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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 2

Zwischen Gott und Teufel
von

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Unschuld

Als ich zu mir kam, schlug die Glocke gerade halb sieben und ich fuhr auf, als hätte ich einen deftigen Schlag bekommen. Die Kälte war sofort vergessen, die Schmerzen ebenso und ich stolperte los, ohne meinen Tagesablauf auch nur ansatzweise zu planen. Mit zausen Haar, übergeworfenem Umhang und Brot im Mund rannte ich die Treppe hinunter zum Skriptorium. An einer Ecke kam ich durch das Eis ins Schlittern und legte mich quer über den Boden und als ich den Laden dann endlich erreichte, hatte ich mehr blaue Flecken, als ohnehin schon. Mein Buch hatte ich mir wie Jacks zuvor in den Hosenbund gesteckt, das Geld lag noch immer in meiner Hosentasche. Ich schaffte es gerade noch pünktlich zu Meister Pepes Geschäft und er begrüßte mich außergewöhnlich gut gelaunt mit einem:

„Guten Morgen, junger Mann!“ Scheinbar freute der Greis sich, dass er endlich wieder Aufträge entgegen nehmen konnte. Zu meiner Freude hatte er vor, mich richtig in die Arbeit mit einzubringen und wir verbrachten viel Zeit damit, zu zweit die bestellten Bücher zu kopieren. Der Meister zeichnete vor und ich bekam die Aufgabe nachzuzeichnen. Leider war ich so darin vertieft, keine Fehler zu machen, keine Flecken zu hinterlassen, nichts zu verwischen und nicht zu stark aufzudrücken, dass ich nicht annähernd dazu kam, die Dokumente auch zu lesen, die ich kopierte. Ich stellte mich unbeholfen an, denn die Tinte verstopfte unentwegt meinen Kiel und es gelang mir nicht, mein Zittern bei feineren Linien abzustellen. Besonders schwer fiel es mir, da der Pult nun nicht mehr eben war, da der Greis diesen mithilfe einer Kurbel diagonal angehoben hatte. Die Arbeitsfläche verwirrte mich und erschwerte mir alles und als er für einen Moment hinausging, senkte ich die Platte wieder ab. Mit einem normalen Tisch wurden die Ergebnisse sichtbar besser, was bei dem alten Mann für Verwunderung sorgte, dennoch war er zufrieden und ließ mich weiter arbeiten. Er gab mir mehrmals eine zweite Chance, um meine Arbeiten zu verbessern und gewährte mir Pausen, um mein ungeübtes Handgelenk zu schonen.

Zeit, das seltsame Buch zu lesen, fand ich kaum und größtenteils nur abends. Es stellte sich als ein Erklärungswerk zur Samaritergeschichte heraus, in welchem es grundlegend darum ging, zu erklären, dass jeder Mensch so handeln sollte, wie der Samariter es tat. Es stand geschrieben, dass dieser verstoßen worden war, aber trotz alledem weder Hass, noch Abneigung zeigte. Trotz seiner Ausgrenzung zeigte er stattdessen Liebe und Barmherzigkeit und gab dieses sogar an seine Nächsten weiter. Er wurde mit Jesus gleichgesetzt und teilweise war ich nicht sicher, ob man ihn als Abbild Jesus’ sah oder als den Messias persönlich.

All diese Informationen sammelten sich in meinem Kopf an, vermengt mit jenen Dingen, die ich im Skriptorium lernte. Stück für Stück wurde ich zum Kopisten und bereits nach einer Woche konnte ich sämtliche Tintenarten unterscheiden, ganz gleich, ob Eisengalluss-, Dornrinden- oder Russtinte. Ich lernte, wie man bemessen konnte, welchen Zeilen-, Buchstaben- und Wortabstände es in einem Buch gab und durfte zusehen, wie Meister Pepe eine dreiseitige Goldschnittverzierung an jenem Buchblock vornahm, an welchem er seit Tagen selbst gearbeitet hatte. Bei diesem Werk handelte es sich allem Anschein nach um ein ganz Besonderes und vor allem teures Stück, weswegen ich verstand, dass er es nie aus den Augen ließ. Ich sah zu, wie er das Buch erst fest presste, dann die Seiten erst polierte, mit einem roten Farbschnitt versah und anschließend mit einer Flüssigkeit bestrich, um die Seiten danach mit Blattgold aufzulegen, um dieses anschließend ebenfalls zu polieren. Ich hätte niemals gedacht, dass für ein einzelnes Buch mit goldenen Verzierungen so viel Arbeit nötig war und mein Respekt gegenüber diesen kleinen Werken stieg fast ins Unermessliche. Die gesamte Prozedur der Herstellung hatte gut drei Monate gedauert, erklärte er mir und mir wurde klar, wieso er darauf bestand, dass dies kein einfaches Geschäft sei.

An jedem Buch, das diesen Laden fertig gebunden und verziert verließ, war mehr Mühe, als der Leser jemals beim Lesen haben würde.

Ich nahm mir fest vor noch besser zu arbeiten, um irgendwann vielleicht bereit dafür zu sein, ein eigenes, kleines Buch zu kopieren, zu binden und sogar zu verzieren. Jedes Mal, wenn der Meister einen neuen Schritt machte, wies er mich an genau zuzusehen und forderte mich auf, zu wiederholen, was ich bemerkt hatte. Ich wies mich als gehorsamer und vor allem aufmerksamer Lehrling und es war offensichtlich, dass Meister Pepe dem sehr zugetan war. Es machte ihm immer mehr Spaß, mein Können auf die Probe zu stellen und öfters musste ich die Buchschnitte polieren, sogar wenn es Hohlschnitte waren. Die Arbeit im Skriptorium begann mir immer mehr Spaß zu machen und auch wenn ich nichts hatte, über was ich mit dem alten Mann sprechen konnte, so genoss ich dennoch seine Gesellschaft. Ich galt als schweigsamer Arbeiter, der sich gerne zurückzog und sich selbst alles beibrachte, was es beizubringen gab. Pepe stellte weder Fragen, noch spionierte er in meinen Sachen, wenn ich sie irgendwo niederlegte. Ich tat, was man mir auftrug, das reichte ihm.

Im Laufe der nächsten Woche kamen die zwei Wachmänner vorbei und gestanden enttäuscht, dass sie keinerlei Anzeichen für die Gesuchten Räuber hatten. Sie taten mir fast leid, wie sie im Türrahmen standen, ihre Mützen in der Hand, mit traurigen Augen und hängenden Köpfen. Doch sie versicherten mir, sobald es Anzeichen geben würde, würden sie ohne zu zögern zuschlagen. Mir war es gleich, so lange Morgan mich nur in Ruhe ließ und das tat er. Die nächsten Tage waren sogar so entspannt, dass ich teilweise ganze Stunden mehr in der Schreibstube verbrachte, als ich eigentlich wollte. Je nachdem, wie viel ich an einem Dokument geleistet hatte, fiel meine Bezahlung aus und diese war alles andere als schlecht.

Nach einer weiteren Woche bat mich Pepe neben sich, während er einen Kunden betreute. Dies tat er immer öfters, damit ich lernte, was für Fragen man den Kunden stellen musste und worauf bei Büchern zu achten war. Zudem bekam ich die Aufgabe, jeden Tag einen anderen Schrifttypus zu lernen oder verschiedene Seiten zu vergleichen und Unterschiede zu suchen. Irgendwann vertraute er mir sogar so sehr, dass er mich beauftragte, neue Materialien zu kaufen und es war ein gutes Gefühl, als normaler, arbeitender und vor allem freier Mensch Aufträge in der Stadt zu erfüllen. Als die Verkäufer hörten, dass ich von Meister Pepes Laden käme, brachten sie mir Respekt und äußerste Höflichkeit entgegen, zudem waren sie ungemein freundlich. Der alte Mann galt als intelligent und warmherzig, was ihm ein hohes Ansehen verlieh und ich gebe zu, dass ich es nicht als schlecht empfand, auch etwas davon abzubekommen. Es war eine nette Abwechslung zu hören: „Beehrt uns bald wieder, werter Herr.“, statt „Raus hier, du Lump!“

Eine der Verkäuferinnen gab mir sogar etwas Tinte mit und von Meister Pepe bekam ich eine alte, abgenutzte Feder. Mit Wasser gelang es mir, ihren Kiel zu befreien und auch wenn sie nicht mehr hübsch anzusehen war, so begann ich dennoch, mich in meinem Gasthaus im Schreiben zu üben. Sonntags, wenn der Ruhetag war und die meisten die Kirchen und Kathedralen aufsuchten, verbunkerte ich mich in meinem Zimmer und schrieb seitenweise das Alphabet auf. Ich wollte so viele Schriftarten wie möglich beherrschen und zwar perfekt. Da ich keine Schriftart von Annonce gefunden hatte, erfand ich meine eigene und nachdem mein Werk vollbracht war, schmuggelte ich das Pergament unter die anderen der Schreibstube. Meister Pepe hatte es nicht bemerkt und ich stellte mir vor, was passieren würde, würde er die Schriftproben einem Kunden zeigen und dieser würde sich ausgerechnet für meine Schriftart entscheiden.

Ich ging in meinem neuen Leben richtig auf und auch dem alten Mann entging es nicht, dass ich immer öfter lächelte. Die Prostituierte vor der Rum-Marie unterließ irgendwann ihre Verführungsversuche, da sie wohl dachte, ich hätte ein Weib. Was sonst sollte mich so fröhlich machen? Es störte mich nicht im Geringsten, dass ich in den Augen des Meisters ein junger Spund und Lehrling war, ich genoss es sogar. Mein Kopf war frei von allen Dingen, so dass meine eigenen Gedanken genug Platz darin fanden. Ich tat, was man mir auftrug und die neuen Herausforderungen sorgten dafür, dass ich mich niemals langweilte. Ich war glücklich.

Nach fast einem Monat, als ich mich vollends an meinen neuen Alltag gewöhnt hatte, geschah es, dass Pepe mich sogar einen Kunden betreuen ließ. Er erlaubte mir, mich an den Tresen zu stellen und unter Betreuung die Beratung durchzuführen, so wie die Feststellung des Preises. Ich war ungeübt und ab und an musste er mir unter die Arme greifen, wenn mir Fachbegriffe fehlten, aber im Großen und Ganzen war ich stolz und zufrieden. Ich konnte mir vorstellen, mein gesamtes Leben in den Diensten des alten Mannes zu verbringen. Morgan verlor für mich immer mehr an Bedeutung. Ich hatte mir angewöhnt, den Rothaarigen zu grüßen, wenn ich ihn sah und es war zu solch einer Routine geworden, dass ich sämtlichen Respekt vor meiner eingesteckten Prügel verlor. Er wurde für mich zu einem normalen Mann, wie jeder andere auch und wenngleich er mir böse und drohende Blicke zuwarf, so musste auch er gemerkt haben, dass ich ihm nie hatte etwas Böses tun wollen.

Dieser Gedanke stellte sich jedoch als Fehler heraus, denn Morgan wurde misstrauisch. Ich war ruhig, zu ruhig, außerdem hatte er das Bedürfnis, seinen Aggressionen Luft zu machen. Eines Abends auf dem Weg zur Rum-Marie lauerte er mir im Gang zum Eingang der Herberge auf und stieß mich gegen die Brust. Er forderte mich auf, meine Taschen zu leeren und mit einem Mal fiel mein letztes Erlebnis mit ihm zu mir zurück. Schweigend und ohne Widerwehr gehorchte ich, ungewohnt ruhig, fast wie betäubt. Johnny, sein zweiter Partner und er fanden nichts, als ein paar Heller, denn das meiste meines Verdienstes versteckte ich im Loch des Gasthauses, in meinen Schuhen und in einem Mauernriss unter meinem Fenstersims, doch auch dieser kleine Gewinn reichte der Bande, um eine Woche später erneut aufzutauchen. Immer wieder nahmen sie mir zwischen fünf und zehn Heller ab und als ich eines Abends ohne Geld nach Hause ging, setzte es Schläge, für die ich den Kerl verfluchte. Wehren tat ich mich jedoch nicht und ausziehen stand völlig außer Frage. Ich wollte auf keinen Fall noch mehr Streit mit ihnen, außerdem sollte Nevar wissen, wo ich steckte.

Ich beschloss Morgan zu geben, was er wollte, um meine Ruhe zu behalten und trug von dort an immer sechs oder sieben Geldstücke bei mir. Dabei hatte ich nicht bedacht, dass er gieriger werden könnte und so stand er fast jeden Abend bereit, um mich zu empfangen, nachdem er in Erfahrung gebracht hatte, wo ich arbeitete. Schreiber zu sein bedeutete, gut zu verdienen und aus den sechs Hellern wurden sechzig.

Ab diesem Punkt weigerte ich mich, denn ich war nicht bereit, einen halben Silberling an ihn zu verschenken und diesmal schlug er so heftig zu, dass ich zu Boden ging und liegen blieb. Auf diese Weise lernte ich Melina kennen. Melina war die Prostituierte, die regelmäßig in den Marie-Tunneln, wie man die Gänge zur Rum-Marie nannte, stand und nachdem die drei Männer verschwunden waren, kam sie zu mir. Sie half mir aufzustehen und fluchte laut über „diese stinkenden Rattenkerls“, wie sie immer sagte.

Ich sprach nicht viel mir ihr, da sowohl ich, als auch sie Abstand wollten, dennoch genug, um zu wissen, dass sie fünfundzwanzig war und zur Mendici-Gilde gehörte. Dies war eine Art Bettlergilde, aber man brauchte mir nicht zu sagen, dass es sich dabei durchaus um eine Ansammlung von Dieben und Halunken handelte. Jeder, der eine Bettellizenz haben wollte, musste dieser Gilde beitreten und regelmäßig gewisse Beträge zahlen. Meist waren diese jedoch so hoch, dass es ohne illegale Aktivitäten gar nicht möglich war.

Dennoch folgte ich ihr immer öfter in die hinteren Teile der Gassen und es störte mich auch nicht, dass mir danach die Münzen aus meinen Taschen fehlten, die Morgan mir nicht abgenommen hatten. Die wenigen Heller waren ein sehr geringer Preis für das, was Melina mir gab und ich erwischte mich, wie auch dies zu meinem Alltag wurde.

Umso mehr ich verdiente und zur Seite lag, desto mehr Neider entstanden. Ich hatte irgendwann so viel sparen können, dass ich meinen selbst angefertigten Umhang in meinem Sack verstaute und mir einen neuen kaufte, mit verzierter Holzbrosche und eingraviertem Stern. Ich würde nicht behaupten, ich wäre eitel gewesen, aber ich besaß das erste Mal im Leben Geld und es ist nur verständlich, dass ich den Umgang damit noch nicht beherrschte.

Da ich gegen Morgan und seine Gefährten keine Chance hatte, aber auf keinen Fall Wachmänner mit hineinziehen wollte, fügte ich mich ihren Forderungen irgendwann oder ich begann, riesige Umwege zu laufen und so auszuweichen. Meine Rippen waren teils geprellt und ich war durch die Schläge so erschöpft, dass es auch meine Arbeit erheblich beeinträchtigte.

So begann ich auch die Samariter und Nevar irgendwann zu vergessen, dafür wurde die Wirtin der Rum-Marie mit der Zeit immer neutraler mir gegenüber. Umso länger ich in Brehms war, desto weniger war über mir der dunkle Schatten namens ‚Annonce’.

Ich traute mich eines Abends sogar eine Suppe zu bestellen, als Morgan und die anderen nicht anwesend waren und begann eine Unterhaltung mit Amy.

Amy war die Ziehtochter der Rum-Marie, diese hatte sie von ihrer Schwägerin aufgenommen, welche Amy hatte an einen Händler verkaufen wollen. Seitdem lebte und arbeitete das Mädchen in der Schenke und träumte davon, einmal eine große Schneiderin zu werden. Sie mochte mich sehr und half mir, ab und an heimlich heißes Wasser aus der Küche zu holen. Nicht viel, da ihre Arme schwach und dünn waren, aber genug, um mich wöchentlich ordentlich zu waschen und zu rasieren. Manchmal besuchte das Mädchen mich auf meinem Zimmer und dann setzten wir uns auf das Bett und sie erzählte mir von ihren Träumen und Fantasien. Ich habe noch nie ein so fantasievolles und kreatives Mädchen wie sie getroffen. Sie hatte die wildesten Ideen und träumte teilweise mit offenen Augen. Dann starrte sie vor sich hin, murmelte leise mit sich selbst oder summte Melodien, die einfach so aus ihrem Kopf heraus sprudelten. Wir erfanden ein Spiel in dem sie ein Wort sagte, ich es wiederholte, sie eines hinten dran hängte und so weiter. So bildeten wir lange Satzreihen und durch ihr gutes Gedächtnis musste ich mich das eine oder andere Mal geschlagen geben.

Die positive Verbindung zu dem Mädchen steigerte auch jene zwischen mir und der Wirtin. Sie begann, mich ab und an anzulächeln oder warf mir entschuldigende Blicke zu, wenn ich mit blutiger Nase auf mein Zimmer ging, mehr jedoch nicht.

Ich begann zu vermuten, dass sie die Frau von Morgan wäre oder zumindest irgendeine nähere Bekannte. Amy sagte nichts konkretes dazu und ich wollte sie nicht direkt fragen, um sie nicht in irgendwelche Streitigkeiten mit hinein zu ziehen, aber ihr Unbehagen gegenüber dem Rothaarigen und ihr Seufzen, wenn die zwei in der hinteren Kammer verschwanden, ließen vermuten, dass Morgan bereits länger hier Gast war. Allem Anschein nach konnten wir ihn beide nicht leiden, denn des Öfteren endeten wir mit unserem Spiel damit, dass Morgan in ein Fass fiel oder sich den Fuß an einem Stein stieß. Und dann lachte das Kind so laut, dass das ganze Haus davon erfüllt war und ich beschämt zugeben musste, dass mich das ungemein entzückte. Ich mochte es, das Mädchen lachen zu hören und schämte mich dafür, da sie weitaus jünger als ich war. Dennoch versuchte ich immer wieder, sie zu einem weiteren Lachen zu ermuntern.

Schließlich wurde es endlich wärmer in der Stadt, meinem neuen Zuhause.

Nicht erheblich und nicht warm genug, als dass ich auf Hemden und Umhang hätte verzichten können, aber die Schneemassen auf den Hauptwegen schmolzen und gaben die Pflastersteine nach und nach frei. Immer mehr wurde der weiße Boden wieder zu grau und es dauerte nicht lange, da sah man bereits die ersten Bettler an den Straßenrändern. Der Frühling war noch nicht nahe, aber das Ende des Winters kam sichtbar immer näher und Brehms gewann an Lebendigkeit. Ich hatte durch lange Spaziergänge in meiner Freizeit viele Einblickte in das Innere der Stadt bekommen und nun merkte ich, wie stückweise alles aus seinem Winterschlaf aufzutauen schien. Manchmal, wenn die Sonne schien und der Himmel nicht mehr weiß und grau war, dann saß ein alter Mann auf einem Stuhl draußen in der Gasse vor einer der Herbergen, die ich passierte. Ich nickte ihm freundlich zu und wenn ich ihn nicht sah, wusste ich, dass es schlechtes Wetter gab.

Man könnte sagen, ich wurde ein Teil dieser Stadt, auch wenn jeder mich nur vom Sehen kannte und niemand wusste, wer genau ich eigentlich war. Durch meine Aufträge von Meister Pepe war mein Gesicht in vielen Geschäften bekannt und durch meine Freundlichkeit hatte man oft ein nettes Wort für mich übrig. Dennoch wusste kaum einer, woher ich stammte oder wie ich hieß. Genau so, wie ich es mir als Kind immer vorgestellt hatte. Ich fühlte mich frei und daran konnte nicht einmal Morgan etwas ändern.

Doch es gab einen Tag, an dem all diese positiven Dinge schlichtweg in den Schatten gestellt worden waren.

Die Wirtin der Rum-Marie wollte allem Anschein nach keinen Tumult in ihrem Haus, denn sobald ich auch nur einen Fuß über die Schwelle setzte, war ich vollkommen sicher. Ich wäre leichte Beute für Morgan gewesen, wenn das nicht so gewesen wäre, denn sie hätten lediglich ein Stockwerk höher gehen müssen. Bis zu einem Abend jedenfalls.

Ich hatte mich bereits drei Tage lang davor gedrückt Morgans Männern zu begegnen und war ihnen erfolgreich ausgewichen, indem ich mit Melina mitgegangen war. Irgendwann hatten sie die Kälte nicht mehr ausgehalten und gaben ihre Lauer so auf. Dann war ich in die Herberge gegangen, nach oben verschwunden und hatte mich eingeschlossen.

An diesem Abend jedoch war es anders. Melina war nirgends zu sehen und auch auf dem Weg zum Eingang war kein einziger Mensch. Ich ging durch den Tunnel mit bösen Vorahnungen und geistig bereits auf die Prügelei mit den Dreien vorbereitet, doch ich erreichte die Tür mit dem angebrachten Krug ohne jedes Problem. Als ich sie öffnete und eintrat, kam mir die Wärme der Rum-Marie entgegen, die ich im kalten Winter so lieben gelernt hatte und wie so oft sah ich nach links zum Tresen.

Morgan und seine Partner saßen dort und tranken Bier, die Wirtin stand daneben, doch diesmal war es anders. Es war fast totenstill im Haus. Langsam zog ich die Kapuze vom Kopf und ich registrierte, was anders war.

Marie stand mit gesenktem Kopf und geröteten Augen, alle sahen in ihre Krüge und nur Morgan grinste die ganze Zeit, angetrunken, aber keineswegs Streit suchend. Amy war nirgends zu sehen.

Als Morgan mich registrierte drehte er seinen Kopf zu mir und hob den Krug an.

„Ah, Falcon, wie schön. Guten Abend.“, diesmal antwortete ich nicht. Schweigend wandte ich mich an die Treppe und sah hinauf, dann wieder zu Marie. Ihr Anblick war beängstigend. Die sonst so starke Frau wirkte nun ganz anders, als sonst und ich erkannte, dass ihre linke Wange leicht geschwollen war. Wie ein Schatten ihrer selbst stand sie einfach nur da, als wäre ihr Geist ganz woanders. Und wo war Amy? Als würde er meine Gedanken lesen können, rief Morgan mir zu:

„Wenn du das Kind suchst, das war oben. Vorhin. Hat nach dir gesucht.“

„Hat nach mir gesucht?“, wiederholte ich verwirrt und sah ihm entgegen. Ich registrierte im Winkelblick, dass die Frau zu zittern begann und sich mit dem Rücken zu mir stellte.

„Ja, hat die kleine Amy. Wusste gar nicht, dass du mit ihr zu tun hast, Falcon?“

Auch ich begann zu zittern, als Gänsehaut meinen Rücken entlang fuhr und ich atmete tief durch, um ruhig zu bleiben. Leise sagte ich:

„Habe ich. Flüchtig. Wieso auch nicht?“ In meinem Innern wurde es heiß und kalt zugleich, als mir bewusst wurde, was ich allem Anschein nach getan hatte. Ich hatte Amy in meine Angelegenheiten mit hinein gezogen und nun war sie weg. Aber wo? Wo war sie?

„Weil du ein Haufen Scheiße bist.“, nuschelte er betrunken und lachte über seinen eigenen Witz, der so sehr ohne Humor war, wie er voller Alkohol. Keiner teilte seine Belustigung, nicht mal jener mit Mütze und Knollnase. Dann erklärte Morgan lallend: „Das Miststück wollte mir nicht sagen, wo dein Geld ist. Na ja, hat es wohl nicht gewusst, kann man nichts machen. Aber ich habe-…“

Weiter hörte ich nicht zu. Schon während er den nächsten Satz begann, war ich los gerannt und stürmte die Treppe hinauf. Er rief mir lachend hinter her: „Wo rennst du denn hin?!“, doch ich blendete seine verfluchte Stimme einfach aus. Wie blind rannte ich in den Flur und brüllte:

„Amy?!“, doch es gab keine Antwort. Panisch sah ich mich um und drehte mich um mich selbst, obwohl bis auf Türen nichts zu sehen war. Aus dem Erdgeschoss drang das Schluchzen der Wirtin zu mir herüber. Dann brüllte ich erneut: „Amy?!“ Irgendwann hörte ich Wimmern aus meinem Zimmer. Sofort fuhr ich herum und riss die Tür auf, ohne zu registrieren, dass sie aufgebrochen worden war. Das erste, was ich registrierte, war das Kind, das heulend unter meinem Fenster hockte, die Beine angezogen und das Gesicht in den Händen vergraben. Einige ihrer Haare hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und hingen nun zerzaust in ihr Gesicht. Das zweite was ich registrierte, war, dass alles, was mir gehörte zerstreut auf dem Boden herum lag.

Ich stürzte zu ihr vor und für einen Moment war ich hilflos, da ich nicht wusste, was ich tun sollte. Ich rechnete mit dem Schlimmsten und wagte es nicht, sie anzufassen, aus Angst, ich würde alles nur noch schlimmer machen, doch Amy nahm mir die Hilflosigkeit ab. Das Mädchen stürzte mir in die Arme und begann noch stärker zu weinen, als ohnehin schon. Dabei vergrub sie sich bei mir und ich umarmte sie unsicher. An ihren Armen waren blaue Flecken und für einen kurzen Moment hatte ich einen Blick auf ihr Gesicht werfen können. Ihre Lippe war aufgeplatzt, mehr nicht und es beruhigte mich, dass sie nicht schreiend vor mir zurückwich. Ich nahm das Kind fester in den Arm, zischte beruhigend und streichelte ihren Kopf. In Gedanken sandte ich Danksagungen gen Himmel, dass Morgan ihr nichts Ernsthaftes getan hatte. Wenngleich dieser Mann allem Anschein nach ein Bastard war, so war er zumindest kein Monster, das war etwas Gutes. Nur langsam wurde mir bewusst, dass er sämtliches Hab und Gut von mir durchsucht und auch auseinander genommen hatte, aber ein kurzer Blick zu meinem Geheimversteck lies mir das egal werden.

Ich blieb auf dem Boden hocken und hielt das Kind so lange im Arm, bis es sich beruhigt hatte. Ich war nicht sicher, ob Amy schlief, aber ich wagte es auch nicht, sie los zu lassen, aus Angst, sie würde zerbrechen. Ihr Körper war so viel kleiner als der meine und ihre Arme erschienen mir noch dünner, als ohnehin. Mit jeder Minute, die ich sie weinen oder schluchzen hörte, stieg in mir der Hass und ich wünschte mir, ich könnte Morgan alles zurückzahlen.

Unbewusst löste ich eine Hand aus ihrem Haar und fasste mir an den linken Knöchel. Der Griff meines Dolches war eiskalt durch die Winternacht, dennoch schien er nach mir zu rufen.

Amy hatte nichts mit mir zu tun und dieser Mann würde dafür zahlen, dass er sie geschlagen hatte. Das schwor ich mir. Er würde büßen...

...und wenn ich damit mein neues Leben ruinieren würde!



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