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Das Portal

Die Welt in dir
von

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Graues Weiß

Jeder Atemzug stach in meinen Lungen und ließ mich wiederwillig zusammenzucken, als würde mir jemand Stromstöße verpassen. Reflexartig musste ich Husten und machte alles nur noch schlimmer, so dass ich mich schmerzlich im Bett hin und her wand.

„Sie wird wach!“, erkannte ich Graces schwache Stimme. Sie wirkte müde und ausgezehrt.

„Gott sei Dank.“, flüsterte Ben und seufzte leise.

Langsam und mühselig zwang ich mich die Augen zu öffnen, die sofort und ohne Vorwarnung wie Feuer brannten. Meine Umgebung war unklar. Ich schaffte es kaum zu erkennen wo ich mich befand, geschweige denn die Menschen um mich herum identifizieren zu können, die wie verschwommene Statuen um mein Bett verteilt standen. Lediglich die Stimmen drangen deutlich zu mir hindurch. Die Szenerie kam mir befremdlich vor, als würde nicht ich sie erleben, sondern sie nur als Teil eines Filmes von außen betrachten.

Ich glaubte es würde eine kleine Ewigkeit dauern, bis meine Augen sich einigermaßen an die helle Umgebung gewöhnt hatten und ich den ganzen Trubel tatsächlich visuell fassen konnte. Bis auf Marie - wie sollte es auch anders sein- waren meine Freunde da und schienen schon sehnlichst mein Erwachen zu erwarten.

Benommen blinzelnd schaute ich mich etwas um und versuchte mich langsam aufzurichten.

Skeptisch beäugte Grace mein Tun und schien neben meinem Bett nur darauf zu warten, vom Stuhl aufzuspringen und mir zu helfen. Ihr Gesicht erschien kraftlos und matt und ich wollte nicht wissen, wie lange sie schon dort gesessen haben musste. Immer noch war sie in dieselben Anziehsachen gehüllt, wie an unserem Treffen am Wochenende. Meine Gedanken nahmen die Frage voraus, die ich eigentlich laut stellen wollte, welchen Tag wir hatten doch schließlich sträubte ich mich davor, es tatsächlich wissen zu wollen.

Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, dass ich gar nicht wusste, was eigentlich wirklich passiert war. Ich hatte mich so auf meine Mitmenschen konzentriert, dass in mein Bewusstsein nicht hindurch gedrungen war, dass alle nur wegen mir hier zu sitzen schienen.

„Ist irgendwer gestorben?“, zwang ich mich zu einem erschöpften Lächeln und versuchte die Stimmung etwas zu erheitern, dass ich mit dieser Frage jedoch genau das Gegenteil verursachte, schlug mir wie ein Faustschlag auf den Magen.

Ruckartig traf die Anwesenden eine unsichtbare Ohrfeige und ließ Grace ganz leise aufschluchzen.

Perplex starrte ich in die fassungslosen und bleichen Gesichter. Keiner schien sich zu trauen, mir zu sagen, was geschehen war obwohl sich jeder denken konnte, dass ich keine Ahnung hatte. Anscheinend blieb mir keine andere Wahl, als nachzufragen, bevor ich das nächste Fettnäpfchen anvisierte.

„Was ist denn passiert?“, ertönte meine Stimme nochmals, zunehmend fremder für mich selbst, durch Heiserkeit und das fortwehrende Kratzen im Hals geplagt.

„Kannst du dich denn an gar nichts erinnern?“, fragte Grace mit zittriger Stimme und stand plötzlich auf, um ans verhangene Fenster zurück zu weichen und ziellos hinaus zu starren. Ohne jeglichen Kommentar schritt Jack an sie heran, um sie in den Arm zu nehmen. Nach Minuten langem Schweigen, nahm Ben ihren Platz ein, ebenso kreidebleich und sichtlich neben sich stehend. Die warmen braunen Augen auf die weiße Bettdecke senkend, atmete er mehrmals tief ein und aus bevor er begann zu sprechen.

„Ich kann dir nicht genau sagen was passiert ist. Es war schon geschehen, als Jack und ich etwas mitbekommen hatten. Es ging alles so schnell und wir fühlten uns so hilflos.“ Er rang deutlich nach Luft, um weitersprechen zu können. „Du lagst auf dem Boden. Ein Rettungsassistent vom Schwimmbad war schon da und saß neben dir. Er drückte dir die ganze Zeit auf der Brust herum und beatmete dich zwischenzeitig wieder. Bis wir verstanden, dass er gerade versuchte dich wiederzubeleben, warst du schon auf dem Weg ins Krankenhaus. Du… du warst ganz blau angelaufen und lagst so leblos da. Wir dachten…“ Er brach ab und vergrub sein Gesicht in den, auf dem Bett abgestützten, Händen.

Ein dicker Kloß hatte sich in meiner Kehle festgesetzt, während Grace im Hintergrund aus dem Fenster starrte und leise in Jacks Armen vor sich hin wimmerte.

Sollte das mein Neuanfang sein? Mein Start in bessere Zeiten? In Zeiten, die nicht mehr ganz so eintönig waren wie zuvor?

Ich konnte nicht wirklich fassen, was Ben mir erzählt hatte. Benommen schien ich nur noch einen einzigen Punkt an der Wand zu fixieren und versuchte krampfhaft mich an das Geschehen im Schwimmbad zu erinnern aber es war alles verflogen. Keine Erinnerung wies noch darauf hin, dass ich überhaupt dort gewesen war. Es war, als hätte dieser Tag nie existiert.

Eine Schwester betrat geschäftig in ihren weißen Unschuldskittel gehüllt den kleinen Raum, lief einmal um mich herum um irgendwelche piependen Gerätschaften mit einem prüfenden Blick zu begutachten und meine Freunde schließlich unfreundlich des Zimmers zu verweisen, da die Besuchszeit vorüber war. Wiederwillig verabschiedeten sie sich wie in Trance und verschwanden nach und nach durch die Tür.

Ohne ein weiteres Wort an mich zu richten verschwand auch die Schwester wieder aus meinem Zimmer und ließ mich im fahlen grellen Licht der Deckenlampen zurück. Knirschend fiel die Tür zurück in den Rahmen und ich hatte das Gefühl, nun gänzlich von der Außenwelt abgeschlossen zu sein.

Monoton füllte das Überwachungsgerät die Stille, mit einem penetranten Piepen. Vom Flur drangen Schritte und das Scharren von Essenscontainern zu mir hinein. Leise surrte die Lampe über mir und flackerte unmerklich.

Je länger ich alleine in meinem Bett saß, umso mehr belanglose Laute vernahm ich. Langsam und zittrig ließ ich mich in das weiche Laken zurücksinken. Benebelt starrte ich die Wand mir gegenüber an. Kein Bild thronte an ihr, kein Zeichen von Leben. Nur die leere Wand schien mich höhnisch anzulachen.

Weiße Farbe ist rein und unbefleckt; völlig fern von Dunkelheit und Unglück. Ich glaubte lange, dass ich eine weiße reine Weste hätte - wie man das immer so schön im Volksmund sagte- und es nichts um mich herum gab, was sie hätte trüben können. Aus meiner Sicht waren immer andere Schuld, die meine weiße Weste beflecken wollten; mein Leben erschweren wollten.

Ich begann zu zweifeln. Das Weiß an den Wänden verlor an Kraft und Klarheit, je länger ich es betrachtete. Es wurde grau und wirkte nicht mehr so steril und unnahbar. Meine Weste begann zu bröseln, wie ein trockener Kuchen.

Das Weiß an der Wand hatte für mich plötzlich eine ganz andere Bedeutung angenommen. Deutlich erinnerte ich mich an die hellen Wände in meinem Zimmer, als mein Dad und ich in das neue Haus einzogen. Sie strahlten und wirkten auf mich freundlich und einladend.

Es gab keinen Zweifel daran, dass die Farbe an der Wand in meinem Krankenzimmer die Selbe war aber dennoch war es anders. Ich betrachtete es einfach nicht als die Selbe.

Farberkennung war nichts weiter als eine subjektive Umsetzung des Auges von einzelnen Farben, eines eigentlich so übersichtlichen Farbspektrums. Mal war das Grün leuchtend und satt und am nächsten Tag wirkte es stattdessen mürbe und ausgezehrt.

Meine Gedanken drehten sich im Kreis, fassten jedes Mal wieder dieselbe leidige Frage auf und ließen die Zeit dabei keineswegs verstreichen.

Gemächlich begann es vor den halb geschlossenen Vorhängen zu dämmern. Das Weiß wandelte sich nun endgültig in dunkle und verzerrte Grautöne und drückte unendlich schwer auf mein Gemüt. Die Geräte um mich herum warfen abstrakte Farben an die Wände und ließen das Zimmer fast wie eine Disco für Arme aussehen.

Mein Hals tat fürchterlich weh und jeder Schluckversuch fühlte sich an, als wollte ich einen Tennisball durch meine Speiseröhre quetschen. Trinken fiel mir schwer, denn auch das kühle Wasser war keine Entspannung für die geschundene Lunge und die Schleimhäute durch die sie vermutlich diverse Schläuche geschoben hatten. Eigentlich wollte ich mir nicht bewusst machen, was tatsächlich mit mir geschehen war. Es waren nur Erkenntnisse, die mich weiter hätten schaudern lassen.

Langsam drehte ich mich auf die Seite und schob mir das weiche Kissen weiter unter den Kopf. Krampfhaft versuchte ich die Geräusche um mich herum auszublenden und ein wenig Ruhe zu finden. Ich glaubte es dauerte Stunden, bis ich halbwegs eingeschlafen war.
 

Die Schwestern in diesem Krankenhaus schienen alle samt nicht viel Feingefühl zu besitzen. Am nächsten Morgen wurde meine Zimmertür aufgerissen und ruppig die Gardinen zur Seite gezerrt. Sonnenlicht flutete den Raum und schien durch meine Augenlieder hindurch zu leuchten, als seien sie durchsichtig.

Mürrisch hob ich ein wenig den Kopf.

„Frühstück kommt gleich!“, wurde mir knapp zugerufen, als die Dame in weiß schon fast wieder aus der Tür verschwunden war.

„Glänzend!“, brummte ich leise.

Abermals blickte ich mich müde in dem kargen Zimmer um. Wieso war ich eigentlich dort? Wieso war das alles geschehen? Was hatte ich der Welt da draußen getan, das sie es mir so dankte?

„Frühstück!“, lachte ein junges Mädchen neben meinem Bett und schob den beweglichen Tisch über meine Decke, um darauf den Teller mit Brot und den kleinen Plastikbehältern mit Marmelade und Honig abzustellen. Wie sollte es anders sein, war sie auch schon wieder verschwunden ehe ich mich aufgerichtet hatte.

„Danke!“, nuschelte ich tonlos vor mich hin und starrte auf den Teller. Vermutlich hätten sie es mir auch pürieren können und ich hätte es trotzdem nicht schmerzfrei in meinen Magen transportiert bekommen.

Sekundenlang rang ich mit mir ob ich es essen sollte oder lieber den Schmerzen aus dem Weg gehen sollte. Ich entschied mich entgegen meines knurrenden Magens für das Letztere.

Nachdem der volle Teller wieder abgeholt wurde rollte ich mich auf die andere Seite und starrte regungslos aus den Fenstern. Die letzten Zipfel einer Tanne wogen im unteren Bereich der Scheibe hin und her. Auf der gegenüberliegenden Seite sah man nur weitere Fenster mit den weißen Vorhängen, hinter denen vielleicht auch eine Trübsal blasende Person lag und zurück starrte. Es war fast wie in einem Spiegel. Ein Gedanke der mir keinesfalls behagt. Schlimm genug, dass mir solche Dinge passierten, so wünschte ich, dass wenigstens andere davon verschont bleiben würden. Ein törichter Gedanke aber er hatte einen guten Kern, obgleich seine Verwirklichung mehr als unrealistisch erschien.

Ganz leise und zaghaft klopfte es an meiner Tür. Für einen Moment glaubte ich, es sei nur ein Geräusch von draußen, vor dem Fenster, bis sich das Klopfen etwas energischer wiederholte und ich klar hören konnte, von wo aus es zu mir und meinen abstrusen Fantasien hindurch drang.

„Herein!“, krächzte ich und wurde schmerzlich daran erinnert, dass meine Kehle und meine Lungenflügel immer noch brannten und das das alles kein böser Traum gewesen war.

Zögerlich wurde die Tür etwas aufgeschoben. Neugierig aber auch etwas mürrisch drehte ich mich auf die andere Seite und versuchte mich gleichzeitig etwas aufzurichten. Es gab nicht viele Leute mit denen ich zu rechnen hatte aber das musste nicht zwangsläufig heißen, dass nicht doch jemand unerwartetes kommen würde, daher versuchte ich ein wenig Haltung zu bewahren. Grob schlug ich mit den Fäusten hinter mich gegen das Federkissen, um besser sitzen zu können und wand den Blick währenddessen nicht von dem Türspalt, der immer größer wurde, ab.

Ein schwarzes Büschel Haare schob sich zuerst ins Zimmer und schien den Körper wiederwillig hinter sich her zu ziehen.

Mein Magen verkrampfte sich ein wenig. Sofort erfüllte mich Zwiespalt und meine Gedanken wirbelten wild in meinem Kopf umher. Einerseits freute ich mich ihn zu sehen, andererseits zügelte mich meine Unzufriedenheit und die Unwissenheit über die Gründe der vergangenen Geschehnisse.

„Hallo Beth.“, flüsterte seine klare und weiche Stimme so leise, dass ich sie kaum hören konnte. Vorsichtig, wie ein scheues Reh, betrat er den Raum, schloss nahezu lautlos die Tür und machte wenige Schritte an mein Bett, unschlüssig darüber, was er nun tun sollte.

Ich antwortete nichts. Lange ruhten meine Augen auf ihm, wie er da stand und mit irgendetwas zu ringen schien. Immer wieder schritt er von einem Fuß auf den anderen, schob die Ärmel seines dünnen schwarzen Pullis hoch, griff sich nervös in den Nacken und starrte auf den Boden. Die einzigen Geräusche waren seine scharrenden Schritte und das immer wiederkehrende tiefe Atmen seinerseits. Abermals vergrub er seine Hände in den Taschen seiner dunklen Jeans und betrachtete seine Turnschuhe, wie sie über den Boden glitten. Es blieb still zwischen uns.

Nach einer Weile zog er sich wiederwillig den Stuhl an mein Bett, der in der Ecke des kleinen Raumes stand. Schwerfällig ließ er sich auf das Polster fallen und stütze die Ellenbogen auf den Knien ab. Den Oberkörper nach vorne gelehnt und den schwarzen Haarschopf hängen lassend, schüttelte er mehrmals sacht den Kopf.

„Warum tust du das?“, fragte er schließlich und in seine Stimme war wieder diese Härte zurückgekehrt, die ich das erste und letzte Mal vernommen hatte, als wir in meiner Küche standen und er mich gefragt hatte, was an jenem verhängnisvollen Schultag passiert war. Minutenlang schien er mit jedem Atemzug Stärke gesammelt zu haben, um dieses Gespräch beginnen zu können, ohne letztlich an Zweifeln und Unentschlossenheit zu scheitern.

Jede noch so große Tugend seinerseits änderte nichts an der Situation. Er tut es schon wieder, brodelte der unliebsame Gedanke in mir auf. Ich zügelte mich, wollte nicht schon wieder planlos aus meiner Haut fahren und damit Dinge aufs Spiel setzen, die mir lieb und teuer waren. Er sollte erzählen weswegen er gekommen war, auch wenn die ersten Worte nicht viel Gutes verhießen. Trotz allem wäre ich die letzte gewesen, die ihn dabei hätte unterbrechen wollen.

Wieder dauerte es lange, bis er einsah, dass ich ihm nichts entgegenzubringen hatte.

„Du hast sie nicht getragen. Hab ich Recht?“, resignierte er und klang dabei fast schon etwas wütend. „Ich gab sie dir, weil sie dich beschützen sollte. Nenn es einen Glücksbringer, wenn du magst. Ein Glücksbringer kann dir jedoch kein Glück bringen, wenn du ihn nicht trägst. Du hattest es mir versprochen Beth. Versprochen. Weißt du was das heißt? Ich habe mich auf dich verlassen, auf dein Versprechen mir gegenüber verlassen. Warum tust du das?“

Seinen Kopf in den, auf den Knien abgestützten, Händen legend atmete er schwer und schüttelte wieder mehrmals unmerklich den Kopf.

Langsam hatte ich das Gefühl, dass sich eine unsichtbare Spannung in dem kleinen Raum aufbaute und die Luft zu elektrisieren schien. Wir stritten nicht. Noch nicht. Aber dennoch war etwas Schweres und Belastendes zwischen uns getreten.

„Willst du damit sagen, dass das was passiert ist meine Schuld ist, weil ich deine Kette nicht getragen habe?“, fragte ich und bemühte mich angestrengt, vollkommen gleichgültig zu klingen. Würde ich auch nur das kleinste Anzeichen von Wut aufzeigen, würde er die Diskussion vorerst auf sich beruhen lassen, weil er genau wusste, dass es mich zu diesem Zeitpunkt zu sehr anstrengen würde. Also versuchte ich ruhig zu bleiben, unberührt von der Tatsache, dass er mir in befremdlicher weise fast schon zu verstehen geben schien, dass es anscheinend meine Absicht war zu ertrinken. Das war meiner Logik entsprechend zumindest die einzig naheliegende Botschaft, die er mir mit diesen Worten vermitteln wollte.

Jeder Klang der meine Kehle verließ hinterließ ein unangenehmes Kratzen und bereitete mir Unbehagen vor jedem nächsten Satz, den ich gedachte auszusprechen.

„Es geht hier nicht um Schuldzuweisungen.“, seufzte er, ohne dabei aufzublicken. „Ich…“, er brach ab und stand auf. Ohne jeden weiteren Kommentar schritt er an meinem Bett vorbei ans Fenster und starrte regungslos hinaus. Seine Wut schien wieder abgeklungen zu sein und die mir bereits bekannte Wehmut hatte ihn erneut ergriffen und umklammerte sein Herz; ließ ihn Schweigen über Dinge, die er wünschte aussprechen zu können.

Ich wusste nicht was ich alles dafür getan hätte, um ihm diese Last zu nehmen und endlich zu erfahren, was mit ihm los war. Leise seufzend zog ich meine Decke etwas weiter hoch und musterte bedrückt den Baumwollbezug. Was sollte ich ihm sagen, ohne ihn zu verletzen; ohne ihm deutlich zu machen, wie sehr er mir mit allem weh getan hatte und mich enttäuscht hatte?

„Ich würde dir gern das sagen, was du hören willst… würde dir gerne erzählen, warum das alles ist, wie es ist. Aber das kann ich nicht.“

„Was soll das heißen du kannst es nicht? Ich weiß noch nicht einmal, was genau du meinst. Du bist so merkwürdig in den letzten Wochen und ich weiß einfach nicht warum. Habe ich dir irgendwas getan oder dich irgendwie verletzt? Ist in deiner Familie irgendetwas passiert oder magst du mich einfach nur nicht mehr? Rede doch mit mir Nanuk. Du kannst nicht den Rest deines Lebens vor mir davon laufen!“, krächzte ich mit Mühe und spürte machtlos, wie mir das Wasser in die Augen schoss.

„Es geht hier nicht um uns. Das durfte es nie.“, hauchte er atemlos und die Trauer und Verzweiflung in seiner Stimme schnürte mir die Kehle zu. „Es geht um dich.“

Verkrampft stütze er sich mit einer Hand an der Glasscheibe ab und es sah aus, als würde auch er versuchen die Tränen zu unterdrücken. Seine Schultern zitterten etwas, während er sich wortlos mit Daumen und Zeigefinger über die Augen strich. Sekundenlang rührte er sich nicht, kämpfte vehement damit seine Fassung zu bewahren und seinen Gefühlen keinen freien Lauf zu lassen.

Wie sehr ich mir doch wünschte, er ließe zu er selbst zu sein.

„Wie kam es überhaupt dazu? Deine Freunde wollten mir nicht wirklich etwas erzählen. Ich schätze sie mögen mich nicht.“, fragte er tonlos und doch konnte ich das kaum merkbare Beben in seiner Stimme noch immer vernehmen. Ich kannte ihn einfach zu gut.

Der Gedanke alles zu erzählen und es damit noch mal zu durchleben ließ mich schaudern aber ich glaubte dadurch vielleicht etwas zu erreichen und ihn dazu zu bewegen, mir etwas von den Dingen zu erzählen die er so unnachgiebig für sich behalten wollte.

Wieder befand ich mich in der Selben Situation, wie noch vor wenigen Wochen und wieder steckte mir ein dicker Kloß in der Kehle.

„Ich weiß nicht was du hören willst. Wir wollten doch nur schwimmen. Ich weiß nicht was daran so schlimm war. Grace und ich hatten uns in den Whirl Pool gesetzt, um ein wenig in Ruhe zu reden und das schöne Wasser zu genießen. Ich weiß nicht was passiert ist. Ich muss eingenickt sein. Plötzlich war überall Wasser um mich herum. Ein Meermensch sprach mit mir und sagte irgendwann es sei noch nicht Zeit. Danach wachte ich im Krankenhaus wieder auf.“, meine Stimme bebte und die quälende Verzweiflung, warum mir so etwas passiert war, brach aus mir heraus, wie ein Wasserfall aus einer Gebirgsquelle. Tränen rannen langsam über meine Haut und verursachten kleine dunkle Stellen auf dem Laken unter mir.

Plötzlich durchfuhr mich eine zweite elektrisierende Welle des Schauderns. Ich berichtete Nanuk so selbstverständlich von den Dingen die geschehen waren, dass ich selbst erst gar nicht begriff, dass ich zuvor nicht in der Lage gewesen war mich an sie zu erinnern. Aufgewühlt versuchte ich einen Punkt auf meiner Bettdecke zu fixieren und mir krampfhaft eine logische Erklärung dafür einfallen zu lassen.

Bedächtig schritt Nanuk im selben Moment an meine Seite, zog den Stuhl nun ganz an mein Bett und ergriff meine Hand. Er hielt sie nicht fest aber auch nicht lose zwischen den seinen. Es fühlte sich an, als hätten sich seine Hände, wie eine schützende Hülle um die meinen gelegt, stets bereit zuzupacken und mich zu halten, sollten sie es müssen. Nur ganz sacht berührte sich die Haut, wie ein zarter Windhauch.

Schlagartig nahm mich nun eine ungewohnte innere Ruhe ein. Meine aufkeimende Panik und die Ratlosigkeit über das momentane Geschehen verkrochen sich ganz langsam wieder dahin zurück, woher sie gekommen waren. Es fühlte sich an, als hätte jemand den unendlich schweren Stein von meiner Brust genommen, der meine Lunge daran hinderte ihrer normalen Arbeit nachzugehen.

Minuten verstrichen, bis ich meine Stimme wieder fand und die Tränen etwas versiegt waren. Ich war nicht allein. Er war da und er würde immer da sein. Zumindest war es das, was mir diese Geste hätte vermitteln können. Und ich ließ zu, dass sich dieser Gedanke als der richtige verfestigte.

„Erzähl wie es dort war. Was hast du gesehen?“, fragte er leise.

Schleppend und mit immer wiederkehrenden Pausen versuchte ich ihm zu erzählen, was sich mir für eine Welt gezeigt hatte, was der Meermensch gesagt hatte und wie unerwartet ich aus diesem Geschehen gerissen wurde.

„Warum willst du das alles so genau wissen?“, wollte ich erfahren, doch schaute ich ihn, die Antwort abwartend, nicht an. Ich hatte nicht die Kraft den von mir erwarteten Blick zu ertragen. Seine Stimme verriet mir Neugierde, gepaart mit einer unsicheren Anteilnahme und dem unterdrückten Hauch von Wehmut und Trauer.

„Dein Herz hat lange nicht geschlagen. Wenn du dich dennoch ohne größere Lücken an alles erinnern kannst, hat dein Gehirn vermutlich keine Schäden davongetragen.“, antwortete er tonlos und starrte in Gedanken aus dem Fenster. Die grünen Augen leer und ausdruckslos auf die gegenüberliegende Hauswand gerichtet, wirkte er in sich gekehrt und einer Situation ausgeliefert, die ihm nicht nur missfiel sondern ihn innerlich fast zu zerreißen schien.

Die Antwort war logisch aber für mein Verständnis so unpassend, wie selten etwas, was er je erwähnte. Ich versuchte nicht mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was er mit dieser Aussage nun wieder verbergen wollte. Eine innere Gewissheit sagte mir, er würde mir es so oder so nicht offenbaren.

„Du musst diese Kette tragen Beth! Bitte!“, sagte er plötzlich eindringlich und blickte mich nach langer Zeit endlich wieder an. Fordernd bohrten sich die leuchtend grünen Augen in die meine und zwangen mich regelrecht dazu den Blick abzuwenden.

„Was soll das Nanuk? Meinst du eine kleine Kette könne mich von all dem Unheil auf der Welt bewahren?“, antwortete ich leise aber bissig.

„Nein. Sie beschützt dich vor dem Unheil in dir.“, flüsterte er.

Ich musste mich unwahrscheinlich anstrengen, um die Worte zu verstehen und gönnte mir lieber noch einen Augenblick länger, in dem ich abwog, ob ich gerade richtig verstanden hatte, was er gesagt hatte.

„Dem Unheil in mir?“, wiederholte ich und konnte den aufkeimenden Zorn nicht mehr verbergen.

Als habe ihn jemand geohrfeigt, zuckte er zusammen und schien erst jetzt die Tragweite seiner Worte vollends zu fassen. Seine Haltung versteifte sich und seine Gesichtszüge gefroren.

„Sie soll dich nur daran erinnern, wie gefährlich es für dich ist, wenn du immer vor dich hin träumst. Du siehst doch was dabei heraus kommt.“, versuchte er sich verzweifelt mit einer Ausrede zu retten.

„Also willst du doch sagen, dass ich an dieser Situation selber Schuld bin? Ist es das weswegen du hergekommen bist Nanuk? Um mir zu sagen, dass mich meine Träumereien umbringen werden?“, die Ungläubigkeit in meiner Stimme war mir im ersten Moment selbst fremd.

„Nein natürlich nicht. Beth, versteh doch. Ich will dich nur schützen.“, die verzweifelte und brechende Stimme seinerseits, veranlasste mich keinesfalls ruhiger zu werden.

„Du willst mich vor mir selbst schützen, ja! Hab ich das jetzt richtig verstanden?“, schrie ich anfänglich, bis meine Stimme in ein verächtliches Kratzen überging.

„Ruhe dich aus. Du bist noch zu schwach um dich so aufzuregen. Bitte Beth. Es tut mir Leid. Ich hätte nicht herkommen dürfen.“, bat er und versuchte mich nun mit sanfter Gewalt in mein Kissen zurückzudrücken.

„Richtig! Du hättest nicht herkommen dürfen. Wenn du mir nur zu sagen hast, dass ich eine Gefahr für mich selbst bin, dann geh!“, knurrte ich bösartig und zeigte so energisch und selbstsicher, wie ich in diesem Moment sein konnte zur Tür.

Nanuk traf es wie ein Schlag. Vollkommen perplex starrte er mich sekundenlang irritiert an.

„Das meinst du nicht so. Überleg dir das noch mal.“, versuchte er mich umzustimmen.

„Raus!“, keifte ich und musste danach schmerzhaft auf husten. Jedes weitere Wort war nun nur noch mit Pein verbunden, so dass es mir noch nicht einmal über die Maßen leid tat ihn hinauszuwerfen.

Abermals starrte er mich fassungslos an. Sein Wille schien gebrochen. Nach und nach entwich jegliche Stärke und Wärme aus seinem Blick. Langsam ließ er die Arme fallen und senkte den Kopf. Ein sachtes Beben schlich sich in seine Atmung und seine Schultern schienen kurz zu zittern.

„Wie du meinst.“, antwortete er tonlos. Kein Hauch von Reue, Trauer oder Mitleid schwang in seinen Worten mit. Achtlos schob er den Stuhl wieder in seine Ecke zurück, verharrte dort einen Atemzug lang und schritt dann ohne jeglichen Kommentar aus der leise aufschwingenden Tür hinaus.

Auch wenn mein Stolz und meine Sturheit mich zum Schweigen zwangen, so hatte ich noch im selben Augenblick, in dem er den Raum verließ, die Befürchtung etwas abgrundtief Falsches getan zu haben.

Er sah so verletzt und gekränkt aus, dass ich nicht glauben konnte, dass er in den nächsten Tagen noch mal wieder kommen würde. Je mehr Zeit verstrich desto näher rückte mir eher die schmerzliche Erkenntnis er würde gar nicht mehr wieder kommen. War ich zu weit gegangen? Was erwartete er bloß von mir?

Am liebsten hätte ich mich selbst geohrfeigt. Für was auch immer war mir im ersten Moment ziemlich gleich. Zum einen versuchte ich mir einzureden, dass ich mir keine Vorwürfe machen bräuchte, denn schließlich war ich die Verletzte und er wollte mir zusätzlich einreden, ich hätte selbst Schuld daran getragen. Andererseits hatte er stets unanfechtbar immer nur das Gute für mich gewollt und jetzt zu glauben, dies hätte sich geändert war mein Verrat an unserer Freundschaft.

Langsam beschlich mich der Gedanke, dass meine Beziehung zu Nanuk nur noch aus Entschuldigungen für sein Verhalten und Rechtfertigungen für meine Leiden bestand. Nichts sehnlicher wünschte ich mir, als das es einfach wieder so sein könne wie vor einigen Wochen.

Vor Schmerz das Gesicht verziehend drehte ich mich wieder auf die Seite und schaute aus dem großen Fenster. Die Sonne ging langsam auf, doch hier in der Stadt wirkte dennoch alles trostlos und dunkel. Mit der Zeit hatte ich aufgehört die Tage zu zählen, denn sie strichen so belanglos an mir vorüber, wie sonst nur Minuten. An keinem Tag geschah noch etwas ausgesprochen Nennenswertes, weswegen man sich an ihn erinnern müsste. Einzig die Tatsache, dass mich Grace und die Anderen nicht besuchten, ließ mich glauben, dass es in der Woche sein musste und sie in der Schule saßen.

Vehement versuchte ich den Gedanken zu verdrängen, was erst passieren würde, wenn ich wieder in der Schule war; wie mich alle anstarren würden, als sei ich eine Aussätzige. Noch mehr pochte in mir die Angst davor Nanuk wieder unter die Augen treten zu müssen.

Abermals in den letzten Wochen war ich innerlich fassungslos über die unerwartete Wendung unserer immer so verständnisvollen und liebevollen Freundschaft und wieder versuchte ich selbstquälerisch eine Ursache für diese Entwicklung zu finden. Stundenlang zermarterte ich mir mein Hirn über das Wenn und das Aber und kam letztlich doch keinen Schritt voran. Ich hoffte so inständig, dass es für das alles einen plausiblen Grund gab und das er sich mir bald offenbaren würde.

Die Tage zogen sich wie ein zähes Kaugummi. Viel zu viel Zeit stand mir zur Verfügung, um über so viele Dinge nachzudenken. Zeit, die ich freiwillig nie für so etwas hätte haben wollen. Immer und immer wieder versuchte ich eine Antwort auf alles zu finden. Doch so viele Dinge wurden mir grundsätzlich erst richtig bewusst, wenn das Ereignis an sich bereits schon lange geschehen war.

Eigentlich hatten wir erst richtig begonnen uns zu streiten, als Nanuk die Kette erwähnte, die er mir geschenkt hatte. Ich wusste nicht, warum er so darauf beharrte, dass sie mich schützen würde. Hätte er mir doch jemals etwas von dem was er tat erklärt. Vielleicht war die Antwort auf so viele Fragen so leicht und dennoch kam ich einfach nicht darauf.

Letztendlich glaubte ich, dass die Kette ein altes Erbstück hätte sein können oder etwas, dass ihm viel bedeutete. Was wäre so schwer daran gewesen mir dies mitzuteilen. Ich hätte so vieles verstanden und so vieles respektiert aber was sollte ich tun, wenn man nicht mir redete und ich unwissend blieb.
 

Tage später, als ich mich bereits fragte, wie ich nach Hause gelangen sollte, kam Dad unerwartet durch die Tür und starrte mich sekundenlang fassungslos an.

Im ersten Moment glaubte ich er würde zu einer Standpauke ansetzen und starrte ihn nur abwartend und den Atmen anhaltend an.

Ausdruckslos kam er auf mich zu, wartete einen Augenblick an meinem Bettrand und senkte sich dann zu mir hinunter, um mich so fest in den Arm zu nehmen, dass ich glaubte meine Rippen knirschen zu hören.

„Tue das nie wieder! Jage mir nie wieder so einen Schrecken ein! Das erste was wir machen, wenn du hier raus bist, ist ein Handy für dich zu kaufen!“, raunte er mir mit erstickender tiefer Stimme ins Ohr und ich glaubte nach kurzer Zeit ein Schluchzen zu vernehmen.

Völlig verdutzt erwiderte ich erst nach einer langen Schrecksekunde seine Umarmung und fühlte mich dabei, seit so vielen Jahren, dass erste Mal wieder richtig geliebt und aufgehoben.

„Es tut mir Leid.“, flüsterte ich zaghaft und rang selbst mit den Tränen.

Es kam mir fast wie eine Ewigkeit vor, wie er da halb auf meinem Bett lag und mich im Arm hielt, unfähig einfach loszulassen. Vielleicht tat er es nur, um seine Tränen zu verbergen und uns Beiden die peinliche Situation zu erleichtern. Ich hatte meinen Dad noch nie weinen sehen und für ihn war es ein fürchterliches Zeichen von Schwäche. Er war nicht der Mensch der gerne Schwächen zeigte.

Als er sich langsam wieder gefasst hatte, so schien es mir, ließ er behutsam von mir ab, schlich mit hängenden Schultern durch den Raum und schob sich den einzigen weißen Stuhl an meine Seite.

Ich glaubte zu wissen was nun kommen würde; welche Fragen er nun stellen würde. Entgegen meiner Befürchtungen schwieg er.

Den Kopf bedächtig gen Boden gesenkt und die Hände unter dem Kinn gefaltet hockte er da. Völlig in sich gekehrt und in Gedanken verloren, bemerkte er nicht, dass ich ihn fragend anschaute.

Jedes Mal wenn er von einer Geschäftsreise heimkehrte glaubte ich, er sei wieder ein wenig mehr gealtert. Falten, die sich vertieft hätten. Haut, die bleicher geworden sei. Weiße Haare, die sich unliebsam vermehrt hätten.

Dieses Mal war es anders. Er wirkte zermürbt und ausgezehrt. Sein herb duftendes After Shave kroch mir nur noch unauffällig in die Nase. Das weiße Hemd wirkte grau und war faltig. Locker hing die dunkel blau gestreifte Krawatte um seinen Hals und baumelte sacht vor seiner Brust hin und her. Ich glaubte auf seiner dunklen Nadelstreifenhose noch einen zarten Senffleck erkennen zu können und amüsierte mich innerlich ein wenig über die Vorstellung, dass dieser vermutlich entstanden war, als er die Nachricht über meine missliche Lage erhalten hatte. Er war ein sehr sauberer Mann und achtete stets auf sein Äußeres, weswegen ich nicht glaubte, dass er lange freiwillig mit einer beschmutzten Hose herum laufen würde. Vermutlich hatte er sich seit seiner Abreise aus Europa noch nicht einmal zu Hause blicken lassen, um sich umzuziehen, geschweige denn zu waschen.

Manchmal wog er den Kopf ein wenig hin und her aber letztlich wusste er genau, dass es keiner Worte bedurfte, um mir seine Gefühle mitzuteilen. Ich wusste nur zu gut darum.

Trotz der vielen wiederkehrenden törichten Gedanken, dass mich meine Familie anscheinend als Luft wahrnahm, so war ich mir doch in diesem Moment sicher, dass mein Dad ganz allein für mich da war und in seinem Inneren nichts weiter Platz hätte, als der Schmerz und die Trauer über das Vergangene Ereignis und die momentane Fassungslosigkeit und Freude mich wohlauf vorzufinden.

Stundenlang verbrachte er nahezu regungslos an meinem Bett. Ich genoss jede Minute unabhängig davon, dass wir Schwiegen. Im Laufe des Abends erschien einer der vielen Ärzte und erklärte endlich, dass ich entlassen werden könnte.

Geschäftig war bereits zeitgleich eine Schwester dabei meine Sachen, die mir Grace gebracht haben musste, in meine Tasche zu packen und diverse Sachen aus dem kleinen Bad zusammenzutragen.

Danach entschloss sie sich endlich mich von den unzähligen piependen Geräten zu trennen, so dass einer nach dem Anderen verstummte, bis nur noch das Scharren der Schritte vom Flur zu hören war.

Ich konnte es kaum noch abwarten nach Hause zu fahren und meinen Mikosch wieder in die Arme zu nehmen, von den unzähligen Büchern, die ich eigentlich schon hätte gelesen haben wollen mal ganz abgesehen.

Dad machte sich schnell nützlich und half mir überfürsorglich aus dem Bett, nahm schließlich meine Tasche und ging schnellen Schrittes ohne jedes Wort hinaus, die Tür hinter sich schließend. Ich brauchte einen Augenblick um seine Geste zu begreifen. Er hatte schon Recht damit, dass es gänzlich ungünstig erschien in einem Krankenhaushemd in der Kälte herum zu laufen.

Langsam pellte ich mich aus dem dünnen Stoff und zog mir meine normalen Sachen wieder an. Einerseits wirkte es etwas beengend auf einmal wieder die feste Jeans an den Beinen zu spüren und keine luftige Freiheit aber andererseits fühlte ich mich dadurch wieder ein riesiges Stück selbstsicherer und vor allem gesünder. Allein das Tragen eines Krankenhauskittels veranlasst Besucher dazu einen fragend anzugucken, wenn man den Flur passiert, als hätten sie es sich zur Aufgabe gemacht bei jedem Patienten herauszufinden an welcher Krankheit er wohl litt.

Langsam gingen wir durch die langen Korridore des Gebäudes. Dad schaute immer wieder hinter sich, ob ich noch da war und es mir gut ging. Mit der Zeit kam ich mir etwas albern vor, so dass ich ihn jedes Mal etwas finster anstarrte, wenn er wieder nach hinten blickte. Er begriff schnell und ließ es schließlich bleiben.

Matt und etwas schleppend schob er die schwingende Glastür nach draußen auf und sofort wehte mir der kühle frische Wind um die Nase und machte mich auf einen Schlag so viel lebendiger, wie es kein Medikament vermochte.

Wie ein junges Reh sprang ich regelrecht nach draußen und blickte in den blauen Himmel hinauf. Der helle strahlende Schnee funkelte von überall her und machte mich im ersten Moment fast blind, war mir dieser Anblick doch lange verwehrt geblieben.

Schnellen Schrittes wand ich mich durch die unzähligen Autos die auf dem Parkplatz vor dem Eingangsbereich standen, zu unserem kleinen Flitzer hindurch und schritt ungeduldig wie ein kleines Kind neben der Beifahrertür hin und her. Dad kam nur langsam nach und starrte mich teils entrüstet, teils aber auch lächelnd über die Tatsache, wie schnell ich unser Auto gefunden hatte an.

Die Fahrt von der Stadt nach Hause war mir noch nie so lang vorgekommen.

Es dämmerte langsam als wir die Einfahrt hinauffuhren. Die ersten Lichter brannten bereits wieder in den mit Holz verkleideten bunten Häusern unserer Nachbarn und ließen den Schnee auf den Fenstersimsen Funkeln und Leuchten.

Ich war gerade aus dem Wagen gestiegen, als mir Mikosch bereits miauend um meine Beine schnurrte und mir deutlich zeigte, wie sehr er mich vermisst hatte. Der rot getigerte Kater folgte mir aufgeregt bis zur Haustür und schien kaum abwarten zu können, endlich wieder seinen alt eingesessenen Platz auf meiner Fensterbank einzunehmen und sich von mir Kraulen zu lassen, während ich ein Buch las.

„Warte damit ich dir hinaufhelfen kann!“, mahnte Dad doch es war zu spät. Kaum hatte er sich umgedreht, um die Haustür wieder hinter sich zu schließen, sprintete ich bereits mit Mikosch die Treppe hinauf. Ich musste gestehen, dass es mir einen undankbaren Schmerz in den Lungenflügeln einbrachte aber der war schnell verfolgen, als ich mich auf mein eigenes Bett fallen lassen konnte, riechen konnte, dass es nach meinem Shampoo roch und hier und da mit Kekskrümeln bestückt war.

Leise seufzend stand ich auf, schritt in Gedanken planlos durch mein Zimmer und freute mich allein über die Tatsache wieder zu Hause zu sein. An meinem Lieblingsplatz blieb ich schließlich stehen.

Mikosch hatte sich wie erwartet auf der gepolsterten Fensterbank niedergelassen und schaute mich neugierig aus seinen grünen Augen an. Sacht zwinkerte er mir zu und begann bereits bei der kleinsten Aufmerksamkeit die ich ihm schenkte nahezu lautlos zu Schnurren.

Die Ruhelosigkeit fiel langsam und sehr zäh von mir ab. Gedankenlos ließ ich mich neben Mikosch nieder und blickte aus dem Fenster in den Wald an unserem Garten hinaus, die Bergkuppe hinauf und über die einzelnen Wolken hinweg. Die letzten glühenden Reste der Sonne färbten den Himmel rot violett und ließen den Schnee auf den mächtigen Bäumen, rings um die Häuser in jeglichen Abwandlungen dieser Farben schimmern.

Langsam wanderte mein Blick vom Himmel, über die Wolken und die Wälder wieder zurück an den Rand unseres Gartens. Gerade als ich mich vom Fenster wegdrehen wollte, glaubte ich am Waldrand jemanden stehen zu sehen. Ich drehte den Kopf wieder etwas zurück, um die Stelle genauer ins Visier zu nehmen.

Ich sah gerade noch wage Umrisse einer männlichen Person, die in den Schatten zwischen den Bäumen verschwand und nach und nach von der tiefen Dunkelheit verschluckt wurde, bis letztlich nichts mehr zu erkennen war. Erst als ich fest überzeugt war nichts mehr zu sehen, spürte ich wie mir ein eisiger Schauer über den Rücken gelaufen war.

Es gab nur einen, der den schmalen Pfad hinter unserem Haus kannte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Taroru
2010-04-26T21:49:30+00:00 26.04.2010 23:49
yey XD
endlich weiter lesen ^^ wurde ja echt mal zeit das wieder ein kappi kam ;p

hab ich dir eigentlich schon mal gesagt das ich mich in diese bildhafte sprache verliebt habe? es ist alles so klar und doch verworren geschrieben, ich kann mir jedenfalls alles sehr gut vorstellen, von der handlung, von den gesprächen, und auch von den orten...
man kann das wirklich alles sehr gut nachvollziehen ^^ es wirkt nicht überzogen oder aufgezwungen sondern locker und leicht erzählt.
es macht wirklich spaß das geschehen zu verfolgen und es wird auch immer mehr spannung aufgebaut....
ich mag die charas auch immer mehr XD auch ihren vater ^^ ich kann ihn mir richtig gut vorstellen...

wann gibt es das nächste kappi? muss ich da auch wieder so lange drauf warten? XD *lach*



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