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Der Weg in den Westen

Auf dem Oregon Trail
von

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Prolog

Das Knacken des Holzscheits weckt mich, als es im Feuer zerplatzt und gelbe und rote Funken in den dunklen Himmel sprühen lässt. Meine Augen sind noch halb geschlossen, aber meine Hand tastet suchend umher, bis sie das findet was sie gesucht hat. Langsam hebe ich die Lider ein Stück weiter, ganz langsam, beinahe so, als ob ich mich fürchte vor dem, was ich zu sehen bekommen werde. Das Feuer wirft einen warmen roten Schein auf die alte Quiltdecke, die ich um meine Beine und meinen Körper geschlungen habe. Wie lange habe ich geschlafen?, frage ich mich. Und wieso ist das Kind so still? Ich wage einen Blick unter den Quilt. Dort liegt meine kleine Schwester dicht an mich geschmiegt, die kleinen Ärmchen in dem hellgrauen Kittel eng an ihren weichen Körper gedrückt, das Gesichtchen arglos, und der kleine Mund ein Stück geöffnet. Sie atmet ruhig und bekommt nicht mit, was in der Welt rundherum Grausames passiert. Sie weiß auch nicht, dass ihre Mutter und ihr Vater tot sind. Aber vielleicht spürt sie, dass ihre Mama nicht mehr da ist.

Ich seufze leise und drehe mich ein wenig auf die Seite, weg vom hellen Schein des Feuers, der mich blendet. Mein Blick wandert zum Himmel, wo abertausende von Sternen alles in einem großen Bogen überspannen. Weit im Westen hängt eine dünne Mondsichel, bereit bald spurlos zu verschwinden, nur um in der nächsten Nacht ein winziges beinah nicht erkennbares Stück größer wieder zu erscheinen.

Ich greife den abgenutzten Bleistift fester und versuche eine bequemere Lage zu finden, ohne das Kind in seinem friedlichen Schlaf zu stören. Das kleine Büchlein habe ich von meiner Mutter zu meinem Geburtstag im letzten Jahr geschenkt bekommen, sie hat gesagt, ich würde schon die passende Zeit und das Passende finden hineinzuschreiben oder zu zeichnen. Nun werde ich schreiben. Mir scheint die Zeit richtig, und ich weiß auch, was ich schreiben werde.

Wenn rundherum das Leben in sich zusammenfallen zu scheint ist man irgendwann soweit, dass man jemandem davon erzählen muss, um nicht an der Macht der Geschehnisse zu ersticken. Ich werde diesem Buch davon erzählen.

Mein Name ist Lenora Hope McMahon und dies ist mein Tagebuch.

12. April - 16. April 1866

12. April 1866, irgendwo in der Nähe des Missouri Rivers
 

Mit der ganzen Geschichte kann ich nicht beginnen, aber ich muss ein Stück davon aufschreiben, sonst werden mich die Bilder weiter wie wilde Bestien auf der Suche nach meiner Seele, durch meine Träume verfolgen. Aber was rede ich, das werden sie so oder so, ob ich sie aufschreibe oder nicht.

Hierher gekommen, in dieses kleine heruntergekommene Lager nördlich des Missouri River bin ich erst vor vier Tagen. Seitdem sitze ich beinah tagaus, tagein am Lagerfeuer eines älteren Mannes, der hier in seinem Planwagen wohnt, seit ihm die Radachse gebrochen ist und er sie nicht reparieren kann. Seine beiden Ochsen hat er an weiterfahrende Leute verkauft. Nun sitzt er hier, hat Geld für zwei Ochsen, einen kaputten Planwagen, und keine Möglichkeit zur Weiterfahrt.

Ich frage mich, ob er überhaupt weiter möchte, oder ob er hier einfach wartet. Auf den Tod, auf jemanden, der ihn mitnimmt, oder jemanden, der ihm hilft den Wagen wieder zu richten und ihm dann zwei Ochsen verkauft. Ich lächle, angesichts dieser letzten absurden Möglichkeit. Hier in diesem harten Land schaut jeder nur auf sich selbst, jeder muss selbst schauen dass er überlebt.

Jeder möchte irgendwann dort ankommen, wohin er den Weg eingeschlagen hat. Die meisten wollen in den Westen, weg vom Elend ihres alten Daseins, weil sie sich dort eine bessere Zukunft erhoffen.

Doch ich muss meine Meinung berichtigen, nicht jeder schaut nur auf sich selbst, dieser Mann nicht, denn er hat mir angeboten so lange hierzubleiben wie ich möchte. Er weiß nur bruchstückhaft was geschehen ist. Er weiß, dass die Ernte letztes Jahr schlecht gewesen ist und mein Vater daraufhin Arbeit auf einer Baustelle im benachbarten Städtchen angenommen hat, um unsere Familie zu versorgen. Ihn, meine Mutter, mich und meine kleine Schwester, die jetzt ruhig an mich gekuschelt liegt und beinah die meiste Zeit schlafend zubringt. Gesegnet sei die Kleine für solch einen Schlaf. Mich dagegen plagen die Träume, sodass ich bisweilen abends gar nicht einschlafen möchte. Doch dann übermannt mich der Schlaf doch und die Träume beherrschen ihn die meiste Zeit und halten mich fest im Klammergriff ihrer Klauen.
 

Es war ein schöner Tag, als Vater vor drei Wochen in der früh zur Arbeit ging, aber abends nicht heimkam. Dann stand zu später Stunde ein Bote vor der Tür, ein junger Mann, er war vielleicht so alt wie ich, und brachte die Nachricht, dass Vater von einem Balken erschlagen worden war, der vom Dach des Hauses, das sie bauen wollten herabgestürzt ist.

Ich saß gerade über einem Buch, die Augen brannten mir schon vom schlechten Licht der Kerze. Da stand ich auf und trat neben meine Mutter. Ob wir ihn nochmals sehen wollten, fragte der junge Bursche. Ich warf einen Blick auf Mutter und erschrak, obgleich ihres Gesichtsausdruckes und dem leeren Ausdruck in ihren Augen. Sie schüttelte den Kopf, strich mir kurz über die Haare, obwohl ich nun schon bestimmt so groß wie sie war, bedankte sich bei dem jungen Mann und ging hinüber in den Stall. Ob ich es hätte verhindern können, kann ich jetzt nicht sagen, doch ich hätte es zumindest ahnen müssen. Doch ich dachte, naiv wie ich war, sie würde einen Blick auf die Tiere werfen, oder vielleicht doch noch ein Pferd satteln und in die Stadt reiten. Doch ich saß nur am Tisch, schaute zu wie die Kerze hinab brannte und als sie schließlich ausging und mir der Rauch des erloschenen Dochts in die Nase stieg, trat ich aus dem Haus und ging hinüber in den Stall.

Ihre Füße baumelten zwei Fuß hoch über dem Boden, das dicke Holzscheit war umgestürzt.

In dem Moment zerbrach etwas in mir. Schwärze verschluckte mich, doch ich muss bald wieder zu mir gekommen sein, denn es war noch dunkel draußen. Ich war ganz allein, ich wusste, dass ich zu niemandem gehen konnte. Den Nachbarn wollte ich nicht zur Last fallen, Verwandte gab es keine. Nur in Irland, wo mein Vater immer in Gedanken über die grünen Felder wandelte, wenn er mir und meiner Schwester abends am Kaminfeuer Geschichten erzählte.

Wie er mit siebzehn von zuhause wegging, zusammen mit einem Cousin, auf ein Schiff in Dublin und ankam in einer neuen Welt, wo sie sich soviel besseres erhofften, als die elende Armut in einem kleinen Dorf in Irland. Doch der Cousin meines Vaters, Sean war sein Name, hatte nicht viel Zeit in der neuen Welt, er geriet in einen Streit in einem Gasthaus und wurde hinterrücks erstochen. Mein Vater schlug sich allein durch, und lernte er meine Mutter kennen, Rose Helen Murphy, die abenteuerlustig war wie er und die ihm in so vielen Bereichen eine Gefährtin war, so sehr, dass sie allein ohne ihn nicht mehr sein wollte. Doch mir fiel ein, dass wenigstens ich nicht ganz allein war. Ich hatte noch meine Schwester.
 

Ich sitze nun hier, am Lagerfeuer eines Fremden, halte meine Schwester im Arm und ich habe beschlossen, dass es irgendwie weitergehen muss.

Ich bin davongelaufen, nachdem sie meine Eltern zu Grabe getragen haben, an die Beerdigung kann ich mich kaum erinnern, doch ich weiß dass der Himmel mich zu verhöhnen schien, denn es war ein wunderschöner Frühlingstag. Meine Wut kannte kaum Grenzen. Jemand sagte, er würde sich darum kümmern die armen Waisen irgendwo unterzubringen, auf ihn war ich ebenfalls wütend, er redete von uns, als stünden wir nicht neben ihm.

Aber meine Schwester kann nichts für das alles, und ich bin nun verantwortlich für sie. Sie heißt Rosie, nach meiner Mutter. Der alte fremde Mann beschloss, dass er mich Nora nennen würde, dabei hat er gelächelt und die kleinen Fältchen rund um seine Augen sind noch tiefer geworden. Mir gefällt es, denn so hat mich zuhause keiner genannt. Aber zuhause gibt es nicht mehr. Es würde etwas anderes geben, nur weiß ich noch nicht, was es ist.

Der Mann heißt Bill. Er trägt einen lehmfarbenen Hut, den er tief über die Augen gezogen hat und er hat dichte graue Haare, die ihm bis knapp über den Kragen seiner Jacke reichen. Und er hat eine Vorliebe für Tabak und schon ganz braune Zähne davon. Gerade eben speit er wieder eine Ladung davon aus und der braune Saft klatscht ins Gras. Er sieht zu mir hinüber und fragt, ob er Rosie halten soll. Das ist seine andere Schwäche, die kleine Rosie zu halten. Dabei kann er ihr stundenlang ins Gesichtchen schauen und er kann auch stundenlang einfach so ohne etwas zu tun mit ihr verbringen, und er freut sich, wenn sie ihn anlächelte. Rosie ist knapp zwei Jahre alt. Ich habe Bill noch nicht gefragt, ob er selbst Kinder hat oder gehabt hat. Oder ob er eine Frau hatte. Oder was ihn überhaupt hierher geführt hat. Aber so wie er mit Rosie umgeht, gibt mir den Verdacht, dass er schon Kinder um sich hatte, ob es seine eigenen waren oder nicht.

Bill besitzt auch zwei Pistolen und eine Flinte, die so dick ist wie mein Arm und er sagt immer, damit könne man einen Büffel erschießen. Ich habe noch nie einen Büffel gesehen. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, wie groß diese Tiere sind. Wir hatten daheim nur einen Ochsen, um unseren klapprigen Wagen zu ziehen.

Ich bringe Rosie hinüber zu Bill, die alles mit sich geschehen lässt und weiterschläft. Er fragt, ob ich mich zum schlafen in den Planwagen legen will. Zuerst schüttle ich den Kopf, aber meine Lider beginnen schon schwer zu werden und so beschließe ich mich doch hinzulegen. Er passe schon auf die kleine Rosie auf, sagt Bill zu mir, bevor ich im Wagen verschwinde.
 

13. April
 

Langsam schäle ich mich aus der Decke und mir steigt der Geruch von gebratenem Fleisch in die Nase. Abrupt setze ich mich auf und spähe aus der im Wind flatternden Plane heraus.

Bill sitzt vor dem Feuer, brät Stücke Fleisch, und neben ihm sitzt Rosie auf einer Decke und schaut ihm fasziniert dabei zu. Er bemerkt, dass ich wach bin und fragt, ob ich Hunger habe. Ich habe fast immer Hunger und nehme den Fleischbrocken mit einem Stück Brot dankbar an. Während ich esse, frage ich mich wie lange wohl Bills Vorräte noch reichen würden und warum er sich erlauben kann mich und Rosie auch noch durchzufüttern.

Später frage ich ihn danach. Er lacht und sagt, er wisse es selbst nicht, er sei nur froh, dass er hier nicht allein sei. Und dann erzählt er mir von der Stadt Independence, die nicht weit von hier liegen soll und von der aus die großen Wagenzüge nach Westen starten. Er war auf dem Weg dorthin, als die Radachse brach und er die Ochsen verkaufen musste. Ich frage ihn, warum er nun hier herumsitze und nicht stattdessen weiter in Richtung Independence zieht. Er schiebt mit der rechten Hand den Hut ein Stück in den Nacken und blinzelt in die grelle Morgensonne. Ja, das sollte er wohl, aber er hat sich noch nicht dazu aufraffen können. Dann schaut er auf Rosie und mich und sagt, nun könne er sich doch vorstellen weiterzugehen. Wenn wir mit ihm kommen würden, dann hätte er ein Ziel. Und ich habe im Moment so gar kein Ziel, nur die wage Vorstellung was es bedeuten mochte in den Westen zu gehen. Eine ganz neue Zukunft wäre es. Eine bessere Zukunft. Denn ich habe mir noch keinen Gedanken darum gemacht, wie es weitergehen soll. Was nach Bill und dem kaputten Planwagen kommt. Und was blieb mir hier denn noch? Was sollte ein fast neunzehnjähriges Mädchen und ein kleines Kind allein in einem Haus in einem kleinen Dorf in Missouri? Das Mädchen könnte nicht mal arbeiten gehen, weil es das Kind versorgen musste.

Ich blinzle ebenfalls in die Sonne und beschließe dem Schicksal, das mich anscheinend hierher gebracht hat, nicht zu trotzen. Denn das Schicksal scheint es gut mit mir zu meinen, denn es hat mir den alten Bill geschickt. Dass das Schicksal in der Vergangenheit geradezu grausam zugeschlagen hat mag sein, aber deshalb kann ich mein junges Leben nicht damit verschwenden herumzugrübeln. Nie bin ich ein mürrischer oder trauriger Mensch gewesen. Und Mutter und Vater hätten nicht gewollt, dass ihre Tochter zu einem Trauerkloß wurde. Oder dass sie gar aufgeben würde.

Irgendwer hat einmal gesagt, vielleicht war der Pfarrer, dass es an jedem Ende auch einen neuen Anfang gebe. Lächelnd drehe ich mich zu Bill um und sage ihm, dass es mir eine Freude sei mit ihm zu gehen. Er zieht zuerst die Augenbrauen hoch, dann lächelt er ebenfalls. Und er reicht mir die Hand und sagt, dass er auch nicht geglaubt habe, dass ich weiter hier herumsitzen würde und mich meinen Selbstzweifeln hingeben würde.

Wie er sich das alles vorstelle?, frage ich ihn.

Er meint, wir sollen zuerst einmal versuchen den Wagen zu reparieren. Mir scheint, das Unternehmen wolle gleich zu Beginn scheitern, denn Wagenachsen zu reparieren davon weiß ich nichts. Bill weiß, dass ein Stück im Süden eine kleine Stadt am Missouri liegt und er will versuchen, dort jemanden zu finden, der ihm zwei Ochsen verkaufen würde, und noch jemanden der etwas von Wagen verstand. Er sagt, er wäre bis heute Abend wieder zurück, dann nimmt er ein Stück Decke, schlingt es um seine Schultern, verstaut das Geld seiner ehemaligen Ochsen in seiner Hemdtasche, nimmt ein Stück Brot mit und geht los.

Ich bleibe zurück, setze mich zu Rosie auf die Decke und beschäftige sie mit einem Stück Holz, das ich von der gesplitterten Achse abgerissen habe und das nicht scharfkantig ist. Etwas schäme ich mich, dass ich zuerst gedacht habe, Bill würde hier auf den Tod oder die Erlösung warten. Irgendwann beginne ich im Wagen nach etwas zu suchen, mit dem ich mich beschäftigen kann. Ich finde ein zerfleddertes Buch, gespannt schlage ich es auf und schon nach kurzer Zeit hält mich die Geschichte in Atem.
 

14. April
 

Bill ist gestern erst spät zurückgekommen, weit nach Einbruch der Dunkelheit. Er hatte niemanden dabei, aber das Versprechen irgendeiner guten Seele morgen zu uns zu kommen und dabei zu helfen den Wagen zu richten. Nachdem die Sonne untergegangen war, habe ich das Feuer wieder in Gang gebracht und das restliche Fleisch gebraten. Für Rosie habe ich es sehr klein geschnitten, aber ich bin mir nicht sicher ob ich es vielleicht hätte noch feiner zerdrücken hätte sollen.

Jetzt ist es früher morgen und Bill liegt eingerollt in seine Decke vor dem Planwagen und schnarcht. Ich stehe vor dem Feuer und werfe Äste darauf, die ich in der Umgebung gesammelt habe, ein scharfer Wind pfeift mir um die Ohren und peitscht mir den Rock um die Beine. Bill bekommt eine Ladung Asche ab, als ich im Feuer herumstochere, aber er wacht davon nicht auf.

Rosie ist im Inneren des Wagens und kaut auf einer Holzfigur herum, die Vater ihr geschnitzt hat. Die Sachen, die ich mitgenommen habe, liegen im Wagen in einem großen Bündel. Mehr konnte ich nicht tragen, denn Rosie musste ich ja auch noch tragen. Und eine knapp Zweijährige ist auch nicht gerade leicht herumzutragen.

Gegen Mittag taucht jemand in der Ferne zu Pferd auf und hält direkt auf uns zu. Derjenige scheint auch ein Maultier mit einem Wagen neben sich herzuführen. Ich stehe neben dem Wagenrad, hinter dem Bill die Flinte versteckt hat und warte wachsam. In der Not frisst der Teufel fliegen, und in der Not könnte ich wohl auch auf jemanden schießen. Doch derjenige, der an uns heranreitet scheint keine bösen Absichten zu hegen. Es ist ein junger Mann, und er trägt einen breitkrempigen Hut unter dem blondes Haar hervorlugt. Das Pferd hält er knapp vor dem Wagen an und steigt ab. Er schaut sich kurz um, wirft mir einen Blick zu, dann sieht er Bill schlafend vor dem Wagen liegen. Ich bemerke eine große Narbe auf seiner rechten Wange und am Kinn und ich frage mich, woher er sie hat, denn es sieht aus, als sei es eine böse Wunde gewesen.

Ob das der Herr sei, der gestern wegen dem kaputten Wagen in die Stadt gekommen ist, will er wissen und ich zucke zusammen, weil meine Gedanken soweit abgeschweift sind. Ich nicke schnell und deute auf den Wagen, der ja trotz des Achsenbruchs noch steht, nur nicht mehr weiterfahren kann.

Der junge Mann weckt Bill und macht sich mit ihm ans Werk. Ich stehe neben dem Maultier, streiche ihm gedankenverloren über das bräunliche Fell und sehe zu, wie sie erst den kleinen Wagen abladen und dann mit dem Holz und dem Werkzeug die Achse reparieren. Wie das genau vonstatten geht bekomme ich dann aber nicht mit, denn Rosie will beschäftigt werden und hat Hunger, und wickeln muss ich sie auch.

Am späten Nachmittag sind die beiden fertig. Nun stellt sich das Problem mit den Ochsen. Da Bill nur wenig Proviant auf dem Wagen hat ist der Wagen ziemlich leicht, meint der junge Mann. Man könnte sein Pferd und das Maultier anspannen und es so vielleicht bis in die Stadt schaffen. Wir versuchen es und es scheint zu klappen, zwar kommen wir nur sehr, sehr langsam voran, aber die Stadt ist auch nicht mehr als zwei Meilen entfernt. Der junge Mann hilft uns den Wagen am Stadtrand abzustellen, schirrt das Pferd und das Maultier aus und zieht von dannen.

So, meint Bill, nun müssten wir nur noch ein paar Ochsen auftreiben und wir könnten in Richtung Independence ziehen. Und Vorräte kaufen, meine ich, denn die wenigen, die wir noch haben, würden nicht mehr lange reichen. Ich biete ihm an, die Vorräte von meinem Geld zu kaufen. Denn ihr erspartes Geld haben meine Eltern damals immer unter dem Herd vergraben, und ich habe es ausgegraben und es waren fast neunzig Dollar. Bill schüttelt den Kopf und sagt, mein Geld würden wir später brauchen. Ich bin einverstanden, irgendwann würde ich schon eine Gelegenheit finden mich ihm erkenntlich zu zeigen.
 

16. April
 

Gestern ist nicht viel passiert, das sich lohnte aufzuschreiben.

Heute sieht alles schon wieder ganz anders aus. Auch das Wetter ist wieder besser, nachdem gestern Abend ein Unwetter mit Hagel über uns hinweggefegt ist und die Plane sich im Wind gelöst hat, sodass wir die dicken Hagelkörner auf den Kopf bekamen, als wir versuchten sie wieder festzuzurren. Der junge Mann, der uns vorgestern mit dem Wagen und in die Stadt geholfen hat, hat beschlossen sich uns anzuschließen. Sein Name ist James Henderson und er ist dreiundzwanzig Jahre alt. Er war im Bürgerkrieg, auf der Seite der Union.

Ich frage ihn nach der Narbe, als er erzählt und er sagt es passierte in der Schlacht an einem Flüsschen namens Antietam, einem Nebenfluss des Potomac River. Im Jahre 1862. Ich rechne unwillkürlich nach, demnach muss er damals erst neunzehn gewesen sein. So alt wie ich heute. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es im Krieg ist, und wie es sein muss mit einer Waffe gegen andere Männer zu kämpfen. Ich sage es so und er lächelt mich leicht an und sagt, es sei unvorstellbar grausam und ich solle mir meinen hübschen Kopf darüber nicht zerbrechen. Meine Wangen färben sich rot und ich wende mich ab, um in der dicken Bohnensuppe zu rühren. Ich probiere kurz und befinde sie als gut, dann fülle ich die Blechteller und gebe James und Bill je einen. Bill hat Rosie auf dem Schoß und füttert sie nur mit der Brühe, die Bohnen und Speckstücke isst er selbst. James löffelt die Suppe ohne auch nur aufzusehen. Ich setze mich neben Bill und beginne ebenfalls zu essen.

Später, als ich den Abwasch mache, frage ich James was er vor dem Krieg gemacht hat. Er sieht mich nicht an, als er von einer kleinen Farm in Tennessee erzählt. Ich unterbreche ihn kurz, denn Tennessee liegt im Süden, wieso er dann bei der Unionsarmee gewesen ist? Er lacht wieder kurz und meint ich sei ein helles Köpfchen, ich werde wieder rot. Er meint, deshalb sei er hier. Sein Vater hatte ihn nicht mehr sehen wollen, nachdem er sich auf die Seite der Union geschlagen hat und hat ihn enterbt. Er weiß nicht, was aus seiner Familie nach dem Krieg geworden sei. Dann bricht er ab und ist still. Ich mache stumm die restlichen Teller sauber und stelle sie in den Wagen. Rosie liegt darin und schläft auf meinem Quilt. Ich blinzle in die grelle Sonne und schiebe meinen Strohhut ein Stück zurück. Ich frage mich, was James Henderson so plötzlich dazu bewogen hat sich uns anzuschließen. Er hat in der Stadt in einem Mietstall gearbeitet, seitdem er aus Tennessee weggegangen ist, und gewohnt hat er in einem kleinen Zimmer im Haus einer älteren Witwe. Doch, ich kann ihn verstehen, dass er von hier weg will. Ewig hier an diesem Ort zu bleiben, darüber nachzutrauern, dass er von seinem Vater verstoßen würde und immer als Knecht in einem Mietstall zu arbeiten, das ist wirklich nicht das, was man sich von Leben erhofft. Doch was erhoffe ich mir denn vom Leben? Glücklich sein möchte ich, und ich möchte wieder ein Zuhause haben. Aber wo und wann das sein wird? Hoffentlich geht nur die Reise in den Westen gut, das ist zuallererst mein größter Wunsch.

17. April - 19. April 1866

17. April, auf dem Weg nach Independence
 

James hat uns zwei Ochsen gefunden und wir sind auf dem Weg nach Independence. Für weite Strecken seien zwei Ochsen zu wenig, meint er, und wir sollten uns in Independence noch weitere zwei besorgen. Bill beruhigt mich, als er mein Gesicht sieht und sagt, dass Ochsen nicht so teuer sind. Er sitzt auf dem Kutschbock und ich neben ihm. Beinah kann ich seinen Stolz mit Händen greifen, und die ganze Zeit liegt ein Lächeln auf seinen Lippen. James reitet auf seinem Pferd neben dem Wagen her und das Maultier folgt ein paar Meter dahinter, er hat es nicht angebunden, denn er meint, es würde sowieso nicht weglaufen. James Sachen haben wir nun auch bei uns im Wagen und es ist merklich voller geworden, nachdem wir auch noch Vorräte eingekauft haben. Das Vorräte kaufen hat Bill mir überlassen, aber ich habe vorher nicht gewusst, was eigentlich zu kaufen war. Ratlos stand ich in dem großen Laden, in dem sich bereits einige andere Frauen tummelten und die ebenfalls Vorräte für die geplante Reise kauften. Ich war nicht zu stolz mich an sie zu wenden. Nach ihren Ratschlägen kaufte ich dreihundert Pfund Mehl, vierzig Pfund Bohnen, dreißig Pfund Reis, Trockenfisch, Tee, Sirup und Salz und Pfeffer. Fleisch würde man unterwegs schießen, haben Bill und James mir erklärt. Wir würden unterwegs auch durch wenige kleiner Siedlungen kommen, sagte dann eine Frau zu mir, die höchstens ein oder zwei Jahre älter als ich sein konnte. Aber wir würden wenig Gelegenheit bekommen unsere Vorräte nochmals aufzustocken, bevor es in die sehr dünn besiedelten Gebiete ging. Ich vertraute ihr und machte mich dann auf die Suche nach James, der mir half die vielen Sachen zum Wagen zu tragen und zu verstauen.

Rosie sitzt jetzt vergnügt hinter dem Kutschbock, zwischen zwei dicken Decken, damit sie sich nicht anstoßen kann, falls der Wagen über größere Steine holpert. James reitet hin und wieder ein paar hundert Yards voraus und kommt dann zurück. Jetzt läuft sein Pferd gemütlich neben unserem Wagen her und er unterhält sich mit uns. Bill fragt ihn schließlich nach seiner Zeit in der Armee, aber davon will James nichts erzählen. Er schaut dann in die Ferne und seine Augen nehmen einen seltsamen Ausdruck an, so als würde er in die Vergangenheit schauen und die ganzen Bilder von damals würden auf in einstürmen und ihn schier erdrücken. Daraufhin treibt er sein Pferd an und verschwindet wieder nach vorne und kommt erst beinahe eine halbe Stunde später zurück. Bill sieht mich an und meint, der Junge würde schon von selbst darauf zu sprechen kommen. Ich glaube eher, dass ihn die Bilder trotzdem sehr plagen würden, auch wenn er mit jemandem darüber sprechen würde. Mir geht es nicht anders, aber ich möchte auch nicht darüber reden.
 

Als die Sonne als glutroter Ball im Westen versinkt und die flimmernde Luft sich endlich abkühlt, denn es ist sehr warm für Mitte April, kommen wir in Independence an. Ich habe es mir als kleine Stadt vorgestellt, doch das was ich zu sehen bekomme hat nicht viel mit meiner Vorstellung gemein. Die Hauptstraße ist so verstopft, das es scheint es gäbe kein Durchkommen, die Leute laufen von links und rechts, von vorn und von hinten an uns vorbei. James sagt, dass er nachsehen werde, wo wir den Wagen abstellen und übernachten können. Außerhalb der Stadt, denkt er, wäre es am einfachsten und am ruhigsten. Bill biegt von der Hauptstraße ab, nachdem der rechte Ochse wütend zu schnauben und gegen den anderen Ochsen zu treten begonnen hat. Wir lassen den Trubel hinter uns und atmen erleichtert auf.

Als wir außerhalb der Stadt gerade die Ochsen ausschirren kommt James zurück. Er bringt die Nachricht, dass in drei Tagen ein Treck Richtung Westen startet. Wir können es nicht fassen, so ein Glück! James sagt, die Leute erzählen, es sei ein erfahrener Mann, der den Treck anführt und er hat gleich unsere drei Namen niederschreiben lassen, damit uns ein Platz gesichert ist. Ich weiß nicht, ob es zu viele Leute geben würde, die mit nach Westen gehen würden, aber ich spreche meine Vermutung nicht laut aus. Manchmal kommt es mir vor, als ob nur solche Menschen, wie ich, Bill oder James so etwas wagen würden, weil uns nicht viel anderes bleibt. Unser altes Leben hinter uns lassen und ganz woanders neu beginnen, das würden doch sicher nur die tun, denen es wahrscheinlich vorher schlecht erging, oder die sich abplagen mussten, um zu überleben.

James sagt, die Stadt sei nur durch die beginnenden Trecks so voll, und dass sich deshalb so viele Leute hier herumtrieben. Und dass nicht alle in den Westen ziehen würden, aber eben deshalb blühe diese Stadt so, weil so viele Leute hier durchkamen, es war gut für die Geschäfte derer, die hier ihre Läden, Saloons, Wäschereien oder Miet- und Verkaufsställe hatten. Ein Laden der Vorräte verkaufte muss Gold wert sein, denke ich.
 

18. April, in Independence
 

Der ganze Tag bin ich mit vorbereiten beschäftigt und es gibt auch abends kaum eine ruhig Minute, die ich nutzen kann mein Tagebuch weiter zu führen. Ich werde es morgen nachholen, wenn Zeit ist. Aber ich kann sagen, dass wir zwei weitere Ochsen gefunden haben, die uns ein Mann billig verkauft hat, nachdem er beschlossen hat nun doch nicht auf den Treck zu gehen
 

19. April 1866
 

Morgen geht es los und ich beschließe nach dem Frühstück, welches nur aus einem Kanten Brot mit Butter besteht, in die Stadt zu gehen und für mich ein Kleid für die weite Reise zu besorgen. Und für Rosie müsste ich ebenfalls etwas Neues besorgen. Und Windeln außerdem, die alten sind bald nur noch fadenscheinige graue Lappen. James bietet mir an mich zu begleiten und ich stimme freudig zu. Zu zweit macht es viel mehr Spaß, als allein vor einem Ladenfenster zu stehen und hineinzuschauen. Ich greife in meiner Schürzentasche nach dem Geld, das ich mitgenommen habe und hoffe, dass ich ein schönes Kleid für mich und ein paar Sachen für Rosie dafür bekomme.
 

Ich habe ein schönes Kleid gefunden, und auch eine passende Schürze dafür, wenn ich ab sofort abends das Essen kochen werde. Es ist nicht mehr ganz neu, aber es ist in gutem Zustand, nur der Saum ist etwas ausgefranst, aber ich werde ihn wohl etwas kürzen, denn nach dem was ich von James gehört habe, sind lange Röcke ein Hindernis, wenn man auf einer langen Reise ist. Ich kann es mir ebenfalls vorstellen, denn was nutzt mir der schönste Saum, wenn er doch sowieso nur im Staub und Dreck schleift. Für Rosie bekomme ich ein schönes kleines Kleidchen, und ich beschließe noch ein Paar Hosen zu kaufen, die eigentlich für einen Jungen gedacht sind, aber ich stelle es mir praktisch vor für ein kleines Kind. Windeln bekomme ich auch. James ist plötzlich verschwunden, als ich mich noch im Laden umsehe, denn ich hadere noch mit mir, weil ich gestern Abend eine Frau gesehen habe, die ein paar Männerhosen trug. Sie bewegte sich sicher und unbeschwert damit, und obwohl ich ein paar Frauen gesehen habe, die ihr missbilligende Blicke nachwarfen, komme ich nicht umhin mich zu fragen, ob ich mich nicht auch trauen soll so etwas anzuziehen. Geschickter als die flatternden Röcke wäre es allemal. Ich traue mich schließlich doch und bitte die Frau in dem Laden um etwas in passender Größe. Es dauert eine Weile bis wir etwas finden aber schließlich sind wir erfolgreich. Die Hose muss einem ziemlich schmächtigen Jungen gehört haben, aber mit einem Strick um den Bund passt sie mir. Ich bezahle alles und trage meine Errungenschaften stolz aus dem Laden. James wartet bereits draußen, er hat nicht gesehen, was ich da drinnen zuletzt gekauft habe und ich muss ein wenig lächeln, als ich mir seines und Bills Gesicht vorstelle, wenn sie mich in Hosen sehen.

Als James neben mir hergeht, sehe ich aus den Augenwinkeln plötzlich, wie er in seine Hosentasche greift und etwas herauszieht. Es ist ein dunkelblaues Band. Er reicht es mir und sagt er findet es würde gut zu meinen Haaren passen. Ich werde ganz rot und sage ihm, dass er sein Geld doch sicher viel nötiger brauchen würde, als es für so etwas auszugeben. Er schüttelt vehement den Kopf und ich freue mich sehr über das Geschenk. Ich denke kurz an Mutter, die auch oft Bänder im Haar getragen hat, und es versetzt mir einen Stich. Schnell schaue ich wieder James an, den es sehr zu freuen scheint, dass sein Geschenk mir gefällt. Wir kommen beide in freudiger Stimmung zurück zum Wagen.

20. April - 25. April 1866

20. April 1866, einige Meilen hinter Independence
 

Es ist bereits früher Nachmittag. Gestartet sind wir heute ziemlich früh. Der Treckführer ist ein vielleicht fünfzigjähriger Mann, der laut meiner neuen Freundin Frances, die im Wagen hinter uns fährt, den Weg schon das zweite oder dritte Mal geht und sehr erfahren ist. Sein Name ist Zachariah Smith und er kommt aus Kansas. Smith trägt ein großes Gewehr auf den Rücken geschnallt, und ich frage mich, was er unterwegs mit dieser großen Flinte erschießen will. Frances redet unaufhörlich von Indianern und obwohl ich sie erst heute Morgen kennen gelernt habe und sehr nett finde, geht sie mir mit ihrem Geplapper gehörig auf die Nerven. Ansonsten hat sie mit ihren beiden Kindern zu tun und mit ihrem Mann Ben, der das Ochsengespann fährt. Frances kann höchstens zwei Jahre älter sein als ich, aber ich traue mich nicht recht sie zu fragen, weil sie mich für unhöflich halten könnte. Ihr kleiner Sohn Clarence ist gerade einmal ein halbes Jahr alt, im Moment liegt er in seiner Wiege hinter dem Kutschbock, auf dem Ben sitzt und schläft. Wenn er gerade nicht schläft stimmt er in aller Regelmäßigkeit ein großes Geschrei an. Und ihr zweites Kind Elizabeth ist drei Jahre alt und sie sitzt neben ihrem Vater. Bill hat Frances am Morgen eingeladen zu uns auf den Wagen zu sitzen, aber nun bereut er es bereits. Ich ebenso. Schließlich ruft Frances’ Mann nach ihr, da Clarence wieder zu schreien begonnen hat und sie springt vom langsam dahinzuckelnden Wagen und geht hinüber zu ihrem eigenen.

Bill hat auch beschlossen, dass er sich als mein Großvater ausgeben würde, da Frauen, die allein reisen immer etwas gefährdet seien. Mir ist das recht. James zuliebe habe ich heute das blaue Band in meine dunklen Haare gebunden und als er mich heute früh so gesehen hat, hat er gelächelt.

Frances hat mir heute Morgen angeboten, dass sie sich um Rosie kümmern würde, wenn es mir recht ist. Natürlich ist mir das recht, aber ich sage zu Frances, dass ich das Angebot wirklich nur annehmen würde, wenn es ihr keine Umstände macht. Sie schüttelt daraufhin lachend den Kopf und sagt, mit ihren beiden Kleinen würde auch ein Drittes kaum mehr Arbeit machen. Ich bin ihr sehr dankbar.

Abends halten wir und die Wagen werden in einem großen Kreis aufgestellt. James hilft mir beim Zubereiten des Essens, Bohneneintopf mit ein großen Stücken Fleisch darin, den ich in einem großen Kessel über dem Feuer koche. James hat heute einen Hirsch geschossen und wir haben das Fleisch mit Ben und Frances und noch einem Ehepaar geteilt, da es sonst bei der Wärme schlecht wird. James sagt, wir haben heute siebzehn Meilen geschafft, das sei viel für den ersten Tag eines Trecks, da sich ja alle erst einmal zusammenfinden müssen.

Nach dem Essen sitzen wir um das Feuer herum und James fragt, ob ich singen kann. Ich verneine nicht, aber ich sage auch, dass ich nicht besonders gut bin. James lacht und holt seine Mundharmonika heraus. Er fragt, ob ich „Across The Wide Missouri“ kenne. Natürlich kenne ich das. Er spielt die ersten Töne und ich singe. Schon bald stimmen ein paar andere Leute mit ein und nicht wenige wischen sich über die Augen. James schaut mich unverwandt an, während er spielt und ich singe. Dann stimmt er „Lorena“ an, eins meiner liebsten Lieder.

Schließlich lässt James die letzten Töne verklingen und ich verstumme.

Als ich später neben dem Wagen liege, eingehüllt in meine Decke, und zu den tausenden Sternen am Himmel aufblicke, taucht James aus dem Dunkel neben mir auf. Er sagt, ich würde sehr schön singen. Dann ist er wieder verschwunden. Verwundert schaue ich ihm nach. Irgendwo hinter mir gibt das Maultier einen langgezogenen Schrei von sich und ich zucke zusammen.

Und noch lange finde ich keinen Schlaf in dieser Nacht.
 

23. April, vierundfünfzig Meilen westlich von Independence
 

Wir haben gestern achtzehn Meilen geschafft, und heute neunzehn. Schon über fünfzig Meilen in drei Tagen. Zuerst habe ich mich gefragt, wie James das so genau wissen will, wenn er es mir jeden Abend erzählt. Dann beschreibt er mir ein Gerät, das man an einem Wagenrad anbringt und das mit jeder Umdrehung die Entfernung misst. Hodometer nennt er es. Ich habe vorher noch nie davon gehört, aber ich finde es sehr interessant. Und der Treckführer Smith hat solch ein Gerät an seinem Wagenrad und wer es wissen will, fragt einfach am Abend danach.

James hat sein Pferd heute an Bill weitergegeben und fährt mit mir das Ochsengespann. Wir amüsieren uns gut zusammen auf dem Kutschbock und er erzählt mir ein paar Geschichten aus seiner Kindheit. Doch er tut das mit einer Wehmut in der Stimme, dass er mir ganz leidtut und ich möchte ihn schon bitten aufzuhören, aber das wiederum kommt mir ebenfalls unhöflich vor. Aber immer wieder unterbricht er sich und starrt eine Weile in die Ferne, dann auf einmal wird sein Blick wieder ganz klar und er sieht mich seltsam an bevor er weitererzählt.

Er fragt mich nie nach meiner Familie und ich kann auch noch nicht darüber reden, aber da er mir bereitwillig von seiner erzählt hat, werde auch ich mich bald zusammenreißen und mich dem stellen.

Wir singen wieder zusammen „Lorena“ und bald wird es das liebste Lied auf unserem und den nächsten beiden Wagen. Hinter uns fährt jetzt ein älterer Mann, der eine deutsche Frau hat. Er begleitet uns hin und wieder auf einer Fidel. Der Herr heißt Seth Myers und seine Frau Pauline. Ich kann Alter schwer schätzen, aber ich vermute die beiden sind zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Und sie haben keine Kinder dabei. Mr. Myers hatte eine Schmiede in Kansas, aber er hat sie an einen jüngeren Mann verkauft und ist mit seiner Frau losgezogen. Es ist natürlich sehr nützlich, wenn man Schmied ist. Denn wenn die Eisenbeschläge der Wagenräder abfallen, was sie leider oft tun, dann kennt er sich gleich damit aus und kann sie reparieren, sofern er das richtige Werkzeug dafür dabeihat. Mrs. Myers redet nicht viel, da sie fast nur Deutsch spricht. Ihr Mann versteht sie, aber leider keiner sonst hier im Treck. Aber sie lächelt mir am Morgen immer zu und sagt dann in ihrer fremden Sprache etwas zu mir. Wahrscheinlich wünscht sie mir einen guten Morgen, und wünsche ihr das ebenfalls.

James summt immer noch vor sich hin, die Zügel der Ochsen hält er lose in den Händen. Er hat große breite Hände, und flaumige blonde Haare wachsen auf seinem Handrücken und auf den Fingern. Er merkt, dass ich ihn beobachte und schaut mich an. Seine kornblumenblauen Augen blitzen und er grinst, sagt aber nichts. Ich erröte und schaue schnell zur Seite.

Der Himmel ist mit Wolken verhangen, aber es regnet nicht, auch wenn es bisweilen so aussieht. Aber bisher ist noch kein Tropfen gefallen.
 

25. April 1866, sechsundachtzig Meilen westwärts
 

Gestern hat es den ganzen Tag geregnet, die Wolken haben schließlich doch noch ihre ganze Last über uns abgelassen. Es gab ein kräftiges Gewitter und ich habe mich hinten in den Wagen verzogen und mir die Decke über den Kopf gezogen, während James und Bill auf dem Bock saßen und sich nass regnen ließen. Nun ja, zumindest waren ihre Hosen durchnässt, über ihre Gesichter hatten sie ja ihre Hüte gezogen. Ich habe eine Weile mit Rosie gespielt, als das Gewitter vorbei war und ich die Blitze nicht mehr sehen musste. Gewitter gehören nicht zu meinen liebsten Dingen.

Heute hat das Wetter wieder aufgeklart und ich sitze neben James auf dem Bock. Bill hat sich wieder das Pferd genommen und reitet hinterher, ich vermute ja er ist gegen Ende des Zuges geritten, weil dort eine ältere Witwe mit ihrem gesamten Habe reist. Vielleicht gefällt ihr Bill ja, und ihm gefällt sie auch. Ich muss lächeln, während ich das denke und James fragt mich, was los sei.

Ich sage es ihm und er grinst ebenfalls. Dann nimmt er plötzlich meine Hand und sagt, beim nächsten Gewitter würde er nach hinten kommen, damit ich keine Angst mehr haben muss so allein. Abrupt ziehe ich meine Hand aus seiner, weil mein Herz plötzlich einen Sprung macht und ich nicht recht einordnen kann, woher das kommt. Er schaut mich kurz an, und scheint meine Verwirrung zu erkennen, denn er lächelt und schaut wieder nach vorn. Ich bemerke, wie meine Wangen glühen und halte meine Handflächen daran. Ich weiß gar nicht, was zurzeit mit mir los ist.

Später halten wir wieder und schlagen das Lager für die Nacht auf, Rosie quengelt und jammert herum. Frances meint, sie bekäme wieder ein Zähnchen. Ich habe nie so genau darauf geachtet, wann Kinder Zähne bekommen und wann Rosie daheim deswegen gejammert hat. So ist das recht neu für mich. Ich bekomme sie dazu den Mund aufzumachen und Frances sieht nach. Dann nickt sie und ich gebe Rosie wieder ihr Stück Holz, damit sie darauf herumkauen kann.

Es gibt heute zwei gebratene Wildhasen, die Bill geschossen hat und die James auf einen Spieß gesteckt hat, nachdem er sie ausgenommen und gehäutet hat. Das Fell hat er auf ein Gestell gespannt, damit es trocknet und wir es auf den Bock legen können zum darauf sitzen.

26. April - 15. Mai 1866

26. April, hundert Meilen westwärts
 

Wir haben die Hundert-Meilen Marke geknackt. Ich habe heute Abend nicht die Zeit und die Lust viel zu schreiben, denn es war ein harter Tag und ich bin sehr müde. Den halben Tag waren wir damit beschäftigt mithilfe von Mr. Myers eine kaputte Strebe unseres Wagenrads auszubessern und dann mussten wir die Ochsen antreiben, damit wir schnell wieder Anschluss an den Treck finden. Denn zwei einzelne Planwagen sind ungeschützt und ein leichtes Opfer. Aber wir haben den Treck spät abends, als das Lager aufgeschlagen wurde wieder eingeholt. Die Ochsen haben geschnauft wie Ackergäule und James, Bill und ich waren auch nicht viel besser dran. Wir waren Mr. Myers und seiner Frau sehr dankbar, dass sie uns geholfen haben. Und ich durfte dieses Mal sogar James’ Pferd reiten, obwohl ich zuhause das Pony höchstens einmal die Woche, und dazu nicht besonders gut, geritten bin.
 

2. Mai, ungefähr hundertneunzig Meilen von Independence
 

Die Prärie liegt vor uns und der Himmel über mir scheint kein Ende zu nehmen. Ebenso wenig wie die endlose Weite der Prärie. Das Gras wogt frisch und grün und ein frischer Wind pfeift mir um die Ohren. Die Sonne brennt mir aufs Gesicht und ich steige über die Kisten hinter dem Bock hinweg und suche zwischen den vielen Decken und Fellen meinen Hut. Rosie fährt heute bei Frances und ihrer Familie auf dem Wagen mit und James und ich sind allein. Bill reitet wieder und ich habe ihn seit dem Morgen nicht mehr gesehen. Gestern haben wir das Pferd hinten angebunden und mitlaufen lassen, aber das hat ihm anscheinend nicht gefallen, denn es hat ständig am Strick gezerrt, sodass sein Hals am Abend ganz aufgescheuert war. James nennt das Pferd seit neuestem George, nach George B. McClellan, dem Befehlshaber der Armee, unter dem er am Antietam gekämpft hat. James erzählt mir nun doch von seinen Kriegserlebnissen. Und wie er in der Schlacht verwundet wurde, danach heimgeschickt wurde zum erholen, nachdem er aus einem der vielen Feldlazarette entlassen wurde. Er zeigt mir auch die Narben, die ich noch nicht gesehen habe. Er erzählt, dass er damals beinahe sein Bein verloren hat, und nur durch die Hilfe einer heilkundigen alten Frau überlebt hat, die ihn gesund gepflegt hat. Die Ärzte wollten das Bein einfach abschneiden. Mich durchfährt es eiskalt und ich ziehe meinen Hut ein wenig weiter in die Stirn, damit er mein entsetztes Gesicht nicht sehen muss. Die Narbe an der Wange stammt von einem Bajonett, sagt er. Ich merke, wie er mich von der Seite her forschend ansieht und ich hebe langsam den Blick. Seine blauen Augen scheinen so weit wie der Himmel über uns und seine blonden Strähnen hängen ihm in die Augen. Sein etwas zu breiter Mund lächelt nicht und irgendetwas Seltsames liegt in seinem Blick. Ich öffne den Mund um etwas zu sagen, entscheide mich aber anders und schließe ihn wieder. Den Blick kann ich aber nicht abwenden.

Dann hören wir plötzlich von hinten Geschrei und zucken zusammen. James übergibt mir die Zügel und springt vom Bock um nachzusehen. Irgendwie ist mir gar nicht recht, dass er jetzt einfach so geht. Als er kurze Zeit später zurückkommt schaut er bekümmert drein und erzählt, dass ganz hinten auf dem letzten Wagen ein alter Mann gestorben ist und die Tochter es gerade eben erst entdeckt hätte. Der alte Mann habe schon über siebzig Lebensjahre gezählt, sagt James, und sei zudem krank gewesen. Ich nicke langsam.

Abends als das Lager aufgeschlagen wird begräbt man den alten Mann am Wegesrand und stellt ein Kreuz auf. Alle nehmen an der kleinen Messe teil. Und ich habe vorher gar nicht gewusst, dass wir auch einen Priester mit im Treck hatten. Die Tochter des Mannes sagt, es sei wohl besser so gewesen, auch wenn ihr Vater gern einmal den grünen weiten Westen gesehen hätte.
 

6. Mai, zweihunderteinundvierzig Meilen
 

Bill reitet gerade an uns heran und ich traue meinen Augen kaum, als ich sehe was er da mitbringt. Oder besser gesagt, wen er da mitbringt. Es ist eine Kuh. Ich sehe James verwundert an, der sogleich zu grinsen beginnt. Die Kuh schaut mich etwas traurig aus ihren großen braunen Augen an. Es ist ein hübsches Tier mit rotbraunem Fell und schön geschwungenen Hörnern und ihr Euter ist dick gefüllt. Ich frage Bill, wo er das Tier her hat. Er sagt, er habe es auf einer nahegelegenen Farm gekauft, mehr sagt er nicht, sondern drückt mir den Strick in die Hand und schwingt sich pfeifend wieder auf George und zieht von dannen. Nun stehe ich da, mit der Kuh an der Hand und schaue Bill nach. James fragt, ob ich da Wurzeln schlagen will. Also binde ich die Kuh hinten an den Prairie Schooner und schwinge mich wieder auf den Bock. James findet die Idee von Bill sehr gut, haben doch nun die kleinen Kinder frische Milch. Ich muss ihm zustimmen, denn kleine Kinder gibt es auf dem Treck genug. Hat doch schon Frances zwei, ich habe Rosie. Auf mindestens zwölf der insgesamt achtzehn Wagen fahren Kinder mit, und oft nicht nur eins oder zwei. Eine Familie hat gleich fünf dabei, wobei der ältestes Sohn bereits achtzehn ist und das jüngste Kind fünf Jahre. Auf einem Wagen fährt eine junge Frau ganz allein, die nicht viel älter als ich sein kann. Sie hat ein kleines Kind dabei, von höchstens einem Jahr.

Am Abend als wir das Lager wieder aufschlagen tritt sie auf mich zu und stellt sich mir vor, Georgia Harris ist ihr Name, dann fragt sie mich, ob ich etwas Milch für ihr Baby hätte. Ich kann natürlich nicht nein sagen, und sie bietet mir im Tausch ihre Hilfe mit Rosie an. Lächelnd nicke ich, sage aber nur wenn es wirklich nötig wäre, sie habe doch sicher genug mit ihrem Kleinen zu tun. Als sie mit einer Schüssel Milch zurück zu ihrem Wagen geht schaue ich ihr nach und denke, was für eine mutige Frau sie ist. Ganz allein und mit Kind auf einen Treck zu gehen. Ohne Mann und ohne irgendwelche Verwandten.

James kommt später zu mir ans Feuer, gerade als das Fleisch zweier Wildkaninchen im Bohneneintopf durch ist. Kurz darauf kommt auch Bill. Wir essen schweigend und ich kann nicht anders als mich selbst zu meinem gut gewürzten Eintopf zu beglückwünschen. Ich frage James und Bill ob es ihnen schmeckt und bekomme die ratlose Antwort, warum es denn nicht schmecken soll? Ich lächle und esse weiter.

Es ist so warm draußen, dass wir noch lange draußen sitzen und das Lagerfeuer brennt langsam herunter, bis nur noch die Glut ihr rotes Licht auf unsere Gesichter wirft. Doch dann zieht ein kühler Wind auf und James geht zum Wagen und holt ein paar Decken, von denen er mir eine über die Schultern legt. Ich danke ihm leise und lächle ihn an. Er lässt sich neben mir nieder und ich meine die Wärme seines Körpers bis durch die Decke hindurch zu spüren.
 

14. Mai 1866, Fort Kearney, Nebraska Territory. Dreihundertfünfzig Meilen von Independence
 

Wir haben Fort Kearney erreicht und das Lager aufgeschlagen. Der Treckführer Smith hat vor hier zwei Tage zu bleiben, damit Mensch und Tier sich eine kurze Erholung gönnen können. Hauptsächlich natürlich die Tiere, die Pferde, Ochsen und Rinder. Rechterhand schimmert der Platte River in der grellen Sonne blau und grün. Am Rand stehen ein paar Bäume, die uns Frauen Schatten spenden, als wir mit unseren Wäschekörben an den Fluß hinuntergehen, um endlich einmal unsere von der Prärie staubige Kleidung waschen zu können. Ich habe Bills und James’ Hosen und Hemden eingesammelt, um sie zu waschen, Rosies viele Windeln natürlich auch und meine Kleider und Unterröcke. Ich knie zwischen Georgia Harris und Frances am Ufer und wir seifen die Wäsche kräftig ein und spülen sie mit dem frischen kühlen Wasser des Platte nach. Dann legen wir alles wieder in die Weidenkörbe und tragen alles zurück zu den Wagen. Wir spannen Wäscheleinen zwischen den Planwagen und hängen alles darauf. Schauen, dass auch alles mit Holzklammern festgemacht ist, damit es im Wind nicht davonfliegt. Zwar geht gerade kein Wind, aber hier in der Ebene weiß man nie. Frances sagt, im Fort gäbe es ein paar kleinere Geschäfte, da dies eine der Versorgungsstationen am Rande der großen Trails ist. Ich, Georgia und Frances beschließen einen kleinen Spaziergang zu machen. Die Kinder bringen wir bei Mrs. Myers unter, die sie zwar nicht wirklich versteht, sich aber gern darum kümmert, wie ihr Mann sagt. Georgia hat einen Brief dabei, den sie gerne abschicken würde.

Gestern Abend hatte ich einen wüsten Streit mit einer dicken alten Matrone namens Elvira Bartlett, bei dem es auch um Georgia ging. Zuerst kam sie zu mir und fragte, was ich mir dabei denken würde allein mit einem jungen Mann in einem Planwagen zu nächtigen. Unverheiratet noch dazu. Darauf habe ich ihr gesagt, dass Bill sich schon darum kümmern würde, wenn es ihm nicht gefallen würde, dass ich mit James in dem Wagen schlafe. Damit nicht zufrieden wies sie mit dem Finger auf Georgia und sagte, dass es kein Wunder sei wenn die Frauen auf dumme Gedanken kämen wenn man mit solchen Weibern reden würde. Sie senkte die Stimme und sagte, Georgia sei wohl ein leichtes Mädchen und das Kind ein Missgeschick gewesen, wie es in solchen Kreisen ja nun öfters passierte. Wenn ich vor Wut nicht beinahe sprachlos und erstarrt gewesen wäre, hätte ich ihr wahrscheinlich eine Ohrfeige verpasst, doch James ist mir zuvorgekommen und hat ihr gehörig die Meinung gesagt. Daraufhin ist sie abgezogen. Ich kann ihren stechenden Blick in meinem Rücken spüren, als ich jetzt mit Georgia und Frances ins Fort gehe.

Wir kaufen Proviant, die Sachen, die schnell zur Neige gehen, und die man meistens in größeren Mengen bekommt. Ich kaufe Bohnen, Mehl, etwas Zucker, Salz und Hafer für George und die Kuh. Eigentlich weiß ich gar nicht, ob die Kuh Hafer mag, aber wir werden sehen. Dann noch zwei neue Windeln für Rosie, ein kariertes Halstuch für James, und Kautabak für Bill. Frances schaut auf meine Einkäufe, die auf der Ladentheke liegen und fragt für wen das Halstuch sei. Ich werde rot. Sie lächelt wissend und schaut sich weiter die Auslagen an.
 

15. Mai, Fort Kearney, Nebraska Territory
 

Abends kommt Georgia wieder zu mir ans Lagerfeuer und holt Milch von der Kuh, die wir Daisy getauft haben. Doch dieses Mal setzt sie sich zu mir her und erzählt mir von ihrem verstorbenen Mann. Ich sage ihr auch, was die dicke Alte behauptet hat. Sie lächelt nur traurig und erzählt, dass ihr Mann kurz bevor Ende des Bürgerkriegs noch gefallen ist. Und das Kind ist jetzt ein halbes Jahr alt und gezeugt worden, als ihr Mann das letzte Mal in der Heimat war. Ich sage ihr, dass ich dankbar bin, dass sie mir das erzählt, und dass ich nicht verstehen kann, dass solche schwatzhaften Leute wie Mrs. Bartlett immer jemanden suchen müssen über den sie schlecht reden können. Georgia meint wir sollten sie einfach reden lassen.

James hat sich sehr über das Halstuch gefreut und sich vor Dankbarkeit dazu hinreißen lassen mich mit seinen kräftigen Armen zu packen und zweimal um die eigene Achse mit ihm herumzuwirbeln.

29. Mai - 29. Juni 1866

29. Mai 1866, Chimney Rock, zweihundertfünfzig Meilen von Fort Kearney
 

Eine einzelne Felssäule. Ein einsamer Schornstein, der aussieht, als hätte man ihn hier mitten in der Prärie ausgesetzt und das Haus drumherum ist verschwunden. Er heißt nicht umsonst Chimney Rock. Und er bedeutet auch, dass wir die Great Plains nun hinter uns lassen werden und es bald in die Berge geht. Der Treck zieht langsam an dem Felsen vorbei und wir können die Augen kaum davon abwenden. Wir sind bereits weit gekommen, meint James, den Blick ebenfalls auf den Felsen geheftet. Kurz vor den Rocky Mountains befindet sich jetzt unser Treck. Bald werden wir die engen Bergpässe hinauffahren und uns durch die schier unbezwingbaren Steinriesen hindurchschlängeln. Ich bin einerseits gespannt darauf, andererseits fürchte ich mich auch ein wenig davor. Man hat doch schon so viel gehört, von abgestürzten Planwagen, die durch einen einzigen Fehltritt eines Ochsen auf dem schmalen Weg in die Tiefe und auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind, mitsamt aller Menschen und ihrem Habe auf dem Wagen.

Der Himmel ist mit dicken weißen Wolken überzogen, die anmuten wie ein Haufen krauseliger Schafswolle und hin und wieder den grell leuchtenden Ball der Sonne verdecken. Man merkt, dass es auf den heißen Sommer zugeht. James hat die Ärmel des Hemds hochgekrempelt und ich bemerke, dass seine Haut schon ziemlich gebräunt ist, hatten wir doch seit dem Start vor gut sechs Wochen fast nur sonniges Wetter, nur hin und wieder ein Gewitter und zwischendurch ein oder zwei Tage mit Regen. James fährt fast nur noch mit mir auf dem Prairie Schooner und überlässt Bill gerne das Pferd. Heute hat Bill Rosie mitgenommen und hält sie vor sich im Sattel. Hin und wieder höre ich ihr grelles Kinderkichern, wenn das Pferd einen Satz macht, oder wenn ihr etwas gefällt was sie sieht.

Ich und James sind mittlerweile gute Freunde geworden, auch wenn er mich eigentlich ganz verlegen macht, wenn er mich ansieht. Schon als wir in Fort Kearney in diesem Geschäft waren, hat Frances etwas angedeutet. Aber bisher habe ich noch nichts neues herausgefunden. Frances hat mich gefragt, was ich denn gern hätte, aber ich bin wieder nur rot geworden und konnte nichts sagen.
 

4. Juni, Fort Laramie, dreihundertzwanzig Meilen von Fort Kearney
 

Wir nähern uns Fort Laramie, wo wir wieder rasten werden. In der Ferne kann ich sehen wie das Land langsam beginnt hügelig zu werden, doch es sind noch keine steilen zackigen Bergkuppen die ich sehe, sondern grüne Hügel auf denen das Gras wogt. Unsere vier Ochsen werden sich freuen, wenn wir sie heute Abend aus dem Geschirr ausspannen und sie das frische Gras fressen können. Außerdem bekommen wir im Fort vier neue Ochsen, ein paar andere Wagen haben schon viele Meilen vorher in Fort Kearney ihre Zugtiere gewechselt. Ich finde es ein bisschen schade, dass unsere treuen Ochsen jetzt einfach ausgetauscht werden, aber sie haben unseren Wagen nun mal schon über achthundert Meilen gezogen. Und bis der nächste Treck kommt, werden sie sich wieder erholt haben.
 

Bald werden wir auch den South Platte River überqueren, aber Mr. Smith hat unsere Bedenken schon zerstreut, denn es gibt dort anscheinend einige flache Stellen, wo die Ochsen kein Problem haben werden hindurchzuwaten und die schweren Planwagen hindurchzuziehen. Frances, Georgia und ich sind wieder zusammen ins Fort gegangen und haben Proviant eingekauft, dieses Mal mehr als in Kearney, da laut Mr. Smith die nächste Versorgungsstation, Fort Hall, über fünfhundert Meilen entfernt liegt. Später am Tage, als die Sonne schon rot glühend hinter den weiten Hügeln versinkt, gehe ich Wasser schöpfen und treffe an einem Brunnen auf eine junge Frau, die scheinbar sehnsüchtig zu unserem Wagentreck hinüber sieht. Ich spreche sie an. Sie sagt, sie sei die Frau eines Soldaten, der hier stationiert ist und sie beide sobald seine Dienstzeit um ist ebenfalls auf den Treck gehen werden und in den Westen ziehen. Sie fragt mich ob es sehr anstrengend sei und was man unbedingt beachten müsse. Ich erwidere lachend, dass sie das lieber Mr. Smith fragen sollte, da der den Treck ja schon mehrmals gemacht hat. Aber ich erzähle ihr bereitwillig von unserer bisherigen Zeit. Eine Weile später sehe ich James, wie er suchend umherstreift. Ich rufe ihm zu und er kommt herüber und fragt mich, ob die Eimer mit dem Wasser selbst zum Wagen laufen, oder ob ich heute noch komme. Ich lächle und er grinst ebenfalls. Ich verabschiede mich von der jungen Frau und wünsche ihr viel Glück, dann gehe ich mit James zurück zum Wagen. Die Ochsen stehen zusammen auf einer Weide und tun sich am Gras gütlich. Wir haben vier neue Ochsen im Austausch zugeteilt bekommen, doch wir werden ja erst übermorgen weiterziehen.
 

22. Juni, Independence Rock, 290 Meilen von Fort Laramie
 

Mit großen Augen starre ich auf die Felswand vor mir, auf hunderte von Namen, die sich in allen Größen darüberziehen. Namen, Geburtsdaten, Orte. Grüße und Sprüche. Grüße von Menschen, die hier mit großer Hoffnung vorbeigezogen sind, ihr Ziel vielleicht schon erreicht haben, oder aber nicht und auf dem Weg dahin umgekommen sind.

Neben mir steht Bill und streicht mit der Hand über den Felsen. Dann sagt er, dass er auch seinen Namen hier einritzen wird, denn der wird nicht so schnell verschwinden und wohl noch dann hier im Fels stehen, wenn er selbst schon lange nicht mehr auf der Erde weilt.

Mr. Smith erzählt am Lagerfeuer, dass er das letzte Mal genau am vierten Juli hier war und die Siedler, die er damals geführt hat ein großes Fest gegeben haben. Leider sind wir dieses Mal etwas zu früh, aber er meint dass wir bis zum 4. Juli wohl den South Pass in Wyoming schon überquert haben würden und dann feiern können.

Leise plätschert der Sweetwater River dahin, und gurgelt munter über Gestein, das schon hunderte von Jahren vom kühlen Wasser überspült wird und glatt ist, wie wenn ich mit der flachen Hand George über den warmen Pferdehals streiche. Ich habe genug von den vielen Leuten am Lagerfeuer, außerdem plagt mich mein monatliches Unwohlsein und ich habe beschlossen die verschmutzten Tücher noch auszuwaschen, damit sie bis morgen trocknen können. Ich knie im weichen Boden des Ufers und beugte mich übers Wasser, das hier in einem kleinen Gumpen zusammenläuft und wringe die Tücher aus. Lege sie neben mir in den Weidenkorb. Ein Plätschern lässt mich aufhorchen, dann noch eins. Irgendwer wirft Steine ins Wasser. Ich drehe mich um und sehe eine dunkle Gestalt, die auf einem großen Stein sitzt, etwas zwanzig Meter entfernt. Dann höre ich, wie er leise meinen Namen sagt. Es ist James. Ich komme ungeschickt auf die Beine und reibe meine schmerzenden Knie, ich frage was er hier macht und warum er nicht bei den anderen ist. Er antwortet, dass er mich gesucht hat und dass ich nicht so weit vom Lager weggehen soll. Unwillkürlich balle ich die Fäuste, was meint er wer er ist, dass er mir Befehle geben will? Aber ich verstehe, dass er es nur gut meint. Oder ist er besorgt um mich? Er tritt näher und bleibt vor mir stehen, es ist so dunkel dass ich sein Gesicht nicht sehen kann, der Mond hat sich hinter Wolken versteckt. Ich spüre die Wärme, die von seinem Körper ausgeht und dann hebt er die Hand und streicht mir ein paar meiner widerspenstigen dunkelbraunen Strähnen hinter die Ohren. Ich habe sie heute eingeflochten, aber im Laufe des Tages hat sich der Zopf in Wohlgefallen aufgelöst und die langen Haare hängen mir nun wild um die Schultern. Plötzlich spüre ich James’ Hände auf meinen Oberarmen und er zieht mich an sich, ich lege meinen Kopf an seine breite Brust und höre sein Herz klopfen. Dann schaue ich zu ihm hoch und erschrecke etwas, als er seine warmen Lippen auf meine legt. Darauf habe er schon lange gewartet, sagt er, und ich lege wieder meinen Kopf an seine Brust, so als gehöre er schon lange dahin.

Er küsst mich noch einmal, dann aber macht er sich abrupt von mir und entschuldigt sich für sein ungebührliches Verhalten und verschwindet im Dunkel. Ich bleibe verwirrt zurück und starre ihm nach. Der Schrei irgendeines Tiers holt mich zurück in die Gegenwart und ich nehme den Weidenkorb und gehe zurück zum Wagen. Hinter den Wagen der anderen Leute vorbei, damit mich keiner sieht. Ich frage mich, ob man mir ansieht, was gerade passiert ist. Meine Knie sind ganz weich und ich weiß nicht, warum er so plötzlich verschwunden ist. Irgendwie komme ich mir auch dumm vor. Ich hänge gedankenverloren meine Tücher auf und steige dann über den Bock in den Wagen. Ich stolpere über etwas weiches, ich erschrecke beinahe zu Tode und falle auf die Knie, dann höre ich James’ Stimme. Ich frage ihn, was er hier im Dunkel zu suchen hat und warum er mich so erschrecken muss. Er greift nach meiner Hand und sagt mir, dass er mich nicht hatte so stehen lassen wollen am Ufer des Sweetwater River. Und ob ich ihm verzeihe. Natürlich, sage ich. Dann ziehe ich meine Hand aus seiner und beginne die Decken für die Nacht herzurichten. Er hilft mir dabei. Dann legen wir und nieder und schlafen Rücken an Rücken, so wie wir es nur zu Beginn der Reise einmal getan haben, bis Bill meinte, dass es Gerede gäbe, wenn wir beide im Wagen übernachten würden. Seitdem haben er und James immer draußen geschlafen, eingewickelt in Decken. Doch dieses Mal ist etwas anders, irgendwann tastet James nach meiner Hand und hält sie fest. Bald darauf schlafe ich ein.
 

29. Juni, auf dem South Pass, 120 Meilen vom Independence Rock
 

Wir überqueren nun den South Pass und Mr. Smith hat gesagt, wir würden nun bald auf einer Fähre den Green River überqueren müssen. Doch zuvor fahren wir am Big Sandy Creek entlang, der verlockend kühl in der sommerlichen Hitze schimmert. Die Landschaft wird langsam bergig und es geht auf und ab, allerdings zieht sich das Flusstal des Creek ziemlich gerade dahin. Doch ab und zu wird der Weg sehr eng, und anscheinend ist der Creek in der Vergangenheit öfters einmal über die Ufer getreten und hat den Pfad überspült, denn ab und zu sind dort tiefe Furchen zu sehen und ich habe bedenken, dass die Räder des Planwagens dort nicht hineinrutschen und der Wagen umfallen könnte. Ich reite heute auf dem Maultier neben James her und Bill fährt den Planwagen. Wir reiten allerdings dicht hinter ihm, falls er auf dem unwegsamen Gelände Schwierigkeiten bekommt. Das Maultier ist auch etwas unwillig und wirft hin und wieder den Kopf so nach hinten, dass ich beinah seinen harten Schädel gegen den meinen bekomme. Dann haut James ihm immer mit einem Stock hinten auf die Kruppe und das Tier kommt zur Einsicht. Zumindest für eine Weile. Bis es wieder anfängt zu bocken. Irgendwann reicht es mir und ich steige wieder auf den Planwagen und lasse das dumme Tier hinterherlaufen. James grinst und sagt, er würde dem Vieh schon noch Manieren beibringen. Bei der Kuh habe er es ja auch geschafft, und die läuft brav ohne Seil hinter dem Wagen her.

Seit der Nacht am Independence Rock weiß ich wie James zu mir steht und auch Bill hat es mitbekommen. Bill ist außerdem eine alte Tratschtante, denn Frances weiß es nun auch schon und fragt, ob wir bald heiraten wollen. Auf diese Frage hin habe ich mich einen ganzen Vormittag lang hinten im Prarie Schooner versteckt und wollte einfach nur meine Ruhe haben, um nachzudenken. Ich komme auf keinen grünen Zweig mit der vielen Denkerei und James hilft mir auch nicht gerade dabei, denn an einem Tag ist er besonders nett und zuvorkommend, dann wieder ist er abweisend und launisch. Er hadert mit seiner Vergangenheit, das sehe ich ihm an. Mich haben auch wieder die Träume eingeholt. Und jedes Mal wenn ich Rosie ansehe, versetzt es mir einen Stich, weil sie ohne Eltern aufwachsen muss. Ja sie hat mich, aber eine Schwester, die sich nicht wirklich mit Kindererziehung auskennt ist kein Ersatz für eine Mutter. Zum Glück gibt es Georgia und Frances, die mir sehr unter die Arme greifen.

Am Abend als wir rasten, kommt plötzlich Unruhe auf. Auf einem der hinteren Wagen ist ein Kind erkrankt. Es erbricht sich und hat Durchfall. Entsetzen flammt auf, und Mr. Smith beschließt, dass niemand mehr in Berührung kommen darf mit der Familie. Frances sitzt bei mir am Lagerfeuer und wir sehen zu wie die Familie ein gutes Stück weiter weg ihr Lager aufschlägt. Ich kann nicht recht verstehen, warum Mr. Smith niemanden helfen lässt. Aber France erklärt mir, dass er Angst hat, dass sich jemand anstecken kann. Sie flüstert das Wort nur, Cholera. Und ich erschrecke bis ins Mark.

30. Mai - 14. Juli 1866

30. Juni
 

Im Morgengrauen höre ich einen lauten entsetzten Schrei und fahre aus einem seltsamen Traum hoch. Ich schüttle verwirrt den Kopf und schaue mich um, ich bin im Planwagen, weiß aber nicht wie ich dahingekommen bin. Dann fällt mir ein, dass ich gestern Abend noch lange am Lagefeuer gesessen bin und über das arme kranke Kind nachgedacht habe. Irgendwer, wahrscheinlich James, muss mich in den Wagen gebracht haben. Ich binde mir schnell eine Schürze um und streiche meinen zerknitterten Rock glatt, dann eile ich nach draußen. Dort sitzt Georgia mit ihrem Kind auf dem Arm am erloschenen Feuer und füttert es mit der frischen Milch von der Kuh. Ich schaue sie fragend an und sie deutet zu dem einsamen Wagen. Sofort weiß ich, was geschehen ist, und kurze Zeit später kommt Bill und sagt, dass das Kind heute früh gestorben ist. Erschrocken schaue ich sofort nach Rosie, aber ihr scheint es gut zu gehen, nur ihre Windel ist voll und ich wechsele sie. Meine Hände zittern ein bisschen und ich zucke zusammen, als ich lautes Weinen vernehme. Ach, es ist schrecklich. Und mir tut die arme Mutter so leid. Ich bleibe im Wagen sitzen und halte mir die Ohren zu. So findet mich James eine Weile später und nimmt mich in die Arme. Seine Hände streichen über meine Haare und über meine Wangen. Und ich kralle meine Hände in sein Hemd, wie um Halt zu finden. Er murmelt beruhigende Worte und hält mich einfach nur fest.

Es ist Mittag und wir überqueren nun den Green River. Mir geht es noch nicht ganz gut, der Tod des Kindes und die Cholera, an der nun auch die Mutter und das andere Kind erkrankt sind, nimmt mich sehr mit. Mr. Smith musste die Entscheidung treffen, den Wagen samt den Kranken zurückzulassen, denn er kann es nicht riskieren, dass sich auch andere noch anstecken. Zum Glück hat es bisher niemand weiterer bekommen. Ich finde es sehr grausam, aber ich sehe es ein, da Mr. Smith die Verantwortung für so viele Menschen trägt. Trotzdem vergieße ich noch ein paar Tränen für die armen Leute. Am Green River angekommen, starre ich entsetzt auf den großen Fluss. Er kommt mir sehr breit vor, viele, viele Wagenlängen, keine Möglichkeit ihn mit dem Wagen zu Fuß zu überqueren, wie wir es oft am Sweetwater River gemacht haben, dort war das Wasser auch selten mehr als zwei oder drei Fuß tief an den Stellen, wo wir ihn durchquert haben.

Es dauert den ganzen Tag, die nun mehr fünfzehn Wagen über den Fluss zu bringen, denn es kann jeweils nur ein Wagen auf das Floß und wird hinübergezogen. Und danach muss man noch die ganzen Ochsen den Fluss überqueren lassen, also ziehen wir gegen Abend erst weiter und bringen nur drei weitere Meilen zustande, bevor wir wieder rasten.
 

4. Juli 1866, Independence Day, irgendwo hinter dem Green River
 

Die Landschaft ist jetzt sehr gebirgig. Und es ist sehr warm, ich habe die Ärmel meines Kleides hochgeschoben und halte die Zügel der Ochsen in meinen Händen, sie drohen mir zu entgleiten, weil meine Hände so schweißnass sind. Heute ist Unabhängigkeitstag und abends wollen wir am Lagerfeuer gemeinsam feiern. Ich freue mich schon darauf.
 

Ich habe im Kessel über dem Feuer die Keule eines Hirschs gebraten. Dazu gibt es wie immer Bohnen. Ich kann bald keine mehr sehen, aber was bleibt mir anderes übrig? Wir hocken zusammen und lassen uns das Essen schmecken. Den Hirsch hat Mr. Myers heute Vormittag geschossen und aufgeteilt. Frances sitzt bei mir und schaut mich erwartungsvoll an. Ich weiß nicht, auf was sie wartet. Dann schaut sie James an, bis ihr Mann sie anstößt und beinah unmerklich den Kopf schüttelt. Frances isst nun stumm ihr Stück Hirschkeule. Nach dem Essen stimmen wir ‚Oh, Susannah’ an und am Schluss singen ich und James zusammen ‚Across The Wide Missouri’ und unser Lieblingslied ‚Lorena’.

Die ersten Sterne tauchen am Himmelszelt auf und die Lagerfeuer brennen langsam hinunter, da nimmt James mich an der Hand und zieht mich hoch. Langsam gehen wir im kühlen Abendwind an den Planwagen vorbei, bis wir an einen großen flachen Stein kommen, wo James mir hochklettern hilft und dann selbst hinterher steigt. Wir stehen da oben, über uns der weite Himmel, im Westen eine Mondsichel und dann steht James plötzlich vor mir und hält beide meine Hände fest. Ich schaue hoch, in sein Gesicht und sehe ihn lächeln, ich will den Mund öffnen um etwas zu sagen, aber er kommt mir zuvor. Er fragt mich, ob ich, Lenora McMahon, ihn, James Henderson, zum Mann haben will. Mir sacken vor Schreck beinahe die Knie zusammen, doch er hält mich fest. Und ich antworte etwas atemlos, dass ich möchte. Er drückt mich glücklich an sich und ich kann mir selbst das Lächeln nicht vom Gesicht wischen. Plötzlich hat er ein ledernes Band in der Hand, dass er mir um das Handgelenk bindet. Er trägt das gleiche, und ich lächle ihn an. Wir sitzen noch lange oben auf dem Stein, und James küsst mich. Zuerst sanft, dann langsam fordernd, und seine Hände liegen warm auf meinem Körper und tasten suchend umher. Sein Atem geht schneller, und wieder schiebt er mich ein Stück von sich, doch ich weiß nun, warum er das tut. Und ich nehme seine Hand und streiche über den blonden Flaum auf der Oberseite.

Wir kommen spät zurück zum Lagerfeuer und als Frances mein Gesicht sieht, jauchzt sie unterdrückt auf. James sagt es förmlich zu Bill, meinem ‚Großvater’, und entschuldigt sich, dass er nicht erst um Erlaubnis gebeten hat. Bill grinst breit und sagt, dass ließe sich nur mit einer Flasche Selbstgebranntem beheben. James lacht und verschwindet im Wagen, woher er kurz darauf mit einer Flasche zurückkehrt. Wir stoßen an und ich muss husten, als das scharfe Gebräu mir die Kehle hinab rinnt. Doch ich bin so glücklich wie schon lange nicht mehr.

Als ich unter der Decke liege und in den Himmel hinaufstarre, frage ich mich was Mutter und Vater dazu sagen würden. Ich bin mir sicher, sie sind einverstanden.
 

14. Juli 1866, in Fort Bridger, hundertfünfzig Meilen seit dem South Pass
 

James und ich wohnen jetzt zusammen im Planwagen und es gab einiges Gerede darüber, vor allem von ein paar der älteren Frauen, die schon lange verheiratet sind und uns teilweise äußerst missbilligend betrachten, aber dann teilweise doch wieder sehr nett ansprechen. Ich kann sie gar nicht einschätzen. Aber ich frage mich, ob sie nicht selbst auch einmal jung und erwartungsvoll und verliebt gewesen sind.

James möchte mich am liebsten so schnell es geht heiraten. Auch ich kann es nicht erwarten, aber ich bin auch aufgeregt und frage mich, was mich als Ehefrau erwartet. Ich habe mit Frances und Georgia darüber gesprochen, als wir gestern Abend zusammen am Lagerfeuer saßen und die Männer damit beschäftigt waren eine kaputte Radachse zu reparieren. Außerdem lahmt George seit gestern und wir wissen nicht warum. Mr. Myers will ihn sich nachher noch ansehen, bevor es morgen weitergeht.

Zwei Planwagen werden den Treck in Fort Bridger verlassen, denn sie wollen in Richtung dem großen Salzsee, nach Salt Lake City. Sie werden in Fort Bridger noch warten bis sich ein etwas größerer Treck dahin zusammengeschlossen hat. Aber da ja oft Wagenzüge hier durchkommen, werden sie wohl nicht lange warten müssen. Außerdem sagt Mr.Smith, dass wir nun ungefähr die Hälfte unserer weiten Reise geschafft haben, das lässt ein Leuchten über unsere Gesichter gehen. Fort Bridger ist eine kleine Siedlung, eigentlich nicht mehr als ein paar Häuser und eine Palisadenwand. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es hier sehr interessant ist. Hier leben Mormonen, sagt Bill. Ich weiß gar nicht so genau was Mormonen eigentlich sind, ich hab nur gehört, dass sie hier unten in der Gegend sind. Und dass Salt Lake City auch von ihnen gegründet worden ist. Sie sind eine Glaubensgemeinschaft, erklärt mir Bill.

Am Abend liege ich neben James im Wagen, den Bauch wieder einmal voll mit Bohnen. Doch dieses Mal waren auch noch Kartoffeln darin, wovon ich und Frances jeweils eine große Kiste im Fort erstanden haben. Mein Kopf liegt an seiner Brust und er streicht mir gedankenverloren über den Schopf. Dann sagt er mir, er findet meine Haare sehr schön. Ich setze mich etwas auf und schaue ihn an, dann erinnere ich ihn daran, dass er mir ja ganz zu Beginn ein blaues Band für meine Haare geschenkt hat. Er lächelt und sagt, er wisse das noch ganz genau. Und er würde sich immer an mein Gesicht erinnern und an mein Lächeln, als ich das Band genommen habe. Ich lächle wieder und er zieht mich an sich und küsst mich. Irgendwann lassen wir schwer atmend wieder voneinander ab, aber wir müssen beide lachen, als James sagt, dass wir noch warten sollten, aus Anstand, bis nach der Hochzeit. Anstand, murmle ich und lächle in mich hinein.

17. Juli - 29. August 1866

17. Juli, im Wyoming Territory
 

Heute haben wir die Grenze von Wyoming nach Idaho überquert. Die Landschaft ist sehr eintönig, alles ist entweder mit rotem Staub bedeckt, oder je nach Sonneneinfall grau, gelb oder schwarz. Es schimmert unterschiedlich. Auch wenn die Landschaft eintönig ist und nur hin und wieder durch Hügel und Buschwerk unterbrochen wird, aber das Farbenspiel ist einmalig und ich schaue die meiste Zeit träumend in die Ferne. Jetzt, da Mr. Smith gesagt hat, dass es nicht mehr so weit ist, haben alle begonnen zu träumen und über die Zukunft zu reden. Jeder freut sich, wenn wir endlich in Oregon ankommen.
 

28. Juli, Fort Hall, 260 Meilen von Fort Bridger
 

Wir haben Fort Bridger weit hinter uns gelassen und dort die zwei Wagen verabschiedet, die uns verlassen wollten. Dann ging es weiter durch die bergige Landschaft und nun sind wir in Fort Hall angekommen und haben unser Lager aufgeschlagen. James ist mit George, der sich in Fort Bridger einen Dorn eingetreten hat und beinah zwei Wochen lang nicht geritten werden konnte, auf einem Ritt in die Gegend rundherum. Ich bin heute mit Bill mit dem Planwagen beschäftigt und flicke mit einer dicken Nadel und dickem Garn die großen Löcher, die ein Hagelsturm hineingerissen hat. Fast der ganze Treck ist mit ebendiesem beschäftigt. Einige Tiere hatten Blessuren davongetragen und ein Mann hatte einen Hagelbrocken so fest auf den Schädel bekommen, dass er mit Kopfschmerzen und einer eiergroßen Beule auf der Stirn hinten auf dem Wagen lag und ächzte. Er ächzt nun nicht mehr, weil er Schmerzen hat, sondern weil dann die Frauen zu ihm kommen, ihn bemitleiden und ihm Essen zustecken, weil er ihnen so leid tut. Die ersten drei Tage haben wir es ihm geglaubt, aber seit gestern nicht mehr. Und heute geht es ihm ganz plötzlich wieder gut und er ist mit den anderen Männern beschäftigt zerbrochene Holzstreben auszubessern, die ebenfalls unter dem Hagel zusammengebrochen sind.

Ich habe mir nie träumen lassen, dass es solchen Hagel gibt. Einige waren so groß wie Hühnereier, und sie haben keinen Halt gemacht vor dem Segeltuch, das die Planwagen bedeckt. Außerdem hat das Tuch sich zu allem Unglück auch noch aus der Verankerung gerissen und ist an einer Seite nun ganz ausgefranst. Ich beschließe im Fort nachzuschauen, ob es so etwas wie Ersatz dafür gibt. Ich finde bei einem Händler ein gutes Stück Segeltuch, aber als ich den Preis höre glaube ich meinen Ohren nicht zu trauen. Ich gehe wieder und er ruft mir nach, dass ich sicher im ganzen Fort kein günstigeres Tuch finden würde.

So sitze ich schmollend auf dem Wagen und nähe mit ungeschickten Stichen die Löcher wieder zu, das Ausgefranste muss ich abschneiden, und so ist die Abdeckung am Schluss ein gutes Stück zu kurz. Als ich kurz davor bin alles hinzuwerfen kommt James, auf dem Arm ein Stück Segeltuch. Als ich es genauer ansehe, stelle ich fest, dass es das gleiche ist, wie das, was ich vorher bei dem Händler angesehen habe. Ich frage ihn danach und was es gekostet hat und er nennt mir einen Preis, der um die Hälfte günstiger ist, wie der den der Kerl mir genannt hat. Ich koche vor Wut und James weiß gar nicht warum. Ich erkläre es ihm und sage, normalerweise sollte man hingehen und dem Kerl das Tuch um die Ohren hauen. James lacht, nimmt mich in den Arm und wirbelt mich herum, drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Dann gibt er mir das Tuch und zieht pfeifend von dannen.

Am Abend habe ich den Planwagen wieder zusammengeflickt und Bill hat die Holzstreben ausgebessert. Der Mann mit der Beule benimmt sich so, als hätte er nie eine gehabt.
 

Und wieder verlassen uns zwei Wagen, wir sind nun nur noch elf, denn die Leute wollen nach Kalifornien ziehen. Mr. Smith warnt sie alleine weiterzufahren und lieber ein bisschen zu warten, bis noch andere Wagen eintreffen, die das gleiche Ziel haben. Aber die Menschen auf den zwei Wagen sind stur und lassen sich nicht davon abbringen, denn sie wollen schnell an ihr Ziel kommen.

Zwei Tage später bringt jemand die Nachricht ins Fort, dass die Wagen überfallen worden sind und all die Menschen getötet worden sind. Mr. Smith zuckt bedauernd die Schultern, sagt aber, dass sie selbst schuld seien. James nimmt mich in den Arm, weil mir die Tränen herunterkullern, wenn ich daran denke, dass auf den Wagen auch wieder Kinder waren. Er sagt, es täte ihm leid für die Menschen, aber wenn sie auf die erfahrenen Leute hören würden, würde so etwas seltener passieren. Ich frage mich, von wem sie überfallen worden sind und frage James. Der fragt Mr. Smith und dieser meint, es waren Indianer. Ich beschließe Frances nichts zu sagen von den Indianern, ich erinnere mich noch zu gut an ihre anfängliche Panik. Und ich hoffe Mr. Smith sagt auch nichts zu den anderen Leuten, denn sonst gibt es hier noch eine Meuterei.
 

11. August, Fort Boise, zweihundertvierzig Meilen von Fort Hall
 

Jetzt ist es doch passiert, wovor mir am meisten gegraut hat, jemand der mir nahesteht ist krank geworden. James liegt mit Fieber hinten auf dem Wagen und wälzt sich in wirren Träumen hin und her. Er ächzt und seufzt und das kühle Tuch, das ich ihm auf die Stirn gelegt habe fällt immer wieder herunter. Seit er vor drei Tagen das Kind aus dem Fluss gezogen hat und abends ein kalter Wind mit Regen über uns hereingebrochen ist geht es ihm nicht gut. Und seit gestern Nacht hat er hohes Fieber und ich habe große Angst um ihn. Zum Glück ist es nicht die Cholera, denn sonst würden wir zurückgelassen werden. Doch trotz dem sitze ich seitdem neben ihm, halte seine Hand, die eiskalt und mit kaltem Schweiß überzogen ist, und Bill sitzt vorne auf dem Wagen und steuert die Ochsen. Rosie habe ich bei Frances untergebracht, damit sie sich nicht ansteckt. James hustet und bäumt sich auf, seine Augen weit aufgerissen, doch er erkennt mich nicht, sondern starrt nur ins Leere und sieht Gestalten, die überhaupt nicht da sind. Und er redet vom Krieg. Von Blut, von Gewehren und von Schatten, die ihn verfolgen.

Ich schlafe in dieser Nacht kaum, schrecke immer wieder hoch und richte das Tuch auf seiner Stirn hin, damit es wenigstens ein bisschen kühlt. Ein Arzt aus Fort Boise hat mir ein fiebersenkendes Mittel gegeben, und ich versuche es James einzuflößen, aber es bleibt nur bei dem Versuch.
 

12. August 1866
 

Seit heute früh fahren wir weiter und lassen Fort Boise hinter uns.

Bill und ich haben James ausgezogen und seinen Körper in feuchte Tücher gewickelt. Doch von einem Moment auf den anderen zittert er vor Kälte, dann wieder ist ihm heiß und er strampelt die Decken von sich. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich bereite ihm einen Tee, den er nicht bei sich behält. Ich versuche es mit Frances’ Suppe, aber das Ergebnis ist das gleiche. Die ganze Nacht wache ich an seinem Bett. Bill will mich ablösen, aber ich schüttele den Kopf. Wie kann ich jetzt von ihm weggehen und mich hinlegen, während er hier mit dem Fieber ringt?

Heute Vormittag habe ich Rosie kurz besucht und Frances hat mir etwas Suppe gegeben und gemeint, wenn ich nichts esse würde ich auch noch krank werden. Dann gehe ich sofort wieder zurück zu James und setze mich neben sein Krankenlager. Vor meinen Augen verschwimmt plötzlich alles und als ich wieder klar sehen kann, finde ich mich in Decken gewickelt bei Frances auf dem Wagen. Sie fährt das Gespann und erklärt mir, dass Bill die Wache drüben bei James übernommen hat und ihr Mann unser Gespann fährt. Frances ist nicht sehr sicher mit den Ochsen und will unbedingt zurück zu James, aber schon als ich mich zurücklehne und die Augen kurz schließe versinke ich wieder in Dunkelheit.

Ich muss lange geschlafen haben, denn als ich erwache hockt Bill neben mir und lacht mir ins Gesicht. Und da weiß ich, dass alles gut werden wird. Er sagt, dass James aufgewacht sei und etwas Suppe geschlürft hat, und dass er alles bei sich behalten hat. Bill greift nach meiner Hand und drückt sie fest, und ich lächle ihn an und danke Gott, dass alles gut gegangen ist.
 

29. August, Whitman’s Mission, zweihundertsechzig Meilen von Fort Boise
 

Eine neue Welle der Aufmunterung hat den ganzen Treck erfasst. Denn heute Morgen hat uns Mr. Smith erzählt, dass wir unser Ziel bald erreicht hätten und es bis Oregon City nur noch etwas über zweihundertfünfzig Meilen seien. Daraufhin brachen einige Männer in lautes Geheul aus und warfen ihre Hüte in die Luft.

James beugte sich grinsend zu mir herüber und meinte, was sie wohl werfen würden, wenn wir Oregon City wirklich erreicht haben. Ihre ganze Kleidung vermutlich, erwidere ich und James sagt lachend, wenn das die alte Mrs. Bartlett hören würde, würde sie uns den Priester auf den Wagen schicken, damit er uns Anstand beibringt. Bill meldet sich von hinten zu Wort, wo er mit Rosie spielt und meint, der Anstand sei schon längst in einem der vielen Flüsse hier baden gegangen. Bill hat sich vorgestern Abend den Fuß verstaucht, als er von George heruntergefallen ist. Keiner weiß so genau, wie es passiert ist, er selbst noch weniger, denn er hat sich ziemlich arg den Kopf angeschlagen, als George ihn abwarf. Vermutlich hat das arme Pferd sich vor irgendetwas erschrocken, denn wir sind zu der Zeit durch ein Waldstück gezogen und es gab viele Büsche, in denen allerhand Getier hätte herumkriechen können.

Am Abend fahren wir an Whitmans Mission vorbei und lagern ein Stück weiter. Mr. Smith erzählt abends am Lagerfeuer die Geschichte von Dr. Whitman, der damals in 1836 hier eine Mission gegründet und mit seiner Frau hier gelebt hat. Bis dann ein paar Jahre später die Masern unter den Indianern ausbrachen, die in der Mission lebten, und viele der Einwohner starben. Anscheinend hatten die Indianer die Ansicht, dass Dr. Whitman nur den weißen Einwohnern half, was nicht wahr war. Und deshalb brach ein Krieg aus, woraufhin fast alle Einwohner der Mission getötet wurden.

Ich habe Gänsehaut auf meinen Armen, als Mr. Smith endet und James legt seinen Arm um mich und zieht mich an seine breite warme Brust.

11. September - 9. Oktober 1866

11. September, bei Fort Dalles, 150 Meilen von Whitman’s Mission
 

Wir kommen sehr gut voran und haben einige Meilen gutgemacht. Mir scheint, die Ochsen wittern, dass sie ihr Ziel bald erreicht haben und legen jetzt einen ziemlichen Zahn zu. Es geht durch die Wälder und Wiesen von Oregon und vorbei an den Cascade Mountains und wir sind alle heilfroh, dass wir nicht noch einmal durch die Berge müssen.

Bill ist nach dem Sturz von Georges Rücken zwei Tage im Planwagen gelegen und hat sich ausgeruht. James meint, er sei ja nun doch nicht mehr der Jüngste und er dürfte es ruhig mal ein bisschen langsamer angehen lassen. Aber jetzt nach zwei Tagen ist er wie eh und je wieder auf den Beinen.

Abends am Lagerfeuer erzählt ein älterer Herr Geschichten von früher. Von dem Krieg der Mexikaner gegen die Texaner. Und von der Schlacht um das Missionsstädtchen Alamo, die von den wenigen Verteidiger keiner überlebt hat. Und von der Schlacht am San Jacinto River, wo General Houston die mexikanische Armee unter Santa Anna in nur knapp zwanzig Minuten besiegt hat.

Wir lauschen alle gebannt den Geschichten und es hört sich alles so real an, wie der Mann es schildert, sodass ich am Schluss wieder Gänsehaut auf meinen Armen spüre.

Später, als wir uns in den Wagen zum schlafen legen, denke ich noch lange über die Geschichten nach. Ich kann mir kaum vorstellen, dass alles wahr ist. Und ich frage mich, ob später einmal die Leute auch über die großen Wagentrecks in den Westen reden und sich daran erinnern werden.
 

28. September, Oregon City, hundert Meilen von Fort Dalles
 

Oregon City. Der Name der Stadt, in die wir nun hineinfahren lässt beinahe alle Strapazen des vergangenen halben Jahres vergessen. Wir sind endlich angekommen, und hier wird der Treck sich auflösen.

In dieser Nacht sind James und ich allein. Bill und ein paar andere Leute aus dem Treck sind irgendwo in der Stadt und trinken, um zu feiern dass wir endlich angekommen sind. Ich sage zu James, dass er gern zu ihnen gehen kann, aber er sagt, er kann dem Alkohol nichts abgewinnen und bliebe lieber hier bei mir auf dem Wagen. Rosie ist bei Frances’ Kindern. Nicht, dass ich sie vernachlässige, aber ich sehe es lieber wenn sie mir anderen Kindern spielt und nicht so oft allein spielen muss, wie sie es bei uns auf dem Wagen oft tut, da James, Bill oder ich nicht den ganzen Tag Zeit haben mit ihr zu spielen.

Es ist eine sehr warme Nacht, eine, in der man noch nicht merkt, dass er Sommer sich dem Ende zuneigt. Ich denke zurück an den Frühling, als wir aus Independence losgezogen sind, und wo gerade das erste Gras auf den Wiesen gesprossen ist und die Ochsen es abfressen konnten. Und jetzt werden die ersten Blätter auf den Bäumen schon wieder farbig und das Gras wächst nicht mehr so schnell. Mich überkommt ein Hauch von Wehmut, dass alles nun bald vorbei sein soll, aber auch Freude, da wir endlich am Ziel angekommen sind.

James’ Hand in meiner fühlt sich sehr warm an, und als er mich küsst sind meine Gedanken ebenfalls so frei, wie wir alle uns jetzt fühlen. Wir sind endlich angekommen, und in dieser Nacht macht James mich zu seiner Frau.
 

29. September, Oregon City
 

Nun ist es wirklich zu Ende. Als der Treck sich heute auflöst vergießen wir viele Tränen, ein paar wollen ein Stück weiter in den Norden, viele in den Süden. James war gestern in der Stadt und hat mit einigen Leuten geredet. Er sagt, ein gutes Stück im Süden sei sehr fruchtbares Land, viele Weiden und Wälder. Das Tal heißt Willamette Valley. James fragt mich, ob ich mit ihm dahingehen wolle und ich sage natürlich ja, und was er sich denn denken würde? Er lacht und wirbelt mich herum. Am Nachmittag kaufen wir vier Lämmer, denn ich wollte schon immer Schafe haben und die Tiere sind so lieb, wie sie da blökend bei dem Verkäufer stehen und mir die Hand ablecken, als ich sie ihnen hinhalte. Ich hoffe nur, dass James sich damit auskennt, aber die kleinen Tiere sind ja sehr selbständig. Es gibt einiges Durcheinander, als wir die vier Lämmer auf den Planwagen heben, damit wir sie am nächsten Tag nicht irgendwo zwischen den aufbrechenden Wagen suchen müssen. Ich finde später viele kleine Haufen, die von den Lämmern herrühren und werfe sie lachend hinten hinaus. Die kleinen Tierchen liegen nun eng zusammengekuschelt zwischen Rosies Bettchen und dem Kutschbock. Und als ich sie Rosie zeige, ist sie begeistert und ich lasse sie bei ihnen sitzen und mit ihnen spielen. Schon morgen werden wir Richtung Süden ziehen. In das fruchtbare Tal, von dem James gesprochen hat.
 

9. Oktober, Willamette Valley, 60 Meilen von Oregon City
 

Als sich die grünen weiten Wiesen vor mir auftun und ich tief die reine Luft in meine Lungen strömen lasse, weiß ich, dass wir hier richtig sind. Dass wir hier unser neues Zuhause haben werden. Ich denke an Mutter und Vater und hoffe dass sie von oben herabschauen und sehen, wohin es Rosie und mich verschlagen hat. James hält plötzlich den Wagen an und Bill kommt auf George neben uns zum stehen. Wir sind auf einer leichten Anhöhe stehen geblieben und sehen unter uns wogende Wiesen, Bäume und die endlose Weite dahinter, die irgendwann im Pazifik enden wird.

Ich steige vom Wagen und meine bloßen Füße berühren das Gras, das sich kühl anfühlt. Wir haben eben doch schon bald Herbst, und als ich mich genauer umsehe, sehe ich auch schon die ersten bunten Blätter auf den Bäumen. James steht neben mir und schaut ebenfalls in die Ferne. Dann schaut er den Hügel hinab und sagt, wie gut sich ein kleines Häuschen da unten machen würde. Ich stimme ihm zu und lächle ihn an.

Wir haben uns in Oregon City noch nicht trauen lassen, aber bald werden wir Frances und ihren Mann besuchen fahren, die den Winter über noch in der Stadt bleiben wollen und es dann nachholen. Als ich an den Winter denke, wird mir ein bisschen flau. Plötzlich wirft James die Arme in die Luft und stößt einen solch lauten Schrei aus, dass Rosie hinten im Wagen erschrickt und zu weinen beginnt. Ich hole sie heraus und beruhige sie, muss aber lachen. Und da nimmt mich James in die Arme und drückt mich fest, dann sagt er wir müssten jetzt aber nicht hier herumstehen und Däumchen drehen, sondern schauen, dass wir bis zum Winter noch ein Haus zustande brächten. Vermutlich würden wir nur eine kleine Hütte schaffen, aber das macht mir nichts aus. Und zu Beginn würden wir sowieso noch im Planwagen schlafen. Ich setze Rosie ins Gras und sie steht auf und läuft ein paar Schritte. Ich und James schauen wieder über das hügelige Land und lassen uns den Wind in die Haare blasen.

Und plötzlich stößt auch Bill einen Schrei aus, treibt George an und das Pferd sprengt mitsamt seinem laut lachenden Reiter den Hügel hinunter, hinab in die grüne Weite.

Frühjahr 1871

Willamette Valley, Frühjahr 1871, über 1800 Meilen von Independence, Kansas Territorium
 

Ich halte James’ Hand und schaue mit klopfendem Herzen auf unser Haus. Ich bekomme immer noch Herzklopfen, wenn ich hier auf diesem Hügel stehe und darauf hinabblicke. Denn damals vor fünf Jahren stand ich ebenfalls hier und schaute in eine kleine Talsenke, wo damals noch nichts war, außer weiten grünen Feldern und satten dunklen Wäldern. Doch jetzt ist unser Haus hier, und eine kleine Herde Rinder grast gleich in der Nähe. Und plötzlich höre ich jemanden ‚Mama!’ rufen und ich höre Schritte hinter mir. Der kleine Bill kommt auf uns zu und ich bücke mich und strecke die Arme aus. Und als er in meinen Armen liegt und ich aufschaue und in James’ blitzende Augen und sein lachendes Gesicht sehe, wird mir ganz warm ums Herz.
 

Und der alte Bill sitzt auf einem Stuhl auf der Veranda des Holzhauses uns schaut zu der kleinen Familie. Er denkt an die Zeit vor fünf Jahren, an die junge Lenora und an den ehemaligen Soldaten James, und an den Planwagen und das Maultier, an die Ochsen und an die Kuh, die immer hinterher lief. Er denkt an die Staubwolken, die der Wagenzug aufgewirbelt hat und er denkt an diejenigen, die nicht angekommen sind. Und dann schaut er auf die siebenjährige Rosie, die an den Weidenzaun gelehnt steht und in die Weite blickt. So wie damals sie alle in die Weite des Westens geblickt hatten, in der Hoffnung ein neues Zuhause zu finden. Bill lehnt sich zurück und spuckt eine Ladung braunen Kautabak ins Gras. Er seufzt zufrieden und schließt die Augen gegen die Sonne, die ihm direkt ins Gesicht scheint. Sie hatten es gefunden. Ihr Zuhause.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Ninjagirl
2011-05-03T14:58:53+00:00 03.05.2011 16:58
Oh wie schön :) Das Ende hat mir wirklich gut gefallen. Sowieso hat mir die Geschichte richtig gut gefallen. Mit den amerikanischen Siedlern (nennt man sie überhaupt so?), die sich in den Westen bewegten, habe ich mich vorher noch nie so wirklich auseinandergesetzt. Diese Reise, die so lange gedauert hat und die man jetzt vielleicht ein bisschen abenteuerlich verklären könnte, hast du wirklich toll dargestellt und ich hatte richtig das Gefühl, einen echten Bericht zu lesen.
Mit der Zeitform konnte ich mich zwar nicht so anfreunden, weil Lenora die Geschehnisse ja eigentlich zu einem späteren Zeitpunkt im Tagebuch festhält als sie geschehen, aber das ist sicher nur eine Ansichtssache ^.^
Jedenfalls eine sehr schöne Geschichte, die mich bis zum Ende nicht losgelassen hat.
LG, Nin
Von:  Mismar
2010-12-02T12:27:50+00:00 02.12.2010 13:27
Awww ich mag das Pairing XD *Fangirlie sei*
*kicher*
Nein, nein, ich fand das sehr süß, James ist ein wundervoller Charakter, zurzeit auch mein Liebling, besonders weil ich seine Art einfach nur sympathisch finde~

Und was mir aufgefallen ist: "Das Vorräte kaufen" muss zusammen geschrieben werden, also "das Vorrätekaufen".
Zusätzlich finde ich nicht, dass du zu viele Kommata, sondern manchmal zu wenige machst. Es erschwert an manchen Stellen das Lesen etwas.

Ansonsten schönes Kapitel.
Von:  Mismar
2010-11-29T15:54:18+00:00 29.11.2010 16:54
Irgendwie ist die Geschichte sehr traurig :( es regt eher meine Emotionen an, obwohl ich mich frage, ob sie von der Handlung her noch interessanter wird.

Ich finde das in Form eines Tagebuchs sehr gut, nur manchmal verwirren mich die Zeiten hier.

Ansonsten war es ein schönes Kapitel
Von:  Mismar
2010-11-24T17:55:55+00:00 24.11.2010 18:55
Sehr schöner Schreibstil :D
Leider kann ich mich nicht sonderlich äußern, aber ich werde es sicherlich weiterlesen.


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