Verdammter Montag!
Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, lag sie in ihrem Bett und starrte ohne jegliche Motivation an die Decke über sich.
Auf dem Gang hörte sie Schritte und Stimmen. Es war Montag und viele der anderen Studenten machten sich bereits auf den Weg zur Uni oder in die Stadt.
Maike mochte keine Montage. Doch dieser Montag war anders. Sie mochte keine Montage, doch diesen Montag hasste sie jetzt schon. Sie hasste diesen Montag seit genau sieben Uhr dreiundvierzig. Um sieben Uhr vierzig hatte ihr Wecker geklingelt und es hatte bis sieben Uhr einundvierzig gedauert, bis sie wirklich wach war. Es war sieben Uhr zweiundvierzig, als ihr auffiel, das Regen gegen die Fensterscheibe prasselte, was den Montag sicher nicht verbesserte. Doch um sieben Uhr dreiundvierzig erinnerte sie sich an den unglimpflichen Ausgang des Samstagabend und daran, dass sie sie spätestestens in der Laborstunde um zehn Uhr sehen würde.
Das war der Moment, in dem sie begann diesen Montag zu hassen.
Jetzt war es bereits acht.
„Verdammter Montag“, murmelte Maike und schlug letzten Endes die Bettdecke zur Seite.
Mit einem Grummeln richtete sie sich auf und griff zum Vorhang des Fensters, um in das öde Grau vor diesen zu schauen.
Ja, ganz bestimmt einer der schlimmsten Montage ihres Lebens.
Sie ging zu der Waschecke des Zimmers und starrte missmutig in den Spiegel. Ihre Augen bestätigten ihren letzten Gedanken. Sie hatte nicht gut geschlafen in der letzten Nacht und das sah man ihr an. Ihre grünen Augen waren gerötet und das dunkelbraune Haar war zerzaust. Der sprichwörtliche „junge Morgen“ sah auf jeden Fall anders aus.
Sie wusch sich das Gesicht, kämmte sich die Haare, ließ sich bei alledem so viel Zeit wie möglich, zwängte sich in die gammeligsten Sachen, mit denen sie sich traute, das Zimmer zu verlassen, und ging mürrisch aufs Klo und sah, im Zimmer zurück, erneut auf die Uhr.
Acht Uhr sechzehn.
Zumindest blieben ihr noch genau hundertundvier Minuten, bis sie sie wiedersehen musste.
Sie hieß Anna. Anna Seifer. Ließ sich aber Ann nennen. Änn. Immerhin klang Änn ja auch so wunderbar amerikanisch und cool. So cool, das Maike dafür nur ein Augenverdrehen übrig hatte.
So nahm sie ihren MP3-Player, stellte diesen laut genug, um alles um sich herum ausblenden zu können, und machte sich schließlich auf den Weg zur U-Bahn Station, die nur knappe hundert Meter vom Studentenheim entfernt lag.
Die Bahnen waren wie immer um diese Zeit relativ voll, obwohl sie sich glücklich schätzen konnte, dass sie heute nicht schon frühere Stunden hatte, denn das hieße das Geschrei und Geplärre der Kinder, die um diese Zeit unterwegs sein würden, ertragen zu müssen.
Doch wirklich freuen konnte sie sich über ihre späten Stunden nicht.
Davon abgesehen, dass sie sich langsam hungrig fühlte und ganz dringend einen Kaffee brauchte, konnte sie Anna und den vergangenen Samstagabend nicht verdrängen.
Wie konnte sowas nur passieren?
Gerade als sie die U-Bahn an der Uni wieder verließ, legte sich eine Hand auf ihre Schulter und sie fuhr aufgebracht herum, um zu sehen, wer die Frechheit besaß, sie in ihrer Montagslethagie zu stören.
Ein breites Grinsen versuchte sie zu blenden, ehe sich die Lippen des Grinsens öffneten und irgendetwas sagten, das sie dank ihrer Musik nicht verstand.
Doch auch, wenn Maike selbst sich niemals die Mühe gemacht hätte, die die davon abhielt Bastian (wie der Besitzer des übermäßig positiven Grinsens hieß) zu verstehen, kümmerte sich dieser nicht darum und zog einfach die Kopfhörer aus den Ohren. „Hey!“, meinte er glücklich, erhielt von ihr aber nur ein Grummeln als Antwort.
Bastian, relativ groß gewachsen, mit langen, wirren braunen Haaren und dem Schatten eines Bartes auf den Wangen, legte den Kopf schief. „Na, wir klingen aber nicht sonderlich glücklich.“
Wütend sah sie ihn an. „Bas! Lass mich!“ Damit ging sie einfach an ihm vorbei, hielt ihn jedoch nicht davon ab ihr zu folgen.
„Okay, ich korrigiere“, kommentierte er, während sie die Treppen aus der Station heraus hochgingen. „Wir haben heute besonders miese Stimmung.“
Auch im Gedrängel hielt er problemlos mit ihr Schritt.
„Es ist Montag“, erwiderte sie.
„Ah, die Montagslethargie...“ Er seufzte und ging vor sie, um sie ansehen zu können. „Ich muss jedoch anmerken, dass die werte Dame selbst für einen Montag schlecht aussieht.“
Maike zuckte mit den Schultern. „Lass mich doch in Ruhe.“
So ablehnend ihr Verhalten gegenüber Bastian auch war, so war er normalerweise doch derjenige, den sie als ihren besten Freund bezeichnete. Trotzdem war er im Moment eine der Personen gewesen, die sie am wenigsten sehen wollte.
Immerhin war indirekt er an dem Ende des Samstagsabends Schuld. Denn es war seine Geburtstagsfeier gewesen.
Was Anna auf dieser Feier gemacht, war Maike ohnehin noch ein Rätsel. Immerhin gehörte Anna zu jenem Teil der heutigen Jugend, die von jener Art besagter Jugend, zu der sich Maike zählte, wenig bis gar nichts hielt.
Einfach gesagt: Anna war eitel. Anna mochte Pro Sieben. Und Anna trug exakt dieselbe Kleidung wie geschätzte achtzig Prozent aller anderen Mädchen auch. Und warum Anna studierte und vor allem Naturwissenschaften studierte, verstand Maike nicht. Immerhin war Anna doch eins von jenen Mädchen, die normalerweile Physik und andere Wissenschaften in der Schule abwählten, sobald und sofern dies möglich war.
Maike hingegen war so ganz anders. Sie kannte Bastian aus dem örtlichen Comic Store, wo sie einen nicht unerheblichen Teil ihrer Freizeit verbrachte. Sie hatte Chemie am Gymnasium im Leistungskurs belegt, schaute ohnehin schon lange kaum noch Fernsehen und trug meistens einfache Blusen oder – vor allem an der Uni – einfache, gemütliche weite Pullis und T-Shirts, immerhin sah sie es nicht ein, sich für die gehirnamputierten Kerle an der Uni in unbequeme Sachen zu stecken oder stundenlang zu schminken.
Um es einfach auszudrücken, sie und Anna waren unvereinbare Gegensätze, wie sie im Buche standen.
Und warum Anna am Samstag auf Bastians Feier gewesen war (und wer sie überhaupt eingeladen hatte), das blieb Maike ein Rätsel.
„Man, was ist denn heute mit dir los, Maike?“, fragte Bastian, nachdem sie ihn gute fünf Minuten bereits mit Schweigen strafte.
„Nichts besonderes“, erwiderte sie gereizt, immerhin ging es ihn nichts an.
Er seufzte. „Du bist sehr kompliziert“, erwiderte er, als sie die Uni erreichten und in der Eingangshalle des Hauptgebäudes die Treppen zur Caféteria hinaufgingen.
„Wie war das?“, grummelte sie. „Frauen sind doch immer kompliziert, sagst du.“
Grinsend lächelte er mit den Schultern. „Stimmt auch wieder.“
Mittlerweile standen sie in der Schlange am Frühstücksbuffett der relativ großen Caféteria. Während sich Maike am Kaffeeautomaten den größtmöglichen Expresso holte.
„Was war am Samstag? Du warst auf einmal weg?“, fragte Bastian erneut, während sie sich ein belegtes Brot aus der Kühlung holte und sich zwei Äpfel auf ihr Tablett legte.
Sie antwortete nicht sofort, sondern schob ihr Tablett weiter in Richtung Kasse schob. „Mir war schlecht“, log sie schließlich.
„Okay...“, meinte er und schwieg tatsächlich bis sie bezahlt hatten.
Doch gerade als sie sich setzten und Maike bereits annahm, dass sie die Fragerunde überstanden hatte, begann er erneut.
Sie hatten tatsächlich einen der Tische vor der Fensterfront der Caféteria bekommen und konnten so auf den kleinen Park und den Parkplatz vor der Uni sehen. Bei dem sommerlichen Traumwetter das bereits jetzt im Mai für den Nicht-Montagsmuffel eigentlich ein aufmunternder Anblick, doch Bastian verbesserte Maikes Laune gerade nicht wirklich.
„Ann war auch auf einmal verschwunden“, fuhr der Dreiundzwanzigjährige fort.
Sie sah ihn wütend an. „Und damit willst du sagen, dass...?“
„Nichts“, antwortete er. „Ich meinte nur...“
„Ja, sicher“, grummelte sie. „Und seit wann nennst du sie auch noch Ähn?“
Erneut zuckte er mit den Schultern. „Was ist daran so schlimm?“
Anstatt zu antworten, grummelte sie nur etwas Unverständliches. Sie konnte dieses Wanna-Be-Ami-Zeug nicht ausstehen, und hey, sie las Comics.
Während sie in einen Apfel biss und für einige Momente aus dem Fenster schaute. „Was hat sie überhaupt auf der Feier gemacht?“
Bastian folgte auf ihrem Blick und meinte beiläufig: „Ich hatte sie eingeladen.“
„Warum würdest du sie einladen?“, fragte Maike entgeistert.
„Warum nicht?“
Die junge Frau schüttelte den Kopf. Hatte er vor sie fertig zu machen? Hatte sie ihn irgendwie verärgert? Oder war es vielleicht Gott selbst, der sich an ihr rächen wollte, weil sie seit drei Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen war?
„Weil sie Anna ist? Sie hält einen Dreck von uns und wir versuchen sie im Gegenzug zu ignorieren!“, meinte sie.
„Und ich dachte, wenn sie und ihre Leute nett zu uns sein sollen, müssen wir ihnen mal eine Chance dazu geben“, erwiderte Bastian und pausierte eine Weile. „Und dafür, dass du sie normal ignorierst, bist du heute mies auf sie zu sprechen...“ Sein Blick sagte zu genüge, dass er wusste, oder zumindest ahnte, was für ein Spiel sie hier spielten, jedoch wartete er auf ihr vermeintliches Geständnis, anstatt sie direkt mit seiner eigenen Vermutung zu konfrontieren.
„Und?“ Ihre Laune war noch immer nicht besser.
Es folgte ein kurzes, aber eisiges Schweigen, ehe Bastian seufzte.
„Weißt du“, gab er es schließlich auf. „Ich habe noch immer das Gefühl, dass du sie bei weitem nicht so 'hasst'...“ Dabei betonte er dieses Wort sehr deutlich. „Es scheint eher eine Art Routine zu sein, wenn du mich fragst.“
„Quatsch“, grummelte Maike.
„Du willst mir wirklich weiß machen, dass du sie hasst?“ Erneut betonte er das Wort, doch sie schwieg.
Natürlich hasste sie Anna! Sie hielt es kaum aus, mit ihr in einem Raum zu sein.
Bastian zog aus ihrem Schweigen allerdings seine eigenen Sprüche. „Ich denke da an eine Redewendung“, meinte er süffisant. „Was sich liebt das neckt sich!“
Nun sah sie ihn wütend an. „Treib es nicht soweit. Ich habe auf dein Gelaber gerade echt keine Lust!“, fuhr sie ihn aufgebracht an und zog damit sogar ein paar Blicke auf sich.
„Ich bin ja schon ruhig“, meinte er und sah übertrieben abwesend aus dem Fenster.
„Das hoffe ich“, knurrte sie.
„Ich meine ja nur...“
Maike starrte ebenfalls aus dem Fenster.
Jedoch verstand sie noch immer nicht, was am Samstagabend passiert war. Sicher, sie war angetrunken gewesen, das wusste sie, aber so sehr sie sich dies auch wünschte, bezweifelte sie betrunken genug gewesen zu sein...
Sie hatte Anna geküsst! Und sie verstand nicht wieso.
Wobei, sicher war sie sich nicht sicher war, ob sie selbst Anna geküsst hatte, oder Anna sie geküsst hatte... Aber das war relativ egal, denn selbst wenn es von Anna ausgegangen wäre, so hatte sie selbst den Kuss erwidert. Sie waren irgendwann zur Zeit um Mitternacht herum in die Stadt gegangen und hatten geredet... Worüber überhaupt? Und sie waren in einer Bar gewesen.
Und am Sonntagmittag war sie in Annas Wohnung aufgewacht und verschwunden, ehe diese aufgewacht war.
Und darüber wollte sie sicher nicht mit ihr reden.
„Wir sollten gehen...“, riss Bastian sie aus ihren Erinnerungen. „Und hör auf so griesgrämig dreinzuschaun. Du machst mir ja Angst.“
„Kümmer' dich um deine eigenen Probleme, Bas“, erwiderte sie halbherzig, nahm ihre Tasche und stand auf. Ein Blick auf ihr Handy verriet ihr, dass ihr noch maximal zehn Minuten blieben, ehe sie sie wiedersah.
Vielleicht – das hoffte ein Teil von ihr – erinnerte sich Anna ja an nichts mehr, genau so wie ihre eigene Erinnerung in einer Bar endete.
„Du könntest dir zumindest selbst eingestehen, dass du sie magst“, meinte Bastian zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Wenn du es schon mir gegenüber nicht zugeben willst.“
„Halt einfach die Klappe“, meinte sie nur abfällig und seufzte. Sie nahm ihre Umhängetasche von neben ihrem Schuh und stand auf. Mit dem Tablett in der Hand ging sie zu dem dafür vorgesehenen Rollwagen und stellte es dort ab.
„Maike!“, versuchte Bastian es noch einmal, doch sie ignorierte ihn.
Am liebsten wäre sie wieder nach Hause gegangen.
Wie bereits bei ihrer Ankunft legte Bastian seine Hand auf ihre Schulter, doch dann ließ er sich auf einmal zurückfallen.
Automatisch verlangsamte sich Maikes Schritt ebenso, noch bevor sie erkannte, warum Bastian stehen blieb. Doch da sah sie die dünne Gestalt, die an der Tür zum Block H der Universität lehnte, in dem die Labore waren.
Sie wollte sich auf dem Absatz umdrehen, doch da kam die Gestalt auf sie zu. Sie war schlank, hatte kleine Brüste und trug ein langes, enganliegendes T-Shirt, eine Jeans und Sandalen, war bei weitem ordentlicher gekleidet als Maike und auch ihr hellbraunes Haar war ordentlich zu einem Zopf gebunden.
Doch dieser fiel etwas anderes auf. „Was ist mit unser Änn los?“, fragte sie genervt. „Wir sind heute nicht geschminkt.“
Die andere Frau überging dies jedoch. „Du warst gestern Mittag verschwunden. Wieso?“
Soviel zum Thema Blackout, musste Maike innerlich seufzend. „Aber...“ Sie wusste nicht einmal, was sie genau sagen wollte.
Anna lächelte. „Willst du nach dem Labor einen Kaffee trinken gehen? Ich lad dich ein.“
Was war jetzt los. „Aber“, setzte sie erneut an.
„Ich habe keine Lust mehr, weiter zu streiten“, erwiderte Anna auf die unausgesprochene Frage. „Ein Jahr ist doch genug.“ Sie nahm ihre Hand. „Findest du nicht?“
Doch für den Moment fiel Maike keine Antwort ein.