Der Tempel in den Bergen
Kai war gerade dermaßen überfordert, dass er nicht mitbekam, wie der Heiler ihm seinen Namen verriet. Verwirrt starrte er ihn an.
„W-was soll das heißen, willkommen in China?“
Verstört packte er Rei an den Schultern und schüttelte ihn. „Wir waren doch vorhin gerade noch im großen Wüstenland in Afrika!? Dieser Raum, diese Lichtung mit den vielen Türen. Ich-!“
Kai fasste sich an den pochenden Kopf.
„Was geht hier vor sich, Heiler?“
Erneut packte er Rei grob an den Armen, grub die Finger in dessen Muskeln. Der ruhige Chinese verzog keine Mine, legte nur beruhigend seine Hände auf Kais angespannte Unterarme. Sein irrer Blick verriet Rei, dass dies wohl ein bisschen viel auf einmal gewesen war.
„Kai, beruhig dich erst einmal.“
Kais Blick bohrte sich in seinen, er riss die Augen auf, seine Pupillen zogen sich schlagartig zusammen.
„Aber-!“, setzte er an, doch Rei ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Nichts aber, Kai, ganz ruhig. Wir gehen jetzt in meinen Tempel, dort werden wir etwas essen und uns erholen und dann werde ich dir alles erklären.“
Der Russe wollte gerade wieder den Mund aufmachen, doch er wurde abermals unterbrochen.
„Ich beantworte dir alle Fragen, die du hast, Kai, aber erst im Tempel! Jetzt komm.“
Er duldete keinen Widerstand mehr und ging voraus über den schmalen Pfad, auf dem er gestanden hatte. Kai folgte ihm stumm. Seine Gedanken kreisten wild durcheinander um diese ganz konfuse Situation, die sein Verstand erst begreifen musste und er fragte sich, wie lange dies wohl dauerte, oder ob er ihn komplett verlieren würde.
Bald waren sie von dichtem Grün umgeben. Riesige Bäume säumten ihren Weg und ihre Kronen bildeten ein schützendes Dach, das keinen Blick auf den Himmel zuließ. Dunkles, von Tau genässtes Moos erstreckte sich über totes und lebendiges Holz und Steine. Dichte Farne bedeckten den Boden und einige Felsen und hingen weit über ihren kleinen Pfad, der sich somit verborgen durch den Wald schlängelte und sich nur dem offenbarte, der ihn kannte. Ein leichtes Rauschen lag in der Luft, hie und da ein Vogelschrei, ein leises Rascheln von einem Tier, das im Farn verschwand. Einige Sonnenstrahlen brachen durch die Blätter und zogen durch die von Dunst getränkter Luft und tauchten alles in ein sanftes, grünes Licht.
Jegliches Zeitgefühl war verloren. Kai wusste nicht, wie lange er bereits dem Chinesen hinterherlief, der sich kein einziges Mal nach ihm umgedreht hatte. Für ihn sah alles gleich aus und er fragte sich, wie lange es wohl gedauert hatte, bis der Heiler sich all das Wissen über diese bizarren Orte und Wege angeeignet hatte. So in Gedanken versunken achtete er nicht darauf, wo er hintrat und übersah prompt eine große Wurzel. Er strauchelte und fiel nach vorne. Reflexartig hielt er sich am erst Besten fest, das seine Hände zu fassen bekamen und das war Rei, der mittlerweile doch stehen geblieben war und sich gerade umdrehen wollte. Kai stolperte ihm in die Arme und krallte sich in seinem Hemd fest. Von seiner eigenen Ungeschicklichkeit beschämt, legte sich ein roter Schimmer um seine Nase und hastig stellte er sich wieder auf die eigenen Füße. Doch Rei schien dies nicht weiter zu kümmern, stattdessen drehte er sich wieder um und hob eine Hand.
„Schau.“
Kai folgte gebannt seinem Blick. Als Rei einen großen Ast beiseite zog, offenbarte sich ihm ein Anblick, wie er es niemals vermutet hätte. Umgeben von mehreren hohen grünen Felsspitzen, erstreckte sich vor seinen Augen ein großer ruhiger Bergsee, das Wasser klar und tief und spiegelglatt. Mitten im Bergsee erhob sich stolz ein Tempel, nicht reich geschmückt, doch perfekt wiedergegeben vom Spiegel des Wassers. Keine Brücke, kein Steg führte zu ihm.
„Zieh die Schuhe aus“, forderte Rei ihn plötzlich auf.
In der kurzen Zeit, in der Kai mit dem Chinesen unterwegs war, hatte er bereits gelernt, nichts was er sagte zu hinterfragen und so tat er es ihm gleich und zog sich die Schuhe von den Füßen.
„Und nun folge mir. Bleib dicht.“
Rei tat einen Schritt und setzte seinen Fuß unmittelbar nach dem Ufer ins Wasser. Kleine kräuselnde Kreiswellen bildeten sich, als die nackte Haut auf die glatte Oberfläche traf. Und da sah Kai, dass sich nur wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche ein schmaler Steg in die Richtung des Tempels zog. Ohne zu zögern trat nun auch er in das eisig kalte Wasser und zuckte nicht einmal mit der Wimper. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend folgte er Rei, der über das Gewässer zu schweben schien.
Spiralförmig näherten sie sich dem Tempel, bis sie am Ende des Stegs ankamen und durch ein kreisrundes offenes Tor auf den kleinen Hof traten. Er war nur wenige Meter breit und außer eines kleinen knorrigen Baumes, umgeben von einem Quadrat Gras, war er kahl. Rei schenkte ihm auch nicht die geringste Aufmerksamkeit, stattdessen ging er schnurstracks auf den eigentlichen Eingang des Tempels zu, öffnete das Tor und schloss es hinter Kai wieder. Sie befanden sich nun in einer Art Eingangshalle, welche eine große geschwungene Treppe durchzog, die zum einen nach oben, auf der anderen Seite nach unten führte. Während Kai interessiert nach oben schaute und sich fragte, was wohl oben zu finden war, betrat Rei die andere Treppe und stieg nach unten. Immer tiefer führten die Stufen. Dann endete sie plötzlich vor einer weiteren Tür. Dahinter befand sich ein großer Raum und abermals traute Kai seinen Augen nicht. Verdutzt durchquerte er das große Zimmer und fand sich vor einem riesigen Fenster wieder, das einen fantastischen Ausblick über grüne Hügel, durchzogen von einigen Dunstschleiern, einen großen ruhigen See und bis weit in die Tiefen Chinas boten. Unendlich schien die Weite zu sein, in die sich der Himmel zog.
Sie befanden sich nun im eigentlichen Tempel, der tief ins Innere einer gewaltigen Felswand gebaut worden war. Viele Meter ging es steil nach unten. Niemand wusste, dass sich hier ein Tempel befand. Kai war fasziniert. In sein Staunen versunken merkte er nicht, wie Rei neben ihn trat und zufrieden seufzte.
„Das ist umwerfend“, flüsterte Kai überwältigt, worauf Rei sich schmunzelnd zu ihm umdrehte.
„Nicht wahr? Es ist mein Zuhause. Ich habe es mir erbaut als ich hier her kam. Natürlich nicht ganz ohne Hilfe“, fügte er zwinkernd hinzu.
Der Russe starrte ihn an. Er konnte es nicht fassen. Das war mit Abstand der schönste Ort auf der Welt, an dem er je in seinem Leben gewesen war. Und er fragte sich, wie dieser junge Mann neben ihm so etwas erschaffen konnte. Allerdings nahm er an, dass auch diese Gemächer nicht ganz ohne Magie entstanden waren. Der Heiler merkte, wie Kai ihn von der Seite her musterte und blickte ihn freundlich an.
„Hast du Hunger?“, fragte er und obwohl der Russe sich nur schwer von dem Panorama trennen konnte, nickte er und abermals folgte er dem Chinesen durch Türen und Gänge.
Als sie sich in einem weiteren Raum befanden, der zu Kais Überraschung ebenfalls ein großes Panorama-Fenster besaß, hörte er von der Seite plötzlich ein Knurren und aus den Augenwinkeln erkannte er, dass etwas Großes beängstigend schnell auf Rei zuschoss. Reflexartig hechtete er vor den Heiler um diesen zu schützen. Er erschrak heftig, als sich etwas Schweres gegen ihn warf und ihn fast umhaute. Doch dank seiner kämpferisch ausgeprägten Sinne und Stärke konnte er dem unberechenbaren Überfall und dem gewaltigen Gewicht auf seinen Schultern standhalten. Ein weiteres Knurren. Erschrocken sah Kai genau in die gelben Augen eines riesigen Raubtieres, das auf den Hinterpfoten stand und die Vordertatzen auf Kais Schultern platziert hatte. Reglungslos stand der Russe da und starrte das Tier an. Hinter sich ertönte ein unterdrücktes Kichern.
„Byakko, geh runter, du machst ihm Angst.“
Sofort nahm das Raubtier seine Pfoten von Kais Schultern und setzte sie lautlos auf den Boden. Noch ein letzter Blick zum Fremden, dann schlich er zu Rei, um sich seine ersehnten Streicheleinheiten abzuholen. Schnurrend legte er sich auf den Rücken und ließ sich den Bauch durchkraulen. Kai beobachtete dieses Spektakel skeptisch.
„Pff, Angst! Von wegen, ich hab mich nur erschrocken. So einen großen Tiger hab ich halt noch nie gesehen!“
Rei kicherte.
„Byakko ist auch kein normaler Tiger. Nicht wahr, mein Schöner?“ Erneut durchwuschelte er das weiß-schwarze Fell und ein lautes Schnurren verließ Byakkos Kehle. Kai schüttelte den Kopf. Und doch schaute er ihm verwundert zu. Seit er mit dem Heiler unterwegs war, hatte er ihn noch nie lachen, geschweige denn so ausgelassen gesehen.
Byakko folgte seinem Herrchen überall hin und legte sich immer dicht an seine Seite. Seine Augen jedoch wandten sich nur selten von Kai ab, was diesen leicht beunruhigte. Doch er zwang sich dazu, es zu ignorieren und aß genüsslich das Mahl, das ihm aufgetischt wurde. Kai und Rei sprachen nicht, sondern saßen stumm da und genossen Essen und Tee. Es war keine unangenehme Stille, im Gegenteil schien sie in Kai eine tiefe Ruhe auszulösen.
Lange saßen sie einfach nur nebeneinander und genossen ihre Untätigkeit. Rei lag halb auf seiner Riesenkatze, hatte das Gesicht in seinem Fell vergraben und kraulte ihn hinter den Ohren, während Kai auf einem Kissen vor dem Fenster saß und hinaus starrte. Erst ein herzhaftes Gähnen seitens Rei holte ihn zurück in die Realität. „Sag mal Kai, wie wäre es mit einer Runde schwimmen? Das wäre doch sehr erfrischend.“
Zurück oben beim kleinen, sichtbaren Teil des Tempels auf dem Bergsee, zogen sie sich ihre Kleider aus und hüpften in das kalte, klare Wasser. Rei lachte als er sah, dass es den harten Russen am ganzen Körper erschauderte. Kurzerhand stürzte sich dieser auf den glucksenden Chinesen und tauchte ihn unter. Wild um sich schlagend versuchte er, wieder an die Oberfläche zu gelangen, um seine Lunge mit Sauerstoff zu füllen. Grinsend ließ Kai los und prustend tauchte der Chinese auf, nur um sich dann sofort auf den Russen zu stürzen und es ihm heimzuzahlen. Eine Zeit lang fühlten sie sich wie Kinder. Unbekümmert, naiv, sorgenlos genossen sie ihre Unbeschwertheit.
Lachend legten sie sich ins Gras und blickten in den Himmel, der sich langsam lila verfärbte. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck sah Rei den jungen Mann an, der neben ihm lag.
„Wollen wird rein gehen? Es wird ziemlich kühl hier draußen.“
Rote Augen erwiderten seinen Blick eine Zeit lang wortlos. Dann nickte er und erhob sich ebenfalls, sie streckten ihre steifen Glieder und zogen sich wieder ihre Kleider an.
Rei zeigte dem Russen eines der Gemächer, das von nun an ihm gehören würde. Er fragte sich, wann er eigentlich eingewilligt hatte, dem Heiler zu folgen. Eigentlich hatte er ja gesagt, dass er bleiben und sich gesund pflegen lassen würde. Danach hatte er zurück gehen wollen. Zurück in sein Vaterland, das nicht seine Heimat war. Und Rei hatte ihn neugierig gemacht. Mit seinem Gerede über Magie und Unerklärliches. Er ging mit und tatsächlich hatte er ihn nicht enttäuscht, mal wieder nach so vielen Jahren wurde ein Versprechen ihm gegenüber ehrlich eingelöst. Er war ihm dankbar dafür. Deshalb ging er nicht weg. Deshalb blieb er hier und folgte ihm. Deshalb vertraute er ihm.
Es war Nacht. Sterne glitzerten durch das Fenster in Konstellationen, wie Kai sie noch nie gesehen hatte. Schon sein halbes Leben lang war er häufiger von dem Ort seiner Geburt weg gewesen als er an selbigem Tage verbracht hatte. Doch so weit weg wie jetzt war er noch nie. Am Ende der Welt.
Es war eine schlaflose Nacht. Eine Nacht voller Fragen, auf die Kai keine Antworten wusste. Lange starrte er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen an die Decke, kleine orange Lichtflecken tänzelten darauf herum, geworfen von der Kerze, die noch immer brannte. Kai seufzte und schälte sich aus dem Laken. Er brauchte frische Luft. Rasch zog er sich eine Hose über und machte sich auf den Weg zurück nach oben. Viele Stufen stieg er hinauf, bis er endlich in der Eingangshalle ankam, wo er sogleich den Weg zum Ausgang einschlug. Auf halbem Weg blieb er stehen und drehte sich um. Sein Blick fiel auf die Treppe, die noch weiter nach oben führte. Die Neugierde siegte und so stieg er empor. Langsam, vorsichtig. Schon wieder eine Tür. Öffnen und durchhuschen. Eine kühle Brise zauberte leichte Gänsehaut auf seinen nackten Oberkörper. Er war auf dem Dach. Unter einem Zelt aus Abermilliarden von Sternen. Und ihm gegenüber stand Rei. Angelehnt am Geländer, das die freie Fläche umgab, und blickte verträumt auf das leicht kräuselnde Wasser, welches im Licht der Sterne glitzerte und funkelte.