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Reneé

von

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Die andere Frau

Aramis und Kapitän D’Treville mussten lange warten, ehe sie zum König vorgelassen wurden. Ein Page bot ihnen Pralinen und Getränke an, aber sie lehnten ab. Ein Musketier aß keine Pralinen und nippte nicht am Wein, während er seinen Dienst tat. Ein Musketier benahm sich so, wie es seinem Ruf entsprach. Beim Eskortieren des Königs war er zurückhaltend und diskret. Außer Dienst sollten sie verwegen, furchtlos, schneidig und ein wenig rüpelhaft sein. Ihr gepuderter König wollte es so und liebte den Ruf der seinen Musketiere anhaftete. Wahrscheinlich hoffte er, dass damit ein wenig draufgängerisches Heldentum auf ihn abfärbte. Das Bild, dass Aramis und der Kapitän abgaben, war weder schneidig, noch draufgängerisch. Es entsprach eher müder Resignation. Die warme Sommersonne erhitzte den Raum, so dass die Pralinen auf den Tablett schmolzen. Die Luft war schwer und dick.

Der Kapitän saß, Aramis stand, den Rücken an eine Säule gelehnt. Ihre Kleidung klebte ihnen klamm auf der Haut. Aramis gähnte. Der Kapitän seufzte. Die Wachposten an der Tür schwitzten und stöhnten. Der Zeremonienmeister zischelte empört.

„Ihr könnt nun zu ihm“, erklärte einer der Pagen der soeben eingetreten war nasal und ging voraus, an den schwitzenden Wachposten vorbei. Aramis und D’Treville folgten ihm.
 

Beim König waren seine höchsten Offiziere versammelt. Zu Aramis Verwunderung war auch Athos dort. Die Herren standen ungezwungen beieinander, plauderten und hielten ein Weinglas in der Hand. Ihr Souverän saß entspannt, die Beine ausgestreckt in seinem Sessel. Nichts deutete auf eine Kriegsbesprechung hin, wenn nicht die Auswahl der anwesenden Männer und die ausgebreitete Karte Frankreichs zwischen ihnen, für sich gesprochen hätten. Das Stimmengewirr erstarb, als Aramis und der Kapitän den Raum betraten. Die beiden diensthabenden Musketiere salutierten still. Ludwig winkte sie gefällig näher. Der Kapitän hatte in der Stunde, die sie auf eine Audienz warten mussten, eine bemerkenswerte Geduld gezeigt. Nun war sie erschöpft. Sein Blick glitt finster über die anwesenden Herren und blieb auf der Karte liegen. Warum besprach sich der König mit seinen Generälen und hatte ihn, den Kapitän seiner Musketiere im Vorzimmer warten lassen? Auch der Kardinal war nicht anwesend. War die Zeit der alten Berater vorbei?

„Dies ist kein offizieller Kriegsrat, mein alter Freund“, erklärte der König jovial, als er den stummen Vorwurf im Gesicht seines alten Freundes las. „Wir debattieren nur ein wenig über die Lage. Wir hörten, Euch geht es nicht gut. Ihr seid krank und müsstet Euch ausruhen.“

Der König streckte sich mit einer trägen Bewegung.

„Ihr braucht mich!“ erwiderte der Kapitän knapp.

Der König lächelte milde. „Natürlich. Ihr seid der Kapitän meiner Musketiere.“

Der Kapitän nickte verdrossen.

„Willkommen zurück im Dienst, Aramis!“

Aramis verbeugte sich förmlich. „Danke, Eure Majestät.“ Der steife Musketierrock bekam einen Knick.

„Und wir alle dachten, Ihr seid tot!“, erklärte der König vergnügt.

Darauf wusste Aramis nichts Geistreiches zu erwidern und schwieg.

„Berichtet uns! Erzählt uns alles!“

Ihr Blick begegnete kurz dem von Athos. Er stand abseits, als wenn er nicht dazugehören würde, was er ja auch eigentlich nicht tat. „Wir waren auf den Weg nach Lille“, erklärte sie. „Wir hatten gerade den Wald verlassen und befanden uns auf freiem Feld, da tauchten die Spanier plötzlich auf. Vielleicht 100 Mann und sie waren alle beritten.“

Sie räusperte sich. Die abwartende Stille rauschte durch ihre Ohren.

„War es ein Hinterhalt oder Zufall?“

„Ich weiß es nicht, Eure Majestät.“

„Und weiter.“

„Als wir sie kommen sahen, kippten wir die Wagen um und verschanzten uns dahinter. Sie hielten direkt auf uns zu und ritten uns einfach nieder. Wir versuchten uns so gut es geht zu wehren, aber es war hoffnungslos. Der größte Teil von uns war kaum kampffähig und keiner von uns hatte Waffen.“

„Wieso nicht?“, fragte der König.

„Was soll ein Mann ohne Arme mit einer Muskete?“ sagte einer der Herren gleichgültig. „Womit soll er laden und abdrücken. Und ein Mann ohne Beine kann schlecht weglaufen.“ Aramis sah den Witzbold nicht an, aber ihre Zähne knirschten.

Der König bat um Stille. „Und die Eskorte?“

„Es waren zu wenige.“

„Es war nur der Verletztentrupp, Eure Majestät. So etwas passiert. Es ist Krieg.“ Zustimmendes Gemurmel, denn einer von ihnen hatte den Befehl gegeben, die Verletzten und eine Handvoll Soldaten zurückzulassen. Keiner der Offiziere verstand, warum sich der König für einen Haufen unbrauchbar gewordener Soldaten interessierte. Die Meisten von ihnen waren Bauern. Gut, einer seiner geliebten Musketiere war dabei gewesen, aber der Mann hatte ja letztendlich überlebt. Kein Grund Betroffenheit zu zeigen. Es war vielleicht nicht ganz die feine Art einen Trupp Lazarettsoldaten zu überfallen, die aber es entließ den König von der Pflicht Veteranenrente zu zahlen.

„Aber Ihr seid entkommen!“

„Seine Beine waren wohl nicht zu Schaden gekommen.“ Wieder unterdrücktes Gelächter.

„Nun, Eure Musketiere sind nun einmal die am besten ausgebildetsten Männer“, erklärte D’Treville.

„Das ist wohl wahr“, pflichtete Ludwig ihm bei und sah wohlgefällig auf Athos. „Deshalb sind sie wie geschaffen für die höheren Offiziersposten.“ Das Gelächter erstarb und seine Offiziere blickten missmutig drein und maulten leise vor sich hin. Unnötig zu erwähnen, dass die königlichen Musketiere nicht gerade beliebt bei den Offizieren waren. Als Adelige mit besonderer militärischer Ausbildung und ständiger Nähe zum König, stiegen sie oft in die oberen Offiziersränge auf und ließen sich bei Kriegseinsetzen schwer befehligen. Und der König begegnete seinem Adel mit Misstrauen, seit ihn die Provinzadligen verraten hatten.

Der König lehnte sich vor. „Ihr habt mir noch immer nicht erklärt wie Ihr entkommen seid, Aramis?“

Aramis schluckte. „Ich habe einen der Angreifer von seinem Pferd gerissen und bin mit seinem Pferd in den Wald geritten.“ Sein Offiziersstab blickte noch missmutiger drein. „Eine wirkliche Glanzleistung, Eure Majestät“, bemerkte einer von ihnen bissig. „Möchte er einen Orden dafür!“

„Aramis möchte gar nichts. Nur seinen Dienst wieder aufnehmen!“, sagte der Kapitän.

Der König lächelte. „Warum haben das nicht alle meine Männer getan. Dann hätten die Spanier zu Fuß nach Hause laufen müssen.“

„Nicht alle hatte noch Arme und Beine, Majestät.“ Neben Aramis stöhnte der Kapitän leise auf.

„Ja, richtig, das wurde schon erwähnt“, sagte der König nachdenklich. „Und dann, warum habt Ihr so lange gebraucht, um wieder nach Hause zu kommen?“

„Wir waren zu weit nach Westen gegangen, nur zu Fuß unterwegs, ohne Verpflegung, Waffen und Geld.“

„Und das Pferd?“

„Das ist uns bei einem Überfall abhandengekommen.“

„Noch mehr Spanier?“, fragte einer der Herren fadenscheinig interessiert.

„Nein, Wegelagerer.“ Aramis betrachtete angestrengt einen Punkt über der rechten Schulter des Königs.

Die Herren lachten leise und spöttisch. „Kapitän D’Treville, Ihr bildet Eure Musketiere wirklich allumfassend aus.“

Athos griff zum Degen, doch der mahnende Blick seines Kapitäns hielt ihn zurück.

„Und Lord Rochefort war bei Euch?“ Der Blick des Königs war finster.

Aramis Blick irrte umher. Sie erinnerte sich an einen fiesen Kommandanten, der ihnen in seiner Dummheit und Arroganz das Leben schwer gemacht hatte, aber auch an den Weggefährten und seine Warnung. „Ohne Lord Rochefort wäre ich nicht nach Hause zurückgekehrt“, sagte Aramis ernst und meinte es so. „Das Land ist in einem fürchterlichen Zustand, Eure Majestät. Die Menschen haben alles verloren und für etwas zu Essen morden sie jeden, dem sie begegnen. Ganze Dörfer waren niedergebrannt und in den Bäumen hingen die Leichen. Es ist die Hölle auf Erden. Wir sind oft nur mit knapper Not entkommen.“ Die Gesichter der königlichen Offiziere, die nie auch nur einen Tag Hunger, Angst und Kälte erdulden mussten, zeigten deutlich, dass sie Aramis Beschreibung für übertriebenen Unsinn hielten. Der König schien dennoch nachdenklich. Er schlug resolut die Hände zusammen. „Und damit dies nicht Frankreich passiert, meine Herren, müssen wir etwas gegen die Spanier unternehmen.“
 

Fest entschlossen Aramis Leben zu ruinieren setzte Rochefort zu sprechen an. Er holte auch Luft, kam aber nie dazu sie zum Sprechen zu benutzen. Sie verpuffte ungenutzt und erwartungsvolles Schweigen schlug in enttäuschte und verstimmte Stille um.

Dabei bemühte sich Rochefort redlich. Sein Kehlkopf flatterte vor Anstrengung, Schweißperlen traten auf seine Stirn, aber die Worte lagen schwer wie Blei auf seiner Zunge. Er seufzte irritiert und verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere.

Der Kardinal maß ihn mit einem Blick, der in seiner Ausdruckslosigkeit völlig eindeutig war: Rochefort sollte in der nächsten Stunde etwas vorbringen, dass zu seinen Gunsten sprach, sonst war die Stunde seiner Gunst um.

„Nun?“

Aber Rochefort konnte nicht. Das Schicksal hatte Rochefort etwas in die Hand gespielt, was so delikat war, dass es ihn die gesamte fürchterliche Zeit seiner Heimreise fröhlich gestimmt hatte. In sternenklaren, viel zu kalten Nächten, wenn die Steine sich in seinen Rücken bohrten und der ständige Schmerz seines leeren Magens ihm vom Schlafen abhielt, hatte er sich die Reaktion des Kardinals vorgestellt. Sie konnten die gesamte königliche Musketiergarde zu Fall bringen. Eine Frau in ihren Reihen, welche ein Skandal!

Doch plötzlich wurde er von so etwas wie ein Gewissen belastet, wo er nie eines gehabt hatte. Gefühle wie Respekt oder Freundschaft waren ihm immer vollkommen fremd gewesen. Rochefort war ein Egomane und es fehlte ihm jegliche Empathie. Einzig seine bedingungslose Loyalität zum Kardinal bildete die Ausnahme. Rochefort soziale Kontakte bestanden aus Bedienstete, Feinden oder gleichgesinnte Speichellecker des Kardinals. Sexuelle Anziehungskraft konnte es auch nicht sein. Was er in Bezug auf Aramis empfand, war eher eine Art Juckreiz. Er bevorzugte eindeutig Frauen mit deutlich sichtbaren weiblichen Attributen, die sich auch wie Frauen benahmen.

Nachdenklich und verlegen kratzte er sich am Kopf, dann lächelte er. Ein Lächeln vollster Unaufrichtigkeit. Seine Eminenz massierte sich die Nasenwurzel.

„Rochefort?“

„Ja, Eure Eminenz.“

„Ihr wolltet mir etwas mitteilen?“

„Ähm, nein Eure Eminenz.“ Der Kardinal seufzte. Seine Blase drückte und die Kopfschmerzen wurden unerträglich.

„Ihr steht bis auf weiteres unter Hausarrest“, entschied er.

Rochefort schenkte ihm ein sehr in die Länge gezogenen Hundeblick, was die Kopfschmerzen des Kardinals keineswegs besser machte.
 

Der König wollte in den Park. Die Herren erwachten aus ihrem Dämmerschlaf. Weingläser wurden eilig beiseite gestellt und es entbrannte ein heftiger Kampf, um den Platz in der Nähe des Königs. Die großen Flügeltüren öffneten sich und die Gruppe stürmte laut schwatzend und mit viel Ellenbogeneinsatz davon. Zurück blieben Athos, Aramis, der Kapitän und die Stille. Das Gesicht des Kapitäns war vor Erschöpfung fahl.

„Kapitän, ich wusste es nicht!“, sagte Athos.

D’Treville klopfte ihm auf die Schultern und ging.

Während der König durch den Park flanierte, schossen die Höflinge aus ihren Verstecken hervor und materealisierten sich neben dem König. Auf ihren stöckligen Schuhen staksten sie der königlichen Herde hinterher, um mit dazuzugehören. Der Geruch von zu viel Parfüm, Puder und Schweiß folgte ihnen. Die Königin war mit ihren Damen ebenfalls im Park. Auf der Allee de Diane begegnete sich das königliche Paar mit ihrem jeweiligen Gefolge. Der Blütenduft hing schwer in der Luft. Über den Köpfen der Frauen tanzte ein Meer aus bunten Sonnenschirmen und für einen Moment wurde es still bis auf die Kirchenglocken, welche die Mittagsstunde einläuteten.

„Die Königin hat zwei neue Hofdamen“, erklärte der König. Erwartete Zustimmung war die Antwort. Die Schirme der Damen hoben sich. Der Park war plötzlich von einem schweren, eigenartig gedankenverlorenen Schweigen durchflutet. Füße hörten auf zu scharren und selbst die älteren Herren unter ihnen, fühlten ihr Blut wieder jung in ihren Adern pulsieren. Die Frau an der Seite der Königin war schön. Sie war nicht einfach nur schön, sondern diese Art von Schönheit, die Männer veranlasste mit Hingabe zu dichten, obwohl sie mit Poesie rein gar nichts anfangen konnten. Ein Geschöpf von so himmlischer Vollkommenheit, dass selbst Aramis sie verzückt anstarrte.

„Madam, warum haben wir Euch bisher noch nie gesehen?“, rief ein Comte verzückt.

Der König beugte sich über die Hand des himmlischen Geschöpfes. „Marquise Louanne Clermont-Tonnerre, wurde von ihrem Mann versteckt.“ Er lächelte träge.

„Der Marquis ist tot.“

„Ja“, die königliche Hand ließ seine Beute nicht los. „Darum haben wir auch diese Perle an unseren Hof geholt.“

Annas Fächer schlug zu. „Aber, aber“, tadelte sie, „wollt Ihr wohl die Hand der armen Louanne loslassen!“ Die Hand des Königs hielt Louannes vollkommende Hand trotzdem noch eine Weile fest. Die Marquise errötete nicht. Sie hatte dunkles, fast schwarzes Haar, seidig und leicht gelockt. Ein ebenmäßiges Gesicht mit makelloser Haut und sinnlichen Lippen. Doch ihr Blick hatte etwas unnahbares, abwehrend kühl, gelangweilt, eine Aufforderung an jeden Mann, derjenige zu sein, der sie entflammte. Als der König ihre Hand endlich losließ, zog die Marquise sie schnell zurück und versteckte sie in den Falten ihres Kleides. Ihre Augen waren grau, so grau wie die von Athos.

Unwillkürlich blickte Aramis zu Athos, doch zu ihrem Erstaunen sah er die Schönheit gar nicht an. Sein Blick galt der zweiten Hofdame der Königin und die junge Frau sah Athos an. Ihre Lippen formten lautlos einen Namen. Sie blinzelte heftig. Vielleicht weil Tränen in ihren Augen standen. Athos spürte, wie sich eine Hand um sein Herz ballte und zudrückte. Sie sah noch genauso aus wie früher. Der zierliche Körper und das kleine herzförmige Gesicht mit der Flut von brauen Haaren, einem spitzen Kinn und einer hübschen kleinen, fast vorwitzigen Nase. Nur ihre Augen waren nicht mehr die unschuldigen Augen eines jungen Mädchens und sie trug ein Kleid, dass viel zu farblos und zugeschnürt für eine junge Frau war.
 

Lord Rochefort stand auf der Rue Saint Honoré und sein Magen knurrte. Der glimmernde Nachmittagshimmel schien alle Farben aufzusaugen und die Luft war geschwängert von der windlosen heißen Luft. Da war es wieder, das ewig knurrende, beißende Tier in seinem Magen, dass Hunger hieß. Wenn er etwas Anständiges zu essen wollte, musste er nach Hause. Das Essen in den Tavernen und Garküchen war nicht nach seinem Geschmack. Doch anstatt nach Marais zu gehen, ging er in eine andere Richtung. Entfernte sich von den Palästen, amtlichen Behörden, den breiten Alleen und der unermüdlichen Seine. Er folgte dem Gewirr der Straßen, bis sie schmaler und ruhiger wurden. Rocheforts Leben hatte in den letzten Wochen Kopf gestanden. Tage und Nächte bestanden aus Erschöpfung, Hunger und Kälte. Aus Dreck, Überwindung und der blanken Furcht und das schreckliche Wissen, dass der nächste Tag genauso sein würde. Aber zwischen all dem Schrecken war auf einmal das warme Gefühl der Kameradschaft und Gemeinsamkeit. Zurück zu Bediensteten, warmen Seidenbettlacken und reich gedecktem Tisch, fehlte plötzlich etwas.

Der Ameisenhaufen der Pariser Citè blieb hinter ihm. Die Pflastersteine der Straße wurden gröber. Die Häuser waren aus Lehm und Holz, mit gespannten Wäscheleinen quer über der Gasse und einem Stall als Nachbarn. Vor einem schlichten zweistöckigen Haus mit weißem Kalkputz blieb er stehen. Eine schmale Treppe führte zur Hintertür in den zweiten Stock hinauf. Alles war still, doch die Fensterläden waren geöffnet und der Inhalt eines frisch ausgelehrten Pisstopfes rann unter seinen Sohlen hindurch. Als er das letzte Mal hier war, hatte er Aramis verhaftet. Und was wollte er heute? Wahrscheinlich lief es diesmal auf Erpressung hinaus. Er wollte gerade die Treppe zur Tür hinaufsteigen, als ihm etwas einfiel. Rochefort schlug sich auf die Stirn. Wären sie damals nicht von D’Artagnan unterbrochen worden, als Aramis zum Verhör gefesselt und machtlos in seinen Händen war, hätten sie damals schon Aramis Geheimnis entdeckt. Dann hätte ihn kein Gewissen geplagt. Verfluchter D’Artagnan!

Rochefort stieß die Tür auf, ohne anzuklopfen. Verblüfft sah er sich einer Frau und drei Kindern gegenüber. Die Kinder flüchteten hinter das breite Hinterteil ihrer Mutter. Die Frau fing an zu Schreien. Im ersten Moment dachte er, sich im Haus geirrt zu haben, doch im Zimmer sah es noch genauso aus, wie damals, als sie Aramis geholt hatten. Da war der Schrank, indem Aramis törichterweise die Kleider des Duke aufbewahrt hatte. Was machte also die Frau und ihre Kinder hier?

Das Weib war sehr vorderlastig, was ihm eigentlich gefiel. Die brüllenden Kinder gefielen ihm dafür umso weniger. Eine weitere Frau kam angerannt und fiel händeringend in das Geschrei mit ein. Rochefort blinzelte finster mit seinem einen Augen. Warum musste der Pöbel immer Rumschreien, bevor man sagen konnte, was man wollte.

Vom allgemeinen Lärm angezogen, betrat ein bulliger Mann mit großen Schaufelhänden das Haus und bat mit einem Donnerwort um Ruhe, die er auch augenblicklich bekam. Selbst die Kinder verstummten und sahen ihn mit großen Augen erschrocken an. Das Baby fing halbherzig an zu greinen.

„Wer sind Sie und was wollen Sie?“, verlangte der Mann zu wissen und musterte ihn von oben bis unten. Die Frauen schienen den Atem anzuhalten.

Rochefort hob eine Augenbraue. „Ich will zu Aramis, dem Musketier.“

“Aramis, der Musketier ist tot.“

Rochefort blickte noch finsterer drein, was er wirklich gut konnte. „So ein Unsinn, ich habe ihn gestern noch gesehen.“

„Dann war es ein Anderer oder Sie haben sich geirrt.“ Er reckte zwar herausfordernd das Kinn, aber die Augen des Mannes flackerten unsicher. Etwas verschwieg er.

Rochefort verlagerte das Gewicht auf das andere Bein. „Da diesen bescheuerten Name nur ein Mann in ganz Frankreich trägt, gehe ich davon aus, dass wir von demselben Mann reden. Und als ich Aramis verhaftete, war es in diesem, seinen Haus.“

„Verhaftet?“, wiederholte der Mann verblüfft. „Wer sind Sie?“

Rochefort fixierte ihn seinem gesunden Augen. „Ich bin Lord Rochefort, Hauptmann, der Garde des Kardinals.“ Rochefort hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da war das Haus, samt vorderlastiger Frau und ihre schreienden Gören leer.
 

Seit dem späten Nachmittag saß Athos vor den abgebrannten Holzscheiten in seinem Kamin. Dann war es Abend geworden und die späte Dunkelheit einer Sommernacht brach herein. Die Fensterläden standen offen und die Luft war samtig und schwer. Athos dachte über die Vergangenheit nach, die es ihm so schwer machten, völlig unvoreingenommen in der Gegenwart zu sein. Konnte er eine Liebesbeziehung zu einer Frau haben, die er gar nicht als Frau gesehen hatte, selbst als die eigenen Begierden und Absichten die Wahrheit erklärt hatten? Und konnte er die Nächte mit ihr verbringen und am Tag vorgeben nicht zu wissen, wer sie war? Er war solch ein Heuchler. Wenn ihm Moral, Freundschaft und Gewissen so wichtig wären, hätte er nicht zweimal mit Aramis geschlafen. Er seufzte. Seine Weinflasche war leer, sein Kopf war schwer von den vielen Gedanken, die sich immerfort im Kreis drehten und dem süßlich, schweren Wein.

Es klopfte leise und noch bevor Athos aufsah, wusste er, dass Aramis in der Türfüllung stand. Wenn sich Athos überhaupt Gedanken darüber gemacht hatte, was er bei ihrem Anblick empfinden würde, so hätte er mit Zärtlichkeit am wenigsten gerechnet. Aber gerade die überfiel ihn unerwartet heftig. Sie sah rührend aus, wie sie betont lässig am Türrahmen lehnte und doch nur zu verbergen versuchte, wie sehr ihr Bein schmerzte. Ihr Gesicht war ganz weiß vor Anstrengung. Sie war wie immer als Mann gekleidet, benahm sich wie ein Mann, gestikulierte wie ein Mann und nur die feineren Gesichtszügen verrieten sie als Frau. Er hatte sich früher nie Gedanken über Aramis Aussehen gemacht, auch wenn er bemerkte, mit welcher Verwunderung andere Menschen auf sie reagierten. Am Meisten täuschte wohl ihre Größe, mit der sie selbst Männer überragte. Wenn ihr Körper feingliedrig war, so verbargen ihn Kleidung und Waffenschärpe, den Rest macht ihr Ruf zu den Besten der Musketiere zu gehören.

„Sind deine unwillkommenen Besucher ausgezogen?“

„Ich war mit Porthos dort, aber es war niemand mehr da“, erwiderte sie und zog eine Grimasse. „Und sie haben alles mitgenommen. Mein Haus ist leer.“

„Wie leer?“

„So leer, dass es ein Wunder ist, dass es noch Türen gibt.“ Rührenderweise hatte das Haus nach Bohnerwachs gerochen und das Einzige, was sie dagelassen hatten, lag im Abort. Es hatte nach sehr viel Ungenauigkeit gerochen.

Aramis Hände kneteten ihre Handschuhe.

„Und nun?“

Sie zuckte die Schultern. „Sie sind längst auf und davon. Mir stehen noch drei Monate Sold zu. Davon kann ich erst einmal das Nötigste kaufen.“

„Ich fürchte, deinen ausstehenden Sold wirst du nicht bekommen.“

„Wieso?“

„Die Staatskassen sind leer“, erklärte Athos ruhig. „Der Kardinal spart wo er kann. Ich habe diesen Monat auch keinen Sold bekommen.“ Aramis seufzte ergeben und wandte sich zum Gehen.

„Aramis, willst du in ein vollkommen leeres Haus zurückkehren?“

„Ich komme schon zurecht.“

Er lächelte still. „Ach Aramis, bleib hier!“, rief er sie sanft zurück. „Ab morgen bin ich für mehrere Tage fort. Du kannst in meinem Haus wohnen!“

Aramis wandte sich um.

„Ich habe sogar noch etwas zu Essen im Haus.“
 

Athos sah sie über den Tisch hinweg an, den Ellenbogen auf dem Tisch, das Kinn auf die Hand gestützt.

„Du bereitest mir ziemliches Kopfzerbrechen“, sagte er.

Aramis schob den leeren Teller fort und zog eine Augenbraue hoch. „Ich oder der Wein?“

„Spotte nur“, sagte Athos mit sehr ernstem Gesichtsausdruck. „Wir hatten uns geschworen Freunde zu sein. `Einer für alle und alle für einen´ und für keinen von uns, waren es nur schnöde Worte. Doch die ganze Zeit wusstest du, dass du uns belügst.“

„Aber nur, weil es nicht anders ging. Ihr hättet mich doch nie in Eurer Mitte akzeptiert, wenn ihr die Wahrheit gewusst hättet“, verteidigte sie sich. „Und ich meinte meinen Schwur genauso ernst wie ihr.“

„Aber wer bist du?“

„Dieselbe, die ich immer war. Wir kennen uns schon so viele Jahre, Athos. Sage nicht, dass du mich nicht kennst. Du weißt, was wir alles zusammen erlebt haben.“

Genau das war es, womit Athos nicht zurechtkam. Wie konnte er so viele Jahre, nicht bemerkt haben, dass Aramis eine Frau war? Irgendwann kannte man einen Menschen so lange, dass es völlig unmöglich schien, dass er nicht der war, der er vorgab zu sein.

„Ich habe immer versucht Eurer Freundschaft und dem Musketierkodex gerecht zu werden“, fuhr Aramis fort. „Aber ich wusste, wenn ihr erfahrt, dass ich eine Frau bin, dann ist unsere Freundschaft vorbei und ich bin für euch gestorben. Außerdem wollte ich Euch davor schützen, Mitwisser zu sein. Denn jeder der mein Geheimnis kennt ist in Gefahr, wenn man mich entdeckt und verurteilt. “

Athos wollte etwas erwidern, aber er schwieg, weil sie Recht hatte. Porthos und er hätten sie aus gekränktem männlichem Ehrgefühl verstoßen.

„Und trotzdem bist du in jener Nacht zu mir gekommen.“

Aramis zuckte leichthin die Schultern. „Ich dachte, wir sterben alle. Ich wollte nicht mit einer Lüge sterben.“

„Was machen sie, wenn sie entdecken, dass du eine Frau bist? Eine Frau, die sich anmaßt ein Musketier des Königs zu sein? Sie müssen dich töten, um ihr Gesicht zu wahren.“

Aramis Blick wurde dunkel und trotzig. „Vielleicht wollte ich ja am Anfang sterben und nun ist es zu spät und ich kann nichts anderes mehr sein.“

„Du könntest aufhören und weggehen.“

„Und dann? Das Kloster? Reumütig nach Hause zurückkehren?“ Ihre Augen glänzten: „Athos, ich bin einer der drei Musketiere. Ich habe die Freiheit, über mich selbst zu bestimmen.“

Athos schluckte. „Was ist mit Kindern und einem Ehemann?“

„Ich war kurz davor genau das zu bekommen und dann wurde es mir grausam genommen.“ Sie lächelte schwach. „Außerdem, wer sollte mich heiraten wollen?“

„Wieso? Du bist eine schöne Frau!“

Aramis sah ihn überrascht an. Ihre Augen glitzerten. „Soll ich denn aufhören und weggehen?“

Athos schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich möchte nicht noch einmal die Nachricht von deinem Tod bekommen und um dich trauern.“

Eine Weile schwiegen sie. Als Athos aufblickte und in Aramis Augen schaute, sah er den Hunger in ihnen.

„Teilst du das Bett mit mir?“

„Bist du sicher, dass du das willst?“, frage sie mit belegter Stimme. Ihr Herz schlug hart und schnell. Sie standen beide auf, ließen den Esstisch hinter sich und gingen in seine Schlafkammer. Plötzlich hatte Athos Zweifel, dass er zu weit ging, dass es zu viele gute Gründe gab, es nicht zu tun und zu viel Ballast zwischen ihnen. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden und in seiner Schlafkammer war es das auch. Sie zogen sich aus, ohne sich zu sehen. Die Kleider raschelten leise, als sie zu Boden glitten, dann krochen sie unter die Decke und nahmen sich vorsichtig in den Arm. Sie begannen sich zu küssen, ganz vorsichtig, fast tastend, um zu wissen, wie es wirkte, was es auslöste. Erst dann wurden sie gieriger. Sie krochen näher an den anderen heran, Arme und Beine ineinander verschlungen.

Als es vorüber war, wusste Athos, dass es vollkommen gewesen war. Das Blut rauschte durch seine Adern, in seinen Ohren und das Wohlbehagen rollte wie eine Welle über ihn.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  laety
2014-03-26T16:26:31+00:00 26.03.2014 17:26
Hallo, Wie lange habe ich lese Ihre fics aber das erste Mal, dass ich einen Kommentar zu schreiben, weil ich nicht Deutsch sprechen. Sorry, wenn dies nicht lesbar aber ich habe einen Übersetzer ... Ich wollte dir sagen, dass ich ein Fan von Ihrem fics war. Dieser ist großartig und ich hoffe wirklich, dass Sie weiterhin schreiben ... Ich freue mich auf mehr ... Was passiert, Athos und Aramis? Und Amaury? Ist Rochefort wird das Geheimnis der aramis verraten? Nochmals vielen Dank für Ihre schöne fics und sehr bald hoffe ich.
Von:  Tach
2013-03-09T14:52:26+00:00 09.03.2013 15:52
Ich fühle mich immer herrlich sprachlos, wenn ich hier einen Kommentar schreiben will. Ich bin nach wie vor sehr gespannt, wie sich die Beziehung der beiden entwickelt und welche Wendungen Rochefort und diese Verflossene der Geschichte geben, aber am meisten habe ich mich über den Schluss dieses Kapitels gefreut :)
Von:  citosol
2013-03-03T07:26:05+00:00 03.03.2013 08:26
I always feel butterflies in my belly when I read one of your chapters! I have to admit that because the terrible translation google makes there are some things I don't understand: i.e. google makes mistakes by exchanging "his"'s and "him"'s with her"'s so I often doesn't know who's speaking or who's acting... :( (sob!) but I totally get the general meaning, and I love it!
I love how Athos is slowly falling for her, despite what his mind says to him, and I'm waiting for the moment in which they will stop to have sex (the urge, the dark room, the hunger) and will start to make love...the same hunger but with eye to eye, heart to heart contact... -____-
And now: Rochefort. I adore how you are make him acting: I love Rochefort being "in love" with Aramis. Or better, being totally obssessed by her without even knowing it. I think he's gong to be very confused and aroused! And what is going to happen when he will discover Athos/Aramis relationship?? Hmmm...yummy....
The thing I definitely didn't get in this chapter (google's fault) is the whole queen's ladies thing: there's the first one so Athos-alike that you made me think she can be his sister (?) that and the one Athos was looking at, but I didn't get the meaning behind the words...I guess I will discover more things later! :)

Thanks for this chapter, I'm always happy when I see you've updated!
Von:  Kira_Lira
2013-03-01T05:54:17+00:00 01.03.2013 06:54
Hello! like this? ^ _____ ^, The things are getting difficult for Aramis, like a nightmare, instead of feeling safe at home, all who know her secret are against it returned to service, but do not offer a better solution, she feels trapped, audience with the king was not better, he had to against what happened, to the laughter of the nobles, in a moment seemed to have the support of Athos, during the hearing, to improve things, met new conquest of Athos, if no doubt why there are rumors that at least seems to recover his house, but has no money to pay the rent, or to furnish it, but did not want to go home Athos, to improve their status of mind, Athos blame him cheating, while almost did mourn, I think Aramis is thinking it would have been better to have died in the attack, Athos is confused by not knowing he feels for Aramis, but that does not stop to sleep with she, without a compromise was lucky last time, but what if this time become pregnant, and if Athos does not change its attitude with her, going to lose, Rochefort seems to be interested in her, at first revealed no his secret, as are things with Athos, can seek refuge and comfort with the count, that does not think he likes the musketeer, I forgot to also lack another suitor, Dr. Amaury, Aramis could choose to be a lady the queen and flirt with the nobles, see what you think has to Athos, I hope the next chapter, please do not hesitate much, thanks for sharing ^ ____ ^.



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