnerung, dass ihn Naruto nicht vergessen hat, obwohl er ihm gerade uncharakteristisch wenig Aufmerksamkeit schenkt. Das ist nicht weiter tragisch, findet Sasuke und tut so, als hätte er eine Frage nicht gehört, die eindeutig in seine Richtung gestellt wurde, als plötzlich ein wedelnder Arm haarscharf an seiner Stirn vorbei streift.

 

“Pass doch auf“, grummelt Sasuke, aber Naruto winkt nur enthusiastisch fuchtelnd herum und hört ihm gar nicht zu.

 

“Hey Ino, hier sind wir!“, ruft er laut über die Geräuschkulisse des Pubs hinweg und ein paar Sekunden später entdeckt Sasuke sie dann auch, vermutlich zeitgleich mit dem Großteil der anwesenden Männer.  Ihre Haare sind etwas zu blond und ihr Rock etwas zu kurz, um übersehen zu werden, generell ist sie etwas zu sehr zurecht gemacht für einen spontanen Besuch in einem Pub. Vielleicht ist dieses Aufmerksamkeit-Anziehen auch einer der Gründe, weshalb er immer noch mit ihrer Anwesenheit fremdelt – neben ihren gelegentlichen Flirtversuchen, mit denen er nicht so recht umzugehen weiß – aber selbst Sasuke muss anerkennen, dass sie ohne ihre Hilfe nicht einmal eine funktionsfähige Band hätten.

 

"Hey, cool, dass du noch gekommen bist!", begrüßt Naruto Ino, als sie es zu ihrem Tisch geschafft hat und macht ihr etwas Platz frei. "Wie ist dein Date gelaufen?"

 

"Ach, es war ganz okay. Bis er gesagt hat, dass seine Lieblingsband Nickelback ist… da wusste ich, das wird nichts", erzählt Ino schulterzuckend und winkt ab. "Seid ihr schon fertig für heute?"

 

"Ne, wir spielen gleich noch eine zweite Runde. Du hast also noch nicht alles verpasst."

 

"Perfekt! Ich hole mir eben noch was zu trinken, dann bin ich wieder bei euch. Kann ich euch was mitbringen?"

 

Es ist beinahe lächerlich, findet Sasuke, wie leicht man Narutos Herz erobern und ihn komplett zum Strahlen bringen kann, obwohl auch er Inos Angebot für eines ihrer besseren hält. Nach welchen Kriterien Naruto Personen aussucht, die er mag, ist sowieso ein großes Mysterium, denn wieso er ausgerechnet Sasuke aus all den sympathischen, unkomplizierten Menschen herausgepickt hat, kann keiner so recht verstehen.

 

Als Ino wiederkommt und ihm ein Glas goldgelbes Bier herüberreicht, kann sogar Sasuke einen spontanen Impuls Dankbarkeit nicht unterdrücken, auch wenn er sich äußerlich nichts anmerken lässt.

 

"Sag mal, was ist eigentlich aus den Demos geworden, die du behalten hast? Du meintest doch, du kennst vielleicht ein paar Leute, die das interessieren könnte?", steigt Naruto schließlich nach ein paar Schlücken und einer angemessenen Menge Pre-Smalltalk direkt ins Thema ein. Es ist so etwas wie seine letzte Hoffnung – Sasuke hat zwar sein Bestes gegeben, um ihn auf die ernüchternde wahrscheinliche Wahrheit vorzubereiten, hat ihn immer wieder daran erinnert, dass Ino sich bestimmt gemeldet hätte, wenn irgendetwas bei ihren Kontakten herausgekommen wäre, aber Naruto ist für solche Realitäten zur Zeit nur schwer empfänglich.

 

Ino windet sich etwas unter Narutos erwartungsvollem Blick, druckst ein bisschen herum, bevor sie mit so viel Feinfühligkeit, wie sie aufbringen kann, im Grunde nur das bestätigt, was sowieso lange klar war.

 

"Was?! Selbst die wollen uns nicht?!"

 

Ino schreckt etwas zurück vor Narutos unregulierter Wut in der Stimme, die sie so noch nicht von ihm kennt. Ein bisschen tut sie Sasuke leid, wie sie alleine an der Front steht, obwohl Narutos Frustration nicht wirklich auf sie abzielt.

 

"Mach dir keinen Kopf. Viele erfolgreiche Bands haben Jahre gebraucht, um an einen Vertrag zu kommen. Das ist manchmal so", versucht sie ihn zu beschwichtigen mit bedeutungslosen Phrasen und es überrascht Sasuke nicht, dass sie bei Naruto keine Wirkung zeigen.

 

"Aber ich will keine Jahre warten, wir sind gut genug! Du warst doch auch optimistisch, als wir das Demo aufgenommen haben!"

 

"Ich bin auch jetzt noch optimistisch–"

 

"Überall, wo ich unser Demo hingeschickt habe, wurde es abgelehnt! Ich meine, da waren echte Noname-Label dabei! Wollen die uns echt erzählen, dass wir nicht gut genug sind?! Ich hab mir angehört, wen die sonst so unter Vertrag haben und wir sind um Level besser als der ganze Mist, den die vertreten!"

 

"Beruhig dich, Naruto", mahnt Sasuke leise von der Seite. Es ist zwar irgendwie ganz unterhaltsam, Naruto so aufgebracht zu erleben, besonders weil es sich diesmal nicht gegen Sasuke richtet, aber an den Nachbartischen haben sich schon Leute zu ihnen umgedreht und Ino sieht nicht so aus, als könnte sie die Situation entschärfen.

 

"Aber es ist so unfair!", beschwert sich Naruto noch einmal, wenn auch mit weniger Nachdruck als zuvor und lässt sich erschöpft gegen die Rückenlehne der Bank fallen.

 

---

 

Es erschüttert Naruto mehr als er zugeben möchte, der Gedanke, dass was auch immer er tut, nicht genug sein könnte, dass eine exogene Variable wie Glück vermutlich eine größere Rolle spielt als alles, was er beeinflussen kann. Im Grunde widerspricht das allem, wofür er steht, seiner gesamten Lebensphilosophie– es ist schließlich nicht das erste Mal, dass er etwas erreichen möchte, was eigentlich außerhalb seiner Möglichkeiten liegt. Als er damals nach London aufgebrochen ist mit der Ambition, eine Band zu gründen und Songs zu schreiben, obwohl er bis auf das Intro von Wonderwall vorher nie etwas auf einer Gitarre gespielt hat, haben seine Freunde und Verwandten zu Hause auch nicht daran geglaubt, aber er hat es geschafft, trotz aller Widrigkeiten, trotz aller Steine, die ihm vor allem Sasuke in den Weg gelegt hat– es gibt eine Band und es gibt Songs und auch wenn es noch nicht für einen Lebensunterhalt reicht, so bringen gelegentliche Auftritte doch wenigstens ein paar willkommene Extrapfund auf seinem Konto. Selbst auf diesen Ausgang hätte außer Naruto vermutlich niemand gewettet.

 

Aber er ist weit davon entfernt, zufrieden mit dem Status Quo zu sein, mit heruntergekommenen Apartments und stumpfen Nebenjobs, dem kontinuierlichen, erschöpfenden Betteln um Auftritte, um dann doch nur musikalische Untermalung zu sein und nie das Zentrum der Aufmerksamkeit. Es geht dabei für Naruto nicht nur um das abstrakte Konzept der Berühmtheit, der Aussicht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen ohne je von Alltag und Langeweile eingeholt zu werden, sondern weil er das Gefühl hat, etwas sagen zu können, und mit Sasukes Hilfe in der Lage ist, seinen Ideen eine greifbare Form zu geben in einer Weise, die Gehör findet.

 

Es ist schwer zu sagen, wie Sasuke mit diesem Schwebezustand umgeht. Im Grunde hat sich an seinem Verhalten nichts geändert und eigentlich ist das das Merkwürdige, wenn Naruto an das ständige Achterbahnfahren denkt, mit dem er seit dem ersten Tag zu kämpfen hat. Inzwischen ist die letzte wirkliche Auseinandersetzung bereits Monate her und es ist unmöglich zu sagen, ob das an einer neugewonnenen Ausgeglichenheit liegt oder an stiller, tiefer Resignation. Oder auch nur eine weitere Projektion von Narutos Sich-nie-zufrieden-geben ist. Eigentlich sieht Sasuke in diesem Moment sogar recht entspannt aus; eine kleine Furche zwischen seinen Augenbrauen ist noch übrig geblieben von seiner Samstagnachmittags-Schicht im Pub, von der er vor einer Viertelstunde zurückgekehrt ist. Seine Gesprächigkeit hält sich danach zwar meistens in Grenzen, laute angetrunkene Fußballfans haben seine Toleranzlevel leergesogen, dafür bringt er immer zwei Portionen übrig gebliebene Pommes mit nach Hause und das ist schon okay. Sie sind nicht mehr ganz warm und etwas gummiartig in der Konsistenz, aber Naruto ist der Letzte, der sich an einer kostenlosen Mahlzeit stört.

 

"Ich hab vorhin nachgedacht, Sasuke", fängt er etwas zögerlich an, während er eine Pommes sorgfältig in Ketchup ertränkt. "Wir müssen irgendwas anders machen."

 

"Wovon sprichst du?", fragt Sasuke mit eher halbherzig hochgezogener Augenbraue, denn er ahnt, dass es um ein Thema geht, dass sie schon ein paar Mal durchdiskutiert haben.

 

Naruto gestikuliert uneindeutig mit seiner Hand in der Luft herum. "Das, alles hier. Wir sollten den Tag damit verbringen, zu proben, Musik zu schreiben… oder uns erholen nach einem tollen Gig oder einer Party… und nicht hier sitzen und labberige Pommes essen."

 

"Ich kann dir nächstes Mal auch einfach keine mitbringen."

 

"Darum geht es doch nicht, ich meinte das als Metapher!", erklärt Naruto frustriert darüber, dass Sasuke mit voller Absicht alles falsch versteht und nicht auf sein Problem eingeht. "Vielleicht wäre es am besten, wenn wir einfach unsere Jobs kündigen."

 

"Meinst du das ernst?", fragt Sasuke probend, als wollte er ihm noch einmal eine Chance geben, auf dem Absatz kehrt zu machen und seine Argumentationskette zu verwerfen, von der er offenkundig so wenig hält, dass er sie nicht mal Naruto zutrauen würde. Aber Sasuke hält grundsätzlich nie viel von seinen Vorschlägen.

 

"Naja, damit wir mehr Zeit für die Band haben", versucht Naruto in Worte zu fassen, worüber er in letzter Zeit viel gegrübelt hat. "Ich hab das Gefühl, wir kommen nie voran, wenn wir uns nicht voll darauf konzentrieren und alles auf eine Karte setzen."

 

"Und wer soll die Miete zahlen? Sowas kannst du machen, wenn wir von unseren Tantiemen leben können."

 

"Ach, ich weiß doch auch nicht! Vielleicht sollten wir andere Songs schreiben, unseren Stil verändern… keine Ahnung. Aber irgendwas müssen wir machen."

 

"Es ist gut so, wie es ist."

 

"Finde ich auch, aber der Rest der Welt offensichtlich nicht!"

 

"Es haben noch nicht alle abgelehnt, oder? Warte erstmal ab", schlägt Sasuke vor, der offensichtlich keine Lust mehr auf die Diskussion hat.

 

In den letzten Monaten hat Naruto diese Sätze immer wieder gehört, nie waren sie hilfreich und inzwischen hat er nicht einmal ein müdes Lächeln dafür übrig. Es ist Anfang Oktober, sechs Monate seit sie ihr Demo verschickt haben, und auch wenn er es lange nicht zugeben wollte, rechnet Naruto nicht mehr mit einer Antwort von irgendeiner Plattenfirma. Er kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sasuke zu einem anderen Schluss gekommen ist und gerade das ist es, was er nicht begreift.

 

"Wie kannst du zufrieden damit sein, einfach nur da zu sitzen und zu warten?!"

 

"Weil wir ansonsten nichts tun können. Ich hab dir von Anfang an gesagt, dass es Glückssache ist. Nicht meine Schuld, wenn du dich so hineinsteigerst", antwortet Sasuke und zuckt unbeteiligt mit den Schultern, als würde ihn all das nichts angehen. Mehr noch als seine Worte ist es genau diese Geste der Gleichgültigkeit, die Narutos Puls steigen lässt.

 

"Ich soll mich nicht hineinsteigern?!", ruft er aufgebracht. "Das ist mein verdammter Traum, ich hab keinen Plan B! Hast du etwa einen?!"

 

"Ich hatte nicht mal einen Plan A—", zischt Sasuke und verschluckt dabei den letzten Teil des Satzes, weil er seinen Mund so abrupt schließt. Irgendetwas in seiner Stimmung ist gekippt, da ist eine feine Änderung in seiner Haltung und Naruto kann es nicht ganz lokalisieren, aber es ist genug, um ihn stutzen zu lassen.

 

"Wie meinst du das?"

 

Sasukes Blick ist schon nicht mehr zu erreichen. Stattdessen presst er seine Lippen zusammen, um jede Kommunikation unmöglich zu machen. Ein unterdrückter Fluchtreflex zuckt durch alle Fasern seines Körpers und man kann seinen Augen von der Jacke zu den Schuhen zu der Tür folgen.

 

"Hey, du kannst jetzt nicht einfach so gehen!", ruft Naruto und springt von seinem Stuhl auf im selben Moment, in dem sich auch Sasuke bewegt. Er versucht noch, sich ihm in den Weg zu stellen, aber Sasuke sitzt der Haustür am nächsten, wie er es meistens tut, als würde er sich für solche Situationen strategisch platzieren. Er schnappt sich noch schnell seine Schuhe auf dem Weg und ist aus der Wohnung raus, bevor Naruto ihn irgendwie zurückhalten kann.

 

Es ist nicht das erste Mal, dass Sasuke mitten in einem Gespräch verschwindet. Der genaue Anlass ist im Nachhinein selten feststellbar, manchmal kehrt er nach ein paar Stunden wieder zurück, manchmal lässt er sich Tage lang nicht blicken. Dass Naruto am selben Abend noch den Schlüssel in ihrem Haustürschloss hören kann, wertet er deshalb als gutes Zeichen – als der nächste Morgen aber nicht die erhoffte Entspannung und So-tun-als-wäre-nichts-gewesen bringt, sondern magere Kommunikation und viel Nebeneinanderher-Leben, ist er sich da nicht mehr so sicher. Die folgende Woche begegnen sie sich kaum, ob es an ihren unterschiedlichen Zeitplänen liegt oder Sasuke ihm mit voller Absicht aus dem Weg geht, ist dabei schwer zu sagen. Naruto weiß immer noch nicht so richtig, was eigentlich passiert ist, für ihre Verhältnisse war es nicht einmal ein richtiger Streit, aber Sasuke hat seitdem so eine kühle Distanz zwischen ihnen aufgebaut und Naruto ist zu sehr mit seiner eigenen Frustration beschäftigt, um sich damit näher zu befassen.

 

Es ist Freitag, als sich die Dinge schließlich wieder ändern. Ino hat ihnen einen Auftritt in einer Bar organisiert, in einem der abgelegenen südöstlichen Stadtteile, die man nur als Endstationen der Zuglinien kennt, aber nie wirklich einen Fuß hinein gesetzt hat. Wenn es nach Naruto geht, hätte es auch so bleiben können.

 

Shikamaru, Chouji und Ino sind bereits mit dem Auto vorgefahren, da niemand ein Schlagzeug in öffentlichen Verkehrsmitteln transportieren möchte und so waren es die Fahrt lang nur Sasuke und er, die seit der Auseinandersetzung vor ein paar Tagen nur das Nötige miteinander sprechen. Nach einer Weile hat sich der Wagon so geleert, dass Naruto sich nicht mal mehr durch Menschen Beobachten ablenken kann. In weiser Voraussicht hat er deshalb eine Flasche Whiskey mitgenommen, die ihn auf der Fahrt unterhalten kann und eine fragile Brücke an Kommunikation zwischen ihm und Sasuke schlägt, wenn er sie herüber reicht.

 

Als sie endlich ankommen, werden sie direkt in ein Hinterzimmer geschleust, in dem sie ihre Sachen ablegen können. Shikamaru und Chouji sind bereits da und bauen das Schlagzeug in einem kleinen abgesteckten Bereich im Gastraum auf, der wohl so etwas wie eine Bühne sein soll. Der Pub ist ganz gut besucht, aber es ist auch ein Freitagabend, da ist so etwas zu erwarten. Ino stimmt sich in der Zwischenzeit mit dem Besitzer ab oder wer auch immer es ist, der an diesem Abend das Sagen hat. Sie sieht nicht ganz zufrieden aus, als sie wenig später auf sie zukommt, ihre Hände vorsorglich erhoben in einer "Ich hab alles versucht"-Geste.

 

"Es gibt eine Planänderung, Jungs. Der Besitzer möchte, dass ihr nur bekannte Songs spielt, nichts Eigenes. Für solche Fälle habt ihr aber doch eine passende Setlist im Repertoire, oder?"

 

Natürlich haben sie das nicht. Seit die Band in dieser Konstellation existiert, haben sie immer versucht, bei jeder Gelegenheit einen möglichst großen Anteil eigener Kompositionen zu spielen mit dem ein oder anderen eingestreuten Klassiker, der verlässlich für gute Stimmung sorgt. Es ist daher nicht so, dass Naruto grundsätzlich etwas dagegen hat, fremde Werke zu covern, er hat meistens sogar Spaß daran, aber diese unreflektierte Ablehnung seiner eigenen Songs, die verdammt nochmal großartig sind, ist für ihn nichts anderes als eine persönliche Beleidigung.

 

Sasuke scheint die Situation hingegen erstaunlich gelassen zu nehmen. Naruto versteht nicht, wie gerade er diese Herabwürdigung seines Talents einfach so hinnehmen kann, der sonst bei diesem Thema ein Level an Stolz und Überzeugung zeigt, das kaum mehr von Arroganz zu unterscheiden ist. Aber anstatt dem Bareigentümer die Meinung zu sagen, lässt er sich einfach nur einen Stift und Papier geben und bringt eine Runde Bier mit, die es bei solchen Auftritten meistens aufs Haus gibt. Vielleicht hilft es ja, seinen Frust einfach zu ertränken, überlegt Naruto, der langsam beginnt, die Effekte der halben Flasche Whiskey zu spüren, die er und Sasuke auf der Hinfahrt geteilt haben.

 

Das gemeinsame Brainstorming verlegen sie nach draußen, wo es langsam zwar etwas kühl wird, aber immerhin können sie sich in normaler Lautstärke unterhalten und Zigaretten sind dort auch nicht verboten. Es ist mühsamer als gedacht, genügend Lieder zusammenzukratzen, die alle vier schon einmal zusammen geprobt haben oder zumindest auswendig spielen können und dass Sasuke aus Prinzip jeden einzelnen Vorschlag von Naruto ablehnt, macht die Sache nicht einfacher.

 

"Ihr wisst schon, dass ihr gerade echt anstrengend seid?", seufzt Shikamaru nach einer Weile, als ihre Gläser bereits leer sind und sich durch gegenseitige Vetos mal wieder nichts bewegt. Sein Blick wandert träge von Naruto zu Sasuke, die uncharakteristisch weit voneinander entfernt stehen. "Habt ihr irgendwie Stress oder sowas?"

 

Als er auf seine Nachfrage von Sasuke einen eisigen Blick zugeworfen bekommt und selbst Naruto nur mürrisch das Gesicht verzieht, beschließt Shikamaru, dass ihn dieses offensichtliche Problem nichts weiter angeht.

 

"Ist mir eigentlich auch egal", sagt er deshalb schulterzuckend und nimmt den Zettel an sich, um noch etwas zu ergänzen. "Hier, die beiden Songs haben wir alle drauf. Das sollte für den Abend reichen. Ich geh mit Chouji dann schon mal rein, um unser Set aufzubauen."

 

Und damit lassen sie eine angespannte Atmosphäre zurück, in der Sasuke die letzten paar Züge von seiner Zigarette nimmt und Naruto sich weiter in seiner Unzufriedenheit suhlt. Es ist nicht das erste Mal, dass sie Vorgaben für ihre Songauswahl erhalten und auch nicht das erste Mal, dass sie an entlegenen Orten spielen oder nur wenig Geld für ihren Auftritt bekommen. Es ist kein wirklicher Rückschritt, aber auch kein Fortschritt und schon gar nicht das, wo Naruto sie in seiner Vorstellung schon lange sieht. Das wird er auch nicht müde, den ganzen Abend lang zu wiederholen.

 

"Kannst du nicht einmal die Klappe halten?!", unterbricht Sasuke ihn in einem weiteren Anflug von Beschwerden. "Ich weiß, dass es ätzend ist. Ich kann es nicht ändern."

 

"Das ist auch irgendwie deine Erklärung für alles, oder? Du kannst es nicht ändern, also tust du einfach gar nichts."

 

"Was erwartest du denn von mir?! Ich schnippe mit den Fingern und all deine Träume werden wahr? So läuft das nicht!", entgegnet Sasuke aufgebracht und etwas zu laut, vermutlich lauter als beabsichtigt, denn es drehen sich schon Leute zu ihnen um. Naruto versucht nicht daran zu denken, dass das hier das erste richtige Gespräch zwischen ihnen seit knapp einer Woche ist und eigentlich anders ablaufen sollte, aber Alkohol vergiftet seine Worte und es ist so einfach, dieses Ventil für seinen Frust zu nutzen.

 

"Hast du dir das so etwa vorgestellt? Du bist talentierter als jeder andere, den ich kenne, eigentlich steht dir die Welt offen, und jetzt spielst du irgendwelche Cover in so 'nem schäbigen Laden, wenn du nicht gerade Teilzeit in einem verdammten Pub aushilfst?!"

 

"Ich geh rein. Den Mist muss ich mir nicht geben", nuschelt Sasuke kopfschüttelnd und schnickt den glimmenden Rest seiner Zigarette vor sich auf den Boden, wo er sie mit der Schuhsohle zerdrückt. Als er sich zum Gehen wenden will, steht Naruto ihm schon im Weg.

 

"Ach ja, du verpisst dich einfach wieder, so wie immer?", baut er sich provozierend vor Sasuke auf und nutzt dabei die wenigen Zentimeter Größenunterschied, um die er ihn überragt. Seine Körperhaltung macht deutlich, dass er Sasuke nicht gehen lassen wird, bevor ihre Auseinandersetzung beendet ist, auch wenn er sich noch nicht überlegt hat, wie genau das aussehen soll.

 

"Geh mir aus dem Weg, Naruto", knurrt Sasuke drohend und macht einen Schritt auf ihn zu, nachdem er erfolglos versucht hat, an ihm vorbeizukommen.

 

Ihre Nasenspitzen berühren sich fast und Naruto meint, seinen Herzschlag spüren zu können, ein dunkel grollendes Stakkato, das den schmalen Raum zwischen ihnen ausfüllt. Es ist nicht lange her, da hätte Naruto den Abstand längst geschlossen, seinen Körper gegen Sasukes gepresst, Hände in den schwarzen Haaren und um sein blasses Gesicht, aber gerade jetzt würde er viel lieber hineinschlagen. Hitze sammelt sich in seinem Bauch, stechend und beißend, und er kann nicht mehr sagen, ob es sich dabei um Erregung oder Wut handelt. Sasukes Atem kitzelt auf seinen Lippen, dunkle Pupillen weiten sich kaum merklich, als er plötzlich von einem Druck auf seiner Brust überrascht wird und das Gleichgewicht verliert. Der Stoß ist etwas zu fest, um freundschaftlich zu sein, und Naruto hat viel Glück, dass er nur rücklings auf flachen Boden fällt und sich nicht den Kopf an der Kante der Backsteinfassade stößt. Über ihm steht Sasuke in seiner ganzen Unlesbarkeit, erst halb zum Gehen gewandt, dann zögert er kurz und dreht sich noch einmal um.

 

"Unser Set hätte längst anfangen sollen. Wenn du also damit fertig bist, hier rumzuliegen, komm rein und mach deinen Job."

 

Wütendes Blut pocht hinter Narutos Augen und er ist schneller auf den Beinen als seine Füße hinterherkommen, aber nicht schnell genug, um Sasuke einzuholen, bevor er durch die Tür in den Barraum tritt. Es dauert ein paar Sekunden, bis er sich orientiert und Sasukes zerzausten Haarschopf inmitten all der anderen Menschen lokalisiert hat, als irgendwo von der Seite ein Gitarrenhals in sein Blickfeld hinein schwebt, der ihn lange genug ablenkt, um das Momentum zu verlieren. Irritiert nimmt er die Augen von Sasukes abgewandter Kieferpartie und findet Shikamaru neben ihm stehen, der ihm sein Instrument hinhält. Einen Moment zögert Naruto, dann reißt er die Gitarre aus Shikamarus hilfreichen Händen und hängt sie sich widerwillig über die Schulter. Am Rande bekommt er mit, wie Sasuke seinen Mikrofonständer ein paar Meter weiter entfernt aufstellt und sein Puls beschleunigt sich instinktiv. Er hat schon wieder vergessen, welche Songs sie jetzt eigentlich spielen wollen.

 

Zum Glück steht er mit dem Problem alleine da und das erste Riff ist markant genug, dass er seinen Einsatz nur knapp verpasst. Einen flüchtigen Moment lang ist das alles, worauf er sich konzentriert und die Wogen in seinem Kopf glätten sich, bis Sasukes Stimme aus den schlecht eingestellten Lautsprechern dröhnt und Narutos Aufmerksamkeit von Neuem auf sich zieht. In seiner verschwommenen, alkoholgetränken Perspektive fällt es ihm nicht schwer, alle anderen Menschen auszublenden und sich nur noch auf Sasuke zu fokussieren, als wäre das jemals anders gewesen. Ungelenk rutschen seine Finger über das Griffbrett der Gitarre, immer einen halben Takt zu spät, aber das merkt er kaum während er Brandlöcher in Sasukes Hinterkopf starrt.

 

Dreieinhalb Songs lang geht das gut, bis Sasuke während eines Solos die Gesangspause nutzt, um zu Naruto herüberzukommen. Ein kurzer Augenkontakt reicht aus, um alle Fasern in Narutos Körper auf Konfrontation zu bürsten und ihn komplett aus dem Rhythmus zu werfen.

 

"Reiß dich mal zusammen, du spielst grottig, wenn du voll bist", zischt Sasuke in sein Ohr und das ist alles, was gefehlt hat. Er wendet sich bereits zum Gehen, als Naruto die Kontrolle verliert und ihm ins Gesicht schlägt.

 

Die Musik verstummt abrupt, ein entsetztes Raunen geht durch die Menge und Sasuke schafft es gerade noch, einen Gegentreffer zu landen, bevor Shikamaru und Chouji die beiden auseinanderzerren.

 

"Okay, was war das gerade?", fragt Shikamaru entnervt, sobald er Naruto trotz Gegenwehr in das Hinterzimmer geschleppt und dazu gebracht hat, sich hinzusetzen.

 

"Sasuke ist ein Arschloch."

 

"Erzähl mir was Neues? Sonst stört dich das doch auch nicht."

 

"Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit und er hat sich dann einfach verpisst, sonst hätte ich das direkt geklärt", beschwert sich Naruto, aber in Shikamarus Gesicht zeichnet sich nicht das Verständnis ab, auf das er eigentlich gehofft hatte. Trotzig verzieht er die Mundwinkel. "Er hat es verdient."

 

"Das bezweifle ich nicht. Aber klär sowas in Zukunft vielleicht woanders."

 

"Ja, aber—"

 

Die Tür schwingt krachend auf als würde sie in Deckung gehen wollen, als Sasuke hereinrauscht, seine Augen leuchten genauso zornig wie der rote Abdruck auf seinem Kiefer. Instinktiv springt Naruto auf, bevor ihn jemand zurückhalten kann, Kampfeslust und Adrenalin wiegeln sich auf ein neues Hoch in seinem Körper.

 

"Du Wichser! Du hast unseren Gig ruiniert! Wenn du vorhin nicht einfach abgehauen wärst—"

 

"Ist das dein scheiß Ernst?!", poltert Sasuke und Naruto tritt automatisch einen Schritt zurück. Es ist das erste Mal, dass ihm diese Art von Aggressivität entgegengeschleudert wird, hitzig und zerstörerisch statt dem kalten warnenden Grollen, in dem sich Sasukes Wut normalerweise manifestiert. Shikamaru stellt sich antizipatorisch schon mal zwischen die beiden. Für ein paar Sekunden scheint es, als würden sie nur auf den Funken warten, der das Pulverfass entzündet, aber dann öffnet sich die Tür ein weiteres Mal und es ist Ino, die den Raum betritt.

 

"Packt eure Sachen zusammen. Der Besitzer will euch raus haben", schneidet ihre Stimme durch die dichte Atmosphäre mit kaum verborgener Enttäuschung. Drei Augenpaare richten sich sofort auf sie, aber Ino selbst fixiert starr einen Punkt an der Wand. "Das war echt daneben. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ihr solltet selbst wissen, dass ihr an einem Punkt seid, wo ihr jede Chance nutzen müsst, die sich euch bietet, und ihr werft das einfach so hin… ich meine- ich gebe mir Mühe und organisiere euch Gigs, und ihr werdet rausgeworfen, weil ihr euch auf der Bühne prügelt, ist das euer Ernst?!"

 

"Sag das nicht mir. Wenn Naruto nicht so eskaliert wäre—"

 

"Du hast angefangen! Das ist nicht meine Schuld!", widerspricht Naruto sofort. "Sasuke hat—"

 

"Halt die Klappe, Naruto", unterbricht Shikamaru den Anflug von Ausreden, die sowieso keiner hören will, und sieht dabei um Jahre gealtert aus. "Ich gehe Chouji mal beim Einpacken helfen. Versucht solange, euch einzukriegen."

 

Die angestaute Wut, die in Sasuke schwelt, nachdem alle bis auf ihn und Naruto den Raum verlassen haben, ist fast greifbar. Es ist offensichtlich, wie wenig es ihm passt, so eine Ansage zu bekommen und besonders nicht von Ino, aber auch er muss akzeptieren, dass es gerechtfertigt war und das macht es nur umso schwieriger. Er scheint mit sich zu kämpfen, nicht die fremde Inneneinrichtung zu zertreten und greift schließlich wütend zur herumstehenden Whiskeyflasche, die noch von der Hinfahrt übrig geblieben ist, um seinen Zorn in eine Richtung zu kanalisieren, die nicht in einer Prügelei endet.

 

"Ich glaub nicht, dass du noch mehr trinken solltest", versucht Naruto einzuwenden, obwohl er weiß, dass er gerade nicht in der Position ist, gut gemeinte Ratschläge zu verteilen. Sasuke sieht ihn nicht mal an.

 

"Mir scheißegal, was du glaubst."

 

"Wir sollen versuchen runterzukommen", setzt er ein zweites Mal zu seiner Deeskalationsstrategie an. Eigentlich ist er sich noch nicht sicher, ob er das gerade überhaupt will – sich wieder vertragen, Ruhe einkehren lassen – aber es geht hier nicht mehr nur um ihn und Sasuke, andere Leute sind involviert, und dieser Gedanke hilft ihm etwas, seinen guten Willen zusammenzukratzen. "Ich weiß, du bist noch wütend, bin ich auch, aber Alkohol macht es nicht besser."

 

"Du bist doch selbst betrunken. Wenn du dich an deine eigenen Ratschläge halten würdest, wäre das nie so eskaliert."

 

"Ich konnte ja wohl kaum ahnen, dass du dich wie ein Arsch verhältst!", ruft Naruto anklagend und ist so kurz davor, seine Vorsätze zu vergessen und sich wieder hochzuschaukeln, aber er schluckt seinen Ärger noch einmal mit aller Willenskraft herunter. "Übrigens bin ich auch fast gar nicht mehr betrunken."

 

"Ja, klar", nuschelt Sasuke und danach kehrt Stille ein.

 

Ein paar Minuten verweilen sie so schweigend im Raum; Sasuke lehnt an einem Regal und konzentriert sich weiter auf seinen Whiskey, während Naruto sichere trennende Meter entfernt sitzt und versucht, mit dieser merkwürdigen Stimmung zurecht zu kommen.

 

"Erinnert mich irgendwie an unseren allerersten Auftritt. Als du auf diesen einen Bodybuilder losgegangen bist, weißt du noch?", fängt Naruto irgendwann nach einer längeren Pause an zu erzählen und kann sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen. "Kaum zu glauben, dass das erst Anfang des Jahres war. Zum Glück kannte uns Ino da noch nicht, haha, sie wäre ausgerastet."

 

Ein leises amüsiertes Schnaufen kommt aus Sasukes Richtung und Naruto meint sogar, erkennen zu können, wie sich seine Mundwinkel für eine Millisekunde nach oben gezogen haben. Das ist zwar nicht viel und womöglich auch nie passiert, denn gerade sieht Sasuke wieder so unzugänglich aus wie vorher, aber es stellt ein Bruchstück Normalität her und Naruto hat schon fast vergessen, wie gut sich das anfühlt.

 

"Irgendwann haben wir Hausverbot in allen Läden…", prophezeit er etwas zufriedener als er sein sollte, bis ihn eine unerwartete Bewegung von Sasuke ablenkt. "Wo willst du hin?"

 

"Meine Sachen packen, damit ich hier verschwinden kann."

 

Vielleicht ist das nicht die schlechteste Idee, muss Naruto zugeben, er hat jedenfalls kein Interesse daran, lang genug zu warten, bis sie am Ende womöglich noch hinauseskortiert werden. Er schnappt sich seine Jacke, packt die Gitarre in ihren Koffer zurück und folgt Sasuke dann möglichst unauffällig durch die Bar. Zum Glück ist der einzige, von dem er aufgehalten wird, Shikamaru.

 

"Geht ihr?"

 

"Mhm", macht Naruto abwesend und versucht dabei Sasuke im Auge zu behalten, der gerade das Gebäude verlässt. Shikamaru verfolgt seinen Blick mit Skepsis.

 

"Und ihr kommt wieder klar?"

 

"Alles wieder gut. Wir haben die Sache geklärt", winkt Naruto ab, aber das zuversichtliche Lächeln will sich nicht ganz auf sein Gesicht transportieren. Falls es Shikamaru auffällt, sagt er nichts dazu. "Ich muss dann mal los. Kommt gut heim."

 

"Ja, ihr auch."

 

Vielleicht war es ein bisschen gelogen, was er zu Shikamaru gesagt hat, denn als ihm die kühle Nachtluft gegen die erhitzten Wangen weht und er Sasukes Rücken an der nächsten Straßenkreuzung entdeckt, ohne die Absicht zu warten, möchte er am liebsten einen anderen Heimweg suchen. Am Ende liegt es zu drei Vierteln an seiner absoluten Orientierungslosigkeit, dass er diesen Plan verwirft und der stetig kleiner werdenden Gestalt vor ihm hinterher joggt, auch wenn seine Gitarre dabei immer wieder von seiner Schulter rutscht.

 

"Du hättest ruhig warten können", knirscht Naruto vorwurfsvoll in den Kragen seines Parkas, den er mit frosttauben Fingern zu schließen versucht. Sasuke zuckt mit den Schultern als hätte er dazu nichts zu sagen und vielleicht hat er das auch wirklich nicht. "Du weißt, wie wir heimkommen?"

 

"Nachtbus."

 

"Ich dachte, du hasst Nachtbusse. Und die komischen Menschen, die darin sitzen. Manchmal ist das fast irgendwie witzig… Aber besser als 50 Pfund – die wir auch gar nicht haben – für das Taxi zu bezahlen, schätze ich. Und Laufen wäre echt weit. Es ist kalt", versucht Naruto sich durch Reden von

den winterlichen Temperaturen abzulenken und davon, dass eigentlich gar nichts geklärt oder gut ist und er sich bei jedem zweiten Schritt dabei erwischt, wie er Sasuke gerne in die Fersen treten würde.

 

Obwohl er noch ziemlich angepisst ist, versucht er ihm die Hand zu reichen, nicht nur einmal, sondern immer wieder, die ganze Zeit, Sasuke hat alle Chancen, ins Gespräch einzusteigen als wäre nichts gewesen und so lange durchzuhalten, bis sie tatsächlich vergessen haben, dass sie eigentlich wütend sind. Er könnte es ihnen so viel einfacher machen, den Olivenzweig akzeptieren, mit dem Naruto schon die ganze Zeit vor seiner Nase herumwedelt, aber Sasuke ist schon die ganze Zeit beängstigend ruhig. Kein richtiges Eingeschnapptsein und auch nicht sein normales ‘Ich bin zu cool, um zu antworten’-ruhig, sondern eine tiefere, dunklere Variante davon. Jeder andere würde keinen Unterschied sehen, aber Naruto ist nicht jeder; er ist derjenige, der Sasuke zu dem größten und wichtigsten Teil seines Lebens gemacht hat, auch wenn er es aktuell ein wenig bereut, und jetzt irgendwie damit zurecht kommen muss.

 

Der Herbstmond scheint blass auf sie herab und die Nachtluft ist frostig genug, dass Naruto seinen Atem sehen kann. Frierend vergräbt er die Hände tiefer in seinen Jackentaschen. Ihr Heimweg führt sie an den Docks entlang, was wahrscheinlich nicht am kürzesten ist, aber immerhin gibt es so weniger Risiko sich zu verlaufen, wenn man nicht in dichtem Straßengewirr steckt, sondern einen Fluss auf der rechten Seite hat, der die Optionen begrenzt.

 

Naruto entgeht nicht, wie Sasukes Schritte etwas unkoordinierter werden, was vermutlich an der Menge Alkohol liegt, die er vor einer halben Stunde noch im Rekordtempo vernichtet hat. Denn auch wenn Sasuke genug Übung hat, um einiges wegstecken zu können, hat auch er seine Grenzen und die scheinen bald ausgereizt zu sein.

 

An manchen Tagen kann Naruto damit umgehen, kann geduldig sein und so tun, als könne er Sasuke vor der Dunkelheit beschützen, als wäre es nicht längst zu spät. Aber an Tagen wie heute, wenn Sasuke sich komplett verschließt und Naruto den Schlüssel verwehrt, da ist es anders. Wenn sich Wälle vor ihm auftun, will Naruto sie niederbrechen, einen Weg durch die Ruinen suchen, finden, was auch immer sich dahinter versteckt, und es so lange treten, bis es zurückkickt. Bevor er weiß, was er tut, ist er ein paar Schritte hinter Sasuke stehen geblieben.

 

“Wetten, du traust dich nicht, ins Wasser zu springen?”

 

Sasuke schaut ihn an, zum ersten Mal seit einer gefühlten Stunde. Seine Augen sind ungewohnt glasig, als er seinen Mund überrascht öffnet.

 

“Was?”

 

Naruto weiß irgendwo, dass das eine schlechte Idee ist. Aber alles, was eine Reaktion aus Sasuke herauskitzelt, ist ihm gerade recht. Sasuke wird nicht darauf eingehen, natürlich nicht, er ist nicht so verdammt dumm, und falls doch, ist das Wasser an dieser Stelle wenigstens relativ ruhig.

 

“Spring”, wiederholt Naruto. “Komm schon, ich fordere dich heraus.”

 

Er wird es nicht machen, niemals. Nur weil er seine Lippen stolz und entschlossen zusammenpresst und keinen Ausdruck mehr in den Augen hat und immer irgendwelche Dinge beweisen will, die keinen Sinn machen. Naruto stößt ihn mit dem Ellbogen an.

 

“Hast du Angst?”

 

Er wird allerhöchstens nass. Das ist das Schlimmste, was passieren kann.

 

“Fick dich”, sagt Sasuke und springt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
… Well, that escalated quickly.

Überraschung! Ich lebe noch! Wer erinnert sich nach knapp 6 Jahren Pause überhaupt noch an diese FF? :'D

Ich ärgere mich so über mich selbst, dass es ausgerechnet dieses Kapitel ist, mit dem ich mir SO viel Zeit gelassen habe, weil hier ganz gut Plot passiert und einige Brücken zu früheren Kapiteln drin sind, an die sich aber nach den ganzen Jahren natürlich niemand mehr erinnert…
Ich bin gespannt, wer überhaupt noch mitliest.
Daumen drücken, dass sich das nächste Kapitel etwas schneller schreiben lässt… Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  NaruSasu90
2021-05-16T11:06:50+00:00 16.05.2021 13:06
Seit ewigkeiten das erste Mal online... Und da lese ich doch gleich mal dieses schöne Kapitel.. Ich mag die duster Stimmung die es verbreitet.. Und die nicht pauschalisieren Gedankengänge von Naruto und Sasukee.. Naruto wirkt irgendwie verändert.. Aber ich mags, es ist so, als wenn er etwas Dunkelheit von Sasuke in sich aufgenommen hätte. Ich frage mich, ob du irgendwann mal etwas durch blicken lässt, warum sasuke der ist, der er nun mal ist. Es bleibt ein spannendes Rätsel und ein wirklich fiese Cliffhanger.. Ich hoffe da vllt kurzfristigetwas neues zu lesen :D liebeGrüße
Antwort von:  Porzellan_Puppe
16.05.2021 13:23
Danke für den Kommentar! Ich hab mich sehr gefreut als ich den Alert gesehen habe! :D
Es wird definitiv noch Kapitel geben, in denen Sasukes Perspektive näher beleuchtet wird, aber komplett durchschaubar wird er auch dann nicht. :)
Du hast auf jeden Fall ein gutes Timing, denn ich bin gestern Abend erst ganz gut mit dem nächsten Kapitel vorangekommen. Ich hoffe, dass ich es bald fertigstellen kann!


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