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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2

Zwischen Gott und Teufel
von

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Die erste Aufgabe

Ich drehte mich so schnell um, dass ich das Bier quer über dem Boden verteilte, völlig vergessend, dass ich den Krug noch immer in der Hand hielt. Es klatschte, als wäre mein Herz hinunter gefallen, stattdessen machte es einen deftigen Satz und stieß erschrocken die Luft aus.

Erst nach einigen Sekunden registrierte ich, wer dort saß und erleichtert sackte ich mit dem Rücken gegen die Tür. „Nevar! Müsst Ihr mich so erschrecken?!“

Der Mann grinste nur und stellte die Kerze, die er angezündet hatte, auf den Nachttisch. Er saß auf meinem Bett, hatte ein Bein Schneidersitzartig angezogen und die Kapuze noch immer tief im Gesicht. Schweigend streifte er sie nun ab. Schwer seufzend und etwas beleidigt tat ich den Krug beiseite und wischte lieblos mein Bier mit dem Fuß und einem ohnehin bereits auf dem Boden liegenden Hemd auf. „Euer Humor lässt mehr als nur zu wünschen übrig.“, murmelte ich dabei.

Nevar grinste nur weiter. „Vielleicht solltet Ihr Euch, wenn Ihr schon mit Euch selbst redet, nicht beim Namen nennen.“, scherzte er dabei amüsiert. „Ich denke Euer Gesprächspartner weiß in diesem Fall sicher auch so, wie Ihr heißt oder nicht?“

Es kam mir vor, als wäre dieser Mann niemals weg gewesen. Ich antwortete nicht, sondern fuhr ihn ignorierend mit meinem lieblosen Gewische fort. Nachdem ich fertig war, seufzte ich und wandte mich wieder ihm zu. Etwas vorwurfsvoll wollte ich wissen:

„Was macht Ihr hier? Wieso schleicht Ihr hier herum? Ich habe mich fast zu Tode erschrocken.“

„Ich wollte Eure Streitigkeit in der Schenke nicht stören, da dachte ich, ich warte besser hier.“, er klopfte neben sich auf die Matratze. Widerstrebend folgte ich seiner wortlosen Aufforderung. „Was war los?“

„Nichts.“

Nevar sah mich schweigend an und ließ mir einige Sekunden, Ruhe zu finden, doch ich war gereizt und fühlte mich ausspioniert. Ich wollte nicht, dass er in meinem Leben herum schlich und schon gar nicht an solch chaotischen Abenden. Ich hatte wahrlich genug eigene Probleme, zudem fühlte ich mich gedemütigt dadurch, dass er meine Probleme mit ansah.

Scheinbar merkte er, dass er unerwünscht war, dann als er zu sprechen begann, empfand ich seine Stimme als ruhig und mitfühlend.

„Ihr seid nun fast zwei Monate in Brehms, Falcon. Ich habe Euch in Ruhe gelassen, damit Ihr frei atmen und handeln könnt. Wie ich sehe, habt Ihr Euer Leben aufgebaut, so, wie Ihr es Euch vorstellt. Wie läuft es bis jetzt?“

Knurrend antwortete ich: „Das habt Ihr doch mitbekommen.“, selbstverständlich galt meine Aggressivität mehr Morgan und seiner Bande, als Nevar. „Ich arbeite und lerne, damit alles seinen rechten Weg geht und diese Mistkerle versuchen, es mir kaputt zu machen.“

„Ihr sprecht von Morgan und seinen Männern, vermute ich.“, Nevar faltete die Hände und betrachtete sie nachdenklich. „Nun, das kommt allerdings ungelegen, denn sie führen Euch in die völlig falsche Richtung.“

„Aha.“, knurrte ich, teils desinteressiert, teils wütend. Man begann im Erdgeschoss aufzuräumen, denn ich hörte Krüge und Verrücken der Tische. Sogar für die Rum-Marie war bereits die Nacht angebrochen. Eigentlich hätte ich längst schlafen und bald wieder aufstehen sollen. Seufzend stützte ich meinen Kopf in die Hände und hoffte, dass die Wirtin nicht auf die absurde Idee kam, doch noch irgendwas auf mein Zimmer zu bringen.

„Euer Buch habe ich erhalten.“, murmelte ich dabei. „Aber weiter geholfen hat es mir nicht.“

Nevar nickte. „Das ist nicht tragisch. Was nicht gleich kommt, kommt mit der Zeit.“

„Sagt mir doch einfach, wohin ich gehen soll, das macht es einfacher.“

Ich hörte, wie er leicht grinste. „So einfach auch wieder nicht. Es ist besser, wenn Ihr nichts von mir erfahrt. Ich bin parteiisch. Ich wollte Euch auch gar nicht informieren, sondern nur nach Euch sehen, das ist alles. Das und Euch an Eure Aufgabe erinnern. Man hat Euch einen Monat gelassen, Falcon, dieser ist nun schon lange rum.“

Leise flüsternd antwortete ich: „Ich weiß.“ Ich brauchte keine Drohungen und genauso wenig eine Warnung. Mir war bewusst, wie ich den letzten Monat gelebt hatte und dass dies gewiss nicht kostenfrei war und gegen die Abmachung.

Nevar sprach eindringlich weiter: „Wenn Ihr nicht langsam anfangt, zu tun, was Domenico von Euch will, müsst Ihr Euch von diesem Leben verabschieden und werdet festgenommen. Falcon, ich meine es ernst. Er umso mehr.“

„Ich weiß.“, wiederholte ich, etwas lauter. Das stellte Nevar zufriedener und er nickte knapp, ehe er aufstand. „Nehmt Euch vor diesem Morgan Cunningham in Acht. Er kann zwar nicht viel, aber im Prügeln ist er gut.“

„Er schlägt Kinder und Frauen.“, murmelte ich und sah auf, ohne meine Pose zu ändern. Nevar sah mir entgegen und ich suchte Reaktionen in seinen Augen, aber es schien ihn völlig kalt zu lassen, was ich sagte. Er zog die Kapuze wieder über seinen Kopf und alles was ich sah, war ein schattiges Gesicht mit tiefen, schwarzen Flecken über der Nase. „Er hat Amy, das kleine Mädchen, geschlagen, um mir eins auszuwischen.“

„Warum sagt Ihr mir das?“, wollte er nun wissen.

„Ich will, dass das aufhört. Er erpresst mich, lauert mir auf. Für heute Abend ist er weg. Aber morgen wird er zurückkommen.“

„Und verdammt wütend sein?“, als ich nickte, verstand Nevar und betrachtete die Kerze. Ihre Flamme ging steil nach oben, als wäre sie aus glühendem Metall. Es war ein faszinierender Anblick und nur ein Atemzug reichte aus, um ihn zu zerstören. Sofort begann sie wieder zu tanzen. „Ich verstehe. Ihr habt hiermit die Erlaubnis der Inquisition über diesen Mann zu richten, wie es im Sinne des Herrn angemessen wäre. Aber nur, wenn er Euch zu nahe kommt.“

Verwirrt setzte ich mich auf. „Was?“

Lächelnd wiederholte er: „Ich erteile Euch hiermit die Erlaubnis über Morgan Cunningham so zu richten, wie Ihr es für angemessen haltet, sollte er Euch ein weiteres Mal zu nahe kommen. Ihr braucht nicht mehr zu fürchten, dass es Euer Leben gefährdet, wenn er verschwindet. Ich stehe hinter Euch und damit auch Domenco und somit wiederum die Kirche und durch diese anschließend Euer Gott. Wenn Morgan Euch anfasst und ihm dadurch etwas geschieht, seht es als seine Buße an oder irgendwie so was… Euch fällt schon etwas passendes ein.“, der Mann vor mir machte eine weg werfende Handbewegung. Ungläubig starrte ich Nevar entgegen. Ich hatte gehofft, dass er mir sagen würde, er würde mich zur Arbeit begleiten oder zurück. Morgan gemeinsam mit mir eine Lektion erteilen, die er niemals vergessen würde. Stattdessen erlaubte er mir Dinge, die ich mir selbst nicht einmal erlauben könnte. Ernst fuhr er fort, als wären seine Sätze das Normalste der Welt gewesen: „Aber ansonsten lasst die Finger von ihm. De Angelegenheiten zwischen ihm und der Frau gehen Euch nichts an. Ihr habt eine Mission, die hat Vorrang. Was seine Freunde angeht: Kennt Ihr sie?“

Ich stockte kurz. „Nun… Ja, nein. Vom Sehen. Johnny und den anderen, meint Ihr?“, Nevar nickte.

„Johnny gehört zu uns.“

„Zu uns?“, wiederholte ich verständnislos. „Zur Inquisition?“

„So in etwa.“, gab Nevar zu und wog den Kopf. „Eher zu Domenico. Der andere, Lewis, nicht. Ich weiß noch nichts über ihn und das wiederum ist sehr auffällig.“

„Aber…“, ich war etwas verwirrt und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Müdigkeit und schlechte Laune betäubten meinen Geist, zudem hatten mich Morgans Schläge erschöpft. „Johnny gehört zu uns? Aber wieso er redet er nicht mit mir?“

„Weil er nichts von Euch weiß und das sollte so bleiben. Das ist sicherer.“, mein Gegenüber verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Wand. „Er ist länger dabei als ihr. Eigentlich solltet Ihr nichts davon wissen, aber so ist es sicherer, dass Ihr ihm keine Probleme macht. Wenn er auffliegt, ist das ein großer Verlust.“

„Wenn ich auffliege nicht?“, Nevar ignorierte meine Frage, was mir als Antwort weitaus genug war.

„Ich möchte noch einmal betonen, dass Ihr von Morgan Abstand nehmt, so weit es geht, Falcon. Um ihn braucht Ihr Euch nicht zu kümmern. Es gibt verschiedene Sachen, weswegen er gesucht wird. Erpressung, Mord, Diebstahl… Und auch wenn er gewiss niemand ist, der seine Pläne selber schmiedet, so kann er Euch durchaus gefährlich werden. Wenn er Euch angreift, wehrt Euch, aber wenn Ihr eigensinnig handelt, rechnet mit den entsprechenden Konsequenzen. Ich kann Euch nicht helfen, wenn Ihr Streit sucht.“

„Und wieso nimmt man ihn nicht fest?!“, fragte ich empört.

Nevar zuckte mit den Schultern. „Wir dachten, Morgan wäre ein Samariter oder hätte zumindest Kontakt zu ihnen. Deswegen wird er zwar festgenommen, aber auch jedes Mal frei gesprochen. Mittlerweile wissen wir, dass es nicht so ist, aber er hat Kontakt zu vielen Gruppierungen und Gilden. Durch ihn kriegen wir tiefe Einblicke. Das ist wichtig.“

„Und die sind Leichen wert?!“, erneut ging meine Frage einfach unter. Die Inquisition bekam für mich einen immer bitteren Beigeschmack.

„Jedenfalls ist er für Euch unwichtig, also lasst ihn in Ruhe, wenn es möglich ist. Verstanden?“, ich antwortete nicht, sondern sah nur gereizt vor mich auf den Boden. Die Sache gefiel mir nicht. Ich sollte nicht nur für die Inquisition spionieren, sondern nun auch noch einen Mörder und Schläger einfach machen lassen, was er wollte, solange er mich in Ruhe ließ. Ich zweifelte stark daran, dass dies Gottes Wille war, aber blieb mir eine andere Wahl? Nevar fragte erneut, etwas eindringlicher, aber trotzdem noch immer ruhig: „Verstanden?“, schweigend nickte ich, ohne ihn anzusehen. Das stimmte ihn zufrieden und er fuhr fort. Seine Stimme wurde ungewöhnlich ernst. „Ab nun ist Eure Schonzeit vorbei. Ich werde Euch jede Woche aufsuchen und nachsehen, was Ihr herausgefunden habt, elf Monate lang, an verschiedenen Tagen, vielleicht auch öfters. Sollte ich Euch innerhalb von drei Tagen nicht gefunden haben, wird man das gesamte Land nach Euch durchkämmen und ohne zu Zögern vor das heilige Gericht zerren. Ihr habt Geld gespart und Euch eingelebt, das ist gut. Nun beginnt mit der Arbeit und stellt Domenico zufrieden.“

„Allein finde ich die Samariter nie.“, erklärte ich kühl und zeigte zur Tür. „Wisst Ihr, wie viele Menschen da sind? Und ich kann schlecht irgendjemanden danach fragen, wer oder was die Samariter wären.“

„Das ist mir bewusst, selbstverständlich helfe ich Euch. Aber Ihr müsst verstehen, dass ich Euch nicht alles sagen kann, was wir wissen. Zumal weil viele dieser Dinge nicht für das gemeine Volk bestimmt sind, nicht einmal ich weiß sie. Außerdem, wer sagt, dass Ihr Euch nicht verplappert? Es wäre auffällig, wenn Ihr Dinge wisst, die Ihr gar nicht wissen dürftet. Ein Jahr ist eine lange Zeit, setzt Euch nicht unter Druck.“

Ich schnaubte verächtlich. „Mich nicht unter Druck setzen? Nevar, man geht für diese Sache über Leichen. Ich werde hier in etwas hineingezogen, in das ich nicht hineingezogen werden will.“

„Falsch.“, kühl überkreuzte Nevar die Beine und sah mich an. „Ihr habt Ja gesagt zu diesem Weg und nun folgt Ihr ihm. So einfach ist das.“, ich gab darauf keine Antwort, sondern sah nur weiter schweigend zu Boden. Nach einiger Zeit wollte er wissen: „Gibt es noch Fragen, ehe ich gehe?“

Ich dachte nach, bemüht mich über Nevar Kälte nicht aufzuregen. In meinem Kopf flogen Bilder von Morgan herum und ich sah, wie er Amy, Marie oder den Mann aus der Gasse so lange prügelte, bis sie zu Boden gingen und ich durfte nichts machen. Ich konnte ihn lediglich provozieren, damit er auf mich losging, aber ich zweifelte stark, dass Nevar nicht wüsste, dass ich dies mit Absicht getan hatte. Ich musste kälter werden, gleichgültiger, sonst würde ich wohl irgendwann kaputt gehen. Heiser flüsterte ich: „Die Kreuzer. Ich würde gerne wissen, wer die sind. Eine Art Soldaten oder Wachen?“

Er nickte. „,So etwas in der Art, jedoch im Auftrag der heiligen Mutter Kirche. Hier in Brehms gibt es mehr Organisation als in Annonce. Hier hat die Stadt einen direkten Überblick, wer was tut und wo. Zumindest glaubt sie das.“, Nevar schwieg einige Sekunden, ehe er fortfuhr: „Die Kreuzer sind eine Art Gruppe, die sich darum kümmert, dass das so bleibt. Sie sorgen für Genehmigungen, Ordnung und Gesetzeseinhaltung. Sie sind die Richter, die Vertreter, die Kommandanten und so weiter, kurz:

Sie sind Brehms. Sie haben das Recht zu handeln, wie es ihnen passt und zwar mit Waffengewalt und Kreuz zugleich. Etwas außergewöhnliches, aber durchaus effektives.“

Ich seufze leicht. Brehms war so viel anders als Annonce und schönes Leben hin oder her, für einen kurzen Moment wünschte ich mich in dieses Loch zurück. Mir kam der Gedanke, dass ich gestorben wäre, hätte Nevar mich nicht mit sich genommen. Aber vielleicht wäre dieser Tod ja das Beste für mich gewesen. Was, wenn die Samariter mir einen weitaus schlimmeren brächten, als nur am Straßenrand zu verbluten?

Nevar zog seine Kapuze zu Recht, ein Zeichen für den Abschied. Dabei erklärte er: „Wenn Ihr Angst um Euer Geld habt, könnt Ihr überschüssiges mir geben. Ich verwahrte es für Euch. Natürlich müsst Ihr nicht.“, schwach und unglaublich kraftlos sah ich ihn an, dann nickte ich. Mein Körper sehnte sich nach Schlaf und mein Geist nur umso mehr.

„Es geht schon, danke.“

Er schmunzelte etwas. „Gut.“ Dann warf er mir ein zusammen gefaltetes Pergament vor die Füße. „Hier. Ein Verdächtiger, kümmert Euch darum. Das ist Euer erste Chance, Falcon. Wenn Ihr Eure Arbeit gut macht, verkürzen wir die Zeit bis zum Freispruch. Verbrennt es gut, wenn Ihr es gelesen habt.“

Nickend hob ich es auf. „Werde ich.“

„Also dann, auf bald.“

Ich antwortete nicht. Nevar schloss die Tür auf, lugte hinaus und verließ das Zimmer. Er ging, wie ein normaler Gast, die Treppe hinunter, nur weitaus leiser. Seufzend zwang ich mich aufzustehen und abzuschließen.

Ich spürte, dass mein Kopf dröhnte. Wahrscheinlich war die Idee Morgan zu einem Kampf zu provozieren doch nicht so gut gewesen, wie ich zuerst dachte. Man müsste meinen nach einem Monat solcher Prügel hätte man sich daran gewöhnt, aber meine schmerzenden Wangen belehrten mich eines Besseren. Ich ließ mich auf mein Bett zurückfallen, musterte das Chaos und dann das Papier in meinen Händen. Der Nachtwächter sang irgendwo draußen, zu weit entfernt als dass ich es verstanden hätte. Doch die Tatsache, dass er sang, ließ mich wissen, dass es bereits viel zu spät war. In das Skriptorium würde ich es wahrscheinlich schaffen, aber in welcher Verfassung? Wir mussten zwei Bücher kopieren und übermüdete Augen und zitternde Hände waren dabei Nachteile.

Langsam öffnete ich das Pergament und mustert jenes, was darauf stand. Es handelte sich um Aufzeichnung bezüglich eines Mannes namens Luke Caviness, in denen unter anderem stand, dass er einundzwanzig Jahre alt war und ein eventueller Samariter. Er folgte bereits seit drei Monaten immer dem Selben Ablauf:

Er steht auf, belädt seinen Karren mit den Waren aus dem Allerleigeschäft seines Vaters und beliefert dann die Läden der Stadt, die etwas bestellt haben. Anschließend bringt er den Karren zurück, isst etwas und geht zu Bett.

Aber manchmal kommt es vor, dass er für mehrere Stunden in ein Wirtshaus geht. Er lässt dann seinen Karren einfach in einer Gasse stehen und das jedes Mal vor einem anderen Gasthaus. Domenicos Männer haben nun den Verdacht, dass er Kontakte zu einem Samariter hat und sich in dieser Zeit mit ihm trifft.

Ich las weiter, dass er recht schlank war und kurzes, braunes Haar hatte, im Nacken kürzer als auf dem restlichen Kopf. Er trug keinen Bart und war meist einfach bekleidet. Aufgrund seines Standes besaß er offiziell keine Waffen, aber der Umgang mit einem entsprechenden Händler ließ einen größeren Dolch vermuten.

Dukes Familie bestand aus seinem Vater, dreiundfünfzig Jahre alt, Besitzer eines Allerleigeschäftes im nördlichen Stadtteil Brehms. Er kaufte Gegenstände von den Händlern des Platzes und belieferte damit kleinere Läden der Stadt. Bis auf Duke hatte er keine Kinder, seine Frau erlag vor fünf Jahren dem Fieber.

Wohnen taten die zwei im oberen Stockwerk über ihrem Geschäft. Sie schliefen in getrennten Zimmern, ein Bad gab es nicht und die Küche befand sich im Erdgeschoss im Lager.

Baden und dem alltäglichen Geschäft ging man im Hinterhof nach, den man durch die Hintertür der Küche oder aber hinten herum durch das Durchqueren des Hinterhauses erreichen konnte.

Außerdem gab es auf dem Hinterhof einen Zugang zu einem dritten Nachbarhaus, aus dem ein Hund freien Auslauf hatte. Er konnte den Hof jederzeit betreten und schlug an, wenn Fremde sich näherten.

Nachdem ich alles sorgsam gelesen hatte stand ich auf, ging mit der Kerze zum Fenster und begann, das Papier zu verbrennen. Ich seufzte leise und die Kälte der Nacht hüllte mich ein, als würde sie mir das Leben aussaugen wollen. Leise summte ich jene Melodie, welche Marie-Ann mir beigebracht hatte. Als ich es bemerkte, hörte ich sofort auf.

Ich musste nun also einen jungen Mann namens Luke ausspionieren. Wahrscheinlich klang es einfacher, als es war, denn nebenher arbeitete ich immer noch im Skriptorium und Morgan ließ mich gewiss nicht in Ruhe.

Ich fragte mich, unter was für einen Schicksalsvertrag ich Lukes Namen damit schrieb. Was geschah mit ihm, wenn er mit den Samaritern zu tun hatte? Ruinierte ich sein Leben?

Im ersten Moment dachte ich, er wäre selbst schuld, wenn er sich auf diese mysteriösen Leute einließ, aber im zweiten fiel mir auf, dass er es auch gar nicht wissen könnte. Was, wenn auch ich mit Samaritern zu tun hatte, ohne es zu wissen?

Man hatte vermutet, dass Morgan etwas mit ihnen zu schaffen hatte. Wäre ich nicht aus Annonce, vielleicht wäre ich mit Morgan befreundet gewesen und vielleicht wäre ich dann ebenfalls an die Samariter geraten.

War es rechtens sich so stark in das Leben anderer einzumischen?

Auf keinen Fall durfte ich darüber nachdenken, was rechtens war und was nicht. Ich hatte eigene Sorgen und musste nun versuchen, etwas für mich zu tun, für mich allein. Es ging bei dieser Sache konsequent um mein Leben und das durfte ich auf keinen Fall vergessen. Weder ging es um Nevar, noch um Amy oder Marie. Es ging um mich, Sullivan O’Neil und da mussten mir andere schlichtweg egal sein.

Ich hatte jedes noch so kleine Stück Pergament ins Feuer gehalten, dann schloss ich das Fenster wieder und zog mich aus. Ich fror stark aufgrund der eisigen Luft und sah, wie sich meine Haare am ganzen Körper aufstellen. Schweigend setzte ich mich splitternackt aufs Bett, nahm das Kreuz und betrachtete es. Die Figur des Jesus war so klein, dass sie weder Augen noch Mund hatte, nicht einmal eine Nase. Seine Hüften waren ein abstruses Gebilde, da der Schmied wohl versucht hatte, ein bedeckendes Tuch anzubringen und die Füße verschmolzen mit dem Kreuz, als gäbe es sie nicht. Dennoch wirkte er leidend und schwermütig auf mich. Das Dreieck über seinem Kopf, das der Heiligenschein sein sollte, sah aus wie ein schwerer, spitzer Stein, dazu da, ihn hinunter zu drücken.

Wie lange war es her, dass ich gebetet hatte? Wirklich gebetet? Über ein halbes Jahr? Oder sogar schon ein ganzes?

Nach einiger Zeit des Anstarrens legte ich es zurück auf die heilige Schrift neben der Kerze. Stand Gott noch hinter mir? Hatte er jemals hinter mir gestanden? Die Kälte schwand etwas.

Ich musterte meine nackten Füße, meine Beine und meine Hände. Sie waren schmutzig und vernarbt, wie die eines Streuners. Es schien mir, als wäre dies ein Abbild meiner schmutzigen Vergangenheit, die Überreste des verschmutzten Gefängnisses, des Tollhauses und der See. Dreckig und schwarz, wie mein bisheriges Sein. So viele Sünden hatte ich begangen. Nun gab man mir die Chance auf ein zweites Leben und ich baute es komplett auf weiteren Sünden auf:

Lügen, Betrug, Spionage, eventuell sogar Mord. Ich gab mich der Wolllust hin und besaß Dinge, die nicht Gott mir gab, sondern die ich mir selbst verdiente. Meine Zeit als Mönch war schon lange vorbei und nun fühlte ich mich wie ein Dämon. Unbewusste Angst überkam mich, dass ich verdorben war und nicht mehr zu retten. Wieder wollte ich mich einem Priester zu Füßen werfen und um die Vergebung meiner Sünden flehen. Ich wollte daran glauben, dass mir das helfen würde, aber eine leise Stimme nagte in meinem Hinterkopf.

Sie lullte mich ein und machte mir klar, dass dies eine Lüge war. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass es die Stimme des Abtrünnigen sein musste, die ich dort hörte. Dennoch blendete ich sie nicht aus. Wer sonst würde mir sagen, dass auch das mir nicht helfen konnte, in Freiheit zu leben? Ich hatte die Wahl zwischen dem Leben als demütiger, kriechender Wurm und das Leben als freier Mensch. Aber gab es das Leben in Freiheit überhaupt?

Menschen wie Nevar waren genauso wenig frei, wie solche, wie ich einer war. Und Menschen wie Domenico? War Domenico frei?

Ich verzog leicht das Gesicht, denn die Haut an meiner Seite schmerzte etwas. Ohne hinzusehen legte ich die Hand auf die Narbe jener Wunde, die mir einst fast das Leben gekostet hätte. Der lange Schnitt war mittlerweile ein hellweißer, hervortretender Strich auf meiner ohnehin hellen Haut. Ich konnte die Narbe spüren, da sie ein wenig hervortrat, ebenso die kleineren Punkte ober- und unterhalb, die Spuren der Fäden. Nevar hatte die Wunde mehrmals nähen müssen. Wie diese Narbe würde ich auch meine Vergangenheit wohl niemals mehr loswerden können. Viel zu lange litt ich unter den Geschehnissen des letzten Jahres.

Nun war es an der Zeit, sich der Zukunft zu widmen.



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