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Er sieht dich.

Ein trauriges Märchen
von

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Janusköpfigkeit

Man konnte das Gefühl nicht als Freude oder Glück bezeichnen. Sie war nicht glücklich. Aber es war eine Art Trost, den er ihr schenkte. Eine Hoffnung aus etwas, dass sie längst verloren geglaubt hatte. Es war ganz so, als würde er darum wissen, als hätte er genau das Gleiche durchgemacht. Doch er konnte sie nicht verstehen. Niemand würde das je können. Nicht Itachi, nicht Deidara, und vor allem nicht Sasori, denn er hatte ihre Liebe nie verstanden.

Für einen Moment fühlte sie sich befreit von all der Pein, die auf ihr lag. Ein paar Sekunden, in denen sie durchatmen konnte. Die ganze Zeit hatte sie immerzu an ihn denken müssen und über das, was er von ihren Taten hielt. Als sie so in T-Pains Armen lag, verspürte sie keine Sehnsucht mehr nach dem, was sie nie haben würde. All die Dinge, die sie vermisste, erschienen ihr mit einem Schlag nur noch wie ein winziger Fleck auf einem riesigen weißen Leinentuch.

Sie vergaß die Zeit, so wie sie alles vergaß, was um sie herum geschah und geschehen war. Das, was blieb, war das einzigartige und zugleich sonderbare Gefühl, dass sie nicht mit Worten hätte beschreiben können. Sie wusste nicht, was es war, aber sie konnte genau sagen, was es nicht war.

„Woran denkst du?“, fragte sie irgendwann in die Stille hinein. Als Antwort folgte ein Geräusch, dass sie zunächst nicht eindeutig zuordnen konnte, doch als sie ihm ihr Gesicht zu wandte, stellte sie fest, dass er leise lachte. Dieses Lachen hatte sie noch nie bei ihm gehört, denn es klang dieses Mal nicht verhöhnend und spöttisch wie sonst.

„Du kannst ja doch ziemlich... typisch sein“, murmelte er. Sie drehte ihren Kopf wieder von ihm weg.

„Manchmal. Manchmal ziemlich oft“, erwiderte sie und bemerkte erst danach, dass der Satz keinen Sinn machte.

„Ich meinte“, verbesserte sie sich, „dass ich in manchen Phasen sehr typisch sein kann. Für eine Frau.“

Er sah in den Himmel und beobachtete die Wolken beim Vorbeiziehen. Nach einer Zeit nahm er das Gespräch wieder auf.

„Ehrlich gesagt frage ich mich, was an dir echt ist.“ Als er ihren empörten Blick spürte, überdachte er seine Aussage erneut und grinste. „Nicht so... ich spreche von deinen Verhaltensweisen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand auf der Welt so facettenreich ist wie du zu sein scheinst.“

Sie setzte sich auf und kratzte sich am Kopf.

„Ich verstehe dich nicht ganz“, gab sie zu.

„Es ist auch nicht so wichtig.“

„Erklär's mir einfach!“, bat sie.

„Und neugierig bist du auch noch.“ Er schüttelte den Kopf.

„Sag schon!“

„Keine Ahnung... Ich dachte nur, dass Einiges, was du sagst und tust, nur gespielt ist. Weil du so gegenteilige Dinge tust. Weil eine Person nicht so viele Seiten haben kann. Ich habe mir einfach nur überlegt, wer du wirklich bist. Ob du so laut und tough bist wie vor den Jungs. Oder ob du so verletzlich und sensibel bist wie jetzt. Ich kann dich einfach nicht einordnen, das ist alles“, erklärte er.

Du bist etwas ganz Besonderes. Jeden Tag überraschst du mich mit einem neuen, liebenswerten Charakterzug. Und ich kann, ich will mich gar nicht entscheiden, welche Seite ich von dir mehr liebe.

Der Satz hallte in ihrem Kopf wieder und vertrieb dieses Gefühl, dass sie zuvor gehabt hatte. Erinnerungen ließen sich nicht in ein Gefängnis sperren. Man konnte nicht so tun, als wäre es vergessen. Sie wusste nicht, warum sie es trotz dieser Erkenntnis immer noch fortwährend versuchte. Das Licht, was sie zu sehen geglaubt hatte, war erloschen.

Er war zurückgekommen, um sie dort heimzusuchen, wo nichts als die traurigen Reste ihres früheren Seins auf den Tag warteten, an dem sie selbst diese Relikte beiseite räumen würde. Doch sie wusste, genau wie er, dass sie verblichen sein würde, ehe dieser Tag kam. Ihr Herz glich einem Keller, in den sie über die Jahre hinweg all ihre Sünden gesperrt hatte, in der Hoffnung, dass sie dort unten verrotten und zerfallen würden. In der Tat zerfraßen sie ihre Seele, und nichts, weder Sasori, noch ihre Freunde, noch sie konnte diesen Prozess aufhalten.

„Vielleicht bin ich nichts von alledem. Oder aber auch alles“, sagte sie leise, um auf T-Pains Frage zu antworten. Er nickte langsam.

„Ich habe nicht gewusst, dass es auch Menschen wie dich gibt“, sagte er dann und entfernte eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Sie drückte ihren Kopf leicht gegen seine Brust.

„Menschen wie mich?“ Ihre Gedanken widersprachen ihm. Es war nicht gut, dass es Menschen wie sie gab. Denn sie war schlecht.

Der Satz stand im Raum, ohne dass sie weiter darüber sprachen. Irgendwann standen sie auf und liefen zurück in die Stadt.

Auf dem Weg dahin schwiegen sie weiter, bis sie eine Bewegung in ihrer Tasche spürte.

„Oh. Mein Handy“, erklärte sie, holte es hervor und nahm das Gespräch an.

„Ja?... Hey.“ Ihre Augen wurden glasig, so als würde sie erblinden. Im ersten Moment dachte ihr Begleiter, es könnte etwas passiert sein, doch als er ihr sanftes Lächeln sah, verwarf er diese Vermutung wieder.

„Ich bin spazieren... Ist doch egal. Was? Ach so... Nein. T hat mir erzählt, dein Auto wäre auf eine... Frederike oder sowas zugelassen. Wer ist das? Ich dachte, es würde dir gehören? … Hab ich mir ja gedacht.... Keine Ahnung... Ja, hab ich gemerkt. Wo warst du?...Konnte man wohl nichts machen.“ Ihre Stimme klang enttäuscht, doch ihr Lächeln währte. T-Pain hatte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, doch er ließ es bleiben. In seinen Augen war sie nicht der Typ, der sich durch so etwas aufheitern ließ.

Mit leicht zitternder Hand legte sie auf.

„Was ist?“, wollte er wissen. Der Glanz kehrte langsam wieder in ihre Augen zurück und ihre Mundwinkel entspannten sich.

„Nichts.“ Es war die Antwort, die sie seit langem gab. Und jeder, sie selbst und auch der Fragende, erkannte es als Lüge. Doch es war wie eine unausgesprochene Vereinbarung, dass dieses Wort eine weitere Frage in dieselbe Richtung ausschloss. Als sie damals nach Hause gekommen war und Sasori sie aus seinen geröteten Augen angesehen und gefragt hatte, was sie getan habe, hatte ihre Antwort stets „Nichts.“ gelautet.

Er hatte sehr wohl gemerkt, wie sie ihm in einem schleichenden Prozess durch die Finger geglitten war, wie es immer später geworden war, und wie sie auf seine drängenden Fragen, was mit ihr los sei, nur ein „Nichts.“ erwidern konnte. Und dann, als seine Angst begonnen hatte Gewissheit zu werden, hatte er sie ein letztes Mal gefragt. Doch sie hatte ihn nicht noch einmal belügen können.

Es war ihr nicht über die Lippen gekommen, denn mit seinem enttäuschten Blick hatte er ihr jegliche Stütze aus ihrem ohnehin instabilen Gerüst aus Lügen und Verrat genommen. Es war in sich zusammengestürzt wie ein Kartenhaus, und mit ihm auch ihr „Nichts.“ Sie hätte nichts weiter sagen brauchen, denn ihr Schweigen hatte ihm gereicht, um die letzte Hoffnung aus dem Weg zu räumen. Wie sehr musste er sich damals gewünscht haben, sie hassen zu können, doch seine Liebe ließ nur den Schluss zu, ihr die Fehltritte zu vergeben und bei ihr zu bleiben. Andernfalls hätte sie ohnehin zu ihrer letzten Waffe greifen müssen, der er sich nicht hätte entziehen können. Sie war nie selbstlos genug gewesen, um ihn gehen zu lassen, so wie er es für sie getan hätte.

Sie konnte in T-Pains Augen sehen, dass er um ihre Lüge wusste. Vermutlich war es bei ihm dieselbe, sich immer wiederholende Antwort, die er auf diese Frage gab. Doch er schwieg dazu, genau wie sie alle schwiegen.

„Scheiße.“, sagte er ohne Emotion. Aiko verstand nicht, worauf sich dieser Ausspruch beziehen sollte oder was er damit sagen wollte, aber er schien keine Reaktion darauf zu erwarten, sodass sie nicht fragte.

„Wir sollten uns ein wenig beeilen. Es sieht nach Regen aus“, schlug sie stattdessen vor. Er stimmte ihr zu und beschleunigte seine Schritte. Tatsächlich brach ein Schauer über sie hinein, gerade ein paar Minuten, nachdem sie das Eingangsschild der Stadt passiert hatten, und durchnässte ihre Kleidung.

Sie war froh, dass sie etwas Dunkles trug. Ein weißes Shirt hätte wohl Dinge durchsehen lassen, die sie T und ihrer Außenwelt eigentlich vorenthalten wollte.

Es war ihr ziemlich egal, dass ein paar Leute sie komisch ansahen. Sie hatte nie viel auf die Meinung Fremder gegeben, denn Fremde interessierten sich auch nicht für sie. Eine Gruppe Mädchen, die sie aus ihrem Mathematik-Kurs kannte, lief an ihnen vorbei. Aiko konnte hören, wie sie sofort begannen zu lästern, als sie außer (so glaubten die Mädchen) Hörweite waren.

„Ich hab's gleich gewusst. Das ist so ne Großstadtschlampe“, zischte die eine sauer. Die andere pflichtete ihr unter verächtlichem Schnauben bei.

Sie gab nicht viel auf die Meinung Fremder, doch es gab diese eine Ausnahme. „Getroffene Hunde bellen“, so hieß es, doch bei dieser Sache war es umgekehrt. Eine Schlampe stand dazu und scheute nicht, das zu zeigen. Wenn diese Beleidigung Aiko also dermaßen zur Weißglut brachte, dann konnte sie keine Schlampe sein. Doch das war falsch. Sie hatte sich dazu gemacht, unfreiwillig, und gleichzeitig hatte sie diesen Weg selbst gewählt. Ihre größte Angst war es gewesen, zu „so einer“ zu werden, doch nun, da es kein Zurück mehr gab, nichts, was das Geschehene ungeschehen hätte machen können, war es zu ihrem Schicksal geworden. Zumindest hatte sie es als dieses angenommen.

Sie stand da wie eingefroren, während ein leichtes Zittern ihren Körper erfasste. Die Hitze stieg in ihren Kopf und ihre Muskeln spannten sich an, sodass sie wirkte, als könne sie jeden Moment platzen. Ihr Begleiter verstand und zog sie unsanft und ruckartig hinter sich her.

„Lass es. Das ist absolut kindisch“, befahl er ihr in genervtem Ton. Sie ärgerte sich darüber, dass sie ihm tatsächlich Folge leistete und weiterlief.

„Tu nicht so, als ob du dich noch nie geprügelt hättest. Sowas braucht nicht immer einen triftigen Grund, und das weißt du. Außerdem ist so 'ne Scheiße genug Grund für mich“, murrte sie und trat gegen eine Konservendose, die auf der Straße lag.

Er stöhnte.

„Sorry, dass ich das jetzt so ausdrücken muss, aber Weiber sollten sich nicht prügeln. Das liegt nicht in ihrer Natur. Außerdem kann ich dir bei sowas nicht mal helfen. Ich schlag' keine Mädchen.“

Sie schnappte empört nach Luft. In Gedanken ließ sie ihren ersten Schultag Revue passieren. Sein Lachen war dumpf und heiser.

„Für dich mache ich immer mal gerne eine Ausnahme.“

Aiko zog ihre Augenbrauen nach oben und beruhigte sich. Sie bemerkte, wie sie langsamer wurde, je näher sie an ihren Wohnort kamen. Zuerst lief sie noch normal, dann verringerte sich ihre Geschwindigkeit von Minute zu Minute, sodass sie beinahe stehenblieb, als sie in ihre Straße einbiegen wollte.

„Du willst nicht unbedingt nach Hause, hm?“, sagte er und klang dabei desinteressiert und beiläufig, ganz als ob er mit sich selbst sprechen würde. Ihrem Schulterzucken folgte ein Blick von seiner Seite, der die unausweichlich folgende Frage dringlicher ausdrückte als jedes Wort es getan hätte. Es wäre keine große Sache gewesen, ihm eine weitere Antwort schuldig zu bleiben, denn sie hatte mittlerweile gemerkt, dass er keiner von den Menschen war, die es sich zum Ziel machten, jede in jedem erdenklichen Sinne interessante Information verbal aus ihren Gesprächspartnern heraus zu prügeln. Aber sie antwortete trotzdem, ohne wirklich zu wissen, weshalb: „Warum, fragst du dich? Das ist eigentlich einfach.“ Sie lehnte sich gegen ihre Hauswand, die sie inzwischen erreicht hatten, und fuhr fort. „Ich will nicht da rein, weil ich mich fürchte.“

Nach einer kurzen Pause ging er einen Schritt zu ihr und fragte: „Und wovor?“ Er hatte geahnt, dass sie nichts erwidern würde. Doch das brauchte sie auch nicht, denn als ihre Augen kurz von seinem Gesicht zu ihrem Unterarm und anschließend zur Seite wanderten, reichte ihm das schon als Antwort.

Sie wussten beide nicht, was zu sagen war, weshalb ein unangenehmes Schweigen in der feuchten Luft hing.

„Bis dann.“ Er gab ihr einen leichten Klaps gegen die Schulter und ließ sie dort stehen, während er weglief und schließlich im Nebel verschwand.
 


 

„288 Tage“, sagte sie leise und nippte an dem Kaffee in ihrer Hand. Sasori tauchte hinter ihr auf und legte den Arm um ihren Bauch.

„Und es wird ein Jahr werden. Und zwei. Und drei. Und dann hast du es bald vergessen. Alles. Wer weiß, was dir das Leben noch bringen wird“, sagte er ruhig.

Sie stieß einen höhnischen Laut aus.

„Ich weiß es, Sasori“, gab sie zurück, „Nichts anderes als Schmerzen und Leiden und Enttäuschung. Wann hat mir das Leben je etwas Gutes gebracht, huh? Wann?“

Ihr Freund musste nicht überlegen, um ihre Frage zu beantworten.

„Hast du all die schönen Momente schon vergessen? Es war nicht immer so, mein Herz, und das weißt du auch. Neben diesen furchtbaren Dingen, die dir passiert sind, waren noch andere, gute Dinge.“

Er sprach mit einer unüberwindbaren Überzeugung. Den Kopf schüttelnd stellte sie ihren Kaffee zur Seite und packte ihre Schultasche mit einer Aggression, die einen wesentlichen Einfluss auf den Verschleiß ihrer Bücher hatte, welche sie unkontrolliert hineinstopfte.

„Warum müssen wir die ganze Scheiße dauernd aufwärmen, hm? Ich habe keine Lust mehr, darüber zu diskutieren! Du kotzt mich an!“, rief sie mit lauter werdender Stimme. Sein Seufzen trug nur noch mehr zu ihrem Zorn bei.

„Was hast du denn jetzt?“, fragte er beherrscht.

Mit viel Schwung schulterte sie ihre Tasche und schob ihn beiseite, während sie ihm ein genervtes „Nichts.“ zu zischte. Er musste es Leid gewesen sein, ständig diese unbefriedigende, verlogene Antwort zu hören, doch er sagte nichts weiter und ließ es auf sich beruhen.

Sie war impulsiv und launisch wie eh und je. Die meisten ihrer Freunde wussten damit umzugehen und wunderten sich nicht weiter darüber, wenn sie von einem Moment auf den anderen wütend wurde. Sie selbst hasste diese Eigenschaft an sich genauso wie sie das Meiste an sich hasste.

Ohne ein weiteres Wort stürzte sie aus dem Haus und machte sich auf den Weg zur Schule. Sie konnte es zwar nicht wirklich ausdrücken, doch sie war froh, dass sie an ihrer neuen Schule zwar keinen richtigen Anschluss, aber zumindest Freunde gefunden hatte. Ein Großteil der Schüler mied sie, da seit den letzten Wochen einige Gerüchte über sie kursierten, die wahrscheinlich eine ihrer niederträchtigen Klassenkameradinnen verbreitet hatte. Das Letzte, was ihr zu Ohren gekommen war, handelte von einem angeblichen Techtelmechtel mit einem Obdachlosen in der Toilette der örtlichen Grundschule. Es war absurd, aber es gab tatsächlich Schüler, die es glaubten.

An sich war es ihr nicht wichtig, dass sich die Schülerschaft ihr Maul über sie zerriss, doch spätestens nachdem ihre Biologielehrerin sie aus dem Unterricht nahm und auf das Thema „Analsex ohne Verhütung birgt das Risiko einer Übertragung von lebensgefährlichen Geschlechtskrankheiten“ ansprach, erreichte das Ganze einen gewissen Grad an Peinlichkeit.

„Ich habe gehört, unsere Zuckerschnecke hat einen Braten in der Röhre!“, plärrte Sorrow über den Pausenhof, als sie ein paar Minuten nach dem Klingeln dort eintraf.

Sie fasste sich an den Kopf und fragte etwas verwirrt: „Wie bitte?!“

T-Pain steckte ein Messer ein, mit dem er gerade noch ein unförmiges Stück Holz bearbeitet hatte, und erklärte ihr: „Gwyneth Scott hat rumerzählt, du wärst nach der Sache mit dem kleinwüchsigen Tennisspieler schwanger geworden.“ Sie verdrehte die Augen und drückte ihre Handfläche kurz gegen Sorrows Stirn.

„Welcher kleinwüchsige Tennisspieler? Das wäre mir echt ziemlich neu“, wehrte sie die Vorwürfe ab und setzte sich neben Tyke auf die Mauer.

„Isch hab misch ein bissschen umgehört, wegen deinem Problem mit den Weibern und dem Gelaber“, sagte der Türke zu ihr und war offensichtlich sehr stolz, ihr seine Ergebnisse präsentieren zu können.

Aiko sah ihn erwartungsvoll an. Sie vermutete, dass er eine besonders lange bedeutende Kunstpause machen wollte, doch nach zwei Minuten des allgemeinen Wartens und Schweigens verstand sie, dass er vergessen hatte, was er sagen wollte. Sorrow übernahm deshalb das Wort.

„Ich weiß auch, was die Bitches rausgerückt haben. Die sind ein wenig angepisst wegen Physik.“

Sie sah ihn fragend an.

„Nun ja, Vögler...“

„Er heißt Vogel, Idiot!“, verbesserte sie ihn genervt.

„Vögler hat dir eine 1 in Epo gegeben und die Arbeit als Auslutscher gewertet, und jetzt sind die Schicksen eben total eingeschnappt, weil du es nicht verdient hast und es ja sowieso nur wegen deinen Riesendingern ist. Ich kann den armen Mann ja verstehen...“, fuhr Sorrow mit einem breiten Grinsen fort.

„Ausrutscher, oder nischt?“, warf Tyke ein, der sich der Aussprache selbst nicht mehr sicher war.

Sein Freund lachte und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.

„Je nachdem, welchen Gerüchten man glaubt, Tyky“, fügte er hinzu und duckte sich unter Aiko's Wischer hinweg, den er nun allzu gut kannte.

„Holy Shit. Das Image bekommst du nicht mehr los, Kleines.“ T-Pains schelmisches Grinsen lag in seinen Worten.

Sorrow machte einen mehr oder weniger ernsten Vorschlag zur Lösung dieses Problems, der eine Lebensabschnittspartnerschaft mit ihm beinhaltete, auf die sie gerne verzichtet hätte.

„Ich schätze, dann gingen die Gerüchte erst richtig los. Schwanger von einem kleinwüchsigen Tennisspieler klingt für mich besser als zusammen mit einem abgefuckten Loser wie dir“, erwiderte sie.

Von weitem konnte man Big Key sehen, der zusammen mit Luxury einen laut lamentierenden Jungen herbrachte.

„Lasst mich los, ihr Lackaffen! Das werdet ihr noch bereuen!“, brüllte dieser halb heulend. Aiko stüzte ihre Hand gegen die Hüfte und betrachtete den blonden Jungen, der kaum älter als 13 sein konnte.

Sie wunderte sich etwas, dass sie ihn hier her brachten. Es stand außer Frage, dass er irgendetwas angestellt haben musste, was den Drogendealern missfiel, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass er zu den Konsumenten gehörte.

„Hier, Boss“, brummte Big Key und warf ihn zu Boden. Luxury nahm seine Zigarette aus dem Mund und blies dem Jungen eine Rauchwolke ins Gesicht. Dieser hustete heftig.

„Was soll das?“, wollte sie wissen.

„Er hat mir eine Päckchen LSD geklaut“, erwiderte T-Pain, während er ihn an seinem Hemdkragen hochhob. Aiko machte sich berechtigte Sorgen um den Kleinen, der sich gehörig vor den jungen Männern um ihn herum fürchtete.

„Also. Du spuckst jetzt SOFORT aus, wo du die Scheiße einstecken hast, oder du wirst ein bisschen Scheiße einstecken!“, rief er laut. Der Junge schnappte nach Luft, die er in T-Pains festem Griff kaum bekam. Es war ihm kaum möglich, schnell genug zu antworten, sodass die Faust des Gangleaders geradewegs auf seiner rechten Wange aufschlug. Sein Weinen wurde lauter.

Die Rothaarige musste schlucken. Sie wusste, dass Mitleid in einer solchen Sache unangebracht war. Doch sie konnte es nicht einfach unterdrücken, denn es schnürte ihr die Kehle zu, wiesie den Jungen so weinen sah.

Jeder wird so behandelt, dachte sie sich. Es ist normal, es ist so. Anders lernen sie nichts dazu. So wie du. Hätte er dich dafür bestraft, hättest du's vielleicht nicht getan. Aber so ist er nicht. Er hasst Gewalt. Und er sieht es. Er sieht dich, genau jetzt. Und er wird wütend und enttäuscht sein.

„NA, WIRD'S BALD?!“, schrie er wütend.

Der Kleine schluchzte, sodass man kaum ein Wort von dem verstand, was er sagen wollte. Als er merkte, dass das zwecklos war, deutete er auf seinen beinahe quadratischen Schulranzen, der ihm halb kaputt von der Schulter hing. Big Key und Luxury schienen nicht besonders vorsichtig mit ihm gewesen zu sein.

Auf ein Zeichen riss Sorrow den Reißverschluss des Ranzens auf und durchsuchte diesen, bis er triumphierend ein 25-Gramm-Päckchen LSD in die Höhe hob.

Den Jungen immer noch festhaltend untersuchte T-Pain die unversehrte Tüte und warf sie wieder Sorrow zu.

„Das ist, damit du sowas nie wieder tust!“, sagte er und holte aus, um den Jungen erneut zu schlagen. Diesmal wurde seine Faust jedoch von Aiko aufgehalten, die seinen Umgang mit dem Kind nicht länger ertragen konnte.

„WAS?!“, brüllte er sie gereizt an.

Unbeeindruckt von seiner Lautstärke sagte sie: „Es reicht, T. Er hat es doch rausgerückt. Und verdammt, er ist ein Kind! Lass ihn einfach gehen und gut ist!“

T-Pain schubste den Jungen zurück zu Luxury und wandte sich ihr zu.

„Hast du den Arsch offen oder was?! Red mir nicht in meine Sachen rein, okay?! Ich bin der Boss und du hast mir verdammt nochmal zu gehorchen! Wenn du ein Problem mit dem hast, was ich tue, dann verzieh dich, aber lass mich mit dieser Scheiße in Ruhe!“

„Ach?! Nur weil ich nicht zu jedem Scheiß, den du verbockst, Ja und Amen sage? Guck ihn dir mal an! Er blutet! Er wird’s wohl kaum noch einmal machen! Wenn du unbedingt jemanden verprügeln willst, dann nimm wenigstens jemanden in deiner Gewichtsklasse!“, erwiderte sie laut und aufgeregt.

„Noch ein Wort, und du bekommst die Prügel, kapiert?! Also halt dein Maul!“

Es war ihr klar, dass sich niemand auf ihre Seite stellen würde. Hier galt es, der stärkeren Partei treu zu sein. Und alle wussten, dass diese Seite T-Pain war. Trotzdem konnte sie es nicht hinnehmen, dass der Junge weiter misshandelt werden würde. Auch wenn es ein unfairer Kampf wäre, könnte sie sich immer noch besser verteidigen als ein zwölf- oder dreizehnjähriger Junge.

„Dann tu das, wenn du nicht die Eier hast, nachsichtig zu sein!“

Sie wollte ausweichen. Doch seine Faust kam so schnell, dass sie sich in der kurzen Zeit kaum bewegen konnte. Reflexartig schloss sie die Augen und wartete auf den starken ziehenden Schmerz in ihrem Kiefer, den ein Schlag mit sich brachte. Doch sie wartete grundlos. Stattdessen hörte sie seinen Aufschrei, als sein Schlag neben ihr auf die Betonwand auftraf. Seine Knöchel bluteten und er atmete laut, das Gesicht direkt vor ihrem. Die Aggression in seinem Ausdruck wich der Beruhigung.

„Lass ihn gehen, Big. Aber lass dir das eine Lehre sein, Kleiner. Das nächste Mal wird Aiko wissen, wo ihr Platz ist.“, sagte er ungewöhnlich leise.

Die Luft um ihn herum war so dick, dass man sie hätte zerreißen können.Der kleine Junge rannte mit seinem Ranzen davon, sobald Big Key ihn gehen ließ. Niemand traute sich wirklich, etwas zu sagen, weil jeder Angst hatte, den Gangleader wieder zu verärgern. Bis auf Tyke, der die Spannung offensichtlich nicht sah und ein unqualifiziertes „Is' ja krass!“ einwarf. Doch T-Pain schien sich wieder soweit beruhigt zu haben, dass er auf Tykes Kommentar nicht weiter einging, sondern seine Hand mit einem Tape verband.

„Ich glaub', ich geh heute in den Unterricht“, sagte er dann und verschwand im Schulhaus. Sorrow drehte sich ebenfalls in diese Richtung und sagte: „Ich auch.“

Aiko sah ihn überrascht an.

„Scheeeerz!“, sagte er dann und grinste. „Ich geh wieder nach Hause!“

„Hab' schon gedacht“, erwiderte sie schwach lächelnd und überlegte sich, ob sie ebenfalls ihren Klassenraum aufsuchen sollte.

Eigentlich hatte sie keine Lust auf ihren schleimigen Physiklehrer, von dem sie wusste, dass er diese Kursarbeit tatsächlich unter den Tisch hatte fallen lassen, weil er sie mochte. Mögen hieß In diesem Fall, ihm gefiel ihr Brustumfang.

Trotzdem musste sie wohl oder übel in die Schule. Sasori würde sofort wissen, was los war, wenn sie schon wieder so früh nach Hause kam. Er wusste es ohnehin, aber sie wollte es nicht offensichtlich zugeben. Außerdem hatten sich ihre Noten dramatisch verschlechtert.

Mit dem festen Vorsatz, sich später bei T-Pain zu entschuldigen, ging sie zu ihrer Klasse.

Sie musste immer noch an den Vorfall dieses Morgens denken, als sie nach der Schule auf dem Nach-Hause-Weg war.

Es war dämlich. Wieso mussten diese Menschen so brutal sein? Warum taten sie so etwas? Aiko verstand es einfach nicht. Sie machte die Drogenszene dafür verantwortlich, dass ihre Welt sich auf diese Art und Weise verändert hatte. Das Einzige, was ihr noch geblieben war, ihre Liebe, hasste es, was sie tat. Doch sie musste es tun. Es gab keinen anderen Weg.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Violett
2011-05-05T20:57:24+00:00 05.05.2011 22:57
Also ich finde die Wechsel nicht zu schnell... Hab nur eine Anmerkung:
Zitat: "Sie vergaß die Zeit, sie wie sie alles vergaß, was um sie herum geschah und geschehen war. "

Zähle mal, wieoft das Wort "sie" vorkommt XD


Von:  XxYuliveexX
2011-05-05T19:42:25+00:00 05.05.2011 21:42
*anschnurr*
ich liebe neue kappis xD
das hat den start in diesen neuen lebensabschnitt gleich nochmal ne runde besser gemacht xD
wie immer klasse^^
go for it pain! x3


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