Schlafende Delphine
Danke für 62 Favoriteneinträge und 59 Kommentare :) Das Kapitel ist für LOA, auch wenn sie das hier vermutlich nicht liest ;)
Liebe Grüße und viel Spaß beim Lesen!
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Eigentlich hatte er Spaß an seinem Tutorium. Der zusätzliche Papierkram, all die Vorbereitung und die Organisation, das war sein Ding. Wenn er bei alledem noch etwas weniger Kontakt mit Menschen gehabt hätte, wäre der Job ideal gewesen. Aber Jannis wusste, dass man im Leben nicht alles haben konnte. Seine Ruhe zum Beispiel. Die konnte man nicht haben, wenn ein aufdringlicher Erstsemester einem auf Schritt und Tritt folgte und offenbar alles über einen wissen wollte. Und es waren nicht einmal normale Fragen, die K. stellte, wenn er ihn gerade wieder bedrängte. K. hatte die Angewohnheit, entweder mit völlig abstrusen Informationen aufzulaufen:
»Wusstest du, dass Delphine beide Hirnhälften abwechselnd abschalten, um zu schlafen?«
»Hast du gewusst, dass in Norwegen jeder Kuh gesetzlich eine Matratze zum Schlafen zugesichert ist? «
Oder aber er stellte ihm Fragen, die ihm noch nie in seinem Leben irgendein Mensch gestellt hatte. Zugegebenermaßen kam es nicht oft vor, dass ihn überhaupt irgendjemand etwas fragte, – abgesehen einmal vom Tutorium und von Marek – aber falls dies doch einmal der Fall war, dann waren es normale Fragen. Fragen wie:
»Wie geht es dir?«
»Welche Note hast du auf die Klausur bekommen?«
»Ist der Sitzplatz hier noch frei?«
K. scherte sich nicht um die Maßstäbe anderer Menschen. Er bombardierte Jannis mit Fragen, auf die er manchmal spontan keine Antwort fand und dann saß er ewig lang zu Hause, versuchte zu lesen und kam nicht mit seinem Buch weiter, weil die unsinnigen Fragen des Erstsemesters ihm durch den Kopf spukten.
»Hast du lichte Träume?«
»Ich zerbrech’ mir manchmal stundenlang den Kopf über Fragen nach dem Huhn – Ei Prinzip, kennst du das? Das macht einen wahnsinnig, sag ich dir. Ich bin übrigens der Meinung, dass das Huhn zuerst da war, was ist mit dir?«
»Kannst du dir vorstellen, wie es wäre, nicht zu sein? Eine knifflige Frage, ich kann es nicht, glaub ich. Deswegen glaub ich auch an ein Leben nach dem Tod. Wie steht’s mit dir?«
Jannis wollte all das nicht über K. wissen und trotzdem tummelten sich in seinem Kopf nun hunderte von Informationen, auch wenn er sich den Namen seines Stalkers immer noch nicht hatte merken können. Aber er nahm das als gutes Zeichen. Das bedeutete, dass er sich immer noch gegen K.s’ Eindringen von außen wehrte. Wenn ihn schon die nervtötenden Fragen vom Lesen abhielten, dann hatte er wenigstens noch die Genugtuung, dass K. ihm dermaßen egal war, dass er seinen Namen einfach nicht behalten konnte.
Während das Semester dahin glitt, wurde das Wetter schlechter, K. blieb gleich bleibend nervig und Marek gruselte ihn zusehends. Er war immer noch mit Sebastian zusammen und normalerweise beliefen sich Mareks ‚Beziehungen’ auf eine Nacht oder aber höchstens zwei Wochen.
»Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«, erkundigte sich Jannis leicht besorgt, als Marek an einem Mittwoch leise summend auf Jannis’ Wohnzimmerboden saß, Hermes im Schoß und gerade damit beschäftigt, einen Kranich aus einem Stück Papier zu falten.
Marek sah verdutzt auf und legte sein papiernes Meisterwerk kurz beiseite. Hermes schnurrte behaglich und streckte sich, was Marek dazu veranlasste, ihn sachte zu kraulen.
»Was sollte denn nicht in Ordnung sein?«, fragte er und sah Jannis aus großen, dunklen Augen an.
»Na ja…«, begann Jannis und kam sich ein wenig dumm vor, jetzt da er es aussprach, »du bist mit Sebastian jetzt seit fünf Wochen zusammen. Das gab es noch nie.«
Auf Mareks schmalem Gesicht breitete sich ein verschwommenes Grinsen aus und Jannis bereute es sofort, nach Sebastian gefragt zu haben.
»Bist du eifersüchtig?«, wollte Marek amüsiert wissen und legte den Kopf schief, wobei ihm seine dunklen Haare ins Gesicht fielen.
Hermes gähnte und schnurrte weiter.
Jannis spürte, wie ihm ziemlich heiß wurde. Wie zur Hölle machte sein bester Freund das? Sie kannten sich seit Ewigkeiten und trotzdem lief Jannis bei jeder zweideutigen Bemerkung rot an.
»Nein!«, protestierte er augenblicklich, was Mareks Grinsen noch ein wenig breiter werden ließ.
»Also ja«, stichelte er zärtlich. Jannis seufzte resigniert und gab einen weiteren Widerspruch auf. Marek hatte diese irritierende Angewohnheit, in seiner eigenen Realität zu leben, wo alles genau so war, wie er es gern hätte.
»Sebastian ist… süß«, sagte Marek dann langsam und schien über seine Worte nachzudenken, »und irgendwie lässt es sich mit ihm ganz gut aushalten.«
Jannis schnaubte.
»Klingt unglaublich romantisch«, sagte er und lehnte sich in seinem Sessel ein wenig nach hinten, die Augen hinter der Brille immer noch auf seinen besten Freund gerichtet.
»Seit wann legst du wert auf Romantik?«, fragte Marek und klang ausgesprochen interessiert. Jannis starrte ihn an.
»Ich lege keinen Wert auf Romantik«, gab er zurück. Marek gluckste leise und spielte gedankenverloren mit Hermes’ Ohren. Der Kater hieb mit der Pfote spielerisch nach Mareks Fingern, doch der wich den sachten Schlägen aus, ohne hinzusehen.
»Wie läuft es mit dem hübschen Subway- Verkäufer?«, erkundigte sich Marek, ohne auf Jannis’ Statement zum Thema Romantik einzugehen. Jannis schnaubte empört.
»Was soll denn da laufen? Er nervt. Rennt mir ständig nach und stellt blöde Fragen und erzählt mir, dass Kühe in Norwegen gesetzlich eine Matratze zum Schlafen zugesichert bekommen«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Marek sah beeindruckt aus.
»Tatsächlich? Wie interessant«, erwiderte er und schien es auch wirklich so zu meinen. Jannis verdrehte die Augen.
»Vielleicht solltet ihr beiden euch kennen lernen. Dann kannst du ihn mit deinen mathematischen Fähigkeiten beeindrucken und er kann dir erzählen, wie Delphine schlafen…«
Marek gluckste erneut. Dann wurde er augenblicklich ernst und sah Jannis gespannt an.
»Wie genau schlafen Delphine?«
Jannis stöhnte und schüttelte den Kopf. Es konnte doch nicht wirklich Menschen geben, die diese sinnlosen Informationen spannend fanden.
Die nächste Vorlesung, die er für das Tutorium besuchte, lief ab wie immer. Er saß ganz vorne im Hörsaal, sprach vor Beginn der Lesung mit Herrn Dillmann und machte sich dann daran, mitzuschreiben. Er hatte K. schon ausfindig gemacht. Er saß irgendwo mittig in der achten Reihe, das hieß, Jannis konnte schnell entfliehen, bevor K. ihm wieder Dinge über schlafende Delphine erzählen konnte. Doch das Glück war nicht auf seiner Seite. Herr Dillmann wollte sich nach der Vorlesung unbedingt mitteilen, was den Stoff für die kommenden Veranstaltungen betraf und Jannis nickte, notierte und flehte, dass K. noch einen dringenden Termin hatte. Aber das Glück war ihm nicht hold. Als er das Gebäude verließ, stand K. am Geländer neben der Tür und schien auf jemanden zu warten. Jannis hoffte, dass er nicht derjenige war, der erwartet wurde und so ging er möglichst unauffällig an seinem Stalker vorbei. Doch der strahlte und winkte. Jannis stapfte weiter und wartete schon darauf, dass K. ihm nachlief, doch nichts dergleichen passierte.
Jannis konnte nicht umhin irritiert zu sein. Er wandte sich um, als er drei Meter gegangen war und sah ein junges Mädchen bei K. stehen. Sie hatte blondes Haar, genau wie er und sie war wild am Gestikulieren. Jannis blinzelte verwirrt, als K. dasselbe tat und es dauerte einige Momente, bis ihm klar wurde, dass das Mädchen, das dort stand, taubstumm sein musste. Gerade wollte er sich wieder abwenden und die Chance nutzen, sich aus dem Staub zu machen, als K. ihn entdeckte und das junge Mädchen in seine Richtung zog. Jannis wog schnell ab, ob es sich noch lohnte, davon zu rennen, doch da standen die beiden bereits vor ihm. Das Mädchen war kleiner als er und hatte ein ungewöhnlich strahlendes Lächeln, blaue- grüne Augen und Grübchen. Im nächsten Augenblick deutete sie auf ihn, strich sich mit dem Daumen über die Stirn und sah ihn fragend an, wobei sie die Handflächen nach oben hielt und die Finger spreizte. Jannis hob fragend die Brauen und sah K. an, der grinste.
»Sie fragt, wie du heißt«, sagte er.
Jannis grummelte leise.
»Und wie soll ich das beantworten? Ich kann keine Gebärdensprache«, sagte er unangenehm berührt. Das Mädchen lachte. Erneut folgte eine Reihe Gesten, dann hielt sie ihre rechte Hand hoch und begann, ihre Finger nacheinander in verschiedene Positionen zu bringen.
»Das ist das Fingeralphabet«, erklärte K., »sie heißt Marit.«
Marit wandte sich an K. und sah ihn fragend an, ehe sie erneut eine Gestenabfolge sehen ließ, so schnell, dass Jannis kaum folgen konnte. K. antwortete und sie lachte schon wieder, als sie sich erneut Jannis zuwandte.
»Sie sagt, sie freut sich, dich endlich mal kennen zu lernen«, sagte K. scheinheilig. Jannis funkelte ihn säuerlich an.
Dann zeigte er auf sich, streckte die Hand aus und deutete in die Ferne, womit er verdeutlichen wollte, dass er nun gehen musste. Er wandte sich ab und stapfte davon. Dunkel fragte er sich, ob er gerade die Mutter des Mädchens beleidigt hatte, oder ob sie verstanden hatte, was er sagen wollte.
Sicher war das K.s Freundin und damit hatte Jannis unstrittig bewiesen, dass der andere ihn die ganze Zeit nur hatte lächerlich machen wollen. K. hatte ihr sogar schon von ihm erzählt. Jannis versuchte sich vorzustellen, wie so ein Gespräch ausgesehen hatte.
»Da ist dieser Tutor, der denkt, ich steh auf ihn. Ich hab ihm erzählt, wie Delphine schlafen!«
»Ach echt? Wie peinlich. Den muss ich unbedingt mal kennen lernen.«
Entnervt schüttelte er den Kopf und machte sich auf den Weg nach Hause, während der Herbstwind ihm entgegenpeitschte. Der Himmel war grau, verhangen und es sah stark nach Regen aus. Er hoffte, dass er noch trocken nach Hause kam, doch gerade als er das dachte, begann es auf seine Brille zu tropfen und Jannis hätte am liebsten laut geflucht. Stattdessen legte er einen Schritt zu und zog sich seine Jacke über den Kopf. Es war bald halb fünf und er hatte ziemlich großen Hunger.
Vielleicht sollte er einfach eine Pizza bestellen, ehe er sich daran machte, die gehörte Vorlesung nachzuarbeiten.
Als er nach Hause kam, zog er sich die nasse Jacke und seine Schuhe aus, dann drückte er auf einen Knopf an seinem Anrufbeantwortet, der ihm blinkend mitteilte, dass Jannis eine neue Nachricht erhalten hatte.
»Hallo Schatz, hier ist deine Mutter. Wie du sicher weißt, hat dein Vater in einer Woche Geburtstag. Wir feiern mit der ganzen Familie am 28., es wäre schön, wenn du auch kommst. Die ersten Gäste kommen um 15:00 Uhr. Bis bald!«
Jannis seufzte, schüttelte kaum merklich den Kopf und kniete sich auf den Boden, als seine beiden Mitbewohner ihm entgegen schlichen. Lana maunzte leise und Hermes strich um seine Füße.
»Familienfeier«, murmelte er leise und strich den beiden über den Rücken, »wir lieben Familienfeiern, oder?«
Keiner der beiden antwortete ihm, aber Jannis wusste auch so, dass er Familienfeiern hasste, genauso wie die Gespräche über die Unzulänglichkeit seines Studiengangs. Vermutlich musste man sich solche Dinge anhören, wenn man aus einer Familie kam, die hauptsächlich aus Anwälten und Steuerberatern bestand und sich trotzdem nicht für ein Jura- sondern für ein Germanistikstudium entschied. Während er in die Küche ging, fragte er sich dumpf, was seine Verwandten sagen würden, wenn er ihnen davon erzählte, wie Delphine schliefen.