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Phönixasche

von

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Tweets & Fotos

TWEETS & FOTOS
 

Lustigerweise hatte Raphael mir seine Adresse auf meinen Handrücken geschrieben, da wir beide kein Papier, dafür aber Stifte Zuhauf dabei hatten. Darunter hatte er seine Handynummer gesetzt, für den Fall der Fälle. So hatte ich nicht danach fragen müssen — ich hasste es, nach Nummern zu fragen. Ich kam mir dabei wahnsinnig aufdringlich vor.
 

Wir hatten uns für neun Uhr morgens verabredet, damit wir bis zum Abend hin möglichst viel Zeit hatten, um zu streichen. Raphael wohnte etwas außerhalb der Stadt. Ich nahm eine Bahn, um dorthin zu gelangen. Draußen war der Himmel ziemlich trüb und trostlos, es sah verdammt nach Regen aus. Ich war noch ziemlich müde, weil ich keine Zeit gehabt hatte, einen Kaffee zu trinken — ich war zu spät aufgestanden. Herzhaft gähnend lehnte ich den Kopf gegen die Fensterscheibe und schaute auf die vorbeiziehende Landschaft. Die Fahrt dauerte nicht länger als zehn Minuten.
 

Raphael hatte mir zusätzlich eine kleine Wegbeschreibung gegeben: Er hatte einen Lageplan aufgezeichnet, ihn mit seinem Handy abfotografiert und mir als MMS geschickt. Eigentlich hätte mir eine wörtliche Erklärung ausgereicht — erste Abzweigung rechts und dann die nächste links —, aber so ging es natürlich auch, und irgendwie fand ich es sü— witzig, dass er sich diese Mühe mit der Zeichnung und dem Foto gemacht hatte.
 

Als Raphael mir die Wohnungstür öffnete, sah er aus, als wäre er selbst gerade aus dem Bett gefallen. Die Zahnbürste, die in seinem Mund steckte, verstärkte den Verdacht zusätzlich. Er grinste müde, als ich hereinkam, dann nahm er die Bürste aus dem Mund.
 

»Morg’n«, sagte er und schien peinlich darauf bedacht, den Mund möglichst wenig zu bewegen, damit kein Schaum herauslief. »Sorry. Hab verpennt.«
 

Ich zuckte die Schulter, während ich die Schuhe von meinen Füßen streifte. »Kein Ding. Ich wär auch fast zu spät gekommen.«
 

Raphael schob sich die Zahnbürste zurück in den Mund und putzte weiter, winkte mich dabei in die Küche. Ich setzte mich auf einen der Stühle am Tisch. Unterdessen öffnete mein Gastgeber einen der Schränke, holte eine zylinderförmige Dose und Kaffeefilter daraus hervor. Ich stand wieder auf.
 

»Geh du mal Zähne putzen«, meinte ich zu Raphael und unterdrückte dabei ein Gähnen. »Ich mach das hier fertig.«
 

»Okay.« Raphael gab mir den Filter, den er aus der Verpackung herausgezogen hatte. »Füll das Wasser besser für acht Tassen. Ich brauch eine Menge Koffein, um morgens in die Pötte zu kommen.«
 

Grinsend griff er wieder nach der Bürste, dann verließ er die Küche. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ich den Deckel der Kaffeemaschine aufklappte und den Filter in den Trichter steckte. Ich füllte den Kaffee hinein, goss Wasser in den Behälter und schloss die Abdeckung wieder, ehe ich die Maschine einschaltete.
 

Ich setzte mich wieder auf den Stuhl und schaute mich in der Küche um. Sie war recht klein. Links von der Tür stand eine Kommode, auf der sich die Kaffeemaschine befand, rechts hingegen war die Wand zwei Meter bis auf zwei handgeschriebene Schriftzüge völlig kahl. Dann folgte die Anrichte mit der Spüle und dem Ofen. Da drüber befanden sich vier kleine Regalbretter, die in kurzen Abständen nebeneinander angebracht waren. Zwischen den Regalen waren je vier Bilder in einer Senkrechten befestigt. Gegenüber der Tür befand sich ein großes Fenster und eine wuchernde Grünpflanze stand auf dem Sims.
 

Die Kaffeemaschine gluckerte, während der Kaffee durchlief. Ich erhob mich, um mir die Fotos zwischen den Regalen anzuschauen. Sie waren allesamt quadratisch zugeschnitten und bildeten ein vertikales Panorama. Die erste Reihe war ein Bild der Space Needle, die zweite der Big Ben, die dritte war der Eiffelturm. Alle waren Nachtansichten.
 

Als Raphael wieder in die Küche kam, sah er frischer aus als kurz zuvor. Seine Augen wanderten kurz von mir zu den Bildern, die ich mir eben noch angeschaut hatte.
 

»Hast du die gemacht?«, wollte ich wissen. Ich drehte mich um und lehnte mich gegen die Anrichte. Raphael warf einen Blick auf die Kaffeemaschine, bevor er sich mir wieder zuwandte.
 

»Nein«, antwortete er amüsiert. »Gib mir eine Kamera in die Hand und du kannst dir sicher sein, dass die Fotos, die ich mache aussehen, als hätte ein Baby damit gespielt. Die Bilder hat meine Mutter gemacht. Sie war freiberufliche Fotografin und mit meinem Vater viel in der Welt herumgereist. Dabei hat sie mir immer Bilder mitgebracht. Ich hab auch ein paar unzerschnibbelte Panoramas und andere Fotos.«
 

»Wow«, murmelte ich beeindruckt. Ich hatte hin und wieder auch ziemliches Fernweh. Es gab viele Länder und Städte, die ich gerne mal bereisen wollte, aber bis das möglich war, musste ich erst einmal mein Studium abschließen und mir einen ordentlichen Job zugelegt haben. »Was macht denn dein Vater beruflich?«
 

Musste ja irgendwas Spannendes sein, wenn er viel herumkam. Raphael grinste.
 

»Lehrer am Gymnasium für Biologie und Deutsch. Ich bin ein Lehrerkind und es ist nicht einmal halb so schlimm wie es klingt«, erwiderte er heiter. Ich runzelte die Stirn. Okay, das war nicht unbedingt das, womit ich gerechnet hatte, aber es erklärte, woher Raphaels Eltern die Zeit nahmen, so viel von der Welt sehen zu können. Wenn ich mich zurückerinnerte, was meine Lehrer uns damals immer erzählt hatten, was sie in den Ferien machten oder wo sie ihren Urlaub verbrachten … ich war so gut wie immer grün vor Neid gewesen.
 

Als der Kaffee durchgelaufen war, holte Raphael zwei Becher von einem der Regale und goss in beide etwas ein. Er reichte mir eine der Tassen, bevor wir zusammen in das eine Zimmer gingen. Raphael hatte bereits alles soweit vorbereitet. Alle Möbel waren mit Plastikfolie abgedeckt und der Boden an den Wänden, die gestrichen werden sollten, war mit Zeitungen ausgelegt. Auf dem Fensterbrett standen Bottiche mit den Farben, daneben lagen Rollen und Pinsel.
 

»Kannst du mir noch helfen, das Bett ein Stück beiseite zu schieben? Ich hab’s allein nicht hinbekommen«, fragte Raphael. Ich stellte meinen Becher auf den abgedeckten Schreibtisch, dann half ich ihm, die Wand, an dem das Bett stand, freizulegen.
 

Die dem Bett gegenüberliegende Wand sollte auch gestrichen werden. Raphael hatte zwei Farben vorbereitet. Die Bettseite sollte klatschmohn-rot werden, die andere grasgrün. Es war eigentlich eine interessante Idee, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob das am Ende wirklich gut aussehen würde. Allerdings sagte ich nichts weiter, griff stattdessen nach einer der Rollen und schaute Raphael an.
 

Bevor wir anfingen, steckte Raphael seinen MP3-Player an die kleine Stereoanlage und drehte die Musik zum Hintergrundgeräusch auf. Das Zimmer war etwas größer als meins im Studentenwohnheim, allerdings nahm sein Bett wohl den meisten Platz ein. Ich hatte keine Ahnung, in welcher Size-Stufe das Ding war, aber es passten locker zwei Leute drauf. Die Wände waren noch kahl und ich vermutete, dass sich das ändern würde, sobald alles fertig gestrichen war. Der Raum hatte zwei große Fenster gegenüber der Tür, vor denen der Schreibtisch stand. Ein Laptop stand darauf, zusammen mit Stiftbechern und einem Haufen anderen Kram. An der Wand neben dem linken Fenster stand ein hohes Regal, in dem Bücher und Ordner standen. Gegenüber vom Bett war eine kleine Kommode, auf der ein Fernseher stand, und in dem Hohlraum darunter befand sich die Stereoanlage, dessen Boxen rechts und links neben dem Fernseher befanden. Zwei große Topfpflanzen standen auf dem Boden herum und der kleine Kleiderschrank war rechts neben der Tür.
 

Wir machten uns an die Arbeit und strichen gemeinsam zuerst die Wand am Bett. Es ging relativ schnell. Einmal machten wir kurz Pause, um etwas zu essen. Während der ganzen Zeit sprachen wir nicht viel. Raphael hatte offensichtlich mal wieder eine seiner wortkargen Phasen. Ich fragte mich, ob es an mir lag oder ob es generell so war, dass er in Gesellschaft nicht viel redete.
 

»Wie sieht’s eigentlich aus mit heute Abend?«, fragte ich irgendwann, als mir einfiel, dass wir neulich über Christies Raclette-Abend gesprochen hatten. Raphael tauchte gerade seine Rolle in frische Farbe, als er mich anschaute.
 

»Ich hab mit Christie gesprochen und sie hat nichts dagegen. Aber sie hat ein wenig gehetzt gewirkt, als ich sie darauf angesprochen habe. Ist sie so ein Typ, der nicht nein sagen kann?«, meinte Raphael nachdenklich, ehe er die Rolle gegen die Wand drückte und malte.
 

»Nein, eigentlich nicht«, entgegnete ich stirnrunzelnd. »Sie ist meistens ein wenig gehetzt. Irgendwie hat sie ständig irgendwas zu tun. Ich glaube fast, dass sie so etwas wie Ruhe gar nicht kennt. Ich weiß nicht mal genau, ob sie wirklich schläft.«
 

Raphael grinste amüsiert. »Vielleicht ist sie ein Vampir. Du weißt schon, glitzert in der Sonne, kann nicht schlafen, kann Gedanken lesen …«
 

»Ich fürchte, du hast dich gerade geoutet«, sagte ich lachend und wedelte mit dem Pinsel, den ich dazu benutzte, um die Ecken auszumalen. »Ich kenne Twilight und die groben Fakten zwar, aber die Details waren mir nicht bekannt.«
 

Stichwort: glitzernde Vampire. Da wusste jeder sofort, dass es sich um Twilight handelte. Raphael biss sich auf die Unterlippe und tat ertappt.
 

»Ich schätze, dann muss ich beichten. Ich habe alle Bücher gelesen«, sagte er und sah mich dabei an. Ich fiel fast von der kleinen Leiter, auf der ich stand. Er war der erste Mensch, den ich kannte, der alle Bücher der Reihe gelesen hatte. »Alle haben darüber geredet. Und es gibt Leute, die mögen das und welche, die hassen das. Die, denen es scheißegal ist, kenne ich nicht. Na ja, ich wollte auch eine Meinung haben, also hab ich sie gelesen. Ich finde es ziemlich dumm, wenn Leute zu etwas eine Meinung haben, dass sie nicht mal richtig kennen. Darüber abzulästern ist okay, wenn man weiß, worum es geht. Jemand, der nur irgendwo gehört hat, dass es in dem Buch glitzernde Vampire gibt, und es nicht gelesen hat, der sollte gar nicht erst das Maul aufreißen. Es gibt genug Leute, die zu allem eine Meinung haben ohne zu wissen, worüber sie eigentlich reden.«
 

Mir war Twilight eigentlich immer egal gewesen, mehr oder minder. Ich fand die Idee witzig, dass jemand sich Vampire ausdachte, die in der Sonne nicht zu Staub zerfielen oder dergleichen, sondern einfach mal drauflos glitzerten. Da gehörte schon eine Menge Fantasie dazu. Aber da ich generell nichts mit Vampiren anfangen konnte, zog diese gesamte Sache weitgehend an mir vorbei.
 

»Ja«, meinte ich nachdenklich. »Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Fresse halten.«
 

Raphael lachte. »Dieter Nuhr hat es ziemlich auf den Punkt gebracht.«
 

»Und?«, fragte ich weiter. »Wie findest du die Bücher?«
 

»Die Autorin widerspricht sich eigenartigerweise selbst. Angeblich haben ihre Vampire keine Körperflüssigkeiten mehr, aber Edward kriegt erstens einen hoch und zweites schwängert er auch noch Bella. Es gibt zu viel, was mich an der Handlung und der ganzen Idee und den Charakteren und so weiter gestört hat. Ich würde wahrscheinlich noch heute Abend beim Raclette nicht fertig mit dem Bemängeln sein«, erzählte Raphael grüblerisch. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Christie hatte den ersten Band gelesen und eine einstündige Schimpfkanonade darauf gehalten. Fernando hatte sich ebenfalls daran gewagt — war aber auch nicht über das erste Buch hinausgekommen — und es als für zu schwul sogar für sich selbst befunden. Das sollte schon was heißen, wenn Fernando etwas zu schwul war.
 

»Ich vermute, dann kannst du mit Christie und Fernando eine angeregte Diskussion darüber führen«, schlug ich belustigt vor. »Verdammt, ich glaube, ich muss zumindest das erste Buch auch mal lesen. Sonst bin ich der einzige in der Mannschaft, der nicht mitreden kann.«
 

»Du solltest eine Menge Alkohol parat haben, wenn du es liest. Sonst ist es sehr schwer, das zu überstehen. Aber ich glaube, wenn du schon ordentlich einen im Tee hast, dann findest du das Buch auch wahnsinnig witzig«, erwiderte Raphael erheitert. Ich warf ihm einen Blick zu, bevor ich den Pinsel in die Farbe tauchte.
 

»Hast du denn Alkohol parat gehabt, als du es gelesen hast?«, fragte ich neugierig. Raphael wandte den Blick nicht von der Wand ab. Er rollte die rote Farbe in gleichmäßigen Zügen ab. Sein Shirt hatte bereits ein paar Flecke.
 

»Nein, aber ich hatte Koffein als Aufputschmittel und das hat eine ähnliche Wirkung«, antwortete er dann, bevor er mich ansah. Ein vergnügter Ausdruck lag in seinen Augen, aber beinahe meinte ich, etwas Herausforderndes darin zu sehen.
 

Am frühen Nachmittag waren wir mit der Bettseite der Wände fertig und spülten die Rollen und Pinsel aus, ehe wir sie zum Trocknen auslegten. Raphael kochte Nudeln mit grünem Pesto für uns zum Mittag, die so verführerisch gut schmeckten, dass ich dreiviertel der gesamten Menge auffutterte.
 

Draußen hatte es tatsächlich angefangen zu regnen und die Tropfen prasselten mit einem beständigen Trommeln gegen das Küchenfenster. Die kahlen Äste der Bäume, die man von der Küche aus sehen konnte, bogen sich im Wind. Während ich noch weiter hemmungslos Nudeln in mich hineinstopfte, saß Raphael mir gegenüber am Tisch und tippte etwas fleißig in sein Handy. Er sah so hochkonzentriert dabei aus, dass ich ihn nicht mit meiner Frage nach dem, was er denn gerade schrieb, stören wollte.
 

Ich saugte eine Spaghetti in meinen Mund, ihn immer noch anstarrend, als er die Augen von dem Display hob. Das Spaghettiende platschte einmal gegen meine Nasenspitze, bevor es in meinem Mund verschwand. Ich wäre gern schreiend aus dem Raum gerannt. Irgendwas da draußen in der Welt wollte nicht, dass ich Spaghetti so essen konnte, dass ich mich dabei nicht einsaute. Raphael grinste unterdessen.
 

Mit dem Handrücken wischte ich über meine Nase. »Was schreibst du denn?«
 

Ich musste irgendwie von mir ablenken. Es ging mich eigentlich gar nichts an, was er wem schrieb, aber das schien mir im Moment das einzige zu sein, das als Thema in Frage kam. Raphael legte sein Handy auf den Tisch.
 

»Ich hab getwittert«, antwortete er und legte seine Unterarme auf dem Tisch ab. »Das ist die schnellste Möglichkeit, um meine Freunde von außerhalb auf dem Laufenden zu halten. Damit erreiche ich sie alle und muss nicht mit jedem Einzelnen schreiben.«
 

»Du hast einen Twitter-Account?«
 

»Ich liebe Twitter. In 140 Zeichen sagen, was du zu sagen hast. Das ist eine Kunst und ein Geschenk zugleich«, antwortete Raphael mit verzücktem Glitzern in den Augen. Meine Herren, wenn er einmal aus seinem Schneckenhaus kam, dann konnte man wirklich eine Menge interessantes Zeug über ihn erfahren. Irgendwie wurde Raphael mir mit jedem Wort, das er von sich gab, sympathischer.
 

»Freunde von außerhalb?«, hakte ich vorsichtig nach. Er grinste breiter.
 

»Ja, meine alten Freunde aus Greifswald und die aus Berlin von meinem ersten Studium«, erzählte er und ich starb fast vor Freude, weil er mir meine Fragen bereitwillig beantwortete. Ich starrte ihn völlig fasziniert an, die Nudeln hatte ich fast vergessen. Er sollte nur nicht aufhören zu reden.
 

»Ich komme eigentlich aus Greifswald, aber ich hab zuerst in Berlin studiert und bin dann für Medizin hierher gekommen«, fuhr er fort. »Meine Kindergartenfreunde aus Greifswald haben mich dazu überredet, mich bei Twitter anzumelden, bevor sich unsere Wege aufgrund des Studiums getrennt haben.«
 

»Warum bist du zum Studium nicht in Greifswald geblieben?«, fragte ich, bevor ich mir die nächste Gabel Nudeln in den Mund schob. »Ich hab mich damals auch für Psycho da beworben.«
 

Raphael zuckte die Achseln. »Greifswald ist eine schöne Stadt. Nicht zu groß, nicht zu klein. Aber wenn du dein ganzes Leben da verbringst, dann ist es irgendwann nichts Besonderes mehr. Ich wollte woanders hin, etwas Neues ausprobieren. Berlin war fast eine Nummer zu groß für mich, aber ich dachte mir, dass es eine Chance ist, mal etwas ganz anderes kennenzulernen. Deswegen bin ich dahin gegangen.«
 

»Und warum bist du fürs Medizinstudium nicht da geblieben?«, wollte ich wissen. Nachdenklich kaute ich auf dem Bissen in meinem Mund herum. Es gab so viele Dinge, die man in Berlin studieren konnte. Ich meine, Berlin hat drei große Unis und eine ganze Palette an Hochschulen und Akademien.
 

Raphael ließ sich etwas Zeit mit der Antwort. »Berlin ist in der Tat eine Nummer zu groß für mich. Und als ich den Studiengang und die Richtung völlig geändert habe, brauchte ich auch wieder eine räumliche Veränderung.«
 

»Was hast du in Berlin studiert?«, bohrte ich weiter. Wenn er schon mit mir redete, dann wollte ich das auch ausnutzen.
 

»Germanistik. Vier Semester lang«, erwiderte er langsam. »Ich hab erst spät angefangen, einmal wegen des Zivildienstes und weil ich danach ein freiwilliges kulturelles Jahr gemacht habe.«
 

»Und warum hast du aufgehört?«
 

Raphael sah mich lange schweigend an. Ich traute mich nicht mal mehr, weiterzuessen. Und ich dachte, ich wäre zu weit gegangen mit meiner Fragerei. Aber dann seufzte er nur, streckte sich und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, den Blick abwesend an die Decke gerichtet.
 

»Da haben ein paar Faktoren reingespielt«, sagte er schließlich ruhig, aber es klang auch ziemlich endgültig. Er hatte die Schotten wieder geschlossen. Ich verkniff mir mit Mühe ein Seufzen, dann aß ich still weiter. Raphael wartete, bis ich fertig war, dann räumte er das Geschirr in die Spüle und wir fingen mit der grünen Wand an.
 

Wir machten keine Pause mehr, wir sprachen noch weniger als am Vormittag und brachten die Arbeit erstaunlich schnell zu Ende. Das Endergebnis konnte sich wirklich sehen lassen. Das Zimmer sah auf einmal wahnsinnig lebendig aus, auch wenn die Wände weiterhin kahl waren. Wir räumten die Zeitungen vom Boden, wuschen die Rollen und Pinsel wieder, ehe wir sie zum Trocknen auslegten. Raphael legte die beiden kleinen Leitern, die er bereitgestellt hatte, weg. Er öffnete die Fenster im Zimmer, um zu lüften. Die Luft roch schwer nach der Farbe.
 

Ich ging ins Bad, um mir die Hände zu waschen, und als ich wiederkam, saß Raphael im Schneidersitz auf dem Boden, mit einem dicken Ordner auf dem Schoß. Neugierig warf ich einen Blick über seine Schulter. Es war sein Studiumsordner und er malte gerade ein paar Fragezeichen an einige der Stichpunkte, die er sich wohl in einer der Lesungen gemacht hatte.
 

Am Rand des Ordnerdeckels klebte ein Foto, das zwei lächelnde Menschen zeigte. Die Frau hatte strohblondes, schulterlanges Haar mit wirren Locken, kleine Fältchen um die Augen und Grübchen an den Mundwinkeln. Der Mann hatte einen lichten, helle Schopf, markante Wangenknochen und ein schmales Gesicht mit einer hohen Stirn.
 

»Sind das deine Eltern?«, fragte ich gespannt und konnte die Augen nicht von dem Bild abwenden.
 

»Ja«, meinte Raphael knapp und schloss den Ordner. In einer Bewegung erhob er sich aus dem Schneidersitz, ging hinüber zum Schreibtisch und legte seine Unterlagen dort ab. Ich konnte nicht sagen, wem er ähnlicher sah: seiner Mutter oder seinem Vater. Er schien von beiden gleichermaßen viel bekommen zu haben.
 

»Das Bild erinnert mich jedes Mal daran, warum ich angefangen habe, Medizin zu studieren«, fügte er kryptisch hinzu. Unsere Blicke trafen sich kurz, doch er hielt ihn nicht. Stattdessen ließ er mich auf seiner rätselhaften Bemerkung sitzen. Vielleicht war es so, wie schon zuvor vermutet hatte. Vielleicht wollten seine Eltern wirklich, dass er Medizin und nicht Germanistik studierte. Raphael hatte einen eigentümlichen Ton in der Stimme gehabt, als er von dem Bild gesprochen hatte. Doch ich wagte nicht, weiter nachzufragen.
 

Kurz darauf verabschiedete ich mich unter Raphaels Dankesrede. Was mich am meisten freute, war das »Bis später«, das er mir zurief, als ich bereits die Stufen nach unten nahm. Das hieß also, dass er auf jeden Fall zu Christies Raclette-Abend erscheinen würde.
 

Ich duschte zu Hause schnell, warf Shirt und Hose in die Schmutzwäsche und warf mich in Schale, damit Christie später nicht herummeckern konnte, dass ich mich zu nachlässig für ihren kostbaren Abend kleidete. Mir blieb nicht mehr allzu viel Zeit, bis ich mich auf den Weg zu ihr machen musste. Aber ich nutzte diese Zeit, um mal bei Twitter nachzuschauen. Ich wollte eigentlich nach Raphael suchen, aber dann fiel mir ein, dass es zum Scheitern verurteilt war, immerhin wusste ich seinen Benutzernamen nicht, und da ich nicht bei Twitter registriert war, konnte ich es auch nicht seinem echten Namen versuchen.
 

Es klopfte an meiner Zimmertür. Ich warf einen Blick über die Schulter, als Fernando — ebenfalls schon fertig angezogen, wie es aussah — hereinkam.
 

»Wo warst du den ganzen Tag?«, fragte er mich, als er zu mir herüberkam.
 

»Ich war bei Raphael. Du weißt doch, ich hab ihm beim Streichen geholfen«, erinnerte ich Fernando. Die Erleuchtung spiegelte sich deutlich auf seinem Gesicht wider. Er grinste, dann scheuchte er mich von meinem Stuhl und setzte sich selbst rauf.
 

»Ich dachte schon, ich muss sterben«, verkündete er sarkastisch, als er meinen Laptop in Beschlag nahm. Sein eigener war zurzeit in Reparatur, weil Fernando es im Suff geschafft hatte, irgendetwas über seine Tastatur zu gießen. Und er musste mindestens einmal am Tag ins Internet, um sein Pflichtprogramm auf jeder seiner einzelnen, favorisierten Seiten zu erledigen.
 

Als er sich gerade in seinen Twitter-Account einloggte, kam mir eine Idee. »Kannst du mal kurz was für mich ausprobieren?«, bat ich Fernando und stützte mich mit den Händen auf der Rückenlehne meines Schreibtischstuhls ab. Er drehte mir den Kopf zu.
 

»Was denn?«
 

»Such mal bitte bei Twitter nach Raphael Lockner«, wies ich ihn an. Fernando öffnete schulterzuckend die Suchmaske auf der Seite und gab den Namen ein. Es gab sogar tatsächlich ein Suchergebnis. Die Stadtangabe stimmte ebenfalls. Ich überflog hastig den Benutzernamen. Phönixasche. Seltsamer Nickname, dachte ich einen Moment. Fernando klickte den Benutzer an und ich freute mich darauf, zu erfahren, was Raphael heute Nachmittag geschrieben hatte. Doch dann kam die Enttäuschung. Seine Tweets waren nicht öffentlich einsehbar.
 

»Ist das der Raphael, bei dem du heute warst?«, holte Fernando mich aus meinen enttäuschten Gedanken. Ich schaute ihn kurz an, bevor ich mich von dem Stuhl löste und mich auf mein Bett setzte.
 

»Ja, das ist er«, bejahte ich seufzend und fuhr mir durch meine immer noch feuchten Haare. Ich ließ mich rücklings fallen, legte mich längs aufs Bett und schloss die Augen. Auf einmal war ich schrecklich müde. Ich lauschte den gleichmäßigen Geräuschen der Tastatur, während Fernando etwas schrieb. Immer noch hätte ich zu gern erfahren, was Raphael heute beim Mittagessen getwittert hatte. Für einen Moment dachte ich darüber nach, mir selbst einen Account zu erstellen und Raphael zu ›folgen‹, aber ich verwarf die Idee ebenso schnell, wie sie aufgekommen war. Es wäre wohl seltsam, wenn ich mich da anmelden würde, aber nichts schrieb. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit Twitter umgehen sollte.
 

Bevor ich in einen kurzen Halbschlaf abdriftete, aus dem Fernando mich später geweckt hatte, fragte ich mich dunkel, ob Raphaels Benutzername wohl auch eine tiefere Bedeutung hatte. Ich nahm mir vor, ihn beizeiten mal danach zu fragen.
 

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tbc.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Salamandra
2010-11-07T20:26:20+00:00 07.11.2010 21:26
tolle story
hat mich neugierig gemacht
bin gespannt wies (und wann |D) weiter geht :D

lg salamandra
Von:  Schutzengel-007
2010-09-22T17:25:55+00:00 22.09.2010 19:25
ich will wissen wie es weiter geht :D
und vor allem was er bei twitter geschrieben hat ^^
die story macht neugierig auf mehr :)
bitte schreib bald weiter
lg
Von:  PonPonPanda
2010-08-17T19:16:49+00:00 17.08.2010 21:16
genial... ich liebe einfach deinen schreibstil, man kann total in deinen geschichten versinken. ich war ziemlich irritiert, als es mit einem mal zu ende war ID
also... noch nicht richtig, aber das kapitel halt. ich freue mich darauf, wenn es endlich weiter geht...

hast du schon mal überlegt, deine storys als bücher zu verkaufen? o.O
ich glaube, du könntest echt geld machen... das wäre wirklich cool ID
ich würde sie jedenfalls kaufen..
Von:  Samrachi
2010-08-14T16:02:20+00:00 14.08.2010 18:02
ein tolles kapitel :) raphael scheint ein paar probleme in berlin gehabt zu haben, ich denke mal wir werden schon noch erfahren, was genau es denn nun war O.o
ich fand die details zu twitter recht gut, war nicht zu ausführlich aber genung um auch laien ein wenig an die materie heranzuführen xD

freu mich aufs nächste kapitel und den raclette-abend,
lg samra
Von:  Myrin
2010-08-12T09:54:25+00:00 12.08.2010 11:54
Ein paar kleine Klugscheißereien vorweg:

und irgendwie fand ich es sü— witzig, dass er sich diese Mühe mit der Zeichnung und dem Foto gemacht hatte. -> Dieser Satz ist wahnsinnig sü- witzig! :D Ehrlich mal, der ist einfach nur toll, ich hab herzlich gelacht, als ich ihn gelesen hab.

Darüber abzulästern ist okay, wenn weiß, worum es geht. -> Da fehlt ein "man" nach "wenn".

Sonst bin ich der einzige, in der Mannschaft -> kein Komma

die so verführerisch gut schmeckten, dass dreiviertel der gesamten Menge auffutterte. -> "ich" nach "dass"

fiel mir ein, dass es war zum Scheitern verurteilt war, -> Ein "war" zu viel.

Ich war Raphael. -> Da fehlt ein "bei".

Wuhuu, erstmal bin ich ganz begeistert, dass der Titel der FF jetzt doch eine Bedeutung bekommen hat, und noch dazu eine so interessante. Dass "Phönixasche" ein Twitter-name sein könnte, darauf wär ich echt als allerletztes gekommen. Jetzt muss sich nur noch Adrian doch bei Twitter anmelden und sich "Schwanenflug" nennen, dann ist alles perfekt. ;)

Ich mag Raphael ehrlich immer mehr, auch wenn er von Kapitel zu Kapitel geheimnisvoller wird. Ich könnt mir ja vorstellen, dass seine Mama nicht mehr lebt. Weil er gesagt hat "Meine Mutter war Fotografin.". Das könnte natürlich auch heißen, dass sie jetzt einfach nicht mehr arbeitet, aber irgendwie glaub ich das nicht. Vielleicht hatte sie 'ne Krankheit und er will deswegen Medizin studieren. Hm, spannend, spannend.

Auch die Sache mit dem Alkohol. Da gab's ja wieder so 'ne Andeutung, während dem Gespräch über Twilight (welches ich übrigens sehr erheiternd fand). Ich bin auch kein großer Alkohol-Trinker, aber Raphael scheint ja eine regelrechte Antipathie dagegen zu haben. Vielleicht war auch einer seiner Eltern Alkoholiker? *grübel*

Und warum hat er mit Germanistik (<3) aufgehört und ist gleich woanders hingezogen? Ich hab nicht das Gefühl, dass es an seinen Freunden liegt, zu denen hat er ja noch Kontakt, und eine gescheiterte Beziehung...hm, weiß nicht, irgendwie auch nicht...

Also, ehrlich mal, du machst es wirklich, wirklich spannend ist ja fies! *pieks*

Mich würde übrigens auch interessieren, was Raphael da getwittert hat. Aber wahrscheinlich was ganz Banales, auf das du uns extra heiß machst!^.^

Insgesamt mag ich einfach diesen ganzen "Cast", wenn man das so sagen kann, voll gerne, also all die Charaktere in der Geschichte, und ich freu mich immer riesig, mehr über sie zu erfahren. Bin schon gespannt, wie der Raclette-Abend bei Christie wird.^-^


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