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Phönixasche

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Entscheidungen & Vorschläge

Entscheidungen & Vorschläge
 

Am selben Abend ging ich wieder Billardspielen. Fernando kam diesmal nicht mit, weil er noch arbeiten musste. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, heute erneut Billard spielen zu gehen, aber als Raphael mich nach der Vorlesung gefragt hatte, hatte ich schlicht zugesagt. Abgesehen davon schuldete er mir sowieso noch eine Revanche und ich hatte mir fest vorgenommen, ihn dieses Mal nicht so einfach gewinnen zu lassen. Es war peinlich genug, dass er mich einmal total zur Schnecke gemacht hatte. Das konnte ich nicht noch einmal zulassen.
 

Als ich den Club betrat, schaute ich mich um, ob Raphael schon da war. Er saß an der Bar direkt vor dem Billardtisch, der dort stand. In den Händen hielt er ein mit Wasser gefülltes Glas, während die Leute, die mit ihm saßen und die, denen er beim Spielen zusah, allesamt Bier hatten. Gestern hatte Raphael auch Wasser dabei gehabt, fiel mir ein, aber ich machte mir nicht weiter Gedanken darüber. Er sah zu mir herüber, lächelte und stand dann auf.
 

»Ich hab uns einen Tisch reserviert«, teilte Raphael mir mit, als wir uns auf halbem Wege trafen. Ich stutzte einen Moment. Das klang fast, als hätten wir ein Date, aber was mich noch mehr wunderte, war die Tatsache, dass man einen Billardtisch reservieren konnte.
 

»Man kann hier Tische reservieren?«, fragte ich beeindruckt, bevor ich mich am Hinterkopf kratzte. Ich war schon deutlich länger Stammkunde hier als Raphael und hatte nichts davon gewusst. Aber man lernte bekanntlich nie aus. Trotzdem war es nahezu beschämend, dass ich davon keine Ahnung gehabt hatte. Raphael grinste, dann nickte er und winkte nach rechts.
 

Gemeinsam gingen wir rüber. Ich zog meine Jacke aus und warf sie auf einen der Stühle, der neben dem Tisch stand. Während ich den Schal von meinem Hals löste, positionierte Raphael die Kugeln in dem Dreieck.
 

»Spielst du schon lange Billard?«, fragte er mich, als er sich einen der Queues nahm und dessen Spitze mit der Kreide einrieb. Ich wandte mich ihm zu, griff nach dem anderen Queue und beobachtete ihn kurz. Gestern und heute war er nicht sonderlich gesprächig gewesen, aber irgendwie schien er heute … eher zu Konversation aufgelegt zu sein. Das war mir lieber, als dass wir uns die ganze Zeit anschwiegen.
 

»Eine Weile«, antwortete ich nachdenklich und versuchte mich zu erinnern, wann ich damit angefangen hatte. »Ein Freund aus der Schule hat mich mal drauf gebracht, aber regelmäßig spiele ich erst, seitdem ich hier wohne und diesen Club entdeckt habe. In meiner Heimatstadt gibt es — soweit ich weiß — nur einen einzigen Billardtisch und an den kommt man so gut wie gar nicht ran, weil er dementsprechend so gut wie immer belegt ist.«
 

»Ich bin durch meinen Vater dazu gekommen«, erzählte Raphael, als er die Kreide auf dem Rand des Tisches abstellte. »Mit ihm bin ich ständig Billard spielen gewesen. Meistens hat er mich immer platt gemacht, aber manchmal konnte ich ihn auch schlagen. Willst du diesmal anfangen?«
 

»Definitiv«, erwiderte ich und ließ mir von ihm die weiße Kugel geben. Raphael lachte leise, als er sie mir hinhielt, aber er sagte nichts weiter. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er von irgendjemandem geschlagen werden konnte, immerhin hatte er gestern bewiesen, dass er unglaublich gut spielte. Aber wenn sein Vater noch besser war … Halleluja. Wenn ich gegen den spielen müsste, ich denke, ich würde kneifen. Obwohl — viel schlimmer als gegen Raphael gestern konnte es nicht sein. Schließlich hatte er mich ganz schön runtergeputzt, ohne dass ich überhaupt eine Chance hatte.
 

Ich positionierte die Weiße, bevor ich den Queue anlegte und die Kugeln anvisierte. Vielleicht konnte ich mir einen kleinen Vorsprung erspielen und dann hoffen, dass Raphael ein wenig Gnade mit mir hatte und mich nicht sofort aufs Kreuz legte. Ich stieß die Kugel an und sah ihr dabei zu, wie sie die im Dreieck ausgelegten anderen anstieß. Eine ging direkt in die von mir aus gesehen linke Ecktasche.
 

»Eine Ganze«, informierte Raphael mich, nachdem er in die Tasche geschaut hatte. Ich musste grinsen.
 

»Tja … du hast wirklich was mit den Halben«, meinte ich verschmitzt. Raphael senkte offenbar verlegen den Blick und schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht. Er hatte einen verwegenen Ausdruck in den Augen, als er mich wieder ansah. Ich wandte mich wieder dem Spiel zu und versenkte die nächste Ganze. Bei dem darauffolgenden Zug schaffte ich es nicht, eine weitere der Kugeln in eine der Taschen zu kriegen, und wechselte mich mit Raphael ab.
 

Er legte den Queue an und beugte sich professionell über den Tisch. Um besser zielen zu können, schloss er ein Auge. Ich schaute ihm beeindruckt dabei zu, wie er mit kalter Präzision seine erste Kugel versenkte. Die regelmäßigen Spiele gegen seinen Vater hatten aus Raphael einen herausragenden Billardspieler gemacht, der nicht so einfach zu schlagen war. Als alle Kugeln wieder ruhig auf dem Tisch lagen, umrundete Raphael diesen einmal. Konzentriert betrachtete er seine Ziele, dann suchte er sich eine aus und spielte sie mit der weißen Kugel an. Fast wäre die Halbe reingegangen, doch sie eckte nur an und blieb wenige Millimeter vor der Tasche liegen. Es fehlte eigentlich nur ein Lufthauch, um sie hineinkullern zu lassen.
 

»Schwein gehabt«, sagte ich erleichtert aufatmend. Zumindest konnte ich jetzt sagen, dass es wirklich ein Spiel war. Raphael nahm grinsend einen Schluck von seinem Wasser.
 

»Möchtest du auch etwas trinken?«, fragte er mich dann, während ich mir eine Kugel ausguckte. Ich hob den Blick zu ihm. Raphael lehnte auf seinem Queue und sah mich gespannt an.
 

»Gern«, antwortete ich. »Ein Bier.«
 

»Ich geh's holen. Aber bescheiß' mich nicht!«, meinte er grinsend und wackelte gespielt mahnend mit dem Zeigefinger. Ich grinste verkniffen, dann wandte er sich um und ging zur Bar. Einen Moment lang sah ich ihm nach und konnte sehen, wie er unterwegs sein Wasser austrank. Raphael trug eine schwarze, ausgewaschene Jeans und ein rauchgraues T-Shirt, das zwar nicht hauteng oder anliegend war, seine Arme und seinen Rücken … betonte. Ich fuhr mir mit einer Hand über die Augen. Seit wann interessierte es mich, ob Kleidungsstücke irgendwas betonten? Es sei denn, es war bei Frauen …
 

Ich wandte mich wieder den Kugeln zu, dann spielte ich die weiße an. Sie ging rein, allerdings schob ich die weiße gleich hinterher. Seufzend richtete ich mich auf, holte die weiße Kugel aus der Tasche und behielt sie in der Hand. Während ich auf Raphael wartete, lehnte ich mich an den Tisch und schaute mich in dem Raum um. Der gesamte vordere Bereich war mit Billardtischen besetzt, wohingegen der hintere Teil des Clubs eine große Tanzfläche mit einer Bühne und rund herum runde Tische bot. Die Bar sowie der Tanzbereich waren auf einer Erhöhung nach hinten hin, ähnlich einer Veranda.
 

Hier herrschte striktes Rauchverbot, es gab nicht einmal einen abgegrenzten Raucherbereich. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden. Meine gesamte Familie war vollkommen rauchfrei, daher war ich weder Zigarettenrauch gewohnt noch mochte ich ihn sonderlich. Abgesehen davon konnte ich nicht wirklich Mitleid für die Raucher empfinden. Sie hatten es schließlich selbst gewählt und wenn ein Lokal Regeln aufstellte, dann war das nun mal so.
 

Raphael kam mit einer Flasche Bier und einer Flasche Cola zurück. Beides stellte er auf dem Rand des Billardtisches ab.
 

»Du schuldest mir eins achtzig«, sagte er und tippte die Bierflasche an. »Und?«
 

Er nickte mit dem Kinn auf den Tisch. Ich zeigte ihm die Weiße. »Ich hab die hier gleich mit reingejagt. Du bist wieder dran.«
 

Ich reichte ihm die weiße Kugel, bevor ich den Tisch umrundete und nach der Bierflasche griff. Raphael drehte die Kugel in seiner Hand, während er sich die Lage der Bälle ansah und ich mein Bier trank. Dann platzierte er die weiße Kugel so, dass er die, die ohnehin schon fast die Tasche knutschte, problemlos versenken konnte. Ich ließ innerlich den Kopf hängen, weil ich Vollhorst ihm diese Option erst ermöglicht hatte.
 

Während Raphael um den Tisch ging und den Queue anlegte, warf er mir einen kurzen Blick zu. »Was studierst du eigentlich?«, wollte er dann wissen, ehe er sich wieder aufs Spiel fokussierte.
 

Ich nippte an meinem Bier. Er schien heute tatsächlich eher in Stimmung für Konversation zu sein als gestern oder heute Mittag.
 

»Psychologie«, antwortete ich, bevor ich wieder einen Schluck aus der Flasche nahm. Raphael hielt kurz inne in seinem Zug und schaute mich einen Moment lang an. Offenbar hatte meine Antwort ihn überrascht, warum auch immer. Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder den Kugeln zu. Diesmal ging allerdings keine davon rein.
 

»Wie kommt's?«, wollte er wissen. Ich stellte mein Bier ab, um meinen Zug anzutreten.
 

Ich zuckte die Schultern. »Es interessiert mich und ich will irgendetwas machen, das Menschen hilft, und das mir hilft, Menschen ein bisschen besser zu verstehen«, antwortete ich, während ich die Weiße anspielte. Die nächste der Ganzen wanderte in eine Tasche. Ich griff nach der Bierflasche, um einen Schluck zu nehmen.
 

»Und?«, fragte Raphael nach.
 

»Und?«, echote ich verwirrt und sah ihn dabei an. Er legte nachdenklich den Kopf schief.
 

»Das war noch nicht alles, oder?«, meinte er. Raphael sah aus, als wüsste er genau, wovon er sprach. Die Sicherheit, mit der er das sagte, war nahezu beunruhigend. Als würde er die Antwort auf meine Frage bereits wissen, aber sie von mir selbst hören wollte. Neugier lag in seinen Augen, als ich ihn anschaute.
 

»Meine Schwester ist autistisch«, erzählte ich ihm schließlich. Es war ja auch nicht so, als wäre das ein Geheimnis, das niemand erfahren sollte. »Ich weiß, dass ich ihr nicht helfen kann und dass Autismus nicht heilbar ist, aber … ich möchte einfach lernen, sie etwas besser zu verstehen. Vielleicht das System hinter ihrer kleinen Welt besser zu begreifen. Das ist auch einer der Gründe, warum ich Psychologie mache.«
 

Raphael nickte schweigend, aber er sah mich unentwegt dabei an. Ich wandte mich wieder dem Spiel zu, schickte ein zwei weitere Kugeln in die Taschen und peilte schließlich die Acht an. Sie blieb allerdings auf dem Tisch liegen und ich gab wieder an Raphael ab.
 

»Wie heißt deine Schwester?«, fragte er interessiert, als er eine von seinen anvisierte. Es clackte, als die Kugeln sich gegenseitig anstießen.
 

»Lydia.«
 

»Und wie alt ist sie?«
 

»Siebzehn«, meinte ich und überlegte kurz, ob das auch wirklich stimmte. »Sie hat im Dezember Geburtstag und wird achtzehn.«
 

Raphael nickte wieder, aber er fragte nicht weiter nach. Der letzte, recht kurze Rest des Spiels verlief wieder schweigend. Es gelang mir, die schwarze ins richtige Loch zu schicken und somit gewann ich das Spiel. Raphael seufzte einmal, dann spielte er seine Halben alle direkt an, um sie in die Taschen zu rollen. Danach legte er den Queue behutsam auf den Tisch, ehe er sich gegen dessen Kante lehnte.
 

»Das Bier geht auf mich«, meinte er dann und winkte mit der Hand Richtung der Flasche, die ich in der Hand hielt. Er sah nicht wirklich geknickt aus. Ein schlechter Verlierer schien er also schon mal nicht zu sein, was bedeutete, dass ich ihn also öfter platt machen konnte, ohne ihn damit zu vergraulen. Na ja, zumindest, falls es mir denn überhaupt gelang, ihn platt zu machen …
 

»Danke«, erwiderte ich und stellte mich neben ihn. Wir schauten einander flüchtig an, dann ließ Raphael den Blick durch den Raum gleiten und trank dabei von seiner Cola. Ich senkte die Augen. Eigentlich spielte ich mehrere Spiele an einem Abend, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Raphael nicht unbedingt auf noch eine Partie aus war. Mir kam der Gedanke, dass er vielleicht nur mit mir gespielt hatte, damit ich ihn nicht mit der Revanche nervte — vermutlich hatte er mich sogar gewinnen lassen. Ich schaute ihn kurz von der Seite an. Er wirkte ein wenig abwesend, als wäre er gedanklich ganz woanders.
 

Als er bemerkte, dass ich ihn ansah und mir sein Gesicht zu wandte, blickte ich wieder weg. Ich trank schnell mein Bier aus. Irgendwie wurde mir die Lage zu unangenehm und ich wollte einfach nur weg. Raphael war offenbar nicht unbedingt der Typ für lockeren Small Talk oder so und für ihn schien die Stille zwischen uns auch nicht sehr unangenehm zu sein. Oder er wartete darauf, dass ich etwas sagte. Wenn dem so war, dann war es wohl ein Fehler, wenn ich jetzt einfach wieder ging. Ich beschloss, einen Versuch zu starten.
 

»Was hat dich dazu getrieben, Medizin zu studieren?«, fragte ich ihn also, um noch einmal auf unser vorangegangenes Gesprächsthema zurückzugreifen. Er sah mich ein wenig überrascht an, während er an der Cola nippte.
 

»Ich wollte was … Nützliches machen«, sagte er vorsichtig. Meiner Meinung nach war das eine ziemlich schwammige Antwort, dafür, dass ich ihm schon beinahe minuziös dargelegt hatte, weswegen ich Psychologie studierte. Aber Raphael hatte auch so geklungen, als würde er nicht mehr dazu sagen wollen. Vielleicht hatten seine Eltern ihn dazu gezwungen, weil sie wollten, dass aus ihm mal etwas … Angesehenes wurde.
 

»Und, freust du dich schon auf den klinischen Teil des Studiums? Dann kannst du ja schon in alle Gebiete mal reinschauen und entscheiden, was du später machen willst«, sagte ich. Ich kam mir ziemlich verzweifelt dabei vor, immerhin versuchte ich hier eine Konversation zu führen, während Raphael sich jede Antwort aus der Nase ziehen ließ. Christie hatte irgendwas von einem klinischen Teil des Studiums erzählt, der ans Physikum anschloss. Vielleicht sollte ich ihr ab jetzt besser zuhören, wenn sie von ihren Medizinstudium sprach, dann hatte ich zumindest eine kleine Grundlage für Unterhaltungen mit Raphael … falls ich mich noch öfter mit ihm unterhalten sollte.
 

»Ich weiß schon, was ich machen will«, meinte Raphael und sah mich an. Er klang so entschlossen, als könnte ihn nichts und niemand mehr von seiner Entscheidung abbringen. So sicher in irgendwelchen Entschlüssen klang nicht mal Christie an ihren besten Tagen.
 

»Was denn?«, hakte ich nach, weil Raphael mal wieder keine Anstalten machte, mir seine Antwort genauer zu definieren. Es konnte wirklich anstrengend sein, sich mit ihm zu unterhalten.
 

»Ich will später in die Chirurgie gehen«, teilte er mir mit, bevor er einen Schluck von seiner Cola nahm. »Ich will … was machen
 

Das sagte er so, als wäre er völlig von dieser Idee besessen. Nicht, dass das schlimm wäre, es konnte schließlich nicht schaden, wenn er schon mit so viel … Sicherheit da heranging, aber irgendwas kam mir dabei merkwürdig vor. Ich wollte nicht anzweifeln, dass er Medizin wirklich studieren wollte — dafür wirkte er viel zu überzeugt davon —, aber es erschien einfach, als würde da ein Teil an der gesamten Sache fehlen.
 

»Woher kommt diese … felsenfeste Überzeugung?«, wollte ich wissen. Ich starrte ihn forschend an, aber Raphaels Miene gab nichts preis, was man hätte interpretieren können. Er schaute kurz auf die Flasche in seinen Händen, dann hob er den Blick und schaute auf einen Punkt vor seinen Augen, den nur er sehen konnte.
 

»Na ja, wenn ich schon Arzt werde, dann will ich auch aktiv daran … teilhaben, sozusagen. Ich möchte aktiv helfen, etwas tun und nicht nur Medikamente verschreiben oder irgendwas diagnostizieren und den Patienten dann zu dem Experten schicken, der ihn dann heilt. Chirurgen sind auf Operationen spezialisiert, je nach dem in welchem Bereich, aber … ein Augenarzt ist nicht gleich ein Augenarzt. Wenn ich in einer Praxis als Augenarzt arbeite, dann operiere ich nicht zwangsläufig.«
 

Einleuchtend.
 

»Du willst also Menschen aufschneiden?«, fasste ich zusammen und ertappte mich dabei, dass ich ziemlich … heiter klang, als würde ich mich über ihn lustig machen — und das war definitiv nicht meine Absicht. Raphael hatte hohe Ziele und Anforderungen und ich fand es bemerkenswert, dass er sich dem stellen wollte. Zumal man als operierender Arzt noch mehr Verantwortung trug als einer, der dir eine Überweisung ausstellte. Fand ich zumindest.
 

Doch Raphael grinste nur, als er mir einen Blick zuwarf. »Ja. So kann man das auch sagen.«
 

»Und weißt du schon, in welchen Fachbereich du in der Chirurgie machen willst?«, bohrte ich weiter. Zumindest antwortete er und verzog nicht das Gesicht, als würde ich ihm auf die Nerven gehen. Wenn er nicht reden wollen würde, dann würde er das sicherlich zum Ausdruck bringen, also nutzte ich die Chance, um ein bisschen mehr über ihn zu erfahren.
 

»Nein, keine Ahnung. Ich denke, das werde ich während meines praktischen Jahrs entscheiden«, erwiderte Raphael schulterzuckend. »Die Chirurgie umfasst viele Bereiche und von denen hab ich keinen Plan. Mich jetzt schon auf ein Gebiet festzulegen, wäre reichlich blöd. Außerdem weiß ich noch nicht, was mir davon am meisten … zusagt. Es ist eigentlich auch ziemlich dämlich, sich schon so früh für Chirurgie zu entscheiden, wenn man noch keine einzige Vorlesung über … beispielsweise … Anästhesiologie oder Toxikologie oder Rechtsmedizin oder so gehört hat. Aber als ich mich fürs Medizinstudium entschieden habe, stand für mich schon von vornherein fest, dass ich in die Chirurgie gehen möchte. Nenn es verrückt, aber so ist das bei mir.«
 

»Na ja, vielleicht ändert sich deine Meinung ja noch. Ich meine, du hast ja noch einige Semester vor dir, in denen du noch eine Menge über Medizin und deren Teilbereiche lernen wirst. Man kann im Voraus auch nicht sagen, was geschehen wird oder ob es nicht Momente geben wird, in denen man an seiner Entscheidung zweifelt. Wenn nicht, dann hat sich dein Wunsch und die Sicherheit dem gegenüber bestätigt, und wenn du dich doch für etwas anderes entscheidest, ist es auch nicht schlimm«, sagte ich, während ich die Bierflasche zwischen meinen Handflächen drehte.
 

»Vielleicht«, meinte Raphael nachdenklich. »Vielleicht finde ich Pathologie auch wahnsinnig spannend und so erfüllend, dass ich Pathologe werde.«
 

Wir sahen uns kurz zweifelnd an, dann fingen wir an zu lachen. Ich konnte nicht genau sagen, warum ich diese Vorstellung so unterhaltsam fand, aber Raphael sah sich wohl ebenso wenig als Pathologe, wie ich ihn mir vorstellen konnte. Aber gut, ich kannte ihn gar nicht, da konnte ich so etwas nicht wirklich beurteilen. In diesem Zusammenhang kam mir eine Idee. Es konnte immerhin nicht schaden, Raphael ein bisschen besser kennenzulernen.
 

»Was machst du am Wochenende?«, fragte ich ihn. Er runzelte grüblerisch die Stirn.
 

»Ich streiche meine Bude. Jetzt hab ich endlich mal Zeit. Vorher ist mir immer was dazwischen gekommen. Dabei hab ich die Farben und alles schon ewig. Und mein Zeug ist nicht mal zur Hälfte ausgepackt, weil ich nicht aus'm Arsch komme«, antwortete er. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Offenbar war Streichen nicht unbedingt eins seiner Hobbys. Bevor ich überhaupt richtig darüber nachdenken konnte, schickte mein Hirn eine Erwiderung los.
 

»Ich kann dir helfen, wenn du willst.«
 

Raphael sah mich einen Moment lang sehr verblüfft an. »Bist du sicher? Ich meine … du hast doch bestimmt einen Haufen anderer Dinge zu erledigen und davon will ich dich mit meinem Kram echt nicht abhalten.«
 

»Kein Thema«, sagte ich wieder schneller, als ich überlegen konnte. »Außerdem geht’s schneller, wenn man zu zweit ist. Ich weiß das aus Erfahrung. Dann hast du nicht das ganze Wochenende damit zu tun und kannst zumindest einen Teil davon für etwas Angenehmeres nutzen.«
 

»Das da wäre?«, wollte Raphael wissen. Er hatte eine seiner Augenbrauen hochgezogen, während er mich erwartungsvoll ansah. Das war der eigentliche Punkt, auf den ich hinaus wollte … bevor ich ihm unüberlegterweise angeboten hatte, ihm dabei zu helfen, seine Wohnung oder Zimmer oder was auch immer zu streichen. Nicht, dass ich nicht wollte, aber ich kam mir dabei selbst ziemlich aufdringlich vor, auch wenn meine Absichten vollkommen ehrlicher Natur waren.
 

»Christie — Christina ...«
 

»Ja, ich weiß, wen du meinst.«
 

»Sie macht einen Raclette-Abend bei sich zu Hause und du könntest vorbeikommen, wenn du Lust hast. Ich denke nicht, dass sie etwas dagegen hätte. Immerhin kennt ihr euch auch«, schlug ich vor, während ich mir gedanklich mit den Fäusten auf den Kopf hämmerte. Es war Christies Raclette-Abend, ich war gar nicht befugt jemanden einzuladen. Aber ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass es ein Problem darstellen würde, wenn Raphael auch kam.
 

Raphael schaute mich einige Augenblicke schweigend an, trank die Cola aus und wiegte sich leicht hin und her, während er nachdachte. »Ich frag' sie morgen mal, ob sie auch damit einverstanden wäre. Prinzipiell hätte ich Lust«, meinte er schließlich lächelnd.
 

»In Ordnung«, sagte ich nickend. »Wann willst du anfangen, zu streichen?«
 

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tbc.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Samrachi
2010-08-01T19:25:19+00:00 01.08.2010 21:25
hach komm ich auch endlich mal dazu das kapitel zu lesen :)
ich fand das kapitel war echt schön zu lesen ^^ es kamen einige infos über raphael und ich finde es wird immer interessanter :P
besonders auf das streichen freu ich mich i-wie O_o

lg Samra
Von: abgemeldet
2010-07-27T12:03:17+00:00 27.07.2010 14:03
Das war niedlich :). So schön locker-flockig.
Ich mag die Anfänge der meisten Geschichten besonders, weil da alles noch so leicht und harmlos ist. Mit der Zeit, wenn die Gefühle wachsen, werden die meisten Storys anstrengender, sowohl zu schreiben, als auch zu lesen. Das ist zwar genau richtig und fast immer auch toll, allerdings kann es manchmal auch vor allem ermüdend sein. Wenn du verstehst, was ich meine^^.

Meistens hat er mich immer platt gemacht, aber manchmal konnte ich ihn auch schlagen.
Ich finde, eins von beidem reicht hier. So klingt es irgendwie sonderbar.

Raphael trug eine schwarze, ausgewaschene Jeans und ein rauchgraues T-Shirt, das zwar nicht hauteng oder anliegend war, seine Arme und seinen Rücken … betonte.
Ich hab gesehen, dass Myrin hier schon angemerkt hat, was mir auch aufgefallen ist. Also lass ich dir Klugscheißerei an dieser Stelle weg und sage dir nur, wie geil ich diesen Satz finde ^____^

Als würde er die Antwort auf meine Frage bereits wissen, aber sie von mir selbst hören konnte.
Sollte das nicht eher ein "wollen" sein?

Okay, das wars schon :).
Ansonsten habe ich mich amüsiert und mir über jede Andeutung gefreut :). Ich mag Adrian, weil er so nett und aufmerksam ist. Und Raphael find ich sehr niedlich und interessant. Die Idee mit dem Streichen gefällt mir auch sehr gut. Ich hoffe, das nächste Kapitel kommt bald!
<3
Von:  -Black-Pearl-
2010-07-23T23:23:40+00:00 24.07.2010 01:23
Klingt ja reichlich ominös, was Raphael da (nicht) von sich preis gibt.
Es ist aber schön zu sehen, wie die beiden ticken und wie ihre Ziele sind.
Jetzt bin ich mal gespannt, was beim Streichen raus kommt - ich hab gerade erst zwei Zimmer gestrichen und erst mal die Schnauze voll xD
Bis zum nächsten Chap
glg pearl
Von:  Myrin
2010-07-23T18:07:08+00:00 23.07.2010 20:07
Sooo, zuerst möcht ich mal wieder kluscheißern (schrecklich, ich weiß ._.), aber ich möchte immerhin konstruktiv sein, auch wenn ich mir bei vielen Dingen nicht sicher bin:

Eigentlich hatte ich nicht vor gehabt -> "vorgehabt" zusammen

Ich zog meine Jacke aus und warf sie auf einen der Stühle, der neben dem Tisch stand. -> Ich würde meinen, es muss "einen der Stühle, die neben dem Tisch standen heißen. Weil sich der Relativsatz, dadurch, dass er nach dem "Stühle" steht, auch auf diesen beziehen muss.

Gestern und heute war er nicht sonderlich gesprächig gewesen, aber irgendwie schien er heute … eher zu -> Ich glaube, hier fehlt nach dem ersten "heute" noch ein "Mittag", kann das sein? Sonst klingt's irgendwie auch komisch, gestern und heute war er nicht gesprächig, heute aber schon. Verstehst du, was ich meine?

das zwar nicht hauteng oder anliegend war, seine Arme und seinen Rücken … betonte. -> Gefühlsmäßig würd ich hier noch ein "aber" einfügen. Nach "Rücken" am besten.

spielte ich die weiße an. Sie ging rein, allerdings schob ich die weiße gleich hinterher. -> Ich kenn mich mit Billard leider nicht so gut aus, aber es gibt doch nur eine Weiße, oder? Dann müsste das erste "weiße" mit irgendeiner anderen Farbe ersetzt werden. Tut mir leid, wenn ich da falsch informiert bin, dann nehm ich alles zurück. :)

Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder den Kugeln zu. -> "lenkte seine Aufmerskamkeit wieder auf die Kugeln", oder?

schickte ein zwei weitere Kugeln in die Taschen -> "ein" weg

Na ja, zumindest, falls es mir denn überhaupt gelang, ihn platt zu machen … -> Wieder nur ein Gefühl, aber ich fänd's besser, wenn da vor dem "platt" ein öfter stehen würde. Weil er ja vorher schon irgendsowas denkt von wegen "ihn öfter besiegen" oder so. Dieser Satz hier suggeriert ja, dass Adrian Raphael noch nie besiegt hat, was aber ja grade passiert ist.

Als er bemerkte, dass ich ihn ansah und mir sein Gesicht zu wandte, blickte ich -> Komma nach "ansah" (weil's sonst heißen würde, dass Adrian sich Raphaels Gesicht zuwandte), und ich glaube "zuwandte" zusammen, bin mir aber nicht sicher. Ich hasse Getrennt- und Zusammenschreibung. Q_Q

Zumal man als operierender Arzt noch mehr Verantwortung trug als einer, der dir eine -> Noch ein zweites "als" vor dem "einer". Weil vor dem "operierender Arzt" ja auch schon ein "als" steht.

Verzeih mir, dass ich so pingelig bin!! *schnüff*

Also, obwohl ich ja OH und BL&HL total gern mag, hatte ich schon von Anfang an das Gefühl, dass das hier ganz schnell zu meiner Lieblingsstory von dir aufsteigen könnte. Dieses Gefühl wird immer stärker, obwohl das ja wirklich doof ist, weil die Geschichte ja noch nicht besonders lang ist. Wahrscheinlich liegt's einfach an dem tollen Untertitel. xDD

Nee, ernsthaft, ich mag die Charaktere. Ich mag alle deiner Charaktere, aber die in dieser Geschichte find ich irgendwie ganz besonders toll. Sie kommen mir wie ganz normale Leute vor, die ich auch kennen könnte und die neben mir wohnen könnten oder so.
Ach Menno, das ist bei deinen anderen Charas auch so.
Okay, ich geb's auf, das erklären zu wollen, Fakt ist, dass ich die Story jetzt schon ganzganz toll finde und hoffe, dass das auch weiterhin so bleibt.

Irgendwie kann ich nicht umhin zu vermuten, dass da noch mehr hinter Raphaels Wunsch steckt, in dir Chirurgie zu gehen. Call me paranoid, aber ich habe da ein Gefühl, das sich nicht genau beschreiben lässt, aber definitv da ist. Kann natürlich sein, dass ich mich da mal wieder in was verrenne, aber Adrian geht's ja genau so. Ich bin gespannt, ob wir beide recht behalten.^^

Spätestens seit VN dürftest du ja wissen, dass ich ein riesen Fan deiner Beschreibungen bin; ist hier nicht anders. Du fängst die Atmosphäre in diesem Billardclub wunderbar ein und ich kann ihn mir richtig vorstellen und fühle mich dabei gleich richtig wohl.

Insgesamt hast du in diesem Kapitel weniger sarkastische Anmerkungen als sonst meistens, dieses "ernste" erzählende und beschreibende gefällt mir aber auch sehr gut.
Einmal musst ich aber doch ziemlich lachen, und zwar, als Adrian Raphaels Klamotten beschreibt und dabei ganz irritiert über sich selber ist, dass ihm auffällt, dass Raphaels T-Shirt seinen Körper "betont". Das fand ich irgendwie süß und witzig zugleich. <3

'Ne vielleicht eher kleine Sache, die ich aber toll finde, ist, dass Raphael sich nicht beirren lässt und tatsächlich keinen Alkohol trinkt und dass Adrian es zwar irgendwie registriert, aber auch nichts dazu sagt. Ich weiß nicht, aber viele Leute halten einen ja dann gleich für 'ne Memme oder so, wenn man keinen Alkohol trinkt, oder man trinkt halt mit, obwohl man's gar nicht möchte - find ich gut, dass die beiden so angenehm aus dem Rahmen fallen! :)

Ach ja, und mir hat auch sehr gut gefallen, wie du Adrians Gefühle/Gedanken beschrieben hast, als er irgendwie nicht wusste, was er sagen soll. Man kennt das ja, dass man das Gefühl hat, irgendwas sagen zu müssen, einem aber nix Gescheites einfällt. Und man sich dann unwohl fühlt bis man dann irgendwas total setlsames sagt, nur damit keine Stille herrscht, und wie doof man sich dann fühlt, wenn der andere nur einsilbig antwortet. Der arme Adrian tat mir richtig leid. *ihn pat*

Jetzt bin ich schon mal aufs Streichen und den Raclette-Abend gespannt und ob Raphael ein bisschen mehr von sich preisgibt und überhaupt, was noch so alles passiert!^-^
<3


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