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Nullpunkt

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Wichtig! Bitte lesen!

Auf Tumblr schon angekündigt, aber jetzt auch hier. Ist hier überhaupt noch wer von meinen alten Lesern? Aber gerne auch Hallo zu den Neuen. Jedenfalls werde ich Nullpunkt zu November hin selbst veröffentlichen. Dass heißt, ihr könnt diesen Roman hier direkt bei mir gedruckt und illustriert kaufen. Jedes Kapitel wird eine Illustration haben, und insgesamt wird der Roman voraussichtlich so 300 Seiten haben und 10 Euro kosten.
Uuund es wird ein extra Kapitel geben, nämlich den Epilog hier, den ich mit diesem Kapitel anteasere! Babämm. Eine Sache noch, ich hatte das Gefühl, dass bei den Lesern auch ein paar sehr talentierte Zeichner dabei sind und ich hatte mir überlegt, ob ich am Ende eine kleine Fanart-Galerie machen soll? Hätte da jemand Interesse, ein Fanart für Nullpunkt zu machen? Leider gehen nur schwarz/weiß Illustrationen im Din Format wegen dem Druck. Aber ich würde sie dann hinten im Buch mit euren Namen und gerne auch social media, portfolio abdrucken. Also keine Ahnung, ob da überhaupt wer was machen will, aber uhm ja ... Der Roman geht am 24.10. in den Druck, deshalb wäre die Abgabe für das Fanart so der 20.10. o_o
Würde mich generell - auch gerne per ENS - über Rückmeldungen freuen, auch zu der Idee mit dem gedruckten Roman. Man darf dann auch gerne schon bei mir vorstellen, wenn schon jemand ganz sicher weiß, dass er den Roman will, komme was wolle. (Gibt es da überhaupt wen?) Aktuell bin ich damit beschäftigt, alles Korrektur zu lesen und hier und da ein paar Logikfehler auszumerzen. O__O Alles sehr aufregend. Aber keine Sorge, der Roman bleibt hier auch weiterhin online.

Viel Spaß beim Epilog Teaser. Komplett anzeigen

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Behutsam schließt man die Augen der Toten; ebenso behutsam muss man den Lebenden die Augen öffnen.

Die weißen Wände hallten das leere Gefühle in mir wieder. Es hing der unangenehme Geruch nach Desinfektionsmittel und sterilem Tod in der Luft. Ich schüttelte kurz den Kopf, als würde das irgendwas an der Situation ändern.

Ihr Körper wirkte sehr klein auf der metallenen Barre und ich tat mir schwer sie in den fahlen, leblosen Gesichtszügen wieder zu erkennen. Sie sah nicht aus, als würde sie schlafen. Sie hatte überhaupt nichts von dieser seligen Ruhe, von der alle sprachen, wenn man den Tod beschönigten wollte.

Ich lenkte meinen Blick weg von ihrem Gesicht, das jetzt so fremd wirkte und suchte nach etwas von ihr, dass mich an sie erinnerte. Vielleicht hoffte ich ja auch nichts zu finden, die naive Hoffnung, das einfach alles ein Irrtum war.

„Der Arzt kommt gleich.“, wurde ich angesprochen.

Ich schaute auf und betrachtete mit einem befremdlichen Gefühl den Pfleger in den blauen Krankenhausklamotten. Er wirkte wie ein Fremdkörper in dieser Umgebung, mit der gebräunten Haut und dem zuversichtlichen Lächeln im Gesicht. Viel zu lebendig und viel zu fehl am Platz. Wahrscheinlich war er nicht mal ein richtiger Krankenhausmitarbeitern, sondern nur ein Zivi, der keinen Bock auf Bund gehabt hatte. Er hatte nichts von dieser kränkelnden Art dieses Orts an sich und ich war froh, als er den Raum verließ. Seine Anwesenheit war einfach zu viel gewesen.

Kurz lauschte ich dem Geräusch der geschlossnen Türe nach und fühlte mich allein gelassen in dieser riesigen, weißen Halle.

Ihr Körper und das Fehlen an Leben schien den ganzen Raum einzunehmen und ich musste mich zwingen, wieder zu ihr zu sehen. Es krampfte sich etwas in mir zusammen, als mein Blick schließlich auf ihre alten, runzeligen Hände fiel. Ich kannte diese Hände.

Ich fühlte mich plötzlich irgendwie erschöpft und hatte das Bedürfnis mich zu setzen. So als hätte die entgültige Bestätigung über ihren Tod einer ungewohnten Schwere in mir Platz gemacht. Ich löste meinen Blick von ihr und schaute mich in dem Raum nach einer Sitzgelegenheit um. Ich entdeckte zwei Stühle an der Wand und beschloss, dass man es mir verzeihen würde, wenn ich mich jetzt hinsetzten würde, um alles irgendwie ein bisschen besser verarbeiten zu können.

Es wäre vermutlich angebracht jetzt Tränen über ihren Tod zu vergießen, aber bis auf das Ziehen in meinem Magen und ein beständiges und unangenehmes Puckern in meinem Kopf fühlte ich gar nichts. Da wo Gefühle sein sollten war alles leer gefegt und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das normal war. Dieses geheuchelte Tränenvergießen und die überwältigende Trauer, was man bei Filmen immer sah, im Moment konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese Szenen jemals der Realität entsprungen waren.

Es war nichts so, wie man sich das vorgestellt hatte. Man hatte komische, abstrakte Gedanken im Kopf, wenn man über den Tod nachdachte, aber sicher nicht, dass man nichts fühlte, wenn er einem begegnete. Kurz beschlich mich die Angst, dass es vielleicht auch nur an mir lag und das sie mir zu wenig bedeutet hatte, als das ich um sie trauern konnte. Dieses Gefühl war erschreckender, als die ganze Situation an sich.

Ich schaute erleichtert auf, als ich das Geräusch von Schritten hörte, die sich mir näherten.
 

Meine Wohnung sah unordentlich aus, nein, das war untertrieben, sie sah verheerend aus. So als hätte ein fürchterliches Gemetzel darin stattgefunden und man hatte nur die Gnade besessen, die Leichen, Körperteile und das Blut zu beseitigen. Der altmodische Wandschrank und die Couch mit ihrem 60igere Charme lagen in Trümmern vor mir, genau wie die anderen Teile der altbacknen Einrichtung. Der gerüschte Vorhang hing auf Halbmast an der Gardinenstange und die retro Blümchentapete hatte man brutal von den Wänden gerissen, sie lag geschlagen am Boden. Die Trümmer meiner Existenz.

Die selbstverursachten Trümmer, um genau zu sein.

Ich war in dieser Wohnung groß geworden, auf der unbequemen Couch mit Sprungfedern hatte ich immer gesessen und selbst gebackene Plätzchen gegessen, während meine Großmutter mir spannende Geschichten über ungezogene Kinder, Orte, die weit weit enfernt waren und Fabelwesen erzählt hatte. Mein Großvater war daneben in dem dazu passenden Sessel gesessen und hatte Zeitung gelesen oder Radio gehört. Es war eine schöne Erinnerung, aber nur solange, bis man in diesem Wohnzimmer stand, alles vor sich sah und wusste, dass es nie wieder so sein würde.

Ich spürte immer noch, wie meine Hände schmerzten und ich mir die Finger an der Tapete fast blutig gekratzt hatte, bis ich Werkzeug zu Hand genommen hatte. Ich schaute mich um. Zeit für Veränderung, oder? Man konnte doch nicht immer in der Vergangenheit leben, sich wünschen, dass Erinnerungen wieder lebendig wurden.

Aber im Moment hatte ich leichte Zweifel, ob das vielleicht der richtige Weg dafür gewesen war. Wenn ich mir meinen Kontostand ins Gedächtnis rief, war die ganze Aktion eventuell sogar ziemlich bescheuert gewesen. Ich hatte wahrscheinlich gerade mal das Geld, um den Kram entsorgen zu lassen. Aber bestimmt nicht genug Kohle, um mir neue Möbel zu kaufen. Zeit für Veränderung... Warum nicht mal einen neuen Lebensstil ausprobieren? Man sollte sich doch sowieso nicht so an Materiellem aufhängen und eine spartanisch eingerichtete Wohnung konnte doch auch ihren Charme haben. Naja, wie auch immer, zumindest hatte ich noch ein Bett in dem ich schlafen konnte und das war ja die Hauptsache. Jedenfalls würde das reichen, bis ich vielleicht mal wieder Geld zusammen hatte.

Verdammt, manchmal war es einfach so, als würde alles bei mir ausklinken und dann zerstörte ich Möbiliar? Ich konnte mir doch gar keine Rockstarallüren leisten. Ich seufzte und fragte mich wieder, was ich mit diesem Trümmerhaufen anfangen sollte. Eine Möglichkeit wäre es, einfach ein Schild davor zustellen mit der Aufschrift „Mein Leben“ und das dann als tiefbewegte Kunst zu verkaufen. Könnte funktionieren, aber ich fühlte mich momentan emotional nicht in der Verfassung mich und meine „Kunst“ zu prostituieren. Anderseits, wer weiß, ich könnte mir neue Möbel davon leisten und....

Ich sollte Eddy anrufen, ich sollte ihn sowas von anrufen. Ich drehte schon wieder völlig ab. So eine Scheiße. Vielleicht lag es am Kaffee, ganz bestimmt. Soviel Coffein konnte selbst für mich nicht gut sein, ich hatte heute noch nichts gegessen, nur dieses braune Gift getrunken. Ich fühlte mich komisch, ich sollte wirklich Eddy anrufen. Ich hatte etwas Angst, wovor und warum wollte ich gar nicht wissen, weil die Antwort Scheiße war.

Mein Telefon fand ich hinter dem ungeworfenen Gaderobentischchen, auf dem es normalerweise immer stand. Aber das ging ja schlecht, wenn ich alles zerlegte. Ich war ein Idiot. Zu meinem Glück ging das Gerät noch und ich wählte Eddys Nummer, die ich auswendig kannte. Ich kannte seine Nummer sogar besser, als meine eigene. Ich könnte sie im Schlaf aufsagen, rückwärts, blind eintippen. Aber das konnte mir niemand verdenken, ich kannte Eddy seit dem Kindergarten. Er war mein bester Freund für immer und ewig, oder sowas. Keine Ahnung. Ich wollte mit ihm sprechen.

Ich hörte das Freizeichen und vermied es, mich wieder in meiner demolierten Wohnung umzusehen.

Allerdings konnte ich den Impuls nicht unterdrücken, nervös mit dem Fuss zu tippen, während ich darauf wartete, dass endlich jemand abhob. Warum dauerte das solange?

„Neufelder, hallo?“, meldete sich eine müde Frauenstimme und erst jetzt viel mir auf, dass ich vielleicht eine ungünstige Uhrzeit für meinen Panikanruf gewählt hatte. Es war irgendwas früh morgens, keine Ahnung wie viel Uhr genau, die Uhr hätte ich nämlich erst mal wieder finden müssen und wir hatten Sonntag. Scheiße, ich hatte doch gesagt, dass der Kaffee Schuld war.

„Ähm, hey, ist Eddy da?“, nuschelte ich ins Telefon, doch etwas peinlich berührt, so früh gestört zu haben. Manchmal war ich ein Idiot, vor allem, wenn ich keinen Bezug zu allem bekam, besonders nicht zu sozialen Konventionen.

„Ich denke, er schläft noch, Ennoah. Ist es denn wichtig?“ Eddys Mutter klang leicht vorwurfsvoll, aber vor allem müde, verständlich. Ich würde mich auch nicht freuen, wenn der verrückte Freund meines Sohns zu einer unmöglichen Zeit anrief. Aber ich würde das nicht ohne Grund tun.

„Irgendwie schon.“ Wenn Eddy nicht vorbei kommen würde und mir sagte, dass ich hier einen ganz schönen Rukus veranstaltet hatte, würde ich wieder weiter Kaffee trinken und irgendwann zwischen dem Haufen Müll wegkippen. Ich wusste das so genau, weil mir das schon ein- oder zweimal oder auch drei- oder viermal, sagen wir, in letzter Zeit oft genug passiert war. Ich kam einfach nicht mehr richtig runter, wenn er nicht da war. Er war für mich wie ein Valium in Menschenform. Absurd, aber so war es einfach.

Ich hörte wie Eddys Mutter seufzte. Es war relativ einfach sich vorzustellen, was gerade in ihrem Kopf vorging. Sie hatte Mitleid mit mir, immerhin war meine Großmutter vor einigen Monaten gestorben und mein Leben war so oder so nie so einfach gewesen. Sie würde mich gerne anmosern und mir erklären, dass ich nicht einfach so früh am Morgen anrufen konnte, aber sie hatte Angst, das wieder etwas nicht mit mir stimmte und ihr dann irgendjemand Schuld für etwas gab. Ich glaube, sie dachte, ich würde mir etwas antun. Aber außer dem vielen Kaffee und der schlechten Ernährung gab es eigentlich nichts zu beanstanden.

„Warte, ich weck Adrian.“, erklärte sie mir schließlich und ich hörte, wie der Hörer beiseite gelegt wurde. Im Gedanken rechnete ich, wie schnell Eddy hier sein könnte. Wenn ich ihm jetzt sagte, er sollte herkommen, bräuchte er noch mindestens zehn bis zwölf Minuten im Bad, dann würde er sich noch ein Brot schmieren oder einen Apfel suchen, weil er wusste, dass es hier nie etwas zu essen gab und wäre dann mit dem Fahrrad eine viertel Stunde später vor meiner Wohnung. Hm... alles in allem würde er eine knappe halbe Stunde brauchen, verdammt. Ich sollte ihm sagen, dass er sich beeilen musste.

„Woah, Alter, es ist fünf Uhr morgens!“, grummelte Eddy ins Telefon. Naja, jetzt wusste ich wenigestens, warum alle so müde klangen.

„Du musst sofort herkommen.“, erklärte ich ihm die Sachlage. Er musste einfach, deswegen waren wir ja beste Freunde. Ich hoffe, ihm war das so klar, wie mir.

„Enni... wirklich, ich bin erst vor zwei Stunden ins Bett gekommen.“ Eddy seuzfte oder unterdrückte einen Gähner, oder beides. Nicht weiter wichtig...

„Ich hab heute noch gar nicht geschlafen, das ist egal. Du musst wirklich kommen, bitte.“ Bei einem Bitte durfte er einfach nicht Nein sagen, das wäre zu unhöflich, fand ich. Ich zwirbelte das Telefonkabel um meinen Finger. Er sollte endlich sagen, dass er jetzt gleich auf der Matte stand. Ich fühlte mich ungeduldig, ich war ungeduldig...

„Ach, Scheiße. Ich muss dich echt mögen, Alter... Aber wehe, das Haus steht noch und dir fehlt nicht mindestens ein Arm.“ Bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte er schon aufgelegt. Eddy mochte mich und er würde sich beeilen.

Ich legte auch wieder auf und wandte mich erneut dem Chaos zu. Niederschmetterend. Nichts mit dem ich mich jetzt beschäftigen wollte, schon gar nicht, wenn Eddy sowieso gleich hier war. Ich merkte, wie ich wieder an meinen Nägeln kaute. Erstaunlich, dass es da überhaupt noch etwas gab, an was ich kauen konnte. Mit einem Biss stellte ich fest, dass da nichts mehr war, ich hatte mir in den Finger gebissen. Verärgert ließ ich die Hand sinken und ging in mein Schlafzimmer, dass vor meinem Massaker zum Glück verschont geblieben war.

Ich warf mich auf mein Bett, spürte, wie sich mir ein Stift in den Rücken bohrte und rollte mich beiseite. Vorwurfsvoll schaute ich zu dem Stift, als wäre es seine Schuld, dass er hier in meinem Bett lag und auch, dass die Zeichnungen zerknittert waren. Naja, was soll´s.

Ich strich die Zeichnungen wieder etwas glatt und dabei blieb mein Blick auf eine völlige anatomische Verkrüppelung hängen. Was zum Henker hatte ich mir gedacht, als ich das gezeichnet hatte?! Ich angelte nach dem Stift, der mich eben noch malträtiert hatte und versuchte in der Zeichnung noch irgendwas zu retten. War ja ekelhaft.

Manchmal musste ich echt blind sein beim Zeichnen. Ich schüttelte den Kopf und zerknüllte das Papier. Ich würde das jetzt schöner, besser, größer, lauter... Schwachsinn. Hauptsache ich zeichnte irgendwas, war beschäftigt und konnte nicht dran denken, das gerade ziemlich viel echt schief lief. Und das war nicht mal auf den Tod meiner Großmutter bezogen, naja, auch, aber nicht nur.

Ich schreckte auf, als ich die Klingel hörte. Wie lang Eddy jetzt tatsächlich gebraucht hatte, um hier her zu kommen, wusste ich nicht. Aber wenigstens war die Zeit schnell vorbei gegangen, als ich gezeichnet hatte. Vielleicht hätte ich heute Nacht auch besser gezeichnet, als die Wohnung zu demolieren. Warum hatte ich das überhaupt gemacht? Ich schüttelte den Kopf, ich sollte keine Fragen stellen, wenn ich sowieso keine Antwort wollte.

Ich ging durch das Wohnzimmer, stolperte dabei elegant über ein Teil der Couch, fing mich an einer Schranktür, die daraufhin ganz abbrach und knallte damit in absoluter Perfektion meiner vollen Grazie zu Boden. Fuck, das tat weh. Ich hatte mir das Knie an einer spitzen Kante aufgeschlagen und das Blut, das aus der leicht schmerzenden Wunde kam, versaute auch noch meine Hose. Als wäre ich nicht schon gestraft genug.

Es wurde nochmal geklingelt, diesmal wurde die Klingel länger gedrückt und ich hatte das Gefühl, als wäre Eddy leicht ungeduldig. Ich seufzte und humpelte in den Flur, wo sich die Freisprechanlage befand. Ich drückte den Schlüsselknopf ohne den Hörer abzunehmen. Ich wusste ja, wer vor der Türe stand, also war es nicht nötig, da noch weiter zu trödeln.

Ich lehnte meine Wohnungstüre an, so dass Eddy einfach rein konnte und humpelte dann weiter ins Bad. Ich hatte nämlich keinen Bock, die Hose noch mehr voll zu bluten und am Ende würde der Scheiß auch noch eintrocknen. Vom Wäschewaschen hatte ich nicht viel Ahnung, aber eines war mir zumindest klar, Blut ging immer verdammt schlecht raus.

Ich wusste, dass Eddy endlich die Treppen hoch gehechelt war und meine Wohnung betreten hatte, als ich ein entsetztes „Scheiße!“ aus dem Wohnzimmer hörte. In Shorts und mit dem blutenden Knie humpelte ich aus dem Badezimmer, um meinen Retter in der Not gebührend zu begrüßen. Ich grinste ihn an, als er mich immer noch mit total entsetzen Blick anstarrte.

„Naja, abgebrannt ist die Wohnung nicht, aber es wäre ne Überlegung wert...“ Noch immer lächelte ich leicht. Ich war froh, das er hier war.

Eddy schüttelte als Antwort nur mit den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er da sah. Was ihn aber nicht davon abhielt, sich nochmals in dem ramponierten Zimmer um zu sehen. Ich tat es ihm gleich und ich hatte das Gefühl, als würde mir erst jetzt das volle Ausmaß der Zerstörung bewusst werden.

Ich brauchte einen Kaffee.

Ohne ein weiteres Wort, hinkte ich in meine Küche. Es war gut, dass Eddy da war, aber irgendwie konnte ich nicht ruhig werden. Während die Kaffeemaschine laut brohlend mein Lebenselexier fabrizierte, kaute ich geistesabwesend auf meiner Lippe herum und trommelte mit den Fingern auf der Theke. Konnte mir Eddy bei der Sache überhaupt helfen? Er musste, ich wusste sonst nicht, was ich tun sollte. Ich biss weiter auf meiner Lippe, während die Kaffeemaschine fröhlich die letzten Tropfen des Kaffees ausspuckte. Da keiner meiner Tassen gespült waren, befand ich, dass es die Kaffeetasse von gestern Abend auch noch tat. Ich schüttete mir reichlich von dem heißen Getränk ein, schmiss noch vier Löffel Zucker dazu und ging wieder in das Wohnzimmer, während ich umrührte.

Eddy hatte in der Zwischenzeit damit begonnen, dass Chaos zu verschlimmern. Er hob die zerbrochnen Möbel hoch und ließ sie wieder fallen. Die Bücher und der Kleinkram, der sich bei meiner Aktion im Zimmer verstreut hatte, waren in eine andere Ecke gewandert und Eddy seufzte nur frustriert, als ich wieder den Raum betrat.

„Ruf mich das nächste Mal früher an, okay?“, sagte er schließlich, als er mich besorgt anschaute.

„Du warst nicht da.“ Das war kein Vorwurf. Ich wusste, dass er Samstagabend meistens unterwegs war und Party machte. Manchmal kam ich auch mit, naja, nicht die letzten Monate. Party war in letzter Zeit alles andere als angebracht. Eddy hatte das schon verstanden.

„Mann, Alter, du hättest mich auch auf dem Handy anrufen können. Ich wäre sofort vorbei gekommen.“ Er seufzte entnervt und fuhr sich durch seine unordentlichen Haare. Wieder wanderte sein Blick durch den Raum, dann blieb er an mir hängen. Ich fühlte mich nicht gut, der Kaffee, der sich warm in meinem Körper ausbreitete, änderte nichts daran. Vielleicht sollte ich Raucher werden, angeblich beruhigten Zigaretten doch, oder? Hm, oder gleich kiffen. Aber ich stand weder auf Rauch, noch hatte ich Geld für irgendwelchen Kram. Eigentlich war ein Drogenproblem so das letzte, was ich gebrauchen konnte. Ich nippte wieder von meinem Kaffee und vermied es in Eddys Richtung zu sehen. Klar, ich hätte ihn auf seinem Handy anrufen können. Aber ich hatte nicht gewusst, dass die Nacht so werden würde. Ich dachte am Abend wirklich, es wäre noch alles okay, naja fast... Ach, ich hatte keine Ahnung. Außerdem war es zu spät, sich jetzt darüber Gedanken zu machen.

Ich spürte, wie ich mich langsam beruhigte, als Eddy mich endlich umarmte. Ich atmete seinen angenehmen Geruch ein und genoß es, wie sich sein Körper an meinem anfühlte. Nicht, dass ich das Eddy jemals sagen würde, aber manchmal hatte ich das Gefühl, als müsste ich ohne seine Umarmung sterben.

All you read and wear or see and hear on TV is a product begging for your fatass dirty dollar.

Ich fühlte mich immer noch ziemlich groggy von dem Wochenende. Eddy hatte vormittags seinen Vater angerufen, jetzt konnten wir am Mittwoch mit dessen Auto den Sperrmüll zur Müllverbrennungsanlage bringen. Laut den Aussagen von Eddys Vater, war das auch nicht so teuer, wie ich erwartet hatte. Wir hatten den restlichen Sonntag damit zu gebracht das Zeug so klein zu machen, dass man es leicht in ein Auto unterbringen konnte und aus dem Weg geräumt, um weitere Verletzungen zu vermeiden. Ich sah sowieso schon demoliert genug aus.

Warum ich das Ganze gemacht habe, hatte Eddy nicht gefragt. Er wusste vermutlich sowieso an was es lag. Ich hätte aber auch nicht darüber reden wollen, nicht mal mit ihm.

Nachmittags hatte er mich zu sich nach hause geschleppt, mit der Begründung, dass es bei mir nichts zu essen gab und ein Mensch Nahrung zum Leben brauchte und Kaffee als Nahrungsmittel wollte er nicht anerkennen. Als wir wieder in meiner Wohnung waren, war ich allerdings nach ein paar Minuten auf meinem Bett eingepennt und als ich aufwachte, war Eddy nicht mehr und drei Uhr in der Nacht. Wenigstens war er so nett gewesen und hatte mich zu gedeckt.

Mir wäre es lieber gewesen, wenn er übernachtet hätte. Aber seine Mutter mochte es nicht, wenn er unter der Woche auswärts schlief und wenn man ehrlich war, mochte er es auch nicht. Er schlief immer lieber in seinem eignen Bett, hatte er mir mal erklärt.

Die verbleibenden Stunden bis ich zur Schule musste hatte ich mit Fernsehschauen zu gebracht. Zwischen vier und fünf Uhr nachts kamen nicht mal mehr Softpornos, aber ab fünf fingen zumindest die Wiederholungen vom Nachmittagsprogramm an. Wobei man sich natürlich fragen konnte, ob das eine erhebliche Verbesserung des Niveaus im Vergleich zu einem Softporno war. Mir war es eigentlich ziemlich egal, ich zeichnte nebenher und war nur froh, dass es nicht still war. Da konnte man selbst den verzweifelten Moderator ertragen, der die Zuschauer zum Anrufen motivieren wollte.

Das der ganze Tag nicht so werden würde, war mir schon klar gewesen, als ich in meiner dunklen, einsamen Wohnungen aufgewacht war. Aber welche Dimensionen an Nervigkeit dieser Tag einleiten würde, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar gewesen. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich gar nicht erst aus dem Haus. Ein Fehltag mehr oder weniger, wäre auch nicht mehr so tragisch gewesen.

Aber ich war zur Schule gegangen, was auch daran lag, dass es in meiner Wohnung alles andere als gemütlich war und habe damit prompt eine weitere Misere in meinem Leben verursacht. Naja, eigentlich, wenn man es genau nahm, hatte Nico dafür gesorgt.

Nico. Wir waren in der zehnten in der gleichen Klasse gewesen und ich fand ihn damals schon lächerlich, vor allem lächerlich klein. Das ganze Metall, dass er schon damals im Gesicht hatte, fand ich einfach übertrieben provokant und das er ständig dumme Sprüche riss, eigentlich generell ein viel zu gu großes Maul für so einen winzigen Körper hatte, machte es nicht besser.

Er war schlichtweg eine Nervensäge und ich war froh gewesen, nie näher mit ihm zu tun zu haben. Aber gerade eben, hatte dieser Winzling beschlossen mir auf den Geist zu gehen. Der Typ reichte mir gerade mal bis zur Brust und er hatte auch noch ratzekurze, blonde Haare, die eigentlich jede Möglichkeit nahmen, ihn größer wirken zu lassen. Das er klein war, war nicht mal das schlimmste an ihn. Eigentlich fand ich es viel schlimmer, dass er nie klein wirkte. Ich war mit meinen 1,95 vermutlich einer der größten Schüler hier, aber wenn ich einen Raum betrat, schaute nicht mal jemand auf, nicht das es mich stören würde. Aber wenn dieser Zwerg in ein Klassenzimmer kam, galt ihm sofort jede Aufmerksamkeit und ich war mir ziemlich sicher, dass es ihm egal war, ob diese Aufmerksamkeit negativ oder positiv war. Er schien einfach den ganzen Raum für sich zu beanspruchen, so als gehöre ihm schlichtweg die Welt. Arrogantes Arschloch. Sein Charakter war in den letzten zwei Jahren auch nicht besser geworden...

Gah, er nervte mich.

„Komm schon, Enni, das wird doch für dich kein Problem sein.“ Da stand er nun mit seinen lächerlichen, kurzen Haaren und das Gesicht voller Blech und erwartete von mir, dass ich ihn zeichnen sollte. Wer war ich denn? Hatte ich Zeit, Nerven, Lust so etwas zu machen? Gott, ich hatte genug andere Sachen, um die ich mir gerade Sorgen machen musste. Außerdem nervte es mich, dass er mich Enni nannte. Eddy durfte mich so nennen, aber den kannte ich schon seit dem Kindergarten.

„Nein.“, wiederholte ich nochmals. Ich wollte nicht und da konnte er noch soviel betteln und flehen und was weiß ich, ihn würde ich bestimmt nicht zeichnen und jetzt sowieso nicht.

„Gott, warum nicht? Ich geb dir doch auch Kohle dafür.“ Er hatte seine gepiercten Augenbrauen ärgerlich zusammgen gezogen und macht einen Schmollmund mit seiner gepiercten Lippe. Bei soviel Metall im Gesicht musste einem doch im Winter echt kalt werden, oder?

„Kein Bock.“, gab ich nonchalant zurück und fand, dass damit das Gespräch einfach beendet war, deswegen wandte ich mich auch ab und ging. Ich wollte heim und eigentlich konnte Nico von Glück reden, dass ich überhaupt stehen geblieben war. Ich hatte mir keinen Kaffee mit in die Schule genommen und festgestellt, dass mein Kleingeld auch nicht mehr für einen aus dem Automaten reichte und war deswegen sowieso schon ziemlich gereizt. Zum Glück hatte ich Montags nur vier Stunden Schule, eine Doppelstunde Englisch und eine Doppelstunde Mathe, das war noch eingermaßen zu ertragen. Im Gegensatz zu dem Knirps gerade eben,

„Fick dich, bist du ein arrogantes Arschloch.“, rief er noch hinter mir und vermutlich zeigte er mir gerade den Mittelfinger. Aber das war mir egal, war doch schön, dass wir uns beide einig waren, dass wir uns nicht mochten. Dann könnten wir in Zukunft wieder auf unsere Gesellschaft verzichten.
 

Ich hatte der ganzen Angelegenheit eigentlich nicht viel beigemessen. Es kam immer wieder mal vor, dass ich für Leute aus meiner Stufe etwas zeichnen sollte, meistens für lau und in der Regel lehnte ich ab, einfach weil ich keine Lust hatte etwas für Leute zu machen, die ich nicht mal kannte. Außerdem hatte ich im Moment wirklich viel um die Ohren. Ich müsste immer noch meine Mutter anrufen...

Zum Glück hatte Eddy die Angelegenheit mit meinem zerlegten Wohnzimmer geregelt. Am Mittwoch stand er pünktlich um vier mit seinem Vater auf der Matte und zusammen luden wir das Gerümpel ins Auto, in dem auch noch alter Kram von ihnen war, den sie entsorgen wollten. Sein Vater hatte mir auch beigepflichtet, dass die Möbel viel zu altmodisch für so einen jungen Kerl wie mich waren und er sie auch schon längst entsorgt hätte. Ich verkniff es ihm zu sagen, dass mich bei der Aktion keine „Schöner wohnen“-Ambitionen geleitet hatten, sondern nickte nur und pflichtete ihm bei. Das war sowieso die beste Art mit seinen Mitmenschen umzugehen. Nicken, lächeln, einfach Ja sagen. Menschen ohne eigene Meinung waren langweilig und wenn man langweilig war, wurde man in Ruhe gelassen und das war genau das, was ich wollte. So wenig Kontakt wie möglich mit anderen und so wenig Aufmerksamkeit erregen, wie es ging. Im Mittelpunkt stehen, hattte ich schon immer als unangenehm empfunden und als meine Oma erkrankt ist und es zweifelhaft war, ob sie sich wirklich ordentlich um mich kümmern konnte, war es mir noch wichtiger, nicht aufzufallen.

Und ehrlich, ich war wirklich gut darin nicht bemerkt zu werden.

Es hätte mich knapp fünfzehn Euro gekostet den Müll in der Anlage entsorgen zu lassen, aber Eddys Vater hatte wohl einen großzügigen Tag und meinte, er würde das einfach zahlen. Mir war das Recht, ich hatte gerade sowieso ein kleines Geldproblem. Eigentlich wusste ich nicht mal genau, wie ich mir nächste Woche noch den Kaffee leisten sollte und in drei Wochen war wieder Strom, Wasser und Gas fällig. Vielleicht hätte ich doch den Zeichen-Auftrag von dem Knirps annehmen sollen. Oder ich sollte einfach mal bei meiner Mutter melden. Fragt sich nur, was das geringere Übel war.

Ich bedankte mich noch bei Eddys Vater und ließ mich bei ihnen zum Essen einladen. Ich hatte sowieso nichts mehr im Kühlschrank und die Familie schien mir immer gerne was zu kochen. Ich könnte mich wie ein Schmarotzer fühlen, allerdings war Eddy bis er zwölf war, eigentlich jeden Tag bei mir daheim gewesen und hatte mit uns gegessen. Sie hatten in der Wohnung über mir gewohnt und seine Eltern hatten große Ziele, wie ein eignes Haus am Stadtrand, eine Familiekutsche, Urlaube und dafür musste man arbeiten.

Meine Großmutter hatte den Gedanken furchtbar gefunden, den armen Jungen ganz allein in der Wohnung zu lassen und so war man überein gekommen, dass er solange bei uns war, bis seine Eltern von der Arbeit kamen. Eddy und mir war es recht gewesen, wir hatten uns schon immer gut verstanden. Auch wenn das die Erwachsenen immer etwas irritiert hatte.

Ich war das gewesen, was man gemeinhin als Stubenhocker bezeichnen würde. Ich lag am liebsten im Wohnzimmer auf dem plüschigen Teppich und hatte dort gezeichnet. Eddy hatte meistens neben mir gesessen und hatte mir irgendwelche Dinge erzählt, einfach irgendwas. Ich hatte ihm immer gerne zu gehört. Manchmal hat er mich auch gebissen oder mir an den Haaren gezogen, was mich wohl dazu animieren sollte, mit ihm nach draußen zu gehen. Ich fand, wir hatten uns schon immer gut ergänzt.

In den Gedanken an unsere gemeinsame Kindheit schaute ich zu Eddy, der gerade mit seiner Mutter über etwas debattierte und konnte nicht anders, als zu grinsen. Ich wollte gar nicht wissen, wie mein Leben jetzt aussehen würde, wenn ich Eddy und seine Familie nicht hätte.

„Nimm dir ein Beispiel an Ennoah.“, kam es plötzlich von Eddys Mutter und ich schaute verwirrt auf. Um was ging es? Ich hatte nicht aufgepasst.

„Mama, das kannst du nicht vergleichen.“ Eddy verdrehte nur die Augen und ich wusste nicht genau, was ich davon halten sollte.

„Ennoah, du bist doch auch nicht jedes Wochenende weg, oder?“, wandte sich diesmal seine Mutter direkt an mich.

„Äh...“ Natürlich nicht, ich hatte zum Einen kein Geld dafür, um genau zu sein, hatte ich gerade generell kein Geld für irgendwas, zum Anderen war mir zur Zeit wirklich nicht nach Party zu mute. Eigentlich war mir sowieso selten danach, mich groß unter Leute zu mischen, aber meistens war ich Eddy zu liebe mitgekommen. Aber das konnte ich ihr schlecht sagen. Ich spürte das Gewicht der Gabel in der Hand, die ich zwischen meinen Finger hin und her wippen ließ. Seine Familie war daran gewöhnt, dass ich selten still halten konnte.

„Mama, lass Enni da raus, okay?“ Eddy wirkte irgendwie aufgebracht und ich bereute es ein bisschen, dass ich bei ihrer Diskussion nicht richtig zu gehört hatte. Vielleicht würde ich dann verstehen, warum Eddy sich so komisch verhielt. Aber so war die Diskussion beendet, seine Mutter wollte wohl einen möglichen Streit vermeiden. Generell wurden sie bei Eddy daheim nie laut, aber es war auch nie so leise, wie bei mir daheim...
 

Meine Wohnung kam mir seltsam fremd vor, als ich durch den engen Flur ging und das leere Wohnzimmer betrat. Die Tapete hing immer noch in Fetzen da, ich hatte keine Lust gehabt, sie richtig abzuschaben. In der Ecke unter dem Fenster lag ein Stapel mit Büchern und daneben hatte Eddy ein gerahmtes Foto von mir und meinen Großeltern gelehnt. Der Raum roch nach Staub und Alter und ich merkte, wie mir schlecht wurde.

Ich zog die Tür hinter mir mit einem Knall zu, stolperte den Gang entlang ins Badezimmer und übergab mich dort ins Waschbecken. Ich hing schwer atmend über dem Becken und versuchte den erneuten Würgereiz niederzuringen. Mein Magen schmerzte und der Geruch der Kotze in meiner Nase, machte es nicht besser.

Ich atmete mehrmals tief ein und aus, während ich Wasser in das Becken laufen ließ, um alles wegzuspülen. Langsam beruhigte sich mein Körper wieder und ich spritze mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht.

Schade, um das gute Essen.

Ich ließ mich auf den Klodeckel nieder, weil ich meinen Beinen nicht ganz traute. Ich traute meinen ganzen Körper nicht mehr und noch viel weniger mir selbst. Zur Zeit war alles so komisch, verschoben, als wäre ich im falschen Leben. Ich verstand einfach nichts mehr und mich am wenigstens. Ich schüttelte leicht den Kopf und erhob mich schließlich, um das Bad zu verlassen. Es brachte nichts, sich in seinem Elend zu suhlen und sich verloren in der eigenen Gedankenwelt zu fühlen, das machte es doch nur schlimmer, oder?

Ich ging in die Küche, machte mir einen Kaffee und ging damit in mein Schlafzimmer. Ich schaltete meinen Fernseher ein und fühlte mich mit der Geräuschkulisse wohler. Meine Oma hatte es nie gemocht, dass dieses Gerät ständig lief. Sie fand, man sollte sich nicht das Leben der anderen ansehen, sondern selbst etwas tun. Naja, zumindest war das früher so gewesen. In den letzten Jahren war es ihr einfach egal gewesen...

Mein Stift kratzte über das Papier und ich dachte darüber nach, dass ich an meiner Uni-Mappe arbeiten sollte. Ich war jetzt in der 12., ich würde also in einem Jahr mein Abitur haben und wenn ich wirklich etwas aus meinem Leben machen wollte, blieb mir nicht mehr wirklich Zeit. Eigentlich war ich mir nie sicher gewesen, ob ich wirklich meinen Abi machen wollte. Ich war ehrlich gesagt ein ziemlich schlechter Schüler. Faulheit, Unvermögen, keine Ahnung, meine Noten reichten immer nur gerade so, dass ich das Schuljahr bestand und ich würde vermutlich mein Abi nur mit Hängen und Würgen schaffen.

Ich versuchte meine schlechten Noten damit zu rechtfertigen, dass es für meinen Studiumswunsch ziemlich egal war, was für ein Schüler ich war. An einer Kunst-Uni zählte nur, was ich konnte und wie gut meine Mappe aussah.

Ich hatte mir erst vor kurzem wirklich mal konkret Gedanken darüber gemacht, was aus meinem Leben werden sollte. Man konnte nicht ewig nur in den Tag hinein leben und hoffen, dass alles schon irgendwie gut wurde. Das passierte nämlich nicht, es wurde alles nur schlimmer.

Vielleicht war „Künstler“ werden eine brotlose Kunst. Aber hey, Brot hatte ich noch nie sonderlich gemocht und lieber ein unlukratives Ziel im Leben, als gar keines, oder? Außerdem hatte ich es wenigstens schon mal so weit geschafft, eine eigene Wohnung zu besitzen, naja zu erben. Eine Wohnung in der mir schlecht wurde und die ich in manchen Momenten nur noch nieder brennen wollte. Aber es war vielleicht nur eine Gewohnheitssache. Ich musste mich nur noch an die Stille hier gewöhnen...

Ich war froh, dass ich etwas sinnvolles hatte, worauf ich meine Gedanken lenken konnte. Aber anstatt nur random etwas zu zeichnen, sollte ich wirklich mal über Inhalte meiner Bewerbungsmappe nachdenken. Ich hatte bis jetzt einfach nur gezeichnet, nicht weil ich ein schönes Bild machen wollte, oder ich etwas damit aussagen wollte. Einfach gezeichnet, weil ich es konnte, was zu tun hatte und dabei abschalten konnte. Es war etwas ganz anderes, plötzlich Gedanken dahinter zu stecken.

Es gab drei Fragen, die bekam man von irgendwelchen Leuten, die einfach keine Ahnung haben vom Zeichnen, eigentlich standardmäßig gestellt:

1.Das hast du selbst gemalt?!

2.Wen zeichnest du da?

3.Wie machst du das? Ich würde das auch gerne können.

Meistens machte ich mir da nicht mal die Mühe aufzusehen und dachte mir meinen Teil dazu. Es war schon nervig genug, dass Leute dachten, bloß weil ich wo saß und zeichnete, wäre es legitim mich einfach anzusprechen und mich mit dummen Fragen zu belästigen. Die meisten schienen sowieso eine komische, verträumte, idealisierte Vorstellung vom Zeichnen zu haben. Nicht alles, was man anfasste wurde zur Kunst und manchmal arbeitete man doch einfach nur für die Technik, damit man besser wurde.

Ich dachte mir absolut nichts dabei, wenn ich einen Mann in der Hocke zeichnete, der nach unten schaute. Ich wollte einfach nur wissen, ob ich es so aussehen lassen konnte, wie ich mir das vorstellte. Manchmal klappte es und manchmal nicht, dann übte ich, bis ich es hinbekam. Vielleicht war ich auch einfach nicht sonderlich kreativ. Eigentlich hatte ich mich nie so damit befasst.

Das sollte ich allerdings tun, wenn ich wollte, dass mich irgend eine Kunst-Uni nahm. Da ging es nicht nur um Technik, da ging es darum, sich als kreative Künstlerpersönlichkeit zu verkaufen und das in einer Mappe zu zeigen. Keinen Schimmer, wie ich das machen sollte.

Ich seufzte und kritzelte weiter in mein Skizzenbuch, ich hab mir sagen lassen, dass Skizzenbücher immer ein guter Anfang waren und von denen hatte ich zum Glück schon mehr als genug...

Als ich meinen Magen ärgerlich knurren hörte, entschloss ich mich, dass ich nochmal neuen Kaffee brauchte, weil mein Kühlschrank nach wie vor leer war.

In der Küche schenkte ich mir die letzte Tasse aus der Kanne ein und bereitete die Kaffeemaschine gleich vor, dass ich sie mir morgenfrüh nur noch anschalten musste. Ich hasste es nämlich morgens irgendwelche komplizierten Tätigkeiten zu machen, wie Kaffeemaschine mit Pulver zu befüllen. Dabei bemerkte ich leider, dass in der Kaffeedose sich das braune Pulver auch ziemlich rar machte. Verdammt, ich hatte gedacht, es wäre noch mehr dagewesen... Ich trank zu viel von dem Zeug.

Und ich brauchte wirklich wieder Geld. Scheiße, ich wollte mich nicht bei meiner Mutter deswegen melden. Ich löffelte in den lauwarmen Kaffee wieder meinen Tonnen an Zucker und während ich umrührte, überlegte ich, welche Optionen ich sonst noch hatte. Ach, so ein Dreck.

Klirrend stellte ich die Tasse auf die Küchenanrichte und stapfte zu dem Telefon im Flur. Es führte doch nichts drum herum und ich sollte mich nicht mehr so kindisch gegenüber meiner Mutter verhalten.

Ich tippte die viel zu lange Nummer von dem Notizzettel am Pinboard ab und lauschte, wie eine knisterende Verbindung hergestellt wurde. Den Anruf würde ich mir auch definitiv von ihr zahlen lassen. Nach mehrmaligen Tuten meldete sich endlich jemand.

„Helloooo!“, meldete sich eine helle Kinderstimme und ich seufzte entnervt. Nicht auch noch das...

„Hey, it´s me, Ennoah. Can I speak your mom?“, haspelte ich in meinem schlechten Englisch und dem deutschen Akzent. Meine Halbschwester verstand kein Deutsch, kein einziges Wort, genauso wenig wie meine zwei Halbbrüder. Ich hasste es mit ihnen sprechen zu müssen.

„Darling, who´s on the phone?“, hörte ich im Hintergrund die Stimme meiner Mutter. Gott, konnte die sich nicht mal beeilen? Nach Übersee telefonieren war alles andere als billig.

„Dunno...“, antwortete meine Halbschwester, deren Namen mir spontan auch nicht einfiel. Ja, wir hatten eine unglaublich familiäre Verbindung.

„Hello?“ Na endlich, meine Mutter war dran. Ich verdrehte die Augen, ihre Stimme klang noch unangenehmer, wenn sie nicht Deutsch sprach.

„Ich bin´s, Ennoah.“, wiederholte ich mich nochmal, dabei trommelte ich mit den Fingern auf dem Telefontischchen und wünschte mir, das Gespräch wäre schon vorrüber.

„Oh.“, sie klang wenig begeistert. „Wie geht’s dir?“, fragte sie schließlich nach einer kurzen Pause.

„Geht so. Ich brauch Geld.“, kam ich gleich zum Punkt. Ich hatte nämlich keine Lust auf Smalltalk, schon gar nicht, wenn ich mir den im Moment nicht leisten konnte.

„Wie viel denn? - Sarah, stop it!“, rief meine Mutter, während sie wohl den Hörer kurz bedeckte. Ich wusste, warum ich die Gespräche mit meiner Mutter nicht mochte „Sorry, wie viel meintest du?“

„Ich brauch mindestens hundert Euro mehr im Monat.“ Ich hatte mir alles nachgerechnet und ich würde das mit den Versicherungen, den Nebenkosten der Wohnung und anderen Kram, den ich brauchte, nur alles hinkriegen, wenn sie mir hundert Euro mehr im Monat zukommen lassen konnte und dann wäre es trotzdem noch realtiv knapp.

„100 Dollar mehr?“, fragte sie und ich wusste nicht mal genau, wie ihr Gesicht aussah, als ich mir vorzustellen versuchte, wie sie gerade schaute. Sie klang jedenfalls etwas überrascht.

„Nein, 100 Euro! Schick mir bitte keine Dollar mehr, ich muss den Dreck hier immer umtauschen und der Wechselkurs ist auch gerade ziemlich Scheiße.“ Gott, das nervte mich immer noch. Sie schickte mir alle drei Monate einen Brief, in dem ein bisschen über die Familie stand, von der ich nichts wissen wollte und dann lag dem Brief noch ein Bündel Dollarscheine bei. Ihr Mann verdiente nicht schlecht und anscheinend konnten sie es sich leisten, mich hier finanziell zu unterstützen. War auch das mindeste... im Gegenzug ließ ich ihre Familie in Ruhe.

„Das muss ich erst mit Derrick besprechen und schlag bitte einen anderen Ton an.“, erklärte sie mir schließlich. Ich merkte, wie ich mir bei dem Satz zu fest auf die Lippe biss, auf der ich gekaut hatte, was mir erst in dem Moment auffiel, als es weh tat. Gott, war ich angepisst.

„Ich hab hier kein Essen mehr! Ich krieg kein Geld hier, weil ich leider kein Waisenkind bin und ganz ehrlich, findest du es angebracht, dich plötzlich mütterlich aufzuführen?!“, brüllte ich aufgebracht. Dumme Schlampe, was dachte die sich eigentlich?

„Ennoah!“, sie war empört. Als hätte sie jemals Grund dazu gehabt... Mit was hatte ich eigentlich so eine Mutter verdient?

„Schick mir einfach das Geld und dann hörst du die nächsten Jahre nichts mehr von mir.“, knurrte ich frustriert. Wenn es nicht so dringend gewesen wäre, hätte ich mich bestimmt nicht bei ihr gemeldet und ihren Familienfrieden gestört. Ihr Mann wusste, dass sie ein Kind in Deutschland hatte, aber ich bezweifelte, dass sie es ihren „neuen“ Kindern erzählt hatte. Gut, die Zwillinge waren wahrscheinlich sowieso noch zu jung, um überhaupt irgendwas zu verstehen. Aber ich sollte ihr kleines, schmutziges Geheimnis in Deutschland bleiben, dass wusste ich. Deswegen kam auch regelmäßig das Geld.

„Du könntest ruhig etwas dankbarer sein!“ Ich unterdrückte den Impuls, das Telefon vor lauter Frust gegen die Wand zu schmeißen und knurrte stattdessen nur aufgebracht. Ich sollte dankbarer sein? Wofür? Für was zur Hölle, sollte ich in irgendeinerweise dankbar sein? Das sie mich zurück gelassen hat? Das sie lieber eine neue Familie ohne mich hatte? Dafür das mir schnell lieblos hingekritztel Briefe schickte, in denen sie mir nur immer wieder zeigte, was sie hatte und wovon ich niemals ein Teil sein würde?

Meine Hand, in der ich den Hörer hielt, zitterte vor unterdrückter Wut. Ich brauchte das Geld, ich brauchte Essen. Mit den 150 Euro Kindergeld, die ich bekam, konnte ich gerade mal die Krankenkasse und irgendwelche komischen, anderen Versicherungen zahlen und mehr Kohle, wollte mir der Staat nicht zugestehen, da ich ja noch meine ach so liebevolle Mutter hatte, die mir helfen konnte.

„Ich bin dir nichts schuldig.“, zischte ich nur und war mir nicht sicher, ob man das durch das Knacken und Knistern in der Leitung überhaupt hörte.

„Ich kann dir diese Woche die 100 Dollar schicken. Ob das immer geht, werd ich mit Derrick besprechen müssen.“ Sie klang jetzt etwas abgehetzt, vielleicht auch, weil Sarah wieder angefangen hat wie eine Verrückte zu schreien und das auch eine gute Ausrede war, aufzulegen.

„Sorg dafür, dass es eine Eilsendung ist.“, fügte ich noch hin zu. Ich hatte zwar nie verstanden, warum sie das nicht mit Überweisung machen wollte, aber solange das Geld hier ankam, war mir das egal.

„Ja, ja, bis dann.“ Damit hatte sie aufgelegt und ich hörte nur noch ein Tuten in der Leitung. Es schien durch den Flur zu hallen und ich legte auf, weil es mit jedem Tut unerträglich einsamer wurde. Das Gespräch war anstrengender gewesen, als erwartet und ich wünschte mir, dass jetzt Eddy hier wäre und mich einfach im Arm halten würde. Aber ich konnte mich nicht dazu bringen, ihn anzurufen. Ich hätte es nicht ertragen, wenn er meine Bitte abgelehnt hätte.

Zweifel sind meist nichts anderes als bereits zu Grabe getragene Hoffnungen.

Es hatte am Tag der Beerdigung nicht geregnet. Die Sonne hatte grell gestrahlt und viel zu deutlich die Kummer der Trauergäste abgezeichnet. Wenn es geregnet hätte, hätte man sich unter einen Schirm verstecken können, hätte man das Wasser, das über die Wangen lief, auf die niederprasselnden Tropfen schieben können, hätte alles nicht so real gewirkt.

Aber mitten im Hochsommer, da konnte man sich einfach nicht diesem Kontrast der schwarzen Trauer und dem bunten, blühenden Leben entziehen. Es hätte keinen Tag gegeben, der die Beerdigung hätte schlimmer wirken lassen, als dieser.

Jetzt verstand ich, warum sie in Filmen Beerdigungen immer im Regen zeigten. Alles andere hätten die Zuschauer als zu verstörend empfunden.

Der Pfarrer murmelte irgendwelches Zeug, dem ich nicht zuhören konnte. Ich war froh, dass es bei uns nicht üblich war, dass man Grabreden hielt. Ich wollte nur noch, dass man dieses Loch zu schüttete und ich meine Ruhe hatte. Ich wollte auch keiner der anderen Trauergäste sehen und schon gar keine Beileidsbekundungen über mich ergehen lassen. Man fühlte sich nur noch schlechter, wenn sie einem mit diesen bedaurenden Blick ansah. Hatte der arme Junge jetzt auch noch seine Großmutter verloren, er hatte doch jetzt gar niemand mehr!

Und dann zerrissen sie sich den Mund darüber, dass meine Mutter nicht hier war. Ich hatte sie angerufen, aber sie meinte, sie könnten es sich gerade nicht leisten spontan hier her zu fliegen. Für sie war ihre Familie in Deutschland gestorben und Geschichte. Als hätte ich das sowieso nicht schon gewusst.

Ich stand am Grab und beobachtete, wie die Erde über den Sarg rieselte, die darauf geworfenen Blumen mit runterriss und schließlich ganz bedeckte. Jemand hatte mich am Arm genommen und weg gezogen.
 

Ich saß da und starrte Eddy konzentriert an, während er über seinen Block gebeugt war, um eine Arbeit für die Berufsschule zu erledigen. Eddy hatte vor einem Jahr seinen Realschulabschluss gemacht und war jetzt mitten in der Ausbildung zum Handelskaufmann. Was ich für ihn ziemlich unpassend fand. Aber Eddy war es egal gewesen, Hauptsache ein Job, hatte er gemeint.

Eddy hatte die Stirn leicht graus gezogen und tippte immer ungeduldig mit den Stift auf den Block, wenn er nicht weiter kam. Früher hatte er die Angewohnheit gehabt, auf den Stiften herum zu beißen. Aber er hatte es sich irgendwann mal abgewöhnt, weil das Mädchen wohl voll uncool fanden. Ich hatte diese Eigenheit von ihm eigentlich immer gemocht.

„Mann, Enni, hast du nichts besseres zu tun, als mich anzustarren?“, murrte er schließlich und schaute missmutig auf. Ich grinste ihn nur an.

„Nicht so direkt. Außerdem mach ich Naturstudien“, erklärte ich ihm und tippte dabei mit meinem Bleistift auf meinen Zeichenblock. Ich fand eine Portraitstudie von Leuten, die mich umgaben, würde in einer Mappe sicher gut aussehen. Und da Eddy einer der Personen war, mit denen ich mit Abstand die meiste Zeit verbrachte, hatte ich entschlossen, dass er mein erstes Opfer war. Es war interessant einen Mensch mal ganz genau zu betrachten. Ich machte das eigentlich selten, selbst bei Eddy, den ich schon hunderttausende Mal gesehen hatte. Es kam einem so vor, als würde man den Mensch plötzlich völlig neu sehen, Dinge an ihm wahrnehmen, die man davor nie bemerkt hatte. In jedem Fall sehr spannend, besonders weil es Eddy war. Bis jetzt hatte ich nie bemerkt, dass er immer noch ganz blasse Sommersprossen hatte. Sie passten nicht zu ihm, aber irgendwie freute ich mich darüber, dass sie mir aufgefallen waren.

„Sitzt man dafür nicht irgendwie draußen und malt Bäume?“, kam es von ihm, immer noch den gleichen Blick.

„Hallo, Baum!“ Ich lachte und er bewarf mich mit seinem Stift, hatte dabei aber ein Grinsen im Gesicht. Es war einfach zu lustig, ihn so nervös von meinen Blicken zu sehen. Nicht, dass es irgendwas gab, das ihm peinlich sein müsste und das seine Ohren rot glühten, machte das ganze noch viel unterhaltsamer.

„Du, wenn das nicht für deine Mappen wäre ...“

„Ja, ja, ich weiß schon. Du musst mich echt mögen und alles.“ Ich winkte ab, tat so, als wäre es nicht weiter von Bedeutung für mich und warf ihm seinen Stift wieder zu, der in meinem Schoß gelandet war. „Übrigens, andere Leute würden Geld dafür zahlen, dass ich sie zeichne.“

„Soll ich mich geehrt fühlen, Maestro?“ Er fing den Stift geschickt, aber schien keine Motivation zu haben, weiter an seinen Hausaufgaben zu arbeiten.

„Kannst du, ich würde das nicht bei jedem machen.“ Bei den meisten anderen Menschen würde es mich nämlich stören, solange Zeit darauf zu verwenden, sie zu zeichnen. Für meine Mappe wäre es vielleicht ganz gut, wenn ich mehr als nur Eddy und seine Familie portraitieren würde. Aber eigentlich wollte ich im Moment nur Eddy zeichnen, vielleicht auch als Entschuldigung ihn einfach nur anzusehen.

„Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du mich so anschaust.“ Eddy seufzte und legte den Stift schließlich in sein Mäppchen. Immer noch waren seine Ohren ganz rot.

„Schüchtern?“ Noch immer hatte ich meinen Stift in der Hand und schaute ihn erwartungsvoll an. Vielleicht könnte ich ihn ja jetzt weiter zeichnen.

„Du bist ein Idiot. Mann, ich hab keinen Bock mehr. Komm, wir gehen raus.“ Ohne das ich noch viel widersprechen konnte, hatte sich Eddy schon erhoben und war einfach an mir vorbei marschiert, Richtung Tür. Manchmal konnte er etwas eigenwillig sein. Ich packte meinen Zeichenkram ein und folgte ihm. Er war schon im Flur und hatte seine Schuhe an, wartete wohl nur noch auf mich. Ich mochte das Gefühl, wenn Eddy mich erwartungsvoll ansah. Er schien nur darauf zu warten, dass wir wieder etwas spannendes erlebten.

Wenn er mich so ansah, bedeutete es meistens, dass jetzt irgendwas passieren würde. Etwas aufregendes oder vielleicht auch nur ein Gespräch, das einem das Leben leichter machte. Es war in jedem Fall etwas positives und ich würde Eddy überall hinfolgen, wenn er mich so ansah. Egal wann, egal wo, ich würde mitkommen.
 

Ich schulterte meinen Rucksack und wollte gerade das Klassenzimmer verlassen, als mir Nico entgegen kam. Ich hatte ihn erst nicht bemerkt, was mir bei seiner Größe niemand verdenken konnte. Aber er steuerte direkt auf mich zu, ich versuchte ihm aus dem Weg zu gehen und beschleunigte mein Tempo etwas. Vielleicht wollte er gar nicht zu mir ...

„Hey, Ennoah, warte mal“, rief er schließlich und ich wägte meinen Chancen ab, wie glaubhaft es war, dass ich ihn nicht gesehen hatte. Aber da er mich direkt angesprochen hatte, wäre es wohl ziemlich scheiße gekommen, einfach weiter zu gehen. Auch wenn mich Nico schon mit seiner bloßen Anwesenheit nervte.

„Was willst du?“, fragte ich schließlich, als ich stehen geblieben war. Wir hatten nicht mehr miteinander gesprochen, seit er mich nach dem Bild gefragt hatte. Was nicht weiter verwunderlich war, da wir wirklich überhaupt nichts miteinander zu tun hatten.

„Ich brauch noch deinen Zettel für die Studienberatung. Du bist der einzige, der ihn noch nicht abgegeben hat und ich hab dich nie erwischt“, erklärte er mir. Stimmt ja, Nico war Stufensprecher, passte trotz dem vielen Metall zu ihm. Wenigstens fragte er nicht schon wieder nach einer Zeichnung ...

„Achso.“ Wenn es nur das war. Ich hatte den Zettel noch irgendwie in meinem Rucksack, keine Ahnung, ob ich den schon ausgefüllt hatte. Eher nicht. Ich suchte trotzdem danach, während ich von ihm beobachtet wurde. Hatte der nichts besseres zu tun?

Endlich hatte ich den Wisch gefunden und stellte fest, dass er nur außerordentlich zerknittert war, aber sonst noch so aussah, wie ich ihn bekommen hatte, nämlich leer. Mist.

„Sorry, hab den noch nicht ausgefüllt. Soll ich ihn dir morgen geben?“

„Hm, ungern. Kannst du das nicht jetzt machen?“

Können schon, war nur die Frage, ob ich auch wollte. Aber ich verkniff mir das. Immerhin hatte mich meine Oma ordentlich erzogen und wenn man mich nicht gerade zu einem unpassenden Zeitpunkt um etwas anbettelte, versuchte ich höflich zu sein. Selbst Nico gegenüber, der hier gerade auch nur seine „Pflicht“ tat.

„Wenn´s sein muss. Braucht aber ein Moment.“ Ich schaute mich nach einer Möglichkeit um, wo ich das Blatt hinlegen konnte, fand aber auf dem Schulflur nichts, also schob ich das Blatt zwischen meine Lippen, um nach einem Stift in meiner Tasche zu kramen.

„Kein Ding, ich hab Zeit“, kam es gut gelaunt von Nico. Wenn er soviel Zeit hatte, warum konnte er dann nicht bis morgen auf diesen dummen Zettel warten? Naja, war jetzt auch schon egal. Ich hatte einen Stift gefunden und versuchte jetzt das Blatt an die Wand gedrückt, den Kram auszufüllen. Bestimmte Studienwünsche? Kunst kritzelte ich hin und fragte mich, ob man das überhaupt lesen konnte. Es war echt nicht einfach so zu schreiben. So ein Dreck. Naja, wenn sie es nicht lesen konnten, war es nicht mein Problem.

„Hier.“ Ich gab Nico den Zettel, der ihn interessiert musterte.

„Kunst, hm?“, meinte er schließlich und ich fragte mich, was das sollte. Natürlich Kunst oder sollte ich bei meiner unglaublichen, nichtexistenten Sprachbegabung und dem wahnsinnigen naturwissenschaftlichen Talent, das ich nicht hatte, was anderes studieren?

„Sieht so aus.“ Ich zuckte mit den Schultern, packte meinen Stift wieder weg und machte mich auf den Weg nach unten. Vielleicht sollte ich noch einkaufen gehen, aber ich müsste erst die Dollar von meiner Mutter wechseln lassen. Gestern war der Brief gekommen, aber ich hatte mich nicht wirklich aufraffen können, zur Bank zu gehen. Und so dringend war es auch nicht gewesen, da Eddys Mutter mir eine Packung Kaffee gesponsert hatte und ich bei ihnen gegessen hatte. Ich würde ihnen ja für ihre Gastfreundlichkeit was geben, aber ich hatte ihnen mal Geld angeboten und sie hatten es abgelehnt.

„Und was machst du heute noch so?“ Ich schreckte auf, als ich bemerkte, dass Nico neben mir herlief. Mir war nicht aufgefallen, das er mir gefolgt war.

„Keine Ahnung. Einkaufen?“, gab ich ehrlich zurück, da ich von der Frage etwas überrumpelt war.

„Du sieht mir nicht wie der Typ aus, der shoppen geht.“ Dabei war er mir einen komischen Blick zu und ich hatte das Gefühl, als würde er da gerade was falsch verstehen.

„Essen einkaufen, du weißt schon, sowas das man tut, um nicht zu verhungern“, erklärte ich freundlich, wie ich war.

„Stimmt ja, du wohnst alleine, nicht?“ Das war doch ein Verhör. Auch wenn Nico dabei ganz arglos klang, ich hasste es ausgefragt zu werden. Und das Thema war sowieso heikel. Ich mochte es ehrlich gesagt nicht, alleine zu leben. Ich fand meine Wohnung zu groß, zu leer und zu still, um sie als angenehm zu empfinden. Ich hasste das Gefühl nach Hause zu kommen und zu wissen, dass einfach niemand da war, der dort auf einen wartete.

„Und?“, fragte ich genervt zurück. Ich wüsste sowieso nicht, was ihn das anging.

„Nee, find ich cool. Ich würd auch gern von zuhause ausziehen. Ist manchmal schon ätzend sich immer das Gelaber von meinen Alten und so anzuhören.“ Und mit jedem Satz, den er von sich gab, machte er sich bei mir noch unbeliebter. Ich unterließ es, ihm zu sagen, dass ich ganz bestimmt nicht freiwillig alleine lebte und lieber Eltern hätten, die mir manchmal auf den Geist gingen, als eine Mutter, die einfach nach Amerika verschwand und Jahre lang nichts von sich hören ließ.

„Dann zieh halt aus.“ Und merke, was für ein Elend das war!

„Keine Kohle.“ Er zuckte mit den Schultern. „Naja, ich muss noch ins Sekretariat, wir sehen uns ja dann.“ Er winkte mir noch zu und war dann einfach in einen Gang eingebogen. Weg war er. Sollte mir recht sein. Ich verstand sowieso nicht, warum er mir zur Zeit ständig auf die Pelle rückte. Seit wir beide in Geschichte 4-stündig waren, schien er das immer wieder mal als Entschuldigung zu nehmen, sich mit mir zu unterhalten. Ich hatte ja eigentlich gedacht, dass wir schon in der 10. darüber eingekommen waren, dass wir uns nicht mochten.
 

Der Club war verraucht und mir war eigentlich mehr nach gemütlichen Chillen mit Bier und Pizza bei mir daheim gewesen. Aber Eddy wollte unbedingt weggehen, er hätte es den anderen versprochen. Den Anderen ... Tz!

Ich merkte, wie mich Manuel - oder war es Marcel? Ich konnte die beiden nie so ganz unterscheiden. - mit einem missmutigen Blick anstarrte. Ich trank einen großen Schluck von meinem Cocktail, auf den Eddy mich eingeladen hatte und fühlte mich mit etwas mehr Alkohol im Blut Manuels Blicken besser gewachsen. Er konnte mich nicht sonderlich leiden, aus dem ganz offensichtlichen Grund, dass ich bei den Mädchen bedeutend besser ankam, als er. Was kein Kunststück war, da sich keine für ihn interessierte. Er war ja auch langweilig mit seinen schnöden, straßenköterblonden Haaren, den fahlen-blauen Augen mit dem immer etwas notgeilen Schimmern, wenn er Brüste sah und die Klamotten waren zwar in, standen ihm aber nicht wirklich, genau wie seine Frisur. Wäre ich ein Mädchen, ich würde ihm auch keinen zweiten Blick zu werfen.

Ich wusste, dass ich objektiv betrachtet kaum spannender aussah, aber ich wirkte wenigstens lässig, cool und war naja ... groß. Mädchen standen auf große Kerle, die sie nicht mit ihren Blicken auszogen. Ich hatte sowas nicht nötig, ich wusste, wie eine Frau nackt aussah und hatte das auch schon oft genug gezeichnet. Es hatte zwar noch irgendwo seinen Reiz, da jedes Mädchen doch noch mal anders aussah, aber war nicht mehr so spannend, wie noch mit fünfzehn.

Naja, für Manuel wahrscheinlich schon. Ich war mir recht sicher, dass der noch keinem Mädchen an die Wäsche durfte und vermutlich wurmte ihn deshalb meine Gesellschaft noch mehr. Ich war halt nicht gut für jedermanns Ego. Ich musste ja sagen, dass ich froh war, dass zwischen Eddy und mir niemals sowas gestanden hatte. Naja, wenn man mal von der dummen Sache mit Ekatarina absah, die sich sowieso seit einigen Monaten erledigt hatte, ihm zu Liebe. Wenn ich mich zwischen irgendeinem Mädchen, und war sie noch so atemberaubend schön wie Ekatarina es war, und meinem besten Feund entscheiden müsste, würde meine Wahl immer auf Eddy fallen. Mädchen gab es wie Sand am Meer, hübsche Mädchen immer noch so oft wie Muscheln, aber für jemand wie ihn müsste ich Welten absuchen.

„Er hat übrigens schon eine eigene Wohnung!“ Eddys Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich schaute verwirrt zu ihm rüber. Er unterhielt sich gerade mit einem hübschen Mädchen, die jetzt interessiert in meine Richtung sah. Ich lächelte kurz und gesellte mich zu ihnen.

„Enno“, stellte ich mich knapp vor und das Mädchen errötete leicht, warum auch immer. Eddy grinste mich breit an und ich verstand ihn nicht. Warum erzählte er von mir, wenn er eigentlich dem Mädchen Komplimente machen sollte?!

„Stimmt es, dass du Künstler bist?“, fragte schließlich das Mädchen mit großen Augen und ich schaute kurz zu ihm rüber. Da hatte er wohl etwas dick aufgetragen. Ich wollte ihn allerdings nicht bloß stellen und setzte ein selbstbewusstes Grinsen auf.

„Naja, Künstler ist ein weiter Begriff ...“ War kein Nein, kein Ja, klang aber cool. Künstler, was war das schon? Ich mochte aber den Gedanken irgendwie, dass mich Eddy als so jemand sah. Er mochte das was ich machte. Mir war es wichtig, das ich ihm etwas wert war.

„Kannst du mich malen?“ Ihre Augen glitzterten aufgeregt und ich zuckte mit den Schultern. Können schon, wollen war eine andere Sache. Sie kam mir irgendwie auch zu jung vor für den ganzen Kram. Immerhin würde ich sie nur zeichnen, wenn wir auch Sex hätten und ich war mir nicht ganz sicher, ob ich mich dann nicht strafbar machen würde.

„Kommt drauf an, was du mir zu bieten hast.“ Ich ließ mein Blick über sie gleiten und wusste, dass ich mit diesem Spruch wie ein Schmalspurcasanova klang. Mädchen schien das aber in der Regel nicht zu interessieren, die standen auf seltsame Anmachen, meiner Erfahrung nach. Sie lächelte unsicher und schaute zu Eddy, der etwas besoffen grinste. Wahrscheinlich hatte er uns gar nicht mehr zugehört. Idiot, ich war doch nur wegen ihm hier und jetzt sollte ich mit irgendwelchen Mädchen flirten.

„Was machst du so?“, wechselte ich das Gesprächsthema und lehnte mich gegen die Wand, während ich lässig und etwas desinteressiert über die Menschen hier hinweg sah. Sie wollte gar nicht, dass ich ihr meine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Sie wollte darum kämpfen müssen, sich für mich interessant machen, um sich dann einbilden zu können, dass ich sie nur wegen ihrem Gerede wieder anschaute. Sie hatte ganz hübsche Brüste, nicht so groß, aber man konnte sehen, dass sie eine schöne Form hatten und passte zu gut ihrem restlichen Körper, war ziemlich zierlich. Ich merkte, wie ich sie unbewusst mit Ekatarina verglich und das das Mädchen vor mir definitiv nicht mithalten konnte. Ekatarina hatte Modelmaße gehabt, groß, schlank und der wilde Ausdruck in ihren Augen, der pure Wahnsinn. Manchmal dachte ich noch an sie, vor allem, wenn ich mir Zeichnungen mit ihr ansah. Ich hatte es geliebt, sie zu zeichnen.

Aber wenn dann Eddy seinen Arm um mich legte, so wie jetzt, mich glücklich angrinste und mir dann erzählte, dass ich sein bester Freund war und das Leben mit mir einfach immer nur cool war, dann war mir Ekatarina so scheiß egal. Ich brauchte nur Eddy, dann war die Welt für mich in Ordnung.
 

Ich hatte mich am nächsten Tag tatsächlich dazu aufraffen können, einkaufen zu gehen und schleppte gerad die Einkäufe die Treppen hoch. Mit dem Kram müsste ich jetzt die nächsten zwei Wochen definitiv nicht mehr in einen Supermarkt. Ich hatte mir eine gesunde Zusammenstellung aus Asia-Instant-Suppe, Nudeln, Reis und Tomatensoße gekauft. Davon würde ich die nächsten zwei Wochen leben, dann könnte ich die nächsten Wochen keine Nudeln und Reis mehr sehen und würde das ganze durch Kartoffeln, die leider weniger lang haltbar waren, austauschen. Ja, ja, einseitige Ernährung war ungesund und ich werde sicher bald durch Tod aus Vitaminmangel verenden, aber zumindest wenn ich bei Eddy aß, was auch mindestens einmal die Woche war, würde ich da ein bisschen Abwechslung reinkriegen.

Und ich konnte mich einfach nie dazu entschließen, etwas frisches zu kaufen. Das vergammelte bei mir jedes Mal und mir war mein Geld zu schade, als das ich es in meinem Kühlschrank verschimmeln lassen wollte. Zu dem hatte ich diese Ernährung die letzten drei Monate ganz gut überstanden, wie ich fand.

Ich schenkte mir etwas von dem kalten Kaffee von heute Morgen ein und brühte mir dann einen neuen auf. Andere fanden kalten Kaffee ja widerlich, aber wenn man Unmengen an Milch reinschüttete, die ich zum Glück heute kaufen konnte, war das sowas wie Milchkaffee und völlig passabel. Die Einkäufe hatte ich einfach auf die Anrichte abgestellt. Ich würde das mal im Laufe der Woche in die Schränke einräumen, jetzt hatte ich nämlich keine Lust und es würde sich hier sowieso niemand an dem Chaos stören. Vielleicht gab es neben den vielen, vielen Nachteilen ein paar Punkte, die am Alleineleben ganz angenehm waren.

Da mein Magen knurrte und er offensichtlich nur mit dem Kaffee nicht glücklich war, entschloss ich mir noch eine Instant-Nudelsuppe zu machen, die immerhin den Magen füllte und man musste da wenigstens keine Töpfe dafür dreckig machen. Ich hasste es Töpfe zu spülen ...

Mit der heißen Schale voll Suppe in der linken Hand und dem kalten Kaffee in der rechten, balancierte ich in mein Zimmer. Ich hatte es auch schon wundervoll perfektioniert mit meinem Fuss die Tür zu öffnen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und dabei nichts zu verschütten. Vielleicht war ich in Sport auch nicht so ein hoffnungsloser Fall, wie ich meinem Lehrer immer einreden wollte. Allerdings hatte Geschicklichkeit leider nur bedingt mit wirklicher Sportlichkeit zu tun, dafür bräuchte man noch Kraft, Ausdauer, Muskeln, Motivation. Alles Dinge, die ich nicht mal im Ansatz besaß. Dafür konnte ich hübsche Bilder malen, so hatte es meine Mutter immer ausgedrückt. Ich hatte erst relativ spät damit begonnen zu sprechen und zu laufen, zeigte wenig Interesse an meinem Umfeld und anderen Kindern, aber ich hatte schon immer gezeichnet, seit ich einen Stift halten konnte. Ich war mir ziemlich sicher, dass meine Mutter lieber einer aktiveren Sohn gehabt hätte, der mit anderen Kindern Fangen spielte oder zumindest nach draußen gehen wollte. Einer der ersten Dinge, an die ich mich von meiner Mutter erinnern konnte, war wie sie da stand, den Kopf schüttelte und sagte: „Ich weiß wirklich nicht, von wem er das hat.“ und kurz danach war sie weg gewesen. Ich hatte auch keine Ahnung von wem ich das, was auch immer es war, hatte. Wahrscheinlich von meinem Vater, der so schlau war eine Sechzehnjährige zu schwängern und sich dann aus der Affäre gezogen hatte. Der hatte schon bevor ich geboren wurde, gewusst, dass er mit mir nichts anfangen konnte. Aber ihm trauerte ich nicht nach, ich hatte auch keinerlei Bedürfnis ihn kennen zu lernen. Nicht weil ich irgend einen Groll gegen ihn hegte, sondern einfach nur, weil es mich kein Stück interessierte, was mit ihm war. Zu dem war ich mit meiner Mutter schon genug gestraft. Ich hatte das Gefühl, dass ein Vater die ganze Sache noch irgendwie verschlimmern würde.

Laut schlürfend sog ich die langen Suppennudeln in meinem Mund und ich merkte, wie sich mein Magen langsam zufrieden fühlte, je mehr ich von der Suppe aß. War auch einer der wenigen Dinge, von denen mir nicht wirklich schlecht wurde. Eddy hatte mir mal empfohlen, zum Arzt zu gehen, aber ich hatte keine Lust. Ich mochte Ärzte nicht und hey, was einen nicht umbrachte, machte einen stärker, oder? Also warum unnötig Zeit bei nem Quacksalber verschwenden ...

Gerade, als ich die letzten Reste meiner Suppe auslöffeln wollte, schrillte das Telefon, was mich nach all den Jahren immer noch zusammenzucken ließ. Es gab wohl Dinge, an die ich mich kaum gewöhnen konnte. Ich stellte die Schale beiseite und hastete in den Flur, um abzuheben. Etwas außer Atem meldete ich mich mit einem „Ja?“. Vielleicht sollte ich mir mal ein schnurloses Telefon kaufen ... irgendwann mal, wenn ich zu viel Geld übrig hatte.

„Hey, Enni, ich bin´s.“, meldete sich Eddys fröhlich Stimme und ich konnte nicht anders, als zu grinsen. Ich war einfach glücklich, wenn ich seine Stimme hörte, keine Ahnung, wie er das immer anstellte.

„Was gibt’s?“ Es kam selten vor, dass er bei mir anrief. Meistens kam er einfach so vorbei, aber es störte mich jetzt auch nicht. Ich freute mich einfach von ihm zu hören.

„Du, ich wollte doch heute, bei dir vorbei kommen. Könnten wir das auf morgen verschieben?“, fragte er dann auch direkt. Ich war etwas überrascht, unter der Woche sagte er mir so gut wie nie ab, auch nicht seit er arbeitete. Gab es etwa irgendwas, was ihm wichtiger war, als ich?

„Uhm, klar, kein Ding“, gab ich etwas verdattert zurück.

„Okay, cool. Du bist super, also bis morgen dann“, kam es enthusiastisch von ihm und ich hatte irgendwie das Gefühl, als würde ich gerade was verpassen. Ich konnte allerdings nicht sagen, was.

„Ja, bis dann“, antwortete ich trocken.

„Ciao, Enni.“ Mit den Worten hatte er aufgelegt. Ehrlich, langsam entwickelte ich Aversionen gegen das Telefonieren. Ich lauschte noch dem Klang seiner Stimme nach und wünschte mir, dass er heute trotzdem noch vorbei kommen würde.

Ist denn die Wahrheit ein Zwiebel, von dem man die Häute nur abschält?

Es gab Tage, die lösten nur pure Frustation in mir aus. Damit meinte ich nicht irgendwelche Tage, bei denen was unheimlich schlimmes passiert war und man eigentlich gar nicht wusste, wie es überhaupt weiter gehen sollte. Nein, damit meinte ich einfach irgendein x-beliebiger Tag, der grundlos so unglaublich Scheiße war, dass man überhaupt nicht nachvollziehen konnte, wie man das verdient hatte.

So einen Tag hatte ich heute und das auch noch an einem Sonntag. Ich mochte Sonntage sowieso nicht sonderlich gerne, weil da Eddy oft keine Zeit hatte, war irgendwie Familientag oder irgendwie sowas. Zu dem bedeutete Sonntag das wieder eine Woche vorbei war und danach Montag kam und Montage waren noch beschissener.

Ich war aufgewacht, weil anscheinend die alte Dame über mir, Besuch von ihren Enkelkindern hatte, die dadurch herausstachen laut und nervig zu sein. Ich hatte sogar den leisen Verdacht, dass sie sich ein Spiel daraus machten, wer besonders viel Krach machen konnten. In jedem Fall war ich wach und fragte mich, warum es nicht mehr Kinder gab, wie ich eines war. Ich hatte nie Lärm gemacht, ehrlich nicht, ich hatte so gut wie nie geschrieen und meistens gezeichnet, so sollten Kinder meiner Meinung nach sein.

Nicht wie diese kleinen Monster, die ständig laut „Oma!“ schrieen. So wollte man nicht aufwachen, schon gar nicht, wenn man unangenehmen Müll geträumt hatte, der mit Beerdigungen und geliebten Menschen, die nicht mehr da waren, zu tun hatte.

Der Tage hatte also so der schlechteste Start gehabt, den ich mir vorstellen konnte. Das ich keine Milch und keinen Zucker mehr für meinen Kaffee hatte, machte es auch nicht besser. Noch schlimmer hätte es nur sein können, wenn mir der Kaffee aus gegangen wäre. Dann hätte ich nämlich die Wohnung verlassen müssen, um mir an der Tankstelle welchen zu kaufen. Wenigstens hatte ich mittlerweile wieder das Geld dafür.

Als das Telefon klingelte, hatte ich schon den Verdacht, dass ich es bereuen würde, ranzugehen. Das hatte sich auch bestätigt, als mir Eddy eklärte, er wäre zu verkatert, um herzukommen. Er würde den Tag lieber kotzend im Bett verbringen. Da konnte ich nicht viel sagen, ich wusste, wie es war, wenn einen ein Kater völlig lahm legte. Es ärgerte mich nur, dass es ausgerechnet heute sein musste. Nicht das ich so fertig war, wie letzten Sonntag und es einen akuten Anlass gab, warum Eddy hier sein sollte. Aber zur Zeit fühlte ich mich einfach furchtbar unruhig, wenn niemand hier war.

Es war, als würde einfach komplett etwas fehlen, wenn in dieser Wohnung niemand außer mir war. Die lauten Kinder über mir, die ihren Spass hatten, machten es nicht besser. Ihre fröhliches Geschrei schien in meiner leeren Wohnung regelrecht nachzuhallen und ich hatte den Fernseher lauter gedreht.

Die Stimmen von fremden Menschen, die alle etwas nicht reales verkörperten waren angenehmer zu ertragen, als alles um mich herum. Was ich am Sonntagsprogramm allerdings nicht mochte, war das die Sender wohl irgendwie versuchten, Familien dazu zu animieren gemeinsam vor dem Fernseher zu sitzen und Spielfilme zu gucken. All der Familienschmu, das war doch zum Kotzen.

Ich wollte an meinen Bewerbungsmappen arbeiten, naja, wollen, ich musste. Und gerade dieses Müssen schien einen unangenehmen Druck auf mich auszuüben, der dafür sorgte, dass ich mit jedem Strich, den ich machte noch frustrierter wurde. Das war doch alles Kacke. Wer auch immer behauptete, ich hätte Talent, der hatte keine Ahnung.

Nichts sah so aus, wie ich es wollte. Jeder Strich schien falsch zu sitzen und die sonstige Ruhe, die ich durchs Zeichnen bekam, setzte ums Verrecken einfach nicht ein. Ich radierte frustriert die Linien aus, die ich schon zehn mal gezeichnet hatte und bekam langsam ernsthafte Zweifel an einem möglichen Kunststudium. Wenn man davon absah, dass die nicht nur Zeichungen wollten und ich eigentlich noch zigtausend andere Sachen für die Mappen machen sollte, die ich noch viel weniger konnte. Ich hatte vom Fotographieren ungefähr soviel Ahnung, wie ein Stein von einem Vogel. Sah ja ganz hübsch aus, aber keine Ahnung wie ich das hinkriegen sollte. Mit Plastiken kannte ich mich auch nicht aus, ich hatte nicht mal irgendwelches Material dafür da, um welche herzustellen und Malen, malen hasste ich. Von dem Geruch der Acrylfarben wurde mir jedes Mal schlecht und irgendwie schienen bei mir Farben nie die Wirkung zu haben, die ich mir wünschte. Gott, allein wenn ich an meine ganzen Defizite dachte, schien es mir hirnrissiger, mich überhaupt an einer Uni zu bewerben.

Ich zeichnete noch verbissener weiter. Ich konnte doch einfach nichts anderes. Ich wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, wenn das mit dem Studium nichts wurde. Meine Noten waren wirklich nicht gut und es interessierte mich auch einfach nichts anderes. Ich würde für einen Bürojob vermutlich morgens nicht mal aus dem Bett kriechen. Mir fiel es ja oft genug schon zu schwer für die Schule aufzustehen.

Ich versuchte die Striche, die ich mit viel zu viel Druck aufgrund meines Frustes gezeichnet hatte, wieder weg zu radieren, weil sie einfach nicht gut waren. Beim Radieren riss mir das Papier.

„So ein Scheiße!“ Ich hatte wirklich genug. Ich schmiss das Zeug von mir auf den Boden und es war mir sowas von egal, wenn dabei etwas zerknitterte. Es war ja doch nichts dabei, bei dem es wichtig gewesen wäre.

Mit trotziger Miene saß ich jetzt auf dem Bett, starrte den Fernseher an und kaute dabei auf meinen Fingernägeln. Ich wusste nicht, was ich nun tun sollte. Ich war einfach viel zu frustiert, um jetzt weiter zu zeichnen. So hatte das einfach keinen Sinn. Aber wenn ich nicht zeichnete, musste ich etwas anderes tun. Ich konnte einfach nicht nur da sitzen und nichts tun. Dann wäre mir wieder diese unnatürliche Stille in der Wohnung aufgefallen, gegen die der Fernseher auch nichts tun konnte.

Ich stand von meinem Bett auf, ging zu meinem Schreibtisch und starrte von dort aus dem Fenster, kaute immer noch frustriert an meinen Nägeln. Das Wetter war auch noch ekelhaft schön. Es war doch Herbst, sollte es nicht stürmen und regnen?! Selbst die Natur enttäuschte mich. Ich wandte mich ab und lief unruhig im Zimmer umher, ging zu meinem Schreibtisch und hoffte, ich würde da irgendwas finden, dass mich plötzlich aus dieser Frustration riss. Da war natürlich nichts. Ich schüttelte mein Bett auf, schaute in meinem Kleiderschrank, in den ich meine Klamotten einfach nur hineingeworfen hatte und einen Dreck tun würde, sie zu ordnen. Ich verließ mein Zimmer und ging in die Küche. Ich vermied es dabei, die Tür zum Wohnzimmer auch nur anzusehen, dieses Zimmer war so ziemlich das letzte, was ich gebrauchen konnte. Einzig das Schlafzimmer meiner Großeltern, dass ich seit Jahren nicht betreten hatte, versuchte ich noch mehr zu verdrängen.

Die Einkäufe von Mittwoch standen noch weitest gehend unangetastet auf der Anrichte. Da ich mir schon wieder in den Finger gebissen hatte und keinen Bock hatte, mir schon wieder eine Nagelbettenzündung zu erkauen, fand ich das Lebensmitteleinräumen vermutlich eine gute Alternative zur Beschäftigung meiner Hände war.

Die Nudeln und der Reis verstaute ich in den oberen Schränken und fand bei der Gelegenheit ein Netz mit Zwiebeln, die ihre beste Zeit schon lange hinter sich hatten. Wann zum Henker, hatte ich mal Zwiebeln gekauft? Aber es würde zumindest den unangenehmen Geruch erklären, der seit einiger Zeit in der Küche hing. Mit angeekelten Gesicht hob ich die Zwiebeln hoch, die auch noch tropften und beförderte sie in den Mülleimer. Dabei hinterließen sie einen ekligen, schmierigen Vergammlungsfilm, den ich vermutlich entfernen sollte, bevor ich da weiter etwas in den Schrank legte. Ich seufzte, noch ein Punkt der für den perfekten, schlechten Tag sprach. Es gab doch nichts widerliches als die Reste von verschimmelten Lebensmitteln zu entsorgen.

Ich suchte nach dem Küchenpapier, beziehungsweise ich schaute an dem Platz, wo normalerweise immer Küchenpapier stand und stellte fest, das keines mehr da war. Ach, so ein Fuck, das nervte mich wieder tierisch. Um sowas hatte sich meine Großmutter immer gekümmert. Ich hatte einfach keinen Kopf für so einen Scheiß. Ich hasste einkaufen, ich hasste es einen eigenen Haushalt haben zu müssen, das war doch alles Beschiss!

Ich knallte den Küchenschrank zu und stapfte aus der Küche, sollten die Einkäufe doch liegen bleiben, wo sie waren. War doch sowieso egal, ob hier alles im Chaos versank. Wen interessierte das schon? Für wen sollte man überhaupt die Wohnung sauber halten? Es war doch wirklich alles Scheiß egal. Ich stand im Flur und atmete mehrmals tief durch, ich musste mich wieder beruhigen. Meine Hände zitterten und ich verstand nicht, warum ich wegen so einer Lapalie beinahe die Nerven verloren hätte.

Ich fuhr mir mit den Händen über die Augen, atmete nochmal durch und fühlte mich ein bisschen ruhiger. Ich sollte nicht so am Rad drehen, alles war okay. Es war wirklich alles in Ordnung, nur ein bisschen Dreck in der Küche. Das bekam ich in den Griff, alles kein Problem.

Ich hatte noch Klopapier, damit müsste man das auch wegwischen können. Ich würde es jetzt holen, die Küche sauber machen, die Einkäufe einräumen und dann wieder etwas zeichnen. Der Sonntag konnte nicht ewig dauern. Ich musste es nur bis morgenfrüh schaffen und wenn man bedachte, dass ich davon sicher zehn Stunden Schlafen würde, musste das machbar sein.

Ich ging ins Bad, um dort das Toilettenpapier zu holen von dem zum Glück noch genug da war. Wenigstens konnte ich an sowas denken...

Das Toilettenpapier befand sich in dem Unterschrank des Waschbeckens und als ich mich wieder aufrichtete, mit meiner grandiosen Beute in der Hand, musste ich unweigerlich in den Spiegel sehen. Ich sah abgeschlagen und übermüdet aus, was circa dem entsprach, wie ich mich fühlte. Müde war ich in letzter Zeit sowieso ständig, vielleich trank ich deswegen soviel Kaffee. Der Eindruck meiner Reflektion wurde zudem auch nicht verbessert, dass der Spiegel selbst ziemlich dreckig war. Man sah Zahnpastaspritzer, Wasserflecken darauf und Streifen, wenn ich den beschlagenen Spiegel mit dem Handtuch abgewischt habe, um mich darin zu erkennen. Ich könnte eine Fotoreihe mit Menschen vor dreckigen Spiegeln machen, aber ich hatte den leisen Verdacht, dass das weder sehr neu, noch sehr kreativ war. Ein Gedanke war es zumindest wert gewesen.

Mit dem Klopapier bewaffnet, widmete ich mich dem Schleimangriff der verschimmelten Zwiebeln. Wenn man nicht dran dachte, was es war, ging es eigentlich mit dem Aufputzen und es war schneller erledigt als erwartet. Allerdings sollte ich bei nächster Gelegenheit den Müll wegbringen. Ich räumte die restlichen Einkäufe in die Schränke, fand dabei noch eine Packung Käse zwischen den Schokoriegeln, die ich schon vermisst hatte. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob der Käse noch genießbar war, nachdem er fast eine Woche lang in dem beheizten Raum gelegen hatte. Allerdings war die Verpackung noch geschlossen. Ich zuckte mit den Schultern und legte sie einfach in den Kühlschrank, ich konnte ihn ja bei Gelegenheit mal probieren. Ich würde bestimmt nicht dran sterben und notfalls konnte ich damit noch Nudeln überbacken. Mit Käse schmeckte doch sowieso alles viel besser, selbst meine begrenzten Kochkünste.

Ich schaute mich in der nun halbwegs ordentlichen Küche um und stellte fest, dass ich für die ganze Aktion nicht mal zwanzig Minuten gebraucht hatte und ich so gesehen, wieder nichts zu tun hatte. In der Küche hörte ich auch nur das Ticken der alten Uhr, die direkt über der Tür hing.

Mit jedem Tick war wieder ein Moment meines Lebens vorbei. Verschwendung nur hier zu stehen, oder? Mann, ich war schon wieder so unglaublich müde.

Ich ging aus der Küche und weg von der depressiv machenden Uhr. Tick Tack - Mach was aus deinem Leben! - Tick Tack - Solange du noch Zeit hast! - Tick Tack. Die Uhr konnte mich mal kreuzweise, ich versuchte gerade mein Bestes, okay? Ich tat wirklich was ich konnte, damit wieder alles glatt lief. Das war nur nicht immer so leicht...

Ich hätte jetzt gerne Eddy angerufen, aber damit hätte ich mich lächerlich gemacht. Deswegen stand ich jetzt nur vor dem Telefon und starrte es an. Als wenn das nicht lächerlich wäre. Gut, er hatte zwar gesagt, ich konnte mich immer bei ihm melden, wenn etwas nicht stimmte. Aber ich war auch kein Kleinkind, dass nach seiner Mama rufen muss, bloß weil es Angst vor dem Alleinsein hatte. Außerdem war ja alles in Ordnung, mir kam die Wohnung nur irgendwie etwas leer vor und ich wusste, dass sich Eddy Sorgen machte, wenn ich ständig wollte, dass er hier war. Er machte sich sowieso schon genug Gedanken um mich, immerhin kam er mindestens dreimal die Woche zu mir oder fragte, ob ich nicht bei ihm vorbei schauen wollte.

Im Moment wünschte ich mir, dass das Telefon klingelte und er dran war, um mir zu sagen, dass er in der nächsten halben Stunde hier auftauchen würde. Aber auch verbittertes Niederstarren, während ich an meinen Fingernägeln kaute, brachte das Gerät nicht dazu einen Pieps von sich zu geben. Scheiße, ich musste echt drauf stehen, mich zum Vollhonk zu machen.

Warum sollte Eddy jetzt anrufen? Ich wusste, dass er einen Kater hatte und vermutlich den ganzen Tag das Bett nicht verlassen hat, außer um zu kotzen. Wenn Eddy mal soviel trank, dass er verkatert war, dann richtig. Er hielt eben nichts von halben Sachen, anscheinend auch nicht in dieser Hinsicht. Obwohl ich wusste, dass ich mich albern benahm, blieb ich noch einen kurzen Moment vor dem Telefon stehen, in der irrsinnigen Hoffnung, dass es doch plötzlich klingen würde.

Tat es nicht.

Ich war genervt von mir selbst. Komm, Enno, du bist doch ein großer Junge, du schaffst es doch mal einen Tag ohne deinen Helden Eddy auszukommen! Super, jetzt machte ich mich sogar im Gedanken über mich selbst lustig. Wenig amüsiert darüber, kickte ich das Telefontischchen, das etwas verzweifelt wankte, aber wohl doch soviel Standhaftigkeit besaß und nicht umfiel. War mir egal, ich ging in mein Zimmer. Ich machte mich doch nicht mehr vor mir selbst zum Volldepp. Ich konnte armselig sein, aber das war selbst mir zu low.

In meinem Zimmer, in dem der Fernseher immer noch lief, schmiss ich mich auf mein Bett und angelte nach dem Zeichenzeug, das wunderhübsch davor verteilt war. Abfotographieren, das war doch bestimmt künsterlischer wertvoll. Ehrlich, seit ich mich mit diesen Mappenkram beschäftigen musste, hatte ich keinen Schimmer, was wirklich gut war und was man überhaupt unter Kunst verstehen musste. Kunst war doch Kacke. Fäkalkunst?

Ich zeichnete einen kleinen Pilz und war zufrieden mit ihm. Er grinste mich ab. Pilze, was besseres ging wohl gerade nicht. Ich zeichnte glückliche Pilze, traurige Pilze, große Pilze, Pilze, die aussahen wie Penise, Pilze mit einem großen Schirm, Pilze mit Beinen und Pilze mit Armen. Ein ganzes Blatt voller itzibitzi kleiner Pilze und ich fühlte mich wirklich besser dadurch. Davon ermutigt beschloss ich noch ein paar Seiten meines Skizzenbuchs mit itzibitzi kleinen Penisen, Regenschirmen, Tomaten und Nasen zu füllen. Über die Nasen war ich besonders zufrieden, sie sahen genauso aus, wie Nasen aussehen sollte. Groß und laufend. Ich war definitv ein großer, großer Künstler. Ich seufzte und sobald ich die Augen zu machte, spürte ich wieder dieses frustrierte Gefühl, also sorgte ich dafür, dass ich die Augen nicht lange geschlossen hielt, sondern einfach weiter sinnloses Zeug zeichnete. Gießkannen, Gießkannen waren doch immer für einen Spass zu haben, oder? Man konnte ihnen hübsche Hüte aufsetzen, Hüten mit großen Blumen und Federn oder gleich einem ganzen, toten Fasan!

Ich hätte vielleicht doch noch Eddy anrufen sollen. Mein Blick suchte meinen Wecker. Es war halb zwölf, ob er noch vorbei kommen würde? Eddy hatte doch gesagt, ich sollte ihn anrufen, wenn es mir nicht gut ging und gerade wankte ich auf einer schmalen Zwischen absoluter Frustration und purer Resignation. Als gut würde ich das also nicht bezeichnen. Hm, Eddy müsste allerdings morgenfrüh arbeiten und er übernachtete immer ungern und darauf würde es hinauslaufen, falls er noch vorbei kommen würde. Egal, ich wollte ihn sehen.

Ich würde nicht schlafen können, bevor er nicht hier war, das wusste ich und irgendwie war dieses Gefühl etwas beängstigend. Was wäre, wenn Eddy irgendwann mal nicht mehr kommen würde, weil er jemand gefunden hatte, der ihm wichtiger war? Bei dem Gedanken zog sich mein Magen unangenehm zusammen und bestärkte mich darin, bei ihm anzurufen. Vielleicht wollte ich mir damit nur beweisen, dass ich mir keine Sorgen machen musste und er immer kommen würde, wenn ich ihn brauchte.

Ich ging in den Flur zum Telefon und hatte seine Nummer schon halb eingetippt, als mir aufging, dass sich seine Mutter bestimmt nicht freuen würde, wenn ich schon wieder so spät bei ihnen anrufen würde. Ich sollte ihm auf dem Handy anrufen, dass hatte er ja eigentlich immer an. Die Nummer kannte ich allerdings nicht auswendig, da ich mich selten auf diesem Weg meldete und ich mir generell schwer tat lange Zahlenreihen zu merken.

Die Nummer hing aber gut leserlich, noch für meine Oma, an dem Pinboard beim Telefontischchen und ich tippte sie langsam ein. Das Freizeichen war mehrmals zu hören und ich hoffte so, dass nicht die Mailbox ranging. Die brachte mir nämlich gar nichts, ich musste mit Eddy direkt sprechen und zwar jetzt.

„Ja?“, meldete sich eine sehr verschlafene Stimme. Mist, anscheinend hatte er schon gepennt. Das verringerte die Chance, dass er noch vorbei kommen würde drastisch.

„Hey, Eddy, ich bin´s.“ Meine Stimme klang rau und richtig fertig. Verdammt, ich wollte doch gar nicht so erbärmlich auf ihn wirken.

„Enni, was ist los?!“ Er klang sofort alamiert und seine Besorgnis ließ mich sofort etwas ruhiger werden. Ich konnte gar nicht anders, als ein bisschen zu lächeln. Ich war ihm wichtig, wenigstens ihm.

„Kannst du noch vorbei kommen?“, fragte ich und mein Herz schlug dabei schneller als mir lieb war. Ich hatte immer noch Angst, er würde Nein sagen und das wäre heute einfach zu viel. War der Anruf wirklich eine gute Idee gewesen? Seine Stimme tat mir gut, aber er durfte mich nicht ablehnen. Nicht er. Ich hörte ihn am anderen Ende der Leitung laut seufzen und mein Herz wurde schwer. Ich war ihm lästig, oder? Ich war einfach zu viel... Ich...

„Ok, kann ich machen... soll ich irgendwas mitbringen?“ Ich hörte, wie es raschelte. Anscheinend wühlte er sich gerade aus seinem Bett, um jetzt zu mir zu kommen.

„Nein.“ Ich brauchte nur dich. Wahrscheinlich war Eddy längst bewusst, wie wichtig er für mich war. Vielleicht enttäuschte er deshalb niemals mein Vertrauen. Ich war wirklich froh, dass ich ihn hatte...

Und als er dann neben mir im Bett lag, die Lautstärke des Fernsehers so leise, dass ich seinen gleichmäßigen Atem hören konnte, fühlte ich mich, als wäre in meinem Leben alles in Ordnung, solange er nur immer kommen würde. Meine Schulter berührte seine. Ich schloss die Augen und schlief ein, jetzt war er ja hier.

Die Poesie des Pessimismus ist die Lebensfreude.

Ich hatte die Nacht über miserabel geschlafen, da ich immer wieder aufgewacht war und ständig das Gefühl hatte, etwas wichtiges vergessen zu haben, wie zum Beispiel zu kontrollieren, ob meine Oma die Medikamente auch genommen hatte. Als mir dann einfiel, dass das nicht mehr nötig war, machte das nichts besser. Keine gute Nacht und ich hatte verschlafen, gut über eine Stunde. Englisch konnte ich eigentlich knicken, aber da ich mir nicht noch mehr unnötige Fehltage leisten konnte, packte ich trotzdem mein Kram zusammen und ging mit ungekämmten Haaren, ohne Frühstück, dafür aber mit Kopfschmerzen zum Unterricht. War sowieso egal, wie ich in der Schule aussah, ich musste dort ja niemand von meiner Person überzeugen und die Lehrer waren schon froh, wenn ich überhaupt regelmäßig erschien, da konnten sie Verspätung sicher verkraften.

Die Englischlehrerin schaute etwas unerfreut, als ich in den Unterricht reinstolperte, zwanzig Minuten vor Ende der zweiten Stunde, und etwas davon murmelte, dass ich meinen Wecker nicht gehört hatte, was sogar den Tatsachen entsprach.

Ich ließ mich in der dritten Reihe neben Robert nieder, der mir nur ein leises „Hey.“ zur Begrüßung zu kommen ließ. Ich würde zu weit gehen, wenn ich behaupten würde, Robert und ich waren so etwas wie Freunde. Er tat sich nur relativ schwer mit den Leuten aus der Stufe und deswegen war meistens ein Platz neben ihn frei und er mochte mich, weil ich ihm vor einem Jahr mal ein Bild mit zwei lesbischen Mädchen, die miteinander rummachten gezeichnet hatte. Eigentlich hatte ich das eher aus Mitleid gemacht, aber war ja auch egal. Mit Robert kam ich klar, er wollte nichts mit mir nach der Schule unternehmen, er verbrachte seine Pause mit seinem Kumpel, der sitzengeblieben war und er nahm mir Unterrichtsmaterial mit, wenn ich mal wieder nicht da gewesen war.

Dafür zeichnte ich ihm ab und an etwas und er sah etwas weniger armselig aus, weil er neben mir saß, war also fast sowas wie ein faires Geben und Nehmen.

Weil ich so spät gewesen war, hatte mich die Englischlehrerin dazu verdonnert, die restliche Stunde den Text vorzulesen und irgendwelche lustigen Fragen dazu zu beantworten. Nein, mich interessierte es nicht, dass Hilary Clinton ihrem Mann zur Präsidentschaft verholfen hat und ich wollte auch nicht wissen, wie sich die beiden kennen gelernt hatten und schon gar nicht, wollte ich Fragen dazu beantworten. Aber man hatte als gequälter Schüler nicht wirklich eine Wahl.

Ich war allerdings froh, als die zwanzig Minuten vorbei waren. Das war doch pure Folter gewesen. Lehrer, alles Sadistenpack. Das klang zwar unreif und kindisch und ja, Lehrer waren auch nur Menschen, aber manchmal waren sie einfach auch Sadisten.

„Und wie war dein Wochenende so?“, leierte Robert ein Gespräch an, während wir unsere Englischsachen zusammen packten und uns auf den Weg zu dem Raum machten, in dem wir Mathe hatten. Wir hatten nicht genug Klassenzimmer für die Menge an Schüler, die hier rumlungerten, deswegen durften wir für so gut wie jedes Fach quer durchs ganze Schulgebäude laufen. Mittwoch war besonders schlimm, da hatten wir Politik im fünften Stock und es gab natürlich keinen Aufzug. Ich mochte Politik sowieso schon nicht und dafür dann, die vielen Stufen hochhecheln war wirklich kein Genuss.

„Ging, hab an meinen Bewerbungsmappen gearbeitet.“ Ein bisschen, viel weniger, als ich eigentlich wollte, eigentlich so gut wie gar nicht. Aber das ging Robert nichts an. Er hatte sowieso nur gefragt, weil man das eben so machte und nicht, weil es ihn wirklich interessierte.

„Cool und kommst du voran?“ Blablabla, Smalltalk. Ich fühlte mich eigentlich gerade viel zu müde dafür. Ich rang mir aber ein Grinsen ab.

„Ja, läuft ganz gut und was hast du so gemacht?“ Wie gesagt, nicht das es mich wirklich interessieren würde, aber es würde mich auch nicht umbringen, ein bisschen so zu tun. Und anscheinend war das die Frage, die Robert eigentlich hören wollte, da er plötzlich über das ganze Gesicht strahlte.

„Ich war bei meiner Freundin!“, prahlte er. „Sie wohnt ja leider ein bisschen weiter weg, aber ich hab ja jetzt einen Nebenjob im GamesStop und kann es mir jetzt leisten, ab und zu zu ihr zu fahren!“ Faszinierend. Ich hätte nicht erwartet, dass so jemand wie Robert tatsächlich irgendwann mal in seinem Leben Sex haben würde oder eine Freundin, naja, war ja fast dasselbe. Versteht mich nicht falsch, Robert war wirklich ein netter Kerl mit dem Herz am rechten Fleck. Aber er verbrachte seine Zeit eigentlich damit mit seinem Kumpel Alfy vor einer Konsole zu sitzen und zu zocken. Wenn er das nicht machte, schaute er per Livestream Animes mit großbrüstigen Frauen in Latexkostümen und ich wollte gar nicht wissen, was er währenddessen tat. Und ehrlich, er sah so nerdig aus, wie er es auch tatsächlich war. Aber wir wollen ja mal nicht oberflächlich sein, Robert war wirklich in Ordnung.

„Cool, wusste gar nicht das du ne Freundin hast.“ Ich hoffte nur, er hatte mir das nicht schon mal erzählt, so spontan konnte ich mich aber nicht daran erinnern.

„Wir sind auch noch nicht solange zusammen, erst fünf Wochen. Ich hab sie auf ner Con kennen gelernt.“ Robert war leicht rot geworden und gerade fiel es mir schwer, mich für jemand frisch Verliebtes zu begeistern.

„Freut mich für dich.“, log ich ihm ins Gesicht. Es war nicht so, dass ich es ihm nicht gönnte, aber ich wollte davon gerade echt nichts wissen.

„Danke.“ Er grinste mich an. „Übrigens würde Natha gerne wissen, ob du deine Bilder wo hochlädst. Ich hab ihr von dir erzählt, weil sie auch sehr gerne zeichnet und so.“

„Äh, nein, sorry. Ich habs nicht so mit Internet.“ Ich hatte nicht mal einen internetfähigen PC zuhause stehen, auch wenn sich Eddy immer wieder darüber beklagte und fand, dass das kein Zustand war. Ich für meinen Teil hatte kein Problem damit, nicht online aktiv zu sein und wenn ich mal nach was nachschauen musste, konnte ich das immer bei Eddy machen.

„Okay, hätte ja sein können.“ Robert zuckte mit den Schultern und wir schwiegen uns ungemütlich an. Mittlerweile hatten wir auch den Klassenraum erreicht, aber er war noch abgeschlossen und wir mussten warten, bis der Lehrer kam. Die anderen aus dem Kurs lungerten auch auf dem Gang herum und anscheinend waren Robert und ich gerade die einzigen, die nicht ihren Spass hatten. Die Gruppe, die sich immer um Nico scharte, schien sich im Moment köstlich über etwas zu amüsieren. Ich konnte nicht genau sehen was es war, sie standen alle mit dem Rücken zu mir. Allerdings wollte ich mir auch nicht die Blöße geben und allzu interessiert in ihre Richtung sehen. Eigentlich achtete ich nur auf deren Gruppe, weil hier im Gang einfach nichts anderes war und wenn sie so laut lachten, musste man einfach in ihre Richtung sehen. Ich fühlte mich kurz wie ein Loser, weil ich hier mit Robert an der Wand gelehnt stand und nicht mit den anderen redete. Es war nicht so, das ich irgendwie Probleme mit den Leuten aus meinen Kursen hatte. Mit den meisten wechselte ich regelmägßig ein paar Sätze. Aber ich war momentan einfach nicht der Kommunikativste und meistens war ich froh, wenn man mich in Ruhe ließ. Allerdings nicht immer.

Ehrlich gesagt, war ich ziemlich erleichtert, als endlich Herr Heinrichs am Ende des Flurs auftauchte und uns alle in den Klassenraum scheuchte.
 

„Hey, Enni, Großer!“, begrüßte mich Nico begeistert und hatte den Arm um mich gelegt, als würde er mich schon ewig kennen.

„Nenn mich nicht so.“ Ich schüttelte seinen Arm ab und ich hoffte, er bemerkte nicht, dass ich erschrocken zusammen gezuckt bin auf Grund seiner Berührung. Ich hatte selten Körperkontakt zu anderen Menschen, er war mir in der Regel unangenehm, besonders wenn ich die Person nicht kannte oder in Nicos Fall einfach nicht mochte.

„Wie soll ich dich sonst nennen? Ennoah ist so lang.“ Nico ging unbeeindruckt weiter neben mir her. Er hatte mich erwischt, als ich aus dem Schulgebäude gekommen war und mich schon von Robert verabschiedet hatte. Von Nicos Freunden sah ich auch niemand. Die Situation war mir suspekt.

„Lass es einfach, okay?“ Ich hatte zwar nicht das Gefühl, als hätte es viel Sinn, ihm das zu erklären, aber versuchen konnte man es ja. Allerdings wusste ich immer noch nicht, was Nico schon wieder von mir wollte. In letzter Zeit fing er ständig irgendwelchen Smalltalk an und ich fühlte mich wirklich irgendwie belästigt davon. Wahrscheinlich dachte er sich, dass wenn ich ihn mochte, konnte er sich von mir irgendwelche Bilder erschnorren, wäre nicht der Erste... Mensch, ich musste als Mensch wirklich wenig bieten, wenn man mich nur wegen meinem möglichen Zeichentalent mochte. Gespräche mit Nico nervten mich nicht nur, sie deprimierten mich auch noch. Herrlich, das was man wollte.

„Sei nicht so langweilig, Mann. Ich versuch mich doch nur mit dir zu unterhalten.“ Und mir stellte sich nur die Frage, warum gerade ich? Nico hatte mehr als genug Leute, die sich regelrecht darum prügelten etwas von seiner Aufmerksamkeit zu bekommen. Wobei das weder an seinem Aussehen lag, das eigentlich sehr gewöhnlich war, wenn man von den Piercings absah, noch an seinen miesen Charaktereigenschaften. Er konnte einfach nur gut Leute für sich einnehmen und das wusste er ganz genau. Einer der Gründe, warum er so arrogant war.

„Niemand zwingt dich mit mir zu reden.“ Und ich hatte es definitiv nicht nötig, mich für ihn interessant zu machen. Wenn andere das gerne taten, war das ihr Problem.

„Uh, eiskalt abgeblitzt.“ Nico lachte und ich verstand ihn nicht. Was genau wollte er von mir? Wir hatten wirklich nichts von einander. Ich mochte seine ganze Art nicht und er konnte es nicht ausstehen, wenn man ihn nicht leiden konnte. Das hatte so doch gar keinen Sinn. Nico ging trotzdem weiterhin neben mir her, verzichtete aber vorerst darauf, schon wieder ein Gespräch anzufangen. Ich fragte mich, ob der nun bis zu meiner Wohnung mitlaufen wollte. Der Gedanke behagte mir ehrlich gesagt nicht so. Ich wollte nicht, dass er wusste wo ich wohnte. Das ging ihn schlicht weg nichts an.

Allerdings schien er tatsächlich vor zu haben mir zu folgen. Er machte nämlich keinerlei Anstalten sich einfach irgendwann zu verabschieden. Zu meiner Wohnung war es auch nicht mehr wirklich weit und entweder sagte ich ihm jetzt, dass er sich verpissen sollte oder ich ließ mir eine fadenscheinige Ausrede einfallen. Ich wusste nicht mal, ob es funktionierte, wenn ich Nico sagen sollte, er sollte die Fliege machen. Er konnte wirklich penetrant sein... wie eine nervig, surrende Fliege, die ständig um einen herum flog. Hm, wie auch immer.

Ich könnte behaupten, ich müsste noch in den Supermarkt etwas einkaufen. Aber das einzige, was mir spontan einfiel, was ich brauchen könnte, war eine neue Packung Käse. Außerdem hatte ich nicht wirklich so viel Geld übrig, dass ich es für sinnlose, spontan Einkäufe rauswerfen könnte. Am Ende wurde ich so nutzloses Zeug wie Obst und Gemüse kaufen...

Und ziellos durch die Stadt laufen und dabei von Nico verfolgt zu werden, kam mir ehrlich gesagt auch lächerlich vor. Also musste ich ihm sagen, dass ich wirklich keinen Bock hatte, ihm meine Wohnung zu zeigen.

„Joh, Enni, ich muss jetzt hier lang, muss noch was in der Stadt erledigen. War trotzdem cool mit dir zu reden. Ciao, Großer!“ Huch?! Der ging von alleine. Er winkte noch kurz und ich schaute ihm verdattert nach. Naja, sollte mir recht sein. Und irgendwie fühlte ich mich wie ein Idiot, weil ich dachte, er stalkte mir nach. Vielleicht hielt ich auch einfach zu viel von meiner Person und Nico wollte gar nicht mit mir befreundet sein, sondern war einfach an und für sich nett zu mir. Wahrscheinlich aus Mitleid, wie die meisten Leute. Gah... ich sollte mich jetzt einfach freuen, dass er mich nicht weiter verfolgte. Es sollte doch nicht so schwer sein, eine positive Sache richtig zu schätzen, anstatt immer alles schlecht zu machen. Pessismus war was für Leute, die doch einfach zu faul waren, nach den schönen Dingen im Leben zu suchen, oder? Verdammt, ich wollte wirklich kein Pessimist sein...
 

Nico schien von unserem Gespräch immer noch nicht so abgeschreckt gewesen zu sein, wie ich gehofft hatte. Da wir eine ähnliche Wahl bei den Leistungskursen hatten, waren wir beide in relativ vielen gemeinsamen Kursen und irgendwie hatte er wohl eine Begeisterung dafür entwickelt, mich nach der Schule noch ein Stück zu begleiten. Ich wusste nicht, ob es wirklich auf dem Weg für ihn lag oder ob das nicht einfach eine schräge Ausrede war, auch wenn ich nicht wusste, für was das gut sein sollte. Es war mittlerweile Donnerstag und er hatte mich jeden Tag begleitet, auch wenn ich ihn beharrlich angeschwiegen hatte und auch seine Begrüßungen ignorierte. Jedes Mal bog er kurz vor meinem Haus ab, mit der Aussage, dass er noch in die Innenstadt wollte. Einmal hatte er mich sogar mit in den Supermarkt begleitet und sich darüber lustig gemacht, dass ich mir nichts Frisches kaufte, sondern nur Fertigkram. Er meinte, das würde auch erklären, warum ich immer so blaß und kränklich aussah. Wer hatte ihn schon nach seiner Meinung gefragt? Ich aß, was ich essen wollte, das war mein gutes Recht.

Komisch an der Sache war, dass die Innenstadt von der Schule aus näher dran war, als meine Wohnung es war. Wir wussten beide, dass er einen Umweg lief. Aber ich wollte ihn nicht fragen, warum er das machte und was er sich davon versprach. Mich hätte nur seine Antwort wieder genervt. Ich war sowieso froh, dass er meistens nichts sagte, wenn er schon neben mir her lief. Ich fragte mich, was eigentlich mit seinen ganzen Freunden war, die ihn sonst umkreisten wie ein Metroitengürtel den Saturn. Die ärgerten sich bestimmt, dass er nie mit ihnen nach Hause ging. Allerdings wohnte Nico in einem kleinen Vorort. Es konnte sein, dass er generell nicht mit ihnen Heim ging. Ich hatte keine Ahnung, ich würde auch nicht fragen. Ihn einfach ignorieren. Bei Hunden funktionierte es doch auch so, dass man negatives Verhalten keine Beachtung schenken durfte, nur so würde der Hund lernen, dass das nicht funktionierte. Allerdings hatte mir Eddy erklärt, dass es bei Hunden irgendwas mit Liebesentzug zu tun hatte, also könnte es bei Nico eher einen zweifelhaften Erfolg haben.

„Du wohnst in einer ziemlich guten Gegend.“, kam es schließlich von Nico, als wieder eine Weile schweigend neben einander hergelaufen waren. Eigentlich müsste er demnächst wieder abbiegen, deswegen ließ ich mich doch mal zu einer Antwort erhab.

„Kann sein.“ Ich hatte mich nicht so mit den Stadtteilen befasst, ich wusste nur, dass es hier wenig Überfälle gab, hier viele, teure Autos rumstanden und man nachts keine Angst haben musste, alleine auf der Straße unterwegs zu sein. Mehr war mir eigentlich nicht wichtig.

„Haben deine Eltern irgendwie viel Geld? Also weil du es dir leisten kannst, hier zu wohnen und alles.“ Verdammt, ich hätte ihn nicht antworten sollen, das schien ihn nur motiviert zu haben, wieder dumme Fragen zu stellen.

„Das hat nichts mit meinen Eltern zu tun.“ Und eigentlich war das schon mehr Information, als Nico verdient hätte.

„Also ich könnte es mir nicht leisten einfach hier zu wohnen. Ich mein, die Kaltemiete liegt hier bei einer kleinen Einzimmerwohnung bei 350 Euro, wenn man da noch Strom und Heizung dazu rechnet, ist das n ordentlicher Batzen... Wie groß ist deine Wohnung eigentlich?“, fing er schon wieder mit seinem nervigen Verhör an. Meine Wohnung war viel zu groß, soviel wusste ich. Mir würde eine Einzimmerwohnung völlig reichen, aber ich konnte es mir definitiv nicht leisten zur Miete zu wohnen, also musste ich eben nehmen, was ich haben konnte.

„Musst du nicht jetzt irgendwo anders hin?“, fragte ich genervt zurück. Normal bog er an der Kreuzung, an der wir gerade standen immer ab.

„Hm, ich dachte eigentlich, ich schau mir mal an, wie du wohnst. Das würde mich wirklich interessieren.“ Nico lächelte mich an und ich versuchte mir vorzustellen, wie er in meiner trostlosen Wohnung aussehen würde. So unpassend wie der gebräunte, fröhliche Krankenpfleger in der Leichenhalle, wenn nicht sogar krasser. Ich wollte ihn definitiv nicht in meiner Wohnung haben.

„Du kannst dich doch nicht einfach bei mir einladen“, gab ich irritiert zurück. Ich wusste, dass Nico sehr von sich selbst eingenommen war und wahrscheinlich bei anderen Leuten, einfach entscheiden konnte, dass er vorbei kommen wollte, aber bei mir definitiv nicht.

„Sei doch nicht so ein Spielverderber, nur ein kurzer Blick. Bitte!“ Er klimperte mich mit großen Augen an und ich wollte gar nicht wissen, bei was für Leuten so ein Augenaufschlag funktionierte. Ich fand ihn eher gruselig, bevor ich allerdings antworten konnte, kam mir mein ewiger Held zur Rettung.

„Hey, Enni!“ Eddy stand auf der gegenüberliegenden Straßen und winkte mir breit grinsend zu. Stimmt ja, er wollte heute bei mir vorbei kommen. Woah, ich war wirklich froh ihn zu sehen.

„Joh, Eddy“, grüßte ich zurück und ignorierte Nico, der sich immer noch nicht verdünnisiert hatte.

„Oh, du hast jemand mit dabei?“ Eddy schien Nico erst zu bemerken, als er direkt bei mir stand und eigentlich störte es mich, dass er ihn überhaupt kennen lernen musste. Ich mochte Nico nicht einmal.

„Ich bin Nico“, kam es kühl von ihm und ich war überrascht und irgendwo auch verärgert, dass er nicht mal versuchte, nett dabei zu klingen. Mir erst auf die Nerven gehen und dann war er auch noch unhöflich zu Eddy. Das hatten wir ja gerne.

„Ist dir nicht kalt mit dem ganzen Metall im Gesicht?“, fragte Eddy nonchalant und mit einem abschätzenden Blick. Normalerweise war Eddy um einiges umgänglicher, vor allem bei Leuten, die er nicht kannte. Aber er schien von Nico noch weniger zu halten, wie ich.

„Und ich hätte darauf gewettet, dass du mich fragst, ob die Piercings beim Küssen stören. So kann man sich irren.“ Nico schien ziemlich unbeeindruckt von Eddys Art, aber das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit. „Naja, Enni, ich werd mal. Man sieht sich, Großer!“

Nico klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter, was er sonst nicht machte und verschwand endlich Richtung Innenstadt.

„Wer war der Knirps?“, fragte Eddy, als Nico außer Sichtweite war.

„Einer aus meiner Schule, is nich so wichtig.“ Ich versuchte das Thema Schule und alles was damit zu tun hatte bei Eddy zu vermeiden. Manchmal hatte ich das Gefühl, als würde es unnötig Distanz zwischen uns schaffen. Auch wenn zwischen Realschule und Gymnasium nicht so ein Unterschied liegen sollte, schien es manche Kluften zu eröffnen, vor allem jetzt wo Eddy eine Ausbildung machte und ich immer noch Schüler war. Vielleicht war das Ganze auch nur Unsinn und ich bildete mir da zu viel darauf ein, ich vermied das Thema trotzdem lieber.

„Hm, wenn du meinst. Sah komisch aus der Kerl.“ Eddy verzog etwas das Gesicht und ich konnte nicht anders als zu lachen. Manchmal konnte Eddy ziemlich spießig sein, gerade was das Aussehen anging. Aber ich musste zu geben, selbst mir war das ganze Metall in Nicos Gesicht zu viel und ich fand eigentlich das meiste tolerierbar.

„Sobald er mich um ne Mark anschnorrt, sag ich dir Bescheid, dann darfst du ihn verprügeln.“

„Boah, ich hasse Punks“, murrte Eddy. Nur um das klar zu stellen, Eddys Aussage hatte nichts mit einer politischen Gesinnung zu tun, er konnte es nur nicht ausstehen, wenn ihn jemand um Geld anbettelte, für das man jeden Tag hart arbeitete. Seit er einen Job hatte, war er auch noch empfindlicher in dieser Hinsicht geworden. Verständlich irgendwo.

„Spießer.“ Ich grinste und er boxte mir gegen die Schulter. „Aber Nico ist eigentlich voll der Streber, Schulsprecher und ich glaub sogar Stufenbester, oder so.“

„Der?“ Eddy schaute etwas skeptisch. Ich zuckte mit den Schultern. Ich mochte Nico nicht so gerne, aber ich wollte auch nicht, dass Eddy dachte, ich würde mit Punks rumhängen. Und ich war wirklich glücklich, dass Eddy doch noch Zeit hatte. Am Dienstag war er noch nicht sicher gewesen, ob er überhaupt heute kommen konnte, deswegen freute ich mich um so mehr. Auch wenn ich nicht wusste, warum er immer öfter keine Zeit hatte.

Ein kultiviertes Mädchen meidet die Küsse eines Alten.

Ich lernte den Grund, warum Eddy in den letzten Tagen so wenig Zeit hatte, am Samstag kennen. Sie hieß Sophie, hatte kastanienbraune Haare und so ein süßes Lächeln, dass man fast Karies davon bekam. Eddys Mutter hatte mich ins Haus gelassen. Wir hatten ausgemacht, dass wir uns heute bei ihm treffen würden, weil wir heute noch weg gehen wollten. Ich hatte nämlich keine Lust, schon wieder ein schreckliches Wochenende allein zu durchleben. Von denen hatte ich nämlich wirklich genug.

Was ich nicht erwartet hatte, war das Mädchen, das in Eddys Armen lag und kicherte, als ich den Raum betrat. Falscher Film, oder? Normalerweise war ich derjenige, der die hübschen Mädchen im Arm hatte. Aber das war nicht der Punkt, der mich störte. Warum zur Hölle hat mir Eddy noch keinen Ton von seiner Freundin erzählt?! Ich hatte ja noch nicht einmal gewusst, dass er sich in jemand verliebt hatte.

„Und du bist also Enni?“, fragte sie mit leuchtenden, braunen Augen, nach dem Eddy sie mir vorgestellt hatte. Eins musste man Eddy lassen, das Mädchen sah wirklich gut aus. Nicht das ich ihm so eine Freundin nicht zu getraut hatte, aber bis jetzt war sein Glück gerade bei solchen Mädels eigentlich nicht vorhanden gewesen.

„Sieht so aus...“ Ich fühlte mich dämlich bei dem Satz. Ich wusste ehrlich gesagt nicht viel dazu zu sagen. Ja, ich war Enni und sie war das Mädchen von dem er mir nichts erzählt hatte. Ich wollte wieder nach Hause, stattdessen ließ ich mich auf den Schreibtischstuhl fallen. Sonst saß ich immer neben Eddy, aber das kam mir unpassend vor. Ich wollte mich nicht zwischen ihn und seine Freundin drängen, oder?

"Adrian hat schon soviel von dir erzählt!" Sie lächelte mich sympathisch an, trotzdem löste dieser Satz ein bitteres Gefühl in mir aus. Ich tippte nervös mit dem Fuss auf den Boden.

"Ich hoffe nur Gutes." Noch ein Lächeln dazu, auch wenn es mir ziemlich egal war, was Eddy ihr von mir erzählt hatte. Lässig lehnte ich mich zurück und kaute ich an meinen Fingernägeln. Ich wollte eigentlich lieber wissen, warum ich über dieses Mädchen hier rein gar nichts wusste. Sophie lachte als Erwiderung und Eddy grinste kurz, auch wenn es eher verunglückt wirkte. Diese Situation war irgendwie insgesamt total falsch. Ich konnte nicht den Finger darauf legen, was es war. Aber es stimmte einfach nicht. Wir drei sollten nicht so gemeinsam in diesem Raum sitzen. Allerdings konnte ich nun auch nichts daran ändern, also musste man das Beste daraus machen, oder? Ein kleines Stück Nagel löste sich unter meinen Bissen und fühlte sich unangenehm auf meiner Zunge an.

"Er meinte, du malst sehr gut", kurbelte schließlich Sophie das Gespräch wieder an. Auch wenn ich etwas irritiert war, dass ich anscheinend das Thema war.

"Klar, ich bin großer Künstler." Falsche Bescheidenheit brachte doch nichts. "Naja, mehr oder weniger. Ich zeichne eher, als zu malen." Ehrlich sollte man trotzdem sein, am Ende hatte noch Sophie ein komisches Bild von mir und wenn Eddy noch länger mit ihr zusammen war, sollte ich es mir mit dem Mädchen nicht versauen.

"Und was zeichnest du dann so?" Nicht, dass ich diese Frage nicht schon tausend Mal gehört hätte...

"Alles mögliche." Ich zuckte mit der Schulter, da ich eigentlich keine Lust hatte, meine Aussage detaillierter auszuführen.

"Auch Aktzeichnungen?" Sie grinste mich schelmisch an und ich schaute beunruhigt zu Eddy, der seine Freundin gespielt entsetzt in die Seite boxte. Zum Glück nahm er ihr die Frage nicht übel, oder mir. Vielleicht hatte ich auch den Satz anzüglicher wahrgenommen, als er gemeint war. Ich fühlte mich unangenehm angespannt und ich wurde auch nicht durch das Tippen mit meinem Fuss ruhiger. Verdammt.

"Sowas fragt man nicht, Schatz!", meinte er lachend. Recht hatte er!

"Was, warum nicht? Ich find sowas spannend!" Sophie schien ja wirklich ganz angetan zu sein von Zeichnern. Wäre nicht das erste Mädchen - nur das erste Mädchen, dass mit Eddy zusammen war. Gar nicht gut.

"Sophie kann übrigens ganz toll Klavier spielen!", erzählte Eddy etwas zusammenhangslos. Wahrscheinlich wollte er einfach das Thema wechseln, auch wenn ich Klavierspielen etwas langweilig fand. Ich konnte mir allerdings Sophie schlecht an einem Piano vorstellen in einem braven Aufzug, geschlossen bis zum Kragen. Sie wirkte viel zu impulsiv für so etwas ruhiges wie Klavier.

"Tatsächlich?", fragte ich eher der Höflichkeit wegen. Ich interessierte mich ehrlich gesagt kein Stück für Musik. Ich hörte kaum welche, noch wollte ich jemals selbst ein Instrument erlernen.

"Ja, klingt total abgefahren was sie spielt. Sie macht auch bei so Wettbewerben mit, nicht?" Eddys Augen glänzten begeistert dabei und ich hatte ganz kurz den unsinnigen Gedanken, dass ich mich vielleicht doch mal mit einem Instrument hätte beschäftigen sollen. Einfach wegen Eddy.

"Gib nicht so an, du!" Sie boxte Eddy in die Seite und es schien ihr wirklich etwas peinlich zu sein, dass ihr Freund so mit ihr angab. Ich kannte das Gefühl. Eddy prahlte auch manchmal ganz gerne mit meinem Talent, was zwar irgendwo ein bisschen cool war, aber eigentlich auch ziemlich peinlich.

"Was denn? Du bist super!" Er drückte ihr einen Kuss auf den Mund und ich drehte mich weg. Mir war es noch nie so unangenehm gewesen, ein verliebtes Pärchen zu sehen. Lag es daran, dass es Eddy war? Weil es plötzlich ein Mädchen gab, dass ihm vielleicht so wichtig war wie ich?

Sophie schob Eddy kichernd von sich und hatte eine leichte Röte im Gesicht. Ha, dann war ich also nicht der einzige gewesen, dem diese Situation gerade unangenehm gewesen war? Fabelhaft.

"Du blamierst mich, Schatz", sagte sie schließlich und schaute mit einem scheuen Blick zu mir. War ihr etwa meine Meinung so wichtig? Na gut, es war immer von Vorteil, wenn der beste Freund des Partners einen mochte. Ich fühlte mich trotzdem etwas albern. Sollte ich hier deren Beziehung absegnen, oder was?

"Mach dir keine Sorgen. Ist cool, das mit dem Klavierspielen." Ich lächelte kurz, wusste aber nicht, ob das weniger gelogen wirkte. Aber Mädchen hörten sowas gerne, Komplimente. Aber wer nicht?

"Naja, nicht in meinem Alter, find ich." Ihre Hände waren miteinader verhakt und Eddys Daumen fuhr über ihren Handrücken, sein Blick war auf sie gerichtet. Er sah glücklich aus, verliebt. Ich bemerkte ein unangenehmes Ziehen in meinem Magen. Was störte mich so daran? Ich sollte mich für ihn freuen, oder? Er hatte ein hübsches, intelligentes Mädchen gefunden, dass es wohl ernst mit ihm meinte. Sowas war gut. Ich könnte wirklich neidisch werden. War ich neidisch auf ihre Beziehung? Wollte ich das auch? Nicht mehr alleine sein...

"In deinem Alter?", fragte ich etwas verwundert. Ich wusste nicht genau, wie alt sie war. Aber ich kannte kein Mädchen in meiner Stufe, der es irgendwie peinlich war, dass sie ein Instrument herausragend spielen konnte. Die meisten gaben selbst ziemlich damit an. War sie älter, als ich sie eingeschätzt hatte?

"Naja, ich bin fünfzehn und ich weiß nicht. Klavier ist doch schon ziemlich nerdy, oder nicht?" Ich rutschte mit meinem Ellenbogen ab, mit dem ich mich gerade auf den Schreibtisch stützen wollte. Scheiße... Sie schaute mich mit ihren großen, braunen Augen an und ich fragte mich, wie mir nicht auffallen konnte, dass sie so jung war. Fünfzehn?! Was zur Hölle dachte sich Eddy dabei? Gott, der hatte es doch nicht nötig, mit einer Minderjährigen rumzumachen...

"Nicht mehr wie zeichnen." Ich kämpfte mir ein Lächeln ab und wollte Eddy am liebsten schütteln und Verstand einprügeln. Mann, Alter, die war doch viel zu jung für dich. Mein Kehle war trocken und ich fühlte mich wie ein totaler Idiot. Das war doch nicht deren Ernst? Ich sahs Eddys Blick, sah wie er sie anschaute und ich wusste, das war sein voller Ernst. Er war Sophie völlig verfallen... Musste sie denn so jung sein?! Störte mich das oder war es was anderes?

„Wann wollten wir denn eigentlich los ins Su Casa?“, lenkte ich vom dem Thema ab. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken. Je schneller ich aus dem Raum raus konnte, desto besser. Ich wollte wohin, wo ich auch einfach mit jemand anderen reden konnte und mich nicht ihnen komplett ausliefern musste, so wie jetzt gerade. Ich tippte schneller mit meinem Fuss auf den Boden und ich wusste, dass ich mir als erstes eine Rum Cola in dem Club holen würde, ich brauchte definitiv Koffein.
 

Das war dann auch das erste, was ich machte, als ich meine Jacke an der Gaderobe abgegeben hatte. Nach dem ich gefragt hatte, sind wir zum Glück ein bisschen später auch los. Immerhin konnte Sophie ja auch nicht ewig dort bleiben, weil sie ja noch keine achtzehn war, noch nicht mal sechzehn. Verdammt.

Ich hatte schon die Hälfte meiner Rum Cola ausgetrunken, als Eddy und Sophie endlich neben mir an der Bar standen. Sie hatte ewig an der Gaderrobe gebraucht, da Sophie sich nicht ganz einig war, wie sie ihr Geld am besten unterbringen sollte und keine Ahnung, Mädchenkram einfach.

Ich war schon länger nicht mehr weggewesen und ich hatte völlig vergessen, wie viele Leute eigentlich immer im Su Casa waren und die penetrante Lautstärke, an die konnte ich mich auch nicht erinnern. Vermutlich war das der Grund gewesen, warum ich mich in den letzten Monaten am Wochenende lieber in meiner Wohnung verkrochen hatte, hier stank es regelrecht nach blühenden Leben. Aber im Moment war es mir irgendwie recht.

Ich verstand weder was Eddy zu seiner Freundin sagte und sie zum Kichern brachte, noch musste ich zwingend zu ihnen schauen, was es gerade besser für mich machte. Oder es lag an dem Rum. Vielleicht alles zusammen, keine Ahnung.

Ich erhob mein halb leeres Glas, als sie auch endlich ihr Getränk hatten und nickte ihnen zu. Ich wusste nicht, was unser eigentlicher Trinkspruch war, aber bei mir war es: „Auf das ich diesen Abend überleben möge!“ Da es hier sowieso so laut war, dass man sich nur verstand, wenn man sich ganz initim zu einem lehnte und man dann das Gesagte ins Ohr geschrieen bekommt, war es relativ egal, was ich sagte.

Was mich etwas überraschte, war Sophie die plötzlich verschwunden war. Sie war gerade noch neben Eddy gestanden und hatte sich küssen lassen und jetzt hatte sie einfach die Menge sie verschluckt. Fand ich okay, jetzt stand nämlich Eddy wieder bei mir und ich fühlte mich etwas entspannter. Ich exte meine Rum Cola und bestellte mir Wodka Bull. Ich hatte heute genug Geld mitgenommen, um mir die Welt schön zu trinken, fast als hätte ich geahnt, dass ich das brauchte.

„Und wie findest du sie?“, schrie mir Eddy über den Lärm hin ins Ohr. Ich spürte seinen Atmen auf meiner Wange und seine Schulter an meiner. Das war definitiv besser, als wenn er neben Sophie stand. Ich spürte, wie ich einfach grinsen musste.

„Hm?“, reagierte ich etwas langsam. Ich hatte nicht ganz darauf geachtet, was Eddy tatsächlich gesagt hatte.

„Sophie, wie findest du sie?“, fragte er nochmal und schaute mich dabei erwartungsvoll an. War es ihm wirklich wichtig, was ich von ihr hielt? Oder wollte er nur für seinen Frauengeschmack gelobt werden?

„Sie ist hübsch.“ Das konnte ich zweifelsohne feststellen und ich hoffte, dass war das was Eddy hören wollte. Ich verkniff es mir, ihm zu sagen, dass ich sie zu jung fand. Ich war mir nämlich ziemlich sicher, dass mir das Eddy übel genommen hatte und ich freute mich gerade einfach, dass er hier bei mir stand und nicht mit ihr mitgegangen ist.

„Boah, ich bin froh, dass du sie magst, Alter!“ Eddy strahlte mich an. War ich nicht ein unheimlich toller bester Freund? Ich grinste zurück und war froh, dass mein Drink fertig war. Wir lehnten beide an der Theke und schauten uns die Leute hier an. Ha, es fühlte sich fast wieder so an, wie vor ein paar Monaten. Eddy berührte mich mit seiner Schulter, ich hatte ein gutes Getränk in der Hand und ich war jetzt doch froh, dass ich mit gekommen war. Allein die Vorstellung in ein paar Stunden wieder in meine einsame Wohnung zu müssen, veranlasste mich dazu einen großen Schluck von meinem Wodka Bull zu nehmen. Ich könnte Eddy fragen, ob er nicht noch mit zu mir wollte. Eigentlich hatte er meistens bei mir übernachtet, wenn wir im Su Casa waren. Von dort aus war es nämlich zu meiner Wohnung um einiges näher, als zu ihm nach Hause. Sophie müsste ja sowieso viel früher gehen, als wir. Außerdem war sie noch viel zu jung, um bei Eddy zu übernachten. Viel zu jung... Verführung von Minderjährigen, das war strafbar. Ob ich ihm das vielleicht sagen sollte? Ich hatte aber den leisen Verdacht, dass ihm das durchaus klar war, aber nicht weiter interessierte. Verständlich irgendwo, Sophie war wirklich hübsch und vermutlich auch nicht ganz auf dem Kopf gefallen. Immerhin konnte sie Eddy Kontra geben, was mich überrascht hatte. Allerdings gefiel es mir nicht, wenn er wie ein Pantoffelheld da stand, ungebuttert von seiner fünfzehnjährigen Freundin. Aber es war seine Sache, er war alt genug, um zu entscheiden, mit wem er verkehrte... Gott, sie hatten Sex. Ich wusste, das sie Sex hatten, das war so offensichtlich. Ich schaute zu Eddy, der konzentriert auf einen Punkt in der Menge starrte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er beim Sex aussah und schüttelte irritiert von dem Gedanken den Kopf. Die Sophie-Sache machte mir gerade wirklich zu schaffen und ich verstand einfach nicht warum. Es lag nicht nur am Alter, das wusste ich.

„Hey, die darüber beobachtet dich schon eine ganze Weile.“ Eddy hatte mich mit seinem Ellenbogen in die Seite gestoßen. Ich schaute verwirrt in sein Gesicht und versuchte dann rauszufinden, auf wen er zeigte. Tatsächlich, an den Tischen standen zwei Mädels, die zu uns rüber schauten und ein Glas zum Gruße erhoben, als sie bemerkten, dass wir jetzt auch in ihre Richtung sahen. Ich erwiderte die Geste mit einem Nicken. Die Blondine gefiel mir, aber ich hatte kein Lust wirklich zu ihnen rüber zu gehen. Wenn sie was von mir wollten, konnte sie auch hier her kommen. Außerdem musste ich die Zeit mit Eddy genießen, die nicht von Sophie beansprucht wurde.

„Willst du nicht rüber?“, fragte er etwas erstaunt. Ich spürte dabei wieder seinen Atmen an meinem Ohr und ich merkte, wie sich kurze meine Nackenhaaren aufstellte.

„Im Moment nicht.“ Ich zuckte nur mit den Schultern. „Wo ist eigentlich deine Sophie hin?“ Vielleicht bestand ja die Chance, dass sie heute Abend gar nicht mehr auftauchte. Nicht das ich sie nervig fand, aber ich umgab mich einfach nicht gerne mit Kindern.

„Ah, die hat irgendwo eine Freundin gesehen“, erklärte er mir und grinste dann zu mir. Offensichtlich war es ihm ziemlich egal, dass seine Freundin nicht penetrant an ihm klebte. Ehrlich gesagt, war ich darüber sogar etwas überrascht. Ich hätte Sophie so eingeschätzt, dass sie sich an ihren ältern Freund dran hängt und sich den ganzen Abend nicht von ihm wegtraute. Aber ich würde mich jetzt sicher nicht darüber beschweren, dass es nicht so war.

„Ich freu mich, dass du mal wieder mit kommst“, sagte er schließlich, schaute dabei aber nicht in meine Richtung, sondern irgendwo in der Menge. Kurz war ich mir auch nicht sicher, ob er es wirklich gesagt hatte oder ich es mir nur wünschte.

„Ja, ich mich auch“, antwortete ich trotzdem. Er schaute zu mir und lächelte mich an, was ich erwiderte. Wer brauchte schon die heiße Blondine, wenn man auch mit seinem besten Kumpel rumhängen konnte? Vor allem, wo war so eine Tussi, wenn ich alleine in meiner Wohnung saß und völlig abdrehte? Auf Eddy konnte ich mich wenigtens verlassen, er würde immer kommen, wenn ich ihn darum bat.

„Hey, das ist Caro!“ Plötzlich stand Sophie wieder vor uns, ruinierte mir die Stimmung und hatte auch noch ein Mädchen im Schlepptau, dass mich verwirrt anstarrte. Hatte ich was im Gesicht, war meine Nase so groß, dass man da ständig hinschauen musste?

„Hey!“, brüllte Eddy dem Mädchen zu und zog Sophie zu sich her, die nur entzückt kicherte. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sie strahlte ihn an. Caro und ich standen nur etwas betreten neben ihnen. Wenigstens war ich nicht der Einzige, dem das Geturtel unangenehm war. Lachend drückte sich Sophie wieder von Eddy und schwankte dabei einen Schritt nach hinten gegen Caro. Mir schien, als wäre sie auch schon etwas angeheitert. Durfte an sie überhaupt Alkohol verkauft werden?

„Enni ist übrigens der mit der eigenen Wohnung!“ Ah, so wurde ich also vorgestellt. Sollte ich mich geschmeichtelt fühlen?

„Woah, wie cool. Du wohnst schon allein?“ Caro schaute mich begeistert an. Zu Schade, dass Caro wohl auch nicht älter als Sophie war und Minderjährige definitv kein Thema für mich waren. So war ihre „Bewunderung“ nur etwas lästig. Ich zuckte nur mit den Schultern zur Antwort. Was sollte ich dazu auch groß sagen. Ja, ich wohnte allein, dass wussten ja mittlerweile offensichtlich jeder. Ich hoffte nur, dass Eddy seiner Freundin nicht noch mehr Kram über mich erzählt hatte. Aber vermutlich nichts, was mich komisch erscheinen ließ. Eddy wusste, was er über mich sagen durfte und was nicht. Das war auch einer der Gründe, warum ich ihn so schätzte.

„Ich geh kurz pissen!“, brüllte mir Eddy ins Ohr, sagte wohl was ähnliches zu Sophie und verschwand dann einfach. Au Mann, jetzt hatte er mich mit seiner Freundin und ihrer Freundin alleine gelassen. Ich nippte von meinem Getränk und versuchte ihre Blicke zu ignorieren.

Ich schnappte ein paar Wortfetzen von Caro auf, anscheinend wollte sie wieder zu den Anderen. Sollte mir recht sein, am besten sie nahm Sophie gleich mit. Aber sie blieb neben mir stehen. Ich hatte keinen Schimmer warum. Sie konnte doch bei ihren Freunden auf Eddy warten. Ich wusste nicht mal, was ich mit ihr reden sollte. Sie sagte irgendwas zu mir, dass ich nicht verstand.

„Was?“, brüllte ich und beugte mich etwas zu ihr runter. Sie lehten sich näher an mich. Ich spürte, wie ihre Brüste gegen meinen Arm drückten und sie legte ihre Hand auf meine Schulter, um besser an mein Ohr zu kommen.

„Ich find es übrigens sau cool, dass du schon alleine wohnst.“, rief sie in mein Ohr. Hm, wie oft bekam ich das eigentlich noch zu hören? Ich wollte mich wieder aufrichten, aber sie hatte immer noch ihre Hand auf meiner Schulter und zog mich wieder zu sich her. „Ich würde deine Wohnung gerne mal sehen.“ Die Situation war verdammt besch... bescheiden. Ich konnte mir nicht helfen, sie baggerte mich doch an, oder?

„Du kannst ja mal mit kommen, wenn Eddy mich besucht.“, schlug ich diplomatisch vor, weil ich nicht wusste, was ich sonst auf diese unverschämte Frage hätte antworten sollen. Eddy wäre nämlich stocksauer, wenn ich mich bei Sophie daneben benehmen würde und das wollte ich nicht.

„Allein wär mir lieber.“ Sie grinste mich an und hatte dabei einen verführerischen Augenaufschlag, der nicht bei mir wirkte. Gut, ich verstand was Eddy an ihr fand. Sie sah wirklich gut aus und war vor allem selbstbewusst. Aber sie sollte definitiv nicht den besten Freund ihres Freundes anbaggern. Ich wusste ehrlich gesagt nicht wirklich, wie ich jetzt darauf reagieren sollte, ohne sie nicht total wütend zu machen. Ich war nämlich ziemlich sicher, dass ich danach der Schuldige wäre, weil immer die Jungs, diejenige waren, denen man alles in die Tasche schob.

„Ich denke eher nicht...“, meinte ich kühl und versuchte sie von mir wegzuschieben ohne dabei grob zu werden. Noch deutlicher konnte ich nicht werden, oder? Aber anstatt ihren Griff um meine Schulter zu lockern, drückte sie sich noch näher an mich heran und ich wusste, sie ritt mich da gerade gewaltig in die Scheiße.

„Du bist soviel cooler, als Eddy.“ Ich spürte ihren warmen Atem an meinem Ohr, plötzlich auf meinen Lippen und ich bekam eine Gänsehaut, als sie mich küsste. Verdammt unangenehm. Mir blieb nichts anderes übrig, als sie wirklich weg zu schubsen, bevor sie versuchte den Kuss zu intensivieren. Sie schaute ziemlich geschockt, als sie gegen einen Typen hinter ihr taumelte. Ihre Augen waren immer noch überrascht geweitet, als sich ihr Blick auf mich richtete. Dumme Schlampe, komm mir bloß nicht mit so einem Scheiß! Betrunken oder nicht, Mädchen, die alles anmachten was einen Schwanz hatte, waren einfach nur verdammt low.

Ich schüttelte fassunglos den Kopf und wusste nicht, was ich zu ihr hätte sagen sollen. Ich musste einfach weg, sonst würde ich sie schlagen. Ehrlich, verdammte Kacke! Wenn jetzt Eddy kommen würde, könnte ich für nichts garantieren. Ich würde ihm sagen, was ich von seiner neuen Freundin hielt und das war im Moment echt keine gute Idee. Ich wollte wirklich keinen Streit. Nicht wegen einem Mädchen.

Ich packte mein Glas und ging einfach weg von ihr, bevor Eddy wieder da war. So eine Scheiße. Warum musste denn mir sowas passieren? Was dachte sich das Mädel überhaupt dabei? Klar, ich mach den besten Kumpel von meinem Freund an, weil ich betrunken bin! Das war doch Kacke. Ich wollte sie heute definitiv nicht mehr sehen und Eddy irgendwie auch nicht.

Mit dem Glas in der Hand stand ich jetzt mitten im Weg und wurde ständig von irgendwelchen Leuten angerempelt. Ich überlegte, ob ich heimgehen wollte, wusste aber, dass sich das wirklich fatal auf mein Gemüt ausüben würde. Heimgehen war also noch eine schlechtere Option, als sich mit Eddy und Sophie auseinanderzusetzen, was ich aber auch nicht wollte.

Bevor ich irgendwas tun konnte, offenbarte sich mir eine dritte Möglichkeit, nämlich die Blondine von vorhin. Sie stand plötzlich vor mir und lächelte mich sympathisch an. Ich ging mit ihr zu ihrem Tisch und versuchte irgendwie auszusehen, als hätte ich nicht ganz fürchterlich schlechte Laune.

„Hey, ich bin Enno.“, stellte ich mich vor. Mit einem Namen konnte man doch schon immer eine gute Basis für ein Gespräch aufbauen.

„Freut mich, Miriam und das ist Denise!“ Sie zeigte dabei auf das Mädchen, das neben ihr stand, mich aber kein Stück interessiert. Egal, Miriam sah nett aus.

„Hat er gesagt, er ist Emo?“, rief Denise in Miriams Ohr und diese lachte. Hm, früher gab es weniger Probleme mit meinem Spitznamen. Wurde vielleicht mal Zeit mir eine andere Kurzform für meinen Namen anzueignen...

„Nein, Enno mit einem N!“, schrie ich zurück und die beiden lachten wieder nur. Trotzdem stießen wir dann zusammen an und ich stellte mich etwas näher an die beiden ran, damit ich überhaupt etwas verstehen konnte. Die Konversation sickerte etwas vor sich hin, genauso wie eine Menge Alkohol in mein Blut. Und irgendwann war auch die Sache mit Sophie aus meinem Kopf raus, ab dem Punkt konnte ich auch wieder anfangen den Abend zu genießen. Das war auch circa zeitgleich mit dem Moment, als ich mit Miriam knutschend auf einem der Ledersofas, die hier überall rumstanden, saß. Perfektes Timing, oder?
 

Mein Kopf wummerte und die Luft in meinem Zimmer war stickig und verbraucht. Leicht schwankend erhob ich mich aus meinem Bett, stellte dabei auch fest, dass ich nackt war und hoffte darauf, dass jetzt niemand aus dem Haus gegenüber in mein Zimmer schaute. Ich ging zu meinem Kleiderschrank, holte mir eine frische Boxershorts raus und dann zu meinem Fenster, um es zu öffnen. Frische Luft war essentiell wichtig, um zumindest die Kopfschmerzen etwas erträglicher zu machen.

Immer noch etwas schlecht auf den Beinen, torkelte ich in mein Badezimmer, um dort zu pissen. Irgendwie fühlte ich mich, als wäre immer noch ordentlich Alkohol in meinem Blut. Aber alles war okay, solange ich mich nicht übergeben musste, was momentan nicht der Fall war.

Ich putze mir die Zähne, um den Geschmack nach toten, verwesten Hamster aus meinem Mund zu bekommen und wusch mir grob, das Gesicht um etwas wacher zu werden. Hey, ich hatte Kopfschmerzen und würde heute nichts essen können, aber ich fühlte mich besser, als die zwei Sonntage davor. Erstaunlich, oder?

Ich wankte zurück in mein Zimmer und ließ mich auf mein Bett fallen. Heute würde ich definitiv nichts anderes machen, als fern zu sehen und dabei viel zu trinken. Aber es war Sonntag, da dürfte man das. Vielleicht würde ich später auch noch was zeichnen, wenn mich die Katermuse küsste.

Gerade als ich über einen Film mit zwei kleinen Zwillingsmädchen und irgendwelchen Pferden eingedöst war, klingelte das Telefon schrill. Ich spielte mit dem Gedanken es einfach so lange klingen zu lassen, bis der Anrufer aufgab, allerdings war dafür das Läuten einfach zu penetrant.

Ich seufzte und erhob mich von meinem Bett, um zum Telefon zu gehen. Wehe, der Anrufer legte genau in dem Moment auf, wenn ich abhob. Ich hasste es, wenn das passierte.

„Ja?“, brummte ich in den Hörer und erwartete fast schon, dass mir das Aufgelegt-Tuten entgegen kam.

„Joh, Alter, ich bin´s!“, meldte sich allerdings Eddys aufgeweckte Stimme und ich war froh, dass ich doch ans Telefon gegangen war. Ich sollte mich entschuldigen, dass ich gestern einfach die Biege gemacht hatte, ohne ihm Bescheid zu sagen.

„Hey, Mann, du sorry wegen gestern.“ Ich hoffte nur, er wollte nicht irgend eine Erklärung, das wäre nämlich unangenehm geworden und ich hatte so meine Zweifel, dass Sophie ihm irgendwas erzählt hatte.

„Hab schon gesehen, du warst schwer mit der Blondine beschäftigt.“ Eddy lachte dreckig und ich fuhr mir nur durch die Haare. War ich das gewesen? Ich wusste, dass ich heute Nacht Sex gehabt hatte, aber weder fiel mir ihr Name ein, noch wie es dazu gekommen war. Ich hatte einen absoluten Filmriss, ab einem bestimmten Punkt, den ich auch nicht mehr genau wusste.

„Au Mann, ernsthaft?“ Es wäre extrem peinlich, wenn ich wirklich in der Öffentlichkeit rumgemacht hatte. Ich sollte doch aus dem Alter mittlerweile raus sein.

„Aber Hallo, habt ihr es überhaupt bis zu dir geschafft?“ Ich konnte Eddys Grinsen vor meinem Gesicht gesehen. Er hatte sich schon immer gerne darüber lustig gemacht, wenn ich irgendwelche Mädchen abgeschleppt hatte.

„Gott, ich weiß nicht mal, ob wir verhütet haben. Ich war so hacke“, gestand ich ihm. Also ich hoffte schwer für mich, dass ich verhütet hatte und ich würde nachher, definitiv nach Indizien dafür suchen.

„Hoff ich auch für dich, Mann, nicht das hier bald überall kleine Ennoahs rumrennen.“ Danke, Eddy. Genau das wollte ich jetzt hören.

„Ich weiß nicht mal, wie sie heißt... Sah sie wenigstens gut aus?“ Offensichtlich hatte Eddy mich ja mit ihr gesehen. Ihren Namen hatte sie mir auch gesagt, irgendwas mit M oder D. Monika, Doris, Dorothea? Klang irgendwie alles falsch. Egal, ich hatte sowieso nicht vor, mich wieder mit ihr zu treffen. Ich fühlte mich trotzdem etwas wie ein Casanova und das war kein positives Gefühl.

„Hab nicht soviel von ihr gesehen. Du hast sie uns nicht vorgestellt.“ Das war kein Vorwurf, dass wusste ich. Aber ich wäre zu ihr nicht mal hingegangen, wenn nicht diese beschissene Sache mit Sophie gewesen wäre. Ich überlegte, ob ich ihn darauf ansprechen sollte. Allerdings fühlte ich mich noch immer einfach groggy und war mir nicht sicher, ob ich dem ganzen im Moment gewachsen war.

„Sorry, Mann“, entschuldigte ich mich. Vielleicht eher deshalb, weil ich ihm demnächst sagen musste, dass seine Freundin einfach eine Schlampe war und er sie möglichst bald los werden sollte, eigentlich jetzt sofort am Besten.

„Kein Ding, du, ich war nur etwas überrascht, als du plötzlich weg warst.“ Wunder Punkt, Eddy. Ich verzog das Gesicht. Er war mir wirklich sehr wichtig und ich konnte den Gedanken nicht ausstehen, dass er von irgend einer dummen Kuh einfach ausgenutzt wurde. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm das erklären konnte ohne ihm total auf die Füsse zu treten. Ich wusste, dass er sie mochte. Ich kannte ihn lange genug, um zu sehen, wann er verliebt war. Und er war sowas von verschossen in sie. Ich merkte, wie es unangenehm in meinem Magen rumorte. Kurz musste ich an die Sache mit Ekatarina damals denken, wusste aber nicht wieso.

„Woah Fuck, mir ist schlecht!“ Ich knallte den Hörer auf mein Telefon und sprintete ins Badezimmer. Als ich über den Waschbecken hing und mir die Seele aus dem Leib kotzte, hatte ich das Gefühl, als hätte mein Leben einen erneuten Tiefpunkt erreicht.

Man sollte immer ehrlich spielen, wenn man die Trümpfe in der Hand hat.

„Hey, ich hab dich am Samstag mit deiner Freundin im Su Casa gesehen.“ Ich schaute müde zu Philipp, der mich gerade angesprochen hatte. Wir hatten zusammen Englisch, Sport und Politik und waren früher mal in der gleichen Klasse gewesen. Wir hatten uns schon öfter im Su Casa getroffen, was nicht weiter ungewöhnlich war, da wir nicht eine übermäßige Auswahl an Clubs hier in der Gegend hatten, wenn man noch nicht achtzehn war und viele in unserer Stufe hatten die Volljährigkeit erst vor kurzem erreicht.

„Meiner Freundin?“, fragte ich etwas lahm. Ich war noch etwas fertig von dem heftigen Gelage und mich hatte auch der Gedanke geplagt, dass ich wirklich keine Indizen für eine etwaige Verhütung gefunden hatte und auch wenn ich mir sicher war, dass sie so ein Mädchen war, das die Pille nahm, Krankheiten waren auch noch so eine Sache. Voll der Dreck, ich hoffte, ich hatte mir nicht irgendwelchen Scheiß geholt...

„Du weißt schon, die echt heiße Blondine. Ehrlich, so ein Mädel hätte ich dir gar nicht zu getraut.“ Philipp meinte es nicht böse, aber das war gerade wirklich das falsche Thema. Aber das war wohl so ein Fall, bei dem man einfach mit einem Lächeln durch musste. Philipp war okay, ich brauchte es mir nicht mit ihm verscherzen, bloß weil ich ein mieses Wochenende hatte, mal wieder.

„Das war nicht meine Freundin“, erklärte ich ihm, grinste dabei. Egal, wie das jetzt rüber kam. Ich war auch nur ein junger Kerl mit Hormonen, trotz aller Probleme.

„Buyah, du bist manchmal echt übel drauf.“ Er klopfte mir auf die Schulter und lachte. Ja, ja, ich war echt ein Held. Nicht unbedingt einer, den man wirklich gebrauchen konnte. Aber was soll´s. Hier wusste ja niemand, dass ich eigentlich ziemlich Scheiße gebaut hatte, also war es egal.

„Hey, Jo, unser Casanova hier, hat wieder zugeschlagen“, brüllte Philipp, als er Jonas den Gang entlang kommen sah. Mah, verdammt, in was hatte ich mich da wieder reingeritten? Alle starrten in unsere Richtung und ich merkte, dass ein paar Mädchen einen etwas abfälligen Blick darauf hatten. Ich hatte von früher noch irgendwie einen bestimmten Ruf weg und in die Oberstufe keinen allzu guten Start, da ich viele Fehlzeiten hatten und auch nicht mehr so kommunikativ war, wie es den meisten lieb war. Es ging hier aber niemand was an, was bei mir zuhause los gewesen war. Niemand und es war mir auch recht egal, dass ich jetzt nicht immer von einer Menge Leute umgeben war. Zur Zeit war mir die ganze Scheiße mit sozialen Interaktionen alles viel zu anstrengend. Ich wusste nicht an was es lag, aber ich fand es ermüdend. Ich bekam Kopfschmerzen, wenn ich mich auf zu viele Leute konzentrieren musste und eigentlich ertrug ich nur noch Eddy wirklich um mich herum. Als Kind war ich auch schon so gewesen, ich hatte meinen besten Freund und war glücklich damit. In der Pupertät hatte ich rausgefunden, dass das Leben leichter war, wenn man mit allen gut auskam und nett war. Mit leichter meinte ich eigentlich, es war einfacher ein Mädchen zu vögeln, wenn man nicht als sozialer Loser im Abseits stand und darum ging es doch in der Pupertät? Die Hormone schrieen und der Körper folgte. Und sohatte ich mich eben sozialer entwickelt, als die meisten wohl gedacht hätten. Meine Mutter wäre stolz auf mich. Als würde ich das wollen.

„Die war wirklich rattenscharf, Mann. Wie hast du das gemacht?“ Jonas beglückwünschte mich auch und ich grinste nur wieder. Ja, ich war halt einfach geil.

„Mädchen stehen auf die verrückten Künstlertypen, so hat er das gemacht“, kam es plötzlich von Nico, der wohl von dem Tumult mitbekommen hatte, den Philipp gerade um meine Person veranstaltete. Und wo viele Menschen waren, war auch automatisch Nico... Die anderen lachten und ich zuckte nur mit den Schultern. Ja, Mädchen standen wirklich auf den sensiblen, schweigsamen Künstler, der sie porträtieren konnte, nach dem sie Sex hatten. Auch wenn das selten dem entsprach, wie die Zeichner waren, die ich kannte. Man musste sich nur als sowas verkaufen können und zum Glück für mein Libido konnte ich das meistens.

„Au Mann, ich sollte echt zeichnen lernen.“, feixte Philipp.

„Das würde bei dir auch nichts mehr helfen.“, gab Jonas zurück und wurde von Philipp geboxt. Ich kaute auf meinen Fingernägeln rum und beobachtete die Gruppe an Menschen, die jetzt um mich herum stand. Niemand redete direkt mit mir, aber ich war ein Teil des Kreises. War okay so, weil ich nichts mehr sagen musste. Ich fühlte mich trotzdem etwas unruhig.
 

Seltsam, wie schnell man sich an etwas gewöhnen konnte, genau wie an die schlurfenden Schritte, die mich seit kurzem immer nach Hause begleiteten. Ich hatte das Schulhaus verlassen und neben mir ging Nico. Er sagte nichts, hatte mich nicht mal enthusiastisch begrüßt, damit konnte leben. Er schien über etwas nachzudenken. Ich wollte gar nicht wissen was. Wenn wir nicht miteinander redeten, würde ich fast so weit gehen und sagen, wir würden miteinander klar kommen.

„Hm... du bist ziemlich locker was Sex angeht, oder?“ Ah, das Resultat von Nicos Gedankengängen, darauf hatte die Welt gewartet. Ich hatte nur kurz inne gehalten, ging dann aber unbeeindruckt weiter. Wenn er so fragte...

„Möglich.“ Ich zuckte mit den Schultern. Es war wirklich keine große Sache. Ich stand der Liebe und Sex recht pragmatisch gegenüber. Es gab wenige Menschen, die liebte ich und die waren für mich wichtiger, als alles andere. Und es gab Leute, mit denen hatte man Sex, weil man sich danach entspannter und generell gechillter fühlte. War doch nichts dabei, oder? Ich verstand nicht, warum da so viele immer so ein Drama daraus machten. Das war nichts für mich.

„Ich will dich schon seit der 10. Klasse flach legen“, offenbarte mir Nico und diesmal blieb ich nicht mal stehen. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, ich wäre nicht überrascht. Nico war nicht der Typ, von dem man erwarten würde, dass er einen ficken wollte. Aber wenn ich ehrlich war, ich hatte keine Ahnung was Nico überhaupt für ein Kerl war.

„Is mir egal“, antwortete ich ehrlich. Bloß weil ich locker war, was dieses Thema anging, hieß das nicht, dass ich mit allem sofort in die Kiste sprang. Und in diesem Fall lag es nicht mal daran, dass Nico ein Typ war. Prinzipiell könnte es mal interessant sein mit einem Mann Sex zu haben, aber im Moment hatte ich kein Bedürfnis danach und schon gar nicht mit Nico.

Er sagte nichts, ging aber auch weiterhin neben mir her. Anscheinend hatte sein verschrobenes, kleines Herz die Wahrheit einigermaßen verkraftet oder das was ich gesagt habe, änderte nichts für ihn. Keine Ahnung, interessierte mich aber auch nicht wirklich.

Plötzlich lachte er leise neben mir und schüttelte den Kopf. Ich hob skeptisch die Augenbraue und fragte mich, was jetzt bei ihm kaputt war. War er jetzt einfach übergeschnappt?

„Ich wusste ja, dass du schräg drauf bist. Aber manchmal, ehrlich...“ Er lachte immer noch.

„Was?“ Jetzt wüsste ich doch ganz gerne, was an mir denn so lustig war.

„Komm, wenn man dir sagt, man ist schwul und steht auf dich, dann zuckt man doch nicht einfach mit der Schulter, als wäre da nichts dabei“, wurde mir erklärt. Ich verstand allerdings nicht, wo das Problem an meiner Reaktion war.

„Soll ich jetzt ausflippen und dich verprügeln, bist du nur noch Dreck unter meinen Füssen bist?“ Wäre ihm das etwa lieber gewesen? Das hätte bei manchen Typen nämlich durch aus eine alternative Reaktion sein können.

„Ich bin ja eigentlich nicht so der Maso, aber wenn du drauf stehst.“ Er grinste provokant und ich stöhnte genervt. Warum waren eigentlich gerade alle Leute so krass auf mich eingeschossen? Sonderte ich momentan besonders viele lustige Pheromone ab, die dafür sorgten, dass mich alles vögeln wollten, oder was? Eigentlich war das das Letzte was ich jetzt noch gebrauchen konnte. Ich wollte meine Ruhe und ich bereute auch das, was am Wochenende mit dem Mädchen gelaufen war. Der Sex, an den ich mich sowieso nur vage erinnern konnte, war der Stress, den ich mir danach deswegen gemacht hatte, echt nicht wert gewesen. Konnte man aber auch betrunken nicht richtig einschätzen.

„Und du nennst mich schräg?“, erwiderte ich. Er lachte nur und ich konnte nicht anders, als leicht zu grinsen. Das Gespräch verbuchte ich unter „Dinge, die ich niemals erwartet hätte“ und fand, dass es sich zumindest eine Reaktion verdient hatte, selbst wenn es mit Nico zu tun hatte.

„Okay, bis morgen dann.“ Wir waren wieder an der Kreuzung angekommen und diesmal versuchte Nico nicht, sich selbst einzuladen. Ich hätte ihn sowieso nicht in meine Wohnung gelassen, wenigstens schien ihm das mittlerweile klar zu sein.

„Joh, bis morgen“, verabschiedete ich mich, als er mir schon den Rücken zu gedreht hatte und nur noch seine Hand zum Abschied gehoben hatte. Er schaute nochmal kurz über die Schulter und grinste mich verschmitzt an. Hm, und der Kerl stand auf mich? Dem war wirklich nicht zu helfen.

Ich schob meine Hände in die Hosentasche, um nicht auf dem restlichen Weg auf ihnen rumzukauen, aber biss mir stattdessen auf die Lippe. Keine gute Alternative, aber ich konnte nicht anders. Ich musste wirklich mit Eddy wegen seiner Freundin reden. Eigentlich hätte ich das gestern noch machen müssen, aber irgendwas sagte mir, dass die ganze Sache einen wirklich unguten Verlauf nahm. Frauen, die sich zwischen Freunde stellten, waren immer ein schlechtes Omen. Eigentlich waren sie nicht nur das schlechte Omen, sie waren das, worauf Omen hindeuten sollten. Ich hatte in der Stufe ein paar Freundschaften auseinanderbrechen sehen, wegen irgendwelchen intrigaten Weibsbildern, die es wohl lustig fanden, Freunde gegeneinander auszuspielen. Mir und Eddy würde das nicht passieren, das würde ich definitiv nicht zu lassen. Ich hatte auch damals mit Ekatarina klar meine Prioritäten gesetzt. Wenn es um ein Mädchen oder den besten Freund ging, hattte das Mädchen einfach keine Chance.

Vielleicht sollte ich ihm einfach direkt sagen, was ich von Sophie hielt und wie sie sich verhalten hat. Er kannte mich länger, als sie. Wir waren wie Brüder, ich wusste praktisch alles über ihn und er über mich. Daran würde selbst Sophie mit ihren hübschen, braunen Rehaugen nichts ändern können. Ich verstand sowieso nicht, was sie mit der Aktion im Su Casa eigentlich bezwecken wollte. Betrunken hin oder her, ihr hätte klar sein müssen, dass das einfach dämlich war. Allein bei dem Gedanken daran, wurde ich wütend.

Ich schloss die Wohnung auf und schmiss meinen Rucksack einfach in den Gang. Auf dem Weg nach oben war ich Frau Kammerer begegnet, die mit ihren zwei Kindern in der Wohnung unter mir wohnte. Sie wollte wissen, was denn das für ein Krach vor zwei Wochen gewesen war, so mitten in der Nacht. Sie hätte sich schon Sorgen gemacht. Ich hatte ihr erklärt, dass ich ungeschickt gewesen war und ein Regal umgerannt hatte. Was besseres war mir nicht eingefallen und ich fühlte mich dabei, als wäre ich die geprügelte Ehefrau, die behaupten würde, sie wäre nur die Treppen runtergefallen, damit man bloß nicht dachte, irgendwas würde nicht bei ihr stimmen. Und dabei wusste jeder, das man log. Frau Kammerer wusste auch, dass ich nicht die Wahrheit sagte, aber sie wollte nicht weiter fragen. Sie wollte nur hören, dass alles in Ordnung mit mir war. Deswegen lächelte ich und sagte ihr, was sie hören wollte und sie sagte dafür nichts dazu, dass ich in letzter Zeit viel abgenommen hatte und aussah wie der wandelnde Tod. Dass das nämlich der Fall war, wusste ich selbst. Aber niemand schien mich darauf ansprechen zu wollen, aus Angst damit etwas aufzurütteln, was man nicht wissen wollte. Mir war es egal, ich war froh, wenn ich meine Ruhe hatte und es würde schon wieder alles besser werden. Ich musste mich bloß daran gewöhnen, alleine zu leben. Das war alles. Und so schwer konnte das nicht sein, ich kannte in meiner Stufe drei Leute, die nicht mehr bei ihren Eltern lebten und die bekamen das auch hin. Bestimmt nur eine Sache der Gewöhnung. Wenn nur die Wohnung nicht so riesig und leer wäre.

Ich ging in die Küche, setzte mir meinen Kaffee auf und entschloss mich dazu, mir Nudeln zu kochen. Wenn ich die ganze Packung machte, konnte ich noch in drei Tagen davon essen. Das war ganz praktisch und gerade fühlte ich mich hungrig genug, um mich wirklich zum Kochen durchzuringen.

Eddy hätte erst in vier Stunden Feierabend und bis dahin sollte ich mir überlegen, was ich ihm genau sagen wollte. Hey, Eddy, ich finde deine Freundin ist eine Schlampe und kann dir das sogar belegen, weil... Nein, irgendwie hatte ich das Gefühl, das würde nicht so gut kommen. Willst du wissen, warum ich am Samstag verduftet bin, das lag daran... Okay, wir hatten wieder dasselbe Problem, vielleicht sollte ich ein anderes Argument zu erst anführen. Hey, Eddy, es ist illegal mit einer Minderjährigen zu schlafen, außerdem ist deine Freundin ein Flittchen!

Gott, ich bekam Kopfschmerzen. Ich konnte Sophie nicht irgendwie gut weg kommen lassen und alles würde einen Streit provozieren. Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger hatte ich Lust überhaupt etwas darüber zu sagen. Vielleicht würde es auch einfach reichen, wenn ich Sophie mit Missachtung strafe und einfach darauf warte, dass Eddy von alleine darauf kam, was er sich da geangelt hatte. So wie die sich verhielt, könnte das auch nicht lange dauern, oder?

Gott, war das eine beschissene Situation.

Ich rührte in meinen Nudeln um, die mir unten schon etwas reingebrannt waren, stellte fest, dass sie mir zerkocht sind und ich gar nicht daran gedacht hatte, dass ich Nudeln pur nicht mochte und mir jetzt noch eine Soße dafür machen musste, theoretisch. Alltag war so anstrengend und voller Arbeit und ich machte nicht mal ein Bruchteil von dem Zeug, die ich für einen guten Haushalt eigentlich tun müsste. Aber mir reichte es so, Sauberkeit, volle Kühlschränke, frisch gewaschene Klamotten - Pah, das wurde alles überbewertet!

Ich goß die Nudeln ab, schaufelte mir eine Portion in einen sauberen Teller und beschloss, dass die gekaufte, fertige Tomatensoße auch kalt dazu schmeckte. Als ich das geöffnete Glas in den Kühlschrank stellte, fiel mir noch die Käsepackung ins Augen und ich fand, es war die perfekte Gelegenheit, um mal zu probieren, ob der Käse noch schmeckte.

Erfreut stellte ich fest, dass der Käse nicht geschwitzt hatte und ich ihn vermutlich ohne größere Bedenken unter meine Nudeln mischen konnte. Mit Käse war die Welt doch gleich besser.

Zufrieden mit meinem Essen, ging ich in mein Zimmer, machte den Fernseher an und setzte mich auf mein Bett, das irgendwie immer noch nach Sex roch. Vielleicht sollte ich es mal frisch beziehen, aber erst wenn ich gegessen hatte und wahrscheinlich, war es mir danach einfach egal. Wenn man alleine lebte, lernte man ganz neue Toleranzgrenzen an Schmutz kennen. So Staubkaninchen, die sich fröhlich in den Ecken und unter den Bett vermehrten, waren kaum der Mühe wert, sie weg zu kehren, waren doch ganz niedlich zum Anschauen. Und beim Stapeln von dreckigen Geschirr, entwickelte man ein Geschick, das man sich eigentlich nicht zutrauen würde. Ich war mir sicher, ich wäre mittlerweile in Jenga um einiges besser, als noch vor ein paar Monaten. Ja, ja, die wundervollen Vorteile des Alleinelebens, ein wahrer Genuss.

Ich zappte mich durchs Fernsehprogramm und hoffte, dass ich etwas fand, dass es so armselig war, dass selbst ich mich durchs Schauen besser fühlte. Meistens wurde ich bei Reality-Shows fündig, bei denen irgendwelche wirklich minderbemittelten Familien sich und ihr Elend zur Schau stellten.

Ich würde leugnen, dass ich solche Serien gerne schaute. Das war mein kleines, schmutziges Geheimnis und ich fand, jeder durfte so etwas haben. Aber ehrlich, wer würde heutzutage noch zugeben, dass man sich so stupides Fernsehprogramm antat? Damit wäre man die absolute Lachnummer und auf so etwas hatte ich keinen Bock.

Aber hier war ja niemand und konnte mich dabei sehen, wie ich mich über das geplottete Elend unserer Nation amüsierte. Ich wusste, dass vermutlich über die Hälfte des Geschehens, das man uns da als Realität verkaufen wollte, von irgend einem verwirrten, verzweifelten Drehbuchautor geschrieben wurde, der damit sein täglich, halbes Brot verdiente, dass konnte man auch gut, an den wirklich begrenzten Schauspielkünsten der Leute sehen, aber das war mir ehrlich gesagt egal. Ich fand es sowieso faszinierend, dass es Leute gab, die sich für sowas verkauften. Ich mein, viele von denen waren ja arbeitslos, wenn ein zukünftiger Arbeitgeber diese Sendung sah, konnten die doch gleich einpacken. Aber es war nicht mein Leben und deswegen war mir das völlig latte, dass sie sich ihres damit ruinierten.

Mit der letzten Nudeln auf der Gabel versuchte ich noch die restliche Soße aus dem Teller zu wischen. Ich schob mir die Nudeln in den Mund und stellte dann den Teller auf den anderen dreckigen Teller, der sich schon auf meinen Nachttisch befand. Jetzt war ich zumindest satt, sowas wirkte sich immer positiv auf meine Laune aus. Auch wenn es mir bei dem Problem mit Eddy gerade nicht wirklich weiterhalf. Wenn man es genau nahm, gab es eigentlich kein Problem mit Eddy, sondern nur mit seiner Freundin. Naja, wie auch immer. Ich konnte ihn sowieso erst in ein paar Stunden anrufen, was mich wurmte. Ich hasste es, wenn ich Dinge, die mir wichtig waren, nicht gleich sofort erledigen konnte.

Der menschliche Körper enthält sechs Liter Blut: genug, um eine große Wohnung anzustreichen.

Als ich bei Eddy angerufen hatte, hatte mir seine Mutter erklärt, dass er noch nicht daheim war und noch zu Freunden wollte nach der Arbeit. Freunden oder Freundin? Ich wollte nicht fragen, aber ich ärgerte mich wirklich. Verdammt, ich hätte gestern mit ihm reden sollen. Ich sagte ihr noch, dass er zurück rufen sollte, sobald er wieder da war.

Ich verbrachte drei Stunden damit, noch hibbeliger zu sein, als sonst. Ich hatte versucht zu zeichnen, hatte es aber nach ein paar kleinen, grünen Pinguinen aufgegeben, aus denen Blutfontänen spritzten. Das war irgendwie nicht das, was ich machen wollte, auch wenn ich Pinguine ganz cool fand. Ich ging immer wieder an dem Telefon am Flur vorbei und versuchte mir einzureden, dass es nicht daran lag, dass ich auf Eddys Rückruf wartete. Zweimal stand ich auch vor dem Telefon und hatte den Hörer in der Hand, bereit seine Nummer zu wählen. Seine Mutter wäre nur genervt gewesen, wenn ich tatsächlich angerufen hätte. Sie war zuverlässig, sie würde ihrem Sohn schon sagen, dass ich mich gemeldet hatte.

Als es dann endlich klingelte, verhedderte ich mich in meiner Bettdecke, als ich aufstehen wollte, hatte mich beinahe elegant auf die Schnauze gelegt und hörte nur ein Tuten in der Leitung, als ich abhob. Verdammt, es hatte doch nur drei mal geläutet.

Erst als ich noch mal ein lang gezogenes, schrilles Klingeln hörte, stellte ich fest, dass es nicht das Telefon gewesen war, sondern die Haustür. Gott, heute war nicht so ganz mein Tag. Ich fuhr mir durch die Haare und hob den Hörer der Freisprechanlage ab.

„Ja?“, brüllte ich hinein und hoffte, dass man mich unten hörte. Das Ding hatte manchmal einen Wackelkontakt. Mir antwortete nur ein unglückseliges Rauschen und ich legte den Hörer wieder auf, so brachte mir das nichts. Ich drückte den Schlüsselknopf und hoffte einfach darauf, dass es kein psychopathischer Mörder war.

Ich öffnete die Wohnungstüre und linste den Treppenaufgang runter. Ich hörte nur, wie jemand mit schnellen Schritten nach oben kam und war mir fast sicher, dass es Eddy war. Er kam oft überraschend bei mir vorbei und eigentlich hätte ich es mir fast denken können, dass er noch bei mir auftaucht, wenn er nicht zuhause war.

„Hey, Enni!“ Er grinste mir schon vom Treppenabsatz entgegen und hob einen Sixpack Bier hoch. Ja, so hatte man seine Freunde am liebsten, in Gesellschaft von Alkohol. Wir umarmten uns kurz zur Begrüßung, einfach weil ich mich freute, ihn zu sehen. Nach dem ich den halben Tag darauf gewartet hatte von ihm zu hören, war es einfach eine Wohltat, dass er jetzt hier war. Auch wenn ich im Moment echt keine Lust hatte über Sophie zu reden. Es musste auch nicht jetzt gleich sein, fand ich. Der Abend war noch jung, ich müsste morgen sowieso erst später zur Schule und Eddy hatte morgen Berufsschule. Also alles optimal für einen wundervollen Abend, wie ich fand.

Eddy kickte seine Schuhe in den Gang und ging dann in die Küche, wo er nach dem Falschenöffner suchte. Währenddessen erzählte er mir von einem seiner Mitazubis, den er für völlig inkompetent und beschränkt hielt. Ich mochte es, wenn Eddy von seiner Arbeit erzählte, einfach weil ich mir dann wenigstens ein bisschen vorstellen konnte, wie jetzt sein Alltag aussah.

„Und was war bei dir noch so los?“, fragte Eddy, nach dem er endlich siegreich den Flaschenöffner gefunden hatte. Er war irgendwie bei den Geschirrtüchern gelandet, auch wenn ich keinen blassen Schimmer hatte, wie er dahin gekommen war.

„Hm, nichts besonderes.“ Das mir Nico offenbart hatte, dass er mich flach legen wollte, ließ ich lieber unerwähnt und so wichtig war das auch nicht. Es würde Eddy nur unnötig nerven und das musste ja echt nicht sein.

Mit dem Flaschenöffner und dem Sixpack bewaffnet, gingen wir dann in mein Zimmer und ich stellte peinlich berührt fest, dass noch immer die Realitay-Show von vorhin lief und bevor ich den Fernseher ausschalten konnte, hatte die Sendung schon Eddys Aufmerksamkeit erweckt.

„Guckst du den Kram immer noch so gerne?“ Er lachte und ich schaltete einfach aus. Hey, jeder durfte schauen was er wollte, oder? Wir waren hier ein freies Land mit freiem Fernsehprogramm.

„Kam nichts besseres“, erklärte ich kurz und es war mir trotzdem etwas peinlich. Eddy hatte sich schon früher gerne über meine Programmwahl lustig gemacht, als wäre er mit MTV und Viva besser.

„Ja, ja, das sagen sie immer.“ Eddy öffnete zwei von den Flaschen und reichte mir eine. Ich setzte mich damit auf mein Bett, während er zu meinem selten genutzten Rechner hinging und ihn in Gang setzte. Er machte meinen PC immer an, wenn er hier war, damit wir Musik hören konnten. Ich hatte auch jede Menge davon auf meiner Festplatte, was schon etwas komisch war, wenn man bedachte, dass ich nicht sonderlich gerne Musik hörte. Aber Eddy war der Ansicht, dass jeder Mensch in unserem Alter eine ordentliche Musiksammlung brauchte. Und wenn es ihn glücklich machte, war es mir egal.

Er setzte sich zu mir aufs Bett und schaute sich das Zeug an, dass ich gezeichnet hatte. Er selber meinte, er könnte mit Kunst nicht viel anfangen, aber er sah es sich gerne an. Mittlerweile konnte er sogar sagen, wenn etwas wirklich Scheiße war. Das unverbrauchte Auge eines Nichtinvolvierten, oder so.

„Die Pinguine sind ja geil“, meinte er recht entzückt und hielt sie mir unter die Nase. Ich schaute sie an und wusste nicht genau, was er so toll an ihnen fand. Sie waren grün und voller Blut.

„Meinst du?“, fragte ich etwas irritiert.

„Klar, die würde ich unbedingt in die Mappe. Die werden sich bestimmt schief lachen!“, ermutigte Eddy mich und ich musste grinsen. So lächerlich das auch war, durch diesen Satz fühlte ich mich tatsächlich etwas mehr bestärkt an meiner Mappe zu arbeiten. Ich merkte auch, dass es mir mehr Spass machte zu zeichnen, wenn Eddy neben mir saß und irgendwelche anderen belanglosen Dinge tat. Vielleicht lag es daran, dass ich es von Kleinauf so gewohnt war, keine Ahnung.

„Sag mal, hast du heute schon was gegessen? Ich hab nämlich Bärenhunger“, wechselte er das Thema und wie um das Gesagte zu bestätigen, knurrte sein Magen. Er rieb sich mit einem wehleidigen Blick über den Bauch und man könnte fast Mitleid mit ihm haben.

„Ich hätte zerkochte Nudeln mit kalter Soße?“ Heute Mittag war ich noch recht glücklich damit gewesen, jetzt kam es mir etwas armselig vor. Vor allem, da Eddy von sich zuhause wirklich gutes Essen gewöhnt war.

„Hm, wir könnten uns auch ne Pizza bestellen. Ich geb sie auch aus!“ Er schaute mich mit großen Augen an und ich seufzte. Mir war es eigentlich nicht recht, dass wir ständig auf seine Rechnung Pizza bestellten. Anderseits meinte er immer, er hätte das Geld und ich konnte ihm auch nichts außer meinen Nudeln anbitten. Und naja, bevor er hier hungern musste, konnten wir ja auch was bestellen. Dafür bot ich ihm ja Logie, wenn schon die Kost von ihm kam.

„Die gleiche wie immer?“, fragte ich ergeben und er grinste triumphierend. Manchmal fühlte ich mich ein bisschen wie ein Idiot, weil ich ihm eigentlich nichts abschlagen konnte. Aber in dem Fall sprang zumindest eine Pizza für mich raus. Ich mochte es, wenn Eddy hier war. Dann war die Welt einfach wieder in Ordnung.
 

Ich dachte, ich hatte Glück und würde von Nico am nächsten Tag verschont bleiben. Da er weder in Geschichte, noch in Biologie aufgetaucht war. Eigentlich war ich mir sogar ziemlich sicher, dass er nach dem peinlichen Gespräch von gestern schwänzen würde. Immerhin hatte er mir irgendwie seine kleine, mickrige Seele offenbart, sich vor mir geoutet, gesagt, dass er auf mich stand und war dann bei mir abgeblitzt. Nico war zu dem einfach der Typ, der gerne mal schwänzte, soviel wusste ich über ihn, das hatte er in der 10. nämlich zur Genüge getan. Irgendwie verspürte ich auch eine gewisse Genugtuung bei dem Gedanken, dass ich es schaffte Nico zum Schwätzen zu bringen.

Was mir dann allerdings etwas die Laune verdarb, war die Tatsache, dass er mir nach der sechsten plötzlich im Flur über den Weg lief. Er hatte mich angrinst, gegrüßt und ist dann einfach weiter gegangen, als hätte er mir nicht gestern gestanden, dass er scharf auf mich war.

Ich war völlig irritiert und verstand auch nicht so ganz, warum er die ersten Stunden nicht da gewesen war und er trotzdem so unbekümmert über den Gang gehen konnte, als wäre es sein gutes Recht nicht jedes Fach zu besuchen. Mann, wenn ich sowas machen würde, würden mich die Lehrer alle sowas zur Sau machen. Aber nein, Nico hatte natürlich wieder Sonderstatus. Lag bestimmt daran, dass er Schulsprecher war.

Etwas später fand ich heraus, dass es tatsächlich daran gelegen hatte. Es war SMV-Besprechung gewesen und er offiziell entschuldigt. Manchmal nervte mich Nico einfach schon, weil es ihn gab und gerade besonders durch seine Anwesenheit.

„Sag mal, warum läufst du mir eigentlich immer noch nach?“, unterbrach ich seinen Redefluss über die SMV-Versammlung. Er hatte sich über den Kunst- und Kulturreferenten aufgeregt, die wohl nur bei der SMV waren, damit sie ab und zu nicht in den Unterricht mussten. Konnte ihnen niemand verdenken, an so etwas hätte ich auch mal denken sollen.

„Hab ich dir doch gestern schon erklärt, ich will dich flach legen.“ Nico zuckte mit den Schultern, als wäre nichts dabei und damit erinnerte er mich sehr an meine Reaktion von gestern.

„Und du denkst, dass funktioniert in dem du mir nachläufst?“, hakte ich nach.

„Was besseres ist mir noch nicht eingefallen, nach dem mein Anmache mit dem Portrait nicht funktioniert hat“, antwortete er ehrlich und grinste dabei frech. Stimmt ja, er hatte mich vor zwei Wochen nach einem Portrait von sich gefragt. Das hatte ich schon völlig verdrängt.

„Du hast mich arrogantes Arschloch genannt.“ Aber daran erinnerte ich mich noch. Ich wusste ja nicht, was Nico so gelernt hatte im Bezug auf Leute flach legen, aber das verbesserte die Chancen definitiv nicht.

„Hey, ich hatte einen schlechten Tag gehabt und war wirklich sauer.“ Das klang nicht so sehr nach einer Rechtfertigung, wie es eigentlich sollte. Ich hätte eigentlich eher ein „Entschuldigung, war nicht so gemeint.“ oder „Das war alles ein Missverständnis, ich hab nur mit der Wand geredet.“ erwartet. Da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte und er offensichtlich auch nichts mehr zu dem Thema zu sagen hatte, gingen wir schweigend weiter.

Erst als ich vor meiner Haustür stand und ich nach meinem Schlüsselbund suchte, fiel mir auf, dass Nico immer noch neben direkt neben mir war und nicht abgebogen war, wie sonst.

„Du, ich lass dich nicht in meine Wohnung“, stellte ich noch klar, sperrte dann die Türe auf und ließ Nico davor stehen. Er hatte nichts dazu gesagt und ich hatte nicht zu ihm gesehen. Es war mir egal, ob ihn das irgendwie kränkte. Er war ja selbst daran Schuld, dass er mir nachlief. Aber ich ließ ihn definitiv nicht in meine Wohnung. Da hatte niemand was zu suchen, den ich nicht ausdrücklich einlud.
 

Ich gähnte verschlafen, als es an der Türe klingelte. Ich hatte mich nach der Schule auf meinen Kaffee verzichtet und mich stattdessen für ein paar Stunden zum Schlafen hingelegt, da ich selbst mit dem vielen Koffein im Blut ständig erschöpft war und fand, dass es mal wieder Zeit war ordentlich zu schlafen.

Ich wusste nicht genau, wie viel Uhr wir hatten, da mich erst das Türläuten aufgeweckt hatte. Aber draußen war es schon dunkel, also war ab halb acht alles möglich. Verdammt, ich hatte echt lange geschlafen, konnte das sein? Mir kam wieder nur munteres Rauschen entgegen, als ich in die Freisprechanlage lauschte und öffnete die Türe im festen Glauben daran, dass es Eddy sein würde. Wer sonst würde mich sonst noch um diese Uhrzeit besuchen? Vertreter bestimmt nicht. Die liefen allgemein nicht so gerne in den fünften Stock hoch...

In Erwartung meinen besten Freund gleich die Treppen hoch hecheln zu sehen, lehnte ich die Wohnungstüre an und ging selbst ins Bad. Meine Zunge fühlte sich irgendwie pelzig an und ich wollte mir noch kurz die Zähne putzen, um dieses unangenehme Gefühl los zu kriegen. Ich spuckte gerade die Zahnpasta aus, als auch schon die Wohnungstüre geöffnet wurde. Was man an dem tollen Quietschen hören konnte, das die Tür seit kurzem von sich gab.

Ich trat mit einem strahlend sauberen Lächeln aus meinem Badezimmer und fand mich einem Eddy gegenüber, der alles andere als glücklich aussah. Fuck. Er schaute mich an, als würde er gleich in Tränen ausbrechen und ich war mir ziemlich sicher, dass es mit Sophie zu tun hatte.

„Hey, Eddy, was ist los?“ Ich trat auf ihn zu und wollte meinen Arm um ihn legen.

„Du Scheiß Arschloch!“, schrie er plötzlich und schubste mich von sich weg. Ich taumelte einen Schritt zurück und knallte gegen die Wand. Was zur Hölle war hier los? Ich konnte nicht anders, als Eddy einfach nur geschockt anzustarren. Ich rieb mir den Kopf, den ich mir gestoßen hatte. Er stand mir mit einem wutverzerrten Gesicht und geballten Fäusten gegenüber. Ich sah, wie ihm Tränen über die Wangen liefen und ich fühlte mich völlig überfordert mit der Situation. So hatte ich Eddy noch nie erlebt.

„Was...“, weiter kam ich nicht zu fragen, da Eddy einen Schritt auf mich zumachte und ich nur zusammen zuckte. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er jemals wütend auf mich gewesen war und wusste nicht, was ich tun sollte. Irgendwie hatte ich Angst vor ihm und dieses Gefühl tat mehr weh, als alles andere.

„Was hast du mit Sophie gemacht?“, brüllte er und machte noch einen Schritt auf mich zu. Ich konnte nicht vor ihm zurück weichen, weil ich sowieso schon an der Wand stand. Was hatte ich mit Sophie gemacht? Die Frage war doch eher, was hatte sie mit mir gemacht?!

„Gar nichts?“, antwortete ich verwirrt. Ich wusste, ich hätte mit ihm schon am Sonntag darüber reden sollen, oder wenigstens am Montag. Gott, war ich ein Idiot, als ich dachte, dass sich das alles verlaufen würde.

„Erzähl doch keinen Scheiß!“ Eddy hatte das Gesicht verzogen, machte aber keinen Schritt mehr auf mich zu. Ich stand nach wie vor an der Wand und wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Ich musste ihm die Sache erklären. Er würde das schon alles verstehen, wir waren beste Freunde, verdammt noch mal.

„Gott, ich konnte doch gar nichts dafür, dass mit dem Kuss wollte ich nicht und keine Ahnung“, stammelte ich vor mich hin. Ich wusste nicht, wie ich es ihm richtig erklären sollte. Scheiße, scheiße, scheiße!

„Welcher Kuss?“, fragte er irritiert und ich hatte das Gefühl, als hätte ich mich noch mehr in die Scheiße geritten, also sowieso schon.

„Wenn es nicht der Kuss war, was denn dann?“, fragte ich ihn verwirrt. Worum ging es hier überhaupt? Ich hatte mit Sophie doch sonst gar nichts zu tun gehabt. Hölle noch mal...

„Verdammt noch mal, was für ein Kuss?!“ Er hatte mich plötzlich am Kragen gepackt und drückte mich gegen die Wand. So eine verdammte Scheiße! Ich versuchte seinen Handgriff zu lockern und zappelte unter ihm. Was zum Henker hatte ich gemacht, damit ich es verdient hatte, in so eine bekloppte Sachen reinzugeraten? Er verstärkte seinen Griff noch mehr und starrte mich wütend an. Anscheinend wollte er mich nicht los lassen, bevor ich ihm geantwortet hatte.

„Der Kuss mit Sophie“, ächzte ich schließlich und abrupt ließ Eddy mich los, als hätte er sich die Finger an mir verbrannt. Er entfernte sich einen Schritt von mir und schüttelte einfach nur fassungslos den Kopf. Fuck, er hatte es falsch verstanden. Fuck, fuck, fuck. Aber bevor ich mich rechtfertigen konnte, stürmte er aus der Wohnung, knallte die Türe laut donnerend zu und war weg.

Fuck the pain away!

Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, was ich die letzten Tage eigentlich gemacht hatte. Außer das ich verzweifelt versucht hatte, Eddy zu erreichen. Aber wenn ich angerufen hatte, war er nicht zu sprechen. Nach dem zehnten Mal in drei Stunden, war seine Mutter auch recht unfreundlich geworden, an sein Handy ging er auch nicht und als ich bei ihm zuhause vorbei gegangen war, war er nicht da.

Die restliche Zeit hatte ich wohl damit zugebracht, vor mich hinzuvegetieren. Ich wusste es nicht genau, ich wusste nicht mal, ob ich was gegessen hatte, und wenn war es nicht viel. Mir war soviel klar, dass ich Freitag die Schule geschwänzte hatte. Da wir mittlerweile Sonntag hatten und ich seit Eddy hier war nur einmal die Wohnung verlassen hatte, um zu ihm zu gehen.

Ich musste ihm doch die ganze Sache erklären. Aber ich wusste nicht wie, wenn ich nicht zu ihm konnte. Vor allem verstand ich nicht, was überhaupt los war, wenn es nicht am Kuss lag. Verdammt, ich hatte den Kuss nicht erwähnen sollen. Ich war so ein Vollidiot!

Die letzten Tage ratterte das Gespräch die ganze Zeit durch meinen Kopf und irgendwie schien ich jedes Mal, etwas schlimmeres gesagt zu haben. Auch wenn ich mich nicht mehr genau an meine Wortlaut erinnern konnte, ich hatte einfach irgendwann wirklich Mist geredet. Ich marterte mich mit dem Gedanken, dass ich das alles irgendwie hätte verhindern können. Wenn ich schon am Sonntag mit ihm darüber geredet hätte, verdammt. Oder noch besser, gleich am selben Abend, anstatt mich komplett voll laufen zu lassen und mit der Tussi rum zu machen. Gott, ich hätte gar nicht erst mit ihnen weggehen sollen. Ich hatte schon ein komisches Gefühl gehabt, als ich Sophie das erste Mal gesehen hatte.

Das Wochenende hatte ich kaum geschlafen, dafür hatte ich unheimlich viel gezeichnet. Ich meinte, wirklich unheimlich viel. Hauptsächlich Zeug, dass ich danach zerreissen wollte, weil es meinen ganzen Frust am Leben verkörperte. Wütende Striche, die alles Schöne aus der Zeichnung nahmen und eigentlich nur dafür da waren, damit ich mir die Finger nicht blutig kaute oder irgend einen anderen Scheiß machte. Ich wurde völlig fahrig und unruhig, wenn ich nur ein paar Minuten still sitzen musste und nichts zu tun hatte. Dann kreisten wirre Gedanken um mich herum, die mir einreden wollten, ich hätte mir alles mit Eddy verdorben, dem wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich war doch völlig verloren ohne ihn. Ich hatte doch sonst niemanden mehr, außer ihn. Mir war wirklich elend zu mute. Wenn ich Eddy verlieren würde, würde ich vor dem Nichts stehen. Vor dem absoluten Nichts...

Und dann versuchte ich wieder, ihn anzurufen. Irgendwann ging einfach niemand mehr ans Telefon. Auch nicht, als ich es zehnmal, zwanzigmal klingen ließ. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Kurz hatte ich das Gefühl, als würde ich einfach durchdrehen, weil ich mich so machtlos fühlte.

Meiner Großmutter hatte ich auch einfach nicht mehr helfen können, egal wie sehr ich mich bemüht hatte. Egal was ich tat, es ging ihr einfach immer nur noch schlechter und schlechter. Es war als müsste man ihr beim Sterben zu sehen, über lange Monate hin verteilt. Beim Sterben zu sehen...

Der einzige Grund, warum ich am Montag in die Schule ging, war, dass ich nicht mehr in meiner Wohnung sein konnte. So beklemmend wie jetzt, hatte ich sie noch nie empfunden und mir behagte der Gedanke auch nicht, bald wieder zurück zu müssen. Anderseits könnte sich Eddy bei mir melden und ich wäre sauer, wenn ich ihn verpassen würde, bloß weil ich nicht in der Wohnung gewesen war. Ich fühlte mich wie ein Gefangener und mir kam die Schule zum ersten Mal wie ein Ort vor, an dem man sich entspannen konnte.

„Na, Enno, wieder fit?“, fragte mich Robert, als ich den Klassenraum kroch. Ich grinste nur müde in seine Richtung, was jede Antwort ersparte. Ich wusste, dass ich so miserabel aussah, wie ich mich fühlte. „Ansteckend?“

Ich schüttelte nur den Kopf, nicht in dem Sinne, wie Bazillen eher wie verdammt schlechte Laune. Aber ich wollte Robert damit ganz bestimmt nicht belästigen. Mein Ansehen bei ihm würde einen ordentlichen Knacks kriegen, wenn ich ihm vor jammern würde, wie herausragend beschissen ich mein Leben gerade fand. Eddy war eigentlich der Einzige, den ich jemals an meinem emotionalen Leben hatte teilhaben lassen und ich hatte nicht vor, das zu ändern.

Der Unterricht zog sich zäh wie ein Lavastrom dahin und ich könnte vereinzelt die Leichenteile mancher Mitschüler erkennen, die noch schlechter in Englisch waren als ich. Ich wagte fast zu behaupten, dass die Lehrerin heute noch miesere Laune hatte als ich und war wirklich froh, dass sie im Moment andere Opfer hatte und mich nicht weiter beachtete.

Rober war so klug und sprach mich die ganze Stunde über nicht an. Ich hätte ihm sowieso nur sehr einsilbig geantwortet und in der kurzen Pausen zwischen Englisch und Mathe, stand ich nur da und starrte nach draußen. Neben mir standen Philipp und Jonas, die sich angeregt unterhielten und vor mir Robert, der an der Wand lehnte. Ich war nicht außen vor und hätte mich an deren Gespräch beteiligen können, aber dafür hätte ich erst verstehen müssen, um was es ging. Alles klang in meinem Kopf, wie hohles Geschnatter und Gelaber und ich bekam einfach keinen Sinn in das Gesagte. Es schien allerdings niemand aufzufallen, dass ich ihnen kaum Aufmerksamkeit bemaß. Ich lächelte nur hin und wieder, wenn jemand in meine Richtung sah. Alles bestens, alles bestens.

Irgendwie wusste ich nicht, ob ich froh sein sollte, dass Mathe vorbei war und ich mich wieder zuhause in Bett verkriechen konnte, oder ob mich gerade diese Tatsache wieder so fertig machte. Ich wollte nicht in meine Wohnung. Sie würde mich leise, aber vorwurfsvoll anschweigen. Als hätte ich an etwas Schuld, bei dem ich nicht mal wusste, was es war. Ich hatte immer noch nicht verstanden, warum zur Hölle Eddy nur so sauer auf mich. Er hatte ja von dem Kuss, für den ich nicht mal etwas konnte, überhaupt nichts gewusst. Das machte alles überhaupt keinen Sinn. Ich wusste nur, dass Sophie mich in irgendeine Scheiße reingeritten hatte und falls ich ihr über den Weg laufen sollte, konnte ich nur für sie hoffen, dass sie nicht allein war.

Und ich hatte keinen Schimmer, wie ich Eddy dazu bewegen sollte, mir zu zuhören. Was auch immer ich angeblich angestellt hatte, es musste ungeheuerlich sein und ich wusste nicht mal, ob ich an der ganzen Situation hätte was retten können. Der Gedanke machte es allerdings kein Stück besser. Ich hasste es, wenn ich nichts tun konnte und noch mehr, weil es dabei um Eddy und mich ging.

„Ohne dir nahe treten zu wollen, du sieht heute mal so richtig Scheiße aus“, erklärte mir Nico zur Begrüßung. Ja, das wollte ich hören. Gib´s mir, Nico, ich steh drauf! Mach mich fertig!

„Danke“, gab ich trocken zurück. Mir war durch aus klar, dass ich aussah wie ein Zombie. Nico sollte sich bloß freuen, dass ich nicht sein Gehirn fressen wollte.

„Ah, nichts zu danken. Ich dachte nur, ich sag es dir, bevor du es von jemand anderem erfährst.“ Er lächelte dabei und ich machte mir nicht mal die Mühe es zu erwidern. Wenn ich wirklich ehrlich war, genoß ich dieses kleine Gespräch gerade, auf eine verschrobene Art und Weise. Nico war direkt und man wusste, woran man bei ihm war. Ich musste ihm nicht mal vor machen, dass ich gute Laune hatte. Ihm war es offensichtlich ziemlich egal, wie ich drauf war. Er machte sich keine Sorgen um mich, er wollte mir nicht helfen und er wollte auch nicht mit mir darüber reden.

Nico kickte gerade einen Stein vor sich her, hatte dabei seine Hände in den Hosentaschen und eigentlich machte er gar keine schlechte Figur, wenn man davon absah, dass er für einen Jungen wirklich recht klein war und einfach zu viel Metall im Gesicht hatte. Hm...

„Nur um das mal klar zu stellen, du bist nicht in mich verschossen, oder?“, hakte ich nach. Er schaute kurz zu mir, zuckte dann aber nur mit den Schultern.

„Um ehrlich zu sein, ich find dich nicht mal richtig nett“, erklärte er mit seiner direkten Art und ich musste zu geben, wenn ich nicht so ein beschissenes Wochenenden hinter mir hätte, wahrscheinlich hätte ich jetzt gelacht.

„Also nur Sex?“, stellte ich klar, um mögliche Missverständnisse auszuräumen.

„War das ein Angebot?“ Sein dreckiges Grinsen gefiel mir und ich erwiderte es, diesmal meinte ich es sogar ernst. Ich konnte in dem Moment nicht mal genau sagen, warum mich dieser Kerl doch weich gekocht hatte, vielleicht lag es an der einsamen Wohnung, die auf mich wartet und der Gedanke daran, den ganzen Tag darin verbringen zu müssen. Aber vielleicht lag es auch einfach daran, dass das Leben mit Sex definitiv besser aussah, als ohne.

Ich sperrte die Haustür auf und Nico folgte mir. Ob er nervös war, konnte ich nicht sagen, es wirkte aber eigentlich nicht so, wie er neben mir lässig die Stufen hochging. Aber gut, es war ja auch nicht viel dabei. Soviel anders konnte der Sex nicht sein und ich nahm mal stark an, dass Nico schon Erfahrung hatte. Zumindest konnte ich mir nur schwer vorstellen, dass er noch Jungfrau war. Dafür war er einfach zu beliebt und zu selbstsicher.

In der Wohnung angekommen, landete der Wohnungsschlüssel in dem Schälchen neben dem Telefon und mein Rucksack ließ ich auch einfach im Gang liegen. Nico hatte die Schuhe ausgezogen und schaute sich nun um, während ich in der Küche war und mir einen Kaffee machte. Wir musste nicht wie die wilden Tiere übereinander herfallen, bloß weil wir jetzt theoretisch Sex miteinander haben könnten.

„Ich hätte mir deine Wohnung, naja, weniger trostlos vorgestellt“, meinte er schließlich, als er zu mir in die Küche trat. Weniger trostlos? Hm, ja, der Traum von der eigenen Wohnung war nicht so toll, wie sich das die meisten wohl ausmalten. Es war ja nicht so, als hätte ich mir die Wohnung irgendwie aussuchen können und als wäre sie mit voller Absicht deprimierend.

„Enttäuscht?“ Nicht, das mich das wirklich interessierte. Ich rührte mir ordentlich Zucker in meinen Kaffee und lehnte mich an die Anrichte, während ich trank. Nico stand noch im Türrahmen und betrachtete die Küche mit einem kritischen Blick.

„Ach was, diese Retro-Blümchentapeten sind doch tot schick!“ Wir schauten beide auf die braune Tapete mit den grünen Blumen darauf, mit der die Küche tapeziert wurde. Tot schick wäre nicht unbedingt der Begriff, mit dem ich dieses Etwas an der Wand bezeichnet hätte. Ich fand altbacken, häßlich und unpassend treffender. Aber ich hatte kein Geld zu renovieren und wenn man ehrlich war, auch keine Lust. Alles unnötige Arbeit. Ich würde fürs Studium hier sowieso ausziehen. Es war nur noch dieses eine Jahr, insofern ich einen Studienplatz bekam. Aber jetzt stand ich noch hier in meiner Küche, in der es immer noch leicht nach vergammelten Zwiebeln roch und war tatsächlich froh, dass man mich nicht mit dem vorwurfsvollen Ticken der Uhr alleine ließ.

Sein Kuss schmeckte nach Metall, irgendwie. Seine Piercings hatten sich kurz kalt an meinen Lippen angefühlt, war aber nicht unangenehm gewesen. Es war interessant leicht mit den Zähnen an den Ringen zu ziehen und dafür energischer geküsst zu werden. Vielleicht waren Piercings alles in allem gar nicht so schlecht. Möglicherweise konnte man das auch über Nico sagen.
 

„Geh zum Rauchen raus aus meinem Zimmer“, nuschelte ich, als ich das Klicken von einem Feuerzeug hörte. Es war so klar gewesen, dass es bei Nico eine Zigarette danach gab, allgemein, dass er Raucher war. Einfach weil der erste Eindruck war, dass er bestimmt nicht rauchte, weil das nur was war für Menschen mit schwachen Charakter. Bloß keinen Erwartungen gerecht werden, weder im Aussehen, noch im Verhalten, oder?

„Kann ich nicht einfach das Fenster aufmachen?“ Nico klang so erschöpft, wie ich mich fühlte. Aber es war eine Erschöpfung, die nur doch eine gewisse Befriedigung resultierte. Es war tatsächlich so, dass sich das Leben durch Sex zumindest kurzzeitig weniger tragisch anfühlte und eigentlich war es das, was ich die ganze Zeit wollte. Ich spürte, wie sich Nico zum Nachttisch beugte und die angezündete Zigarette vermutlich in einer der dreckigen Teller ausdrückte. Dann ließ er sich wieder neben mich fallen und wir lagen einfach nur da, ich auf dem Bauch und er auf dem Rücken mit einem selbstgefälligen Grinsen.

Irgendwann war ich einfach weggedöst, eingelullt von dem gleichmäßigen Atmengeräuschen neben mir und wachte erst wieder auf, als ich ein lautes Scheppern aus der Küche hörte. Ich schaute verpennt auf den Wecker, der mir sagte, das wir kurz nach Neun hatten und ich meinen ganzen Tag mit Sex und Schlafen verbracht hatte. Naja, hätte schlechter laufen können. Ächzend erhob ich mich aus meinem Bett und kroch breitbeinig Richtung Küche, wo ich auf Gund des Lärms Nico vermutete.

Tatsächlich stand er nur mit seiner Hose bekleidet in meiner Küche und durchwühlte aus mir unerfindlichen Gründen meine Schränke.

„Was zum Henker tust du da?“ Ich hatte mich an den Türrahmen gelehnt und grinste etwas amüsiert, als Nico erschrocken hochzuckte und sich den Kopf an einem Schrank anschlug.

„Mann, hast du gewusst, dass es hier absolut nichts zum Essen gibt?“, fragte er mich, als er sich den Kopf reibend erhob. Ihn schien diese Tatsache wirklich sehr zu schockieren. Naja, daran merkte man, dass er wirklich noch zuhause bei Mama wohnte, die sich um die Einkäufe kümmerte.

„Ich hab Kaffee“, bot ich ihm aber freundlich, wie ich war, an.

„Ey, ich hab Hunger, was will ich da mit Kaffee?“, nörgelte er und klang dabei fast wie Eddy. Der einzige Punkt bei denen ich bis jetzt eine Ähnlichkeit zwischen den beiden feststellen konnte. Verdammt, Eddy. Ich spürte, wie sich mein schlechtes Gewissen regte, weil ich heute kein einziges Mal auch nur versucht hatte, mich bei ihm zu melden. Allerdings wäre ich sowieso nur maßlos frustriert gewesen, wenn er mich schon wieder abgeblockt hätte oder besser gesagt, am Boden zerstört. Gott, war das Wochenende die Hölle gewesen, sowas wollte ich nicht nochmal erleben.

„Zehn Minuten zu Fuss ist ein Supermarkt.“ Ich hätte auch sagen können, dass er einfach Heim gehen konnte, wenn es ihm hier nicht passte. Aber der Gedanke daran, die ganze Nacht allein in der Wohnung zu sein, behagte mir nicht. Und zu dem schien Nico keine Anstalten zu machen, tatsächlich nach Hause zu wollen.

„Hat der noch offen?“, fragte er mit einem skeptischen Blick auf die Küchenuhr.

„Bis zehn.“

„Okay, dann zieh ich mir noch kurz was an und wir können los.“ Mit den Worten lief er an mir vorbei und ich konnte mich nur über das Wir wundern. Ich hatte ja eigentlich daran gedacht, dass er alleine einkaufen konnte, vor allem, da ich gerade nur echt vor mich hinkroch. Anderseits knurrte mein Magen und ich sollte vielleicht wirklich die Gelegenheit nutzen, dass mir jemand beim Schleppen der Einkäufe helfen konnte.

Auf dem Weg zum Supermarkt redeten wir nicht viel. Eigentlich klärte Nico nur ab, ob es Dinge gab, die ich nicht gerne aß. Gab es nicht, bei Essen war ich schon immer sehr flexibel gewesen. Was echt von Vorteil war, als meine Oma auf einem Öko-Gesundheitstrip war und nichts mehr mit Glutamat, Zucker und Weizenmehl kaufte.

Der Einkauf lief ziemlich seltsam ab. Ich kroch eigentlich nur durch die Gänge, holte meine drei Lebensmittel aus den Regalen, die ich immer kaufte und währenddessen lief Nico ziemlich wirr durch den Laden, kam immer wieder bei mir vorbei, um irgendwelchen Kram im Einkaufskorb abzuladen, Auberginen, Zucchini, griechische Nudeln, passierte Tomaten, Kapern. Was zur Hölle waren Kapern überhaupt? Ich hob das kleine Gläschen aus dem Korb und betrachtete die kleinen, grünen Dinger, die aussahen wie komische Erbsen, kritisch. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das schmeckte. Aber gut... Nico schien tatsächlich zu wissen, was er tat und er hatte gemeint, er würde den Einkauf zahlen, also war es mir egal.

Eigentlich war ich auch etwas verwirrt, warum ich überhaupt mit Nico an der Kasse stand mit den Einkäufen für ein gemeinsames Abendessen. Der Grund, warum ich ihn eingeladen hatte, war der Sex, da war ich mir ganz sicher. Aber ich war auch bereit, zu zugeben, dass es wahrscheinlich nicht nur daran lag. Wenn Nico die Alternative war zum Alleinesein, zog ich ihn vor, auch wenn das bedeutete, dass ich Zucchini und Auberginen schleppen musste. Meine Oma hatte das früher öfter gekocht und es hat jedes Mal nach nichts geschmeckt. Wie gesagt, ich war nicht heikel was Essen anging. Aber wenn ich mir selbst aussuchen konnte, was ich essen wollte, fiel dieses Gemüse definitiv nicht unter meine engere Wahl.

Nico wirkte ziemlich zufrieden mit sich und der Welt, als er in der Küche stand und mir Anweisungen gab, was ich ihm alles bringen sollte. Es war irgendwie komisch mit einer zweiten Person in der Küche zu stehen und zusammen zu kochen. Meine Oma hatte mich immer nie in die Küche gelassen, wenn sie ihre seltsamen Kochexperimente veranstaltete und bei Eddy wusste ich, dass er von Kochen noch weniger Ahnung hatte als ich.

Irgendwie fand ich es ja etwas seltsam, dass Nico gerne kochte. Ich hätte von ihm eigentlich erwartet, dass er da ähnlich verwöhnt war wie Eddy, der zuhause keinen Kochlöffel anrühren musste. Vielleicht lag es ja daran, dass er schwul war. Ich hatte mal davon gehört, dass Schwule gerne kochten. Naja, egal, an was auch immer es lag, es war in jedem Fall mal ganz nett, nicht nur für mich alleine Essen zu machen.

„Aber wir haben jetzt nicht sowas wie eine Beziehung, klar?“, vergewisserte ich mich, nachdem wir mit den Tellern auf dem Schoß in meinem Bett aßen. Der einzige Tisch, an den man hatte Essen können, war im Wohnzimmer gestanden und hatte mich nicht so ganz überlebt, wie die anderen Möbel in dem Raum auch.

„Nur Sex und gegenseitiges Wundenlecken“, bestätigte er mir und grinste mich dabei an.

„Tz, ich hab keine Wunden, die man lecken muss“, log ich. Ich hasste es, dass Nico mich besser verstand, als mir lieb war oder war ich so leicht zu durchschauen?

„Ja, ja...“ Er winkte nur ab, damit war das Thema gegessen. Er würde bis morgen früh bleiben und ich würde ihn wieder fragen, ob er hier her kam. Wir würden wieder Sex haben und danach nicht über unsere Probleme reden. Und ich würde nicht an Eddy denken, wenn er hier war.

Ein Buch oder auch ein Film sind behütete Orte.

Nico war nicht mehr da, als ich aufstand. Was aber daran lag, dass er zu ersten Stunde hatte und ich erst zur vierten und ich würde ganz bestimmt nicht ihm zu liebe früher aufstehen. Es war auch diesmal nicht weiter schlimm in einer leeren Wohnung aufzuwachen. Ich war zu viel beschäftigt damit, nicht zu spät zu kommen, um über mein Leben zu lamentieren.

Frau Lindner nahm es mir auch nicht übel, dass ich erst fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn in den GeschichtsLK reinstolperte. Sie mochte mich oder zumindest hielt sich mich vermutlich als einzige Lehrerin, für einen motivierten, intelligenten Schüler. Was wohl daran lag, dass mir Geschichte ziemlich leicht fiel. Mein Opa hatte mir immer gerne historische Ereignisse erzählt und ich meinte, damit nicht die ganze Zweite Weltkrieg-Scheiße, sondern einfach allgemein über alles mögliche. Somit war ich mit Geschichte eigentlich groß geworden und fand es auch irgendwo interessant. Deswegen hatte ich auch den GeschichtsLK gewählt. Manchmal hatte ich den leisen Verdacht, dass es eigentlich nur Frau Lindner zur verdanken war, dass ich nicht schon ein paar Mal durchgefallen war. Sie war von der achten bis zur zehnten meine Klassenlehrerin gewesen und in der Zeit war ich wirklich nicht der allerbeste Schüler gewesen.

Allerdings nahmen wir in Geschichte gerade Weimarer Republik durch und dieses Thema hatten wir schon so oft durchgekaut, dass es wirklich nicht mehr sonderlich spannend war. So saß ich etwas gelangweilt in der letzten Reihe, kaute auf meinen Fingernägeln herum und wippte mit meinen Stuhl auf und ab. Nico saß in der ersten Reihe und notierte sich irgendwas, was bestimmt nichts mit dem Unterricht zu tun hatte, da Frau Lindern gerade nichts weiter relevantes erzählte. Mir war es aber eigentlich ziemlich egal was Nico tat. Ich fand es nur ziemlich unfair, dass er so frisch und munter und kein Stück müde aussah und ich eigentlich im Moment einfach auf meinem Tisch einschlafen könnte. Ich hatte in der Nacht nicht wirklich Schlaf bekommen. Nico schien wohl eine kleine Sex-Durststrecke durch gemacht zu haben, anders konnte ich mir das nicht erklären.

Biologie und Mathe waren ähnlich motivierend wie Geschichte heute, also gar nicht. Ja, ja, man lernte fürs Leben und nicht für die Schule. Aber man musste als Künstler nicht wissen, wie die Anatomie eines Baumes war. Warum sollte man sowas überhaupt wissen wollen? Ich wusste das man aus Bäumen Blätter machen konnte, alles andere war mir egal.

Ich hatte meinen Kram zusammen gepackt, als mich Nico antippte. Ich war etwas zusammen gezuckt, weil ich das nicht erwartet hatte und war auch irritiert. Irgendwie dachte ich ja, dass wir irgendwelchen Kontakt in der Schule mieden, einfach nur, weil wir uns nicht wirklich mochten und uns auch nicht viel zu sagen hatten.

„Kannst du kurz warten? Ich muss etwas mit Herr Werters besprechen“, fragte er mich und ich nickte nur. Es würde mich nicht umbringen hier noch ein paar Minuten stehen zu bleiben und es wäre dumm ohne ihn vorzugehen. Ich betrachtete gelangweilt, die häßlichen Schulplakate im Flur, während ich darauf wartete, dass Nico endlich aus dem Klassenraum kam. Was verstand er denn unter „Kurz warten“?! Ich stand hier sicher schon - ich schaute mich nach einer der vielen Schuluhren um – naja, drei Minuten. Immerhin, in drei Minuten konnten andere die Welt retten und so. Naja, eigentlich hasste ich es einfach, auf Leute warten zu müssen. Egal war es war. Ich guckte auch dementsprechend genervt, als Nico endlich aus dem Klassenraum kam.

„Was hälst du heute von...“, fing er an zu reden, aber ich ging einfach weiter. Ich wollte jetzt heim.

„Dann eben nicht.“ Wahrscheinlich hatte er gerade auch einfach nur die Augen verdreht, aber ich konnte es nicht sehen, weil ich ihm den Rücken zu gewandt hatte. Er schloss mit mir auf und zusammen verließen wir die Schule, war ja mittlerweile nichts neues mehr. Ob es den anderen in der Stufe auch schon aufgefallen war? Hm, eigentlich interessierte mich das kein Stück. Ich hatte andere Probleme.

Und eines stand jetzt genau vor mir, hatte dieses absolut hinreißende Lächeln und schien auf mich gewartet zu haben. Ich blieb stehen und starrte Sophie mit einer gewissen Fassungslosigkeit an. Sie stand am Schultor und winkte mir jetzt zu, so dass ich sie in keinem Fall übersehen konnte. Ich spielte mit dem Gedanken einfach wieder umzudrehen oder sie zu verprügeln. Nico hielt mich von beidem ab. Er brauchte nicht zu wissen, dass ich gerade irgendeinen Stress hatte. Ich hätte ihn wegschicken können, aber vielleicht war es besser, wenn ich nicht alleine mit ihr war. Eventuell würde das nämlich zu einer Straftat führen. Und diese Straftat hatten nichts damit zu tun, irgendwelche Jugendschutzgesetze mit Sophie zu übertreten.

„Was willst du?“ Begrüßungen waren in diesem Fall überflüssige Floskeln. Ich wollte sie so schnell wie möglich los werden und ich hatte so den Verdacht, dass sie die Art von Mädchen war, die man nur los wurde, wenn sie bekamen was sie wollten.

„Ich würde gerne mit dir reden.“ Sie schaute mich mit einem ernsten Blick an. Keine Spur von Verunsicherung. Wäre sie keine Schlampe, wäre ich beeindruckt von ihr.

„Da bin ich aber mal gespannt.“ Ich hoffte, sie hatte eine verdammt gute Erklärung für diese ganze Scheiße hier, ansonsten sah ich mich gezwungen sie zu erschießen. Dumme Filmphrasen. Ich war wirklich wütend.

„Geht das nicht allein?“, fragte sie schließlich direkt und wir schauten beide zu Nico, der uns die ganze Zeit interessiert beobachtet hatte. Gott, der geilte sich doch daran auf, dass ich Stress hatte. Wichser.

„Soll ich gehen?“ Er schaute überrascht. Sah er hier sonst noch jemand, der zuhörte?!

„Nein.“ Ich wollte mit Sophie definitiv nie wieder alleine sein. Am Ende hing sie mir eine Vergewaltigung und ein daraus resultierendes Kind an und zwar ohne das ich sie angerührt hatte. Sophie konnte sowas. Sie war das pure Böse!

„Bist du sicher?“ Sie schaute Nico skeptisch an, der sie selbstzufrieden angrinste. Verdammt, jetzt bildete er sich auch noch was drauf an. Ich fühlte mich nur noch absolut genervt.

„Ja, ja. Also was willst du?“, wiederholte ich nochmal meine Frage. Sophie warf dem unliebsamen Zuhörer noch einen kurzen Blick zu, schien ihn dann aber für unwichtig zu erklären und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. Sie holte tief Luft und schien etwas mit sich zu hadern.

„Ich möchte mich bei dir entschuldigen“, sagte sie schließlich in einem ernsten Tonfall.

„Keine Chance.“ Was dachte die sich eigentlich? Entschuldigen?! Sie knutscht mich ab, erzählt Eddy irgendeinen Scheiß, so dass er sauer auf mich ist und kommt jetzt einfach so daher, als wäre das etwas, was man mit einer dummen Entschuldigung aus der Welt räumen konnte. Bei anderen ging das vielleicht, wenn sie einen mit ihren großen, braunen Rehaugen flehentlich ansah. Hier war sie aber an der falschen Adresse.

„Aber...“ Sie wirkte ehrlich entsetzt. Passierte ihr wohl nicht oft, auf Widerspruch zu stoßen.

„Nein, verpiss dich.“ Man sollte ja nicht gemein sein zu Mädchen, aber Sophie hatte das verdient.

„Enni, das ist alles ein totales Missverständnis, glaub mir. Ich war total berunken und ich weiß auch nicht... Du hast mich so angesehen und irgendwie...“

„Du hast doch voll einen an der Klatsche! Hast du dabei irgendwann mal an Eddy gedacht? du... du... dumme Kuh!“ Toll, Ennoah, jetzt hast du es ihr aber gezeigt! Gleich weint sie bestimmt, weil du so böse Kraftausdrücke verwendest. Böser Schmetterling. Scheiße, regte mich das alles auf. Ein Missverständnis. Bla Bla Bla. Ich bin ausversehen auf deinen Mund gefallen! Schon klar. Und wie zur Hölle schaffte sie es, mir da irgendwas in die Schuhe zu schieben. Ich hab sie genervt angesehen, nichts anders. Selbst wenn alles anders gewesen wäre, war sie immer noch die Freundin von Eddy. Eddy, der einfach nur beste Kerl auf Erden war. Die hatte doch keine Ahnung, Schlampe. Ja, Schlampe wäre das Wort gewesen, verdammt.

„Natürlich hab ich das!Was glaubst du, warum ich mit ihm darüber geredet habe?!“ Sie schien sich wirklich vor mir rechtfertigen zu wollen und machte damit alles noch viel schlimmer, wenn das überhaupt ging.

„Was zur Hölle hast du zu ihm gesagt?“ Ich packte sie hart an den Schultern, sollte sie nicht antworten, würde ich sie schütteln. Immerhin wollte Eddy mir nichts sagen und das schien mir eigentlich die einzige Möglichkeit, überhaupt noch mal etwas zu erfahren. Sophie starrte mich mit schreckensweiten Augen an und ich sollte mich eigentlich fühlen wie ein Psychopath. Aber verdammt, ich war nun mal im Recht!

„Naja, nicht viel... nur das du mir... irgendwie gefällst, glaub ich und dann ist Eddy einfach... äh … weg.“ Sophie war gerade völlig überfordert mit mir. Ihr war hoffentlich klar, dass sie mich besser gefunden hatte, als Eddy. Dumme Kuh. Mensch, so wie ich, so waren Männer. Wenn sie jemand wie mich ihm vorzog, war sie so selbst Schuld. Ich hatte unbewusst den Griff um ihre Schulter verstärkt, was mir erst klar wurde, als sich ihr Gesicht schmerzlich verzog.

„Hey, Enno, komm wieder runter.“ Nico fand wohl, dass er nun genug Theater hatte und berührte mich leicht am Arm. Ich ließ sofort von Sophie ab, die sich über die schmerzende Schulter fuhr und beunruhigt zu mir rüber sah. Sie machte mich wahnsinnig und bevor ich sie noch ernsthaft verletzte, drehte ich mich einfach um und ging. Ich hörte, wie mir schlurfende Schritte folgten. Nico, der es nicht eilig hatte. Hoffte er auf Sex? Ich war viel zu aufgebracht dafür. Eddy hat das alles einfach in den falschen Hals bekommen und dachte jetzt, ich hätte ihm die Freundin ausgespannt. Super, toll. Warum war die Bitch auch so bekloppt und erzählt ihm sowas?!

„Hm, da ist ja jemand heiß begehrt“, kam es von Nico, der immer noch ein paar Schritte hinter mir ging, sich aber nicht zu Schade war, um sich über die Situation lustig zu machen. Ich wusste gerade echt nicht, ob ich noch Bock auf ihn hatte.

„Halt die Fresse!“, fuhr ich ihn schlecht gelaunt an. Ich wusste immer noch nicht, wie ich Eddy erreichen sollte, um ihm klar zu machen, dass alles Sophies Schuld war. Vielleicht sollte ich noch mal bei ihm vorbei gehen? Ich schaute zu Nico, der sich ziemlich unbeeindruckt von meiner miesen Stimmung zeigte. Er bemerkte meinen Blick und grinste plötzlich anzüglich. „Ich steh drauf, wenn du so abgefuckt wütend bist.“

Verdammt, ich würde Eddy einfach morgen von der Berufsschule abfangen.
 

Seine Berufsschule lag am Stadtrand und ich musste mit dem Bus fahren, um zu ihm zu kommen, da ich keine Lust hatte nach zwei Stunden Sport tatsächlich noch eine dreiviertel Stunde dahin zu laufen. Bus fahren war noch so unangenehm, wie ich es in Erinnerung hatte. Er war relativ voll, so dass ich die zwanzig Minuten zur Schule stehen musste und der Busfahrer hatte ganz offensichtlich einen Fahrstil entwickelt, der darauf abzielte die stehenden Insassen besonders durch zu schütteln. Echt zum Kotze und dafür hatte ich mir eine Fahrkarte gekauft...

Wenn es nicht für Eddy gewesen wäre, hätte ich so eine Aktion nicht mal im Ansatz in Erwägung gezogen. Ich konnte aber auch nicht sagen, dass ich froh war, als ich aus dem Bus aussteigen musste, das bedeutete nämlich, dass ich bei der Schule war und ich fühlte mich ehrlich gesagt ziemlich angespannt. Ich wüsste nicht, was ich tun sollte, wenn Eddy mich schon wieder abblocken würde. Allein bei dem Gedanken wurde es mir flau im Magen. Er musste mir einfach zuhören.

Zum Glück hatte seine Schule, genau wie unsere, nur einen großen Haupteingang und es war nicht schwer jemand dort abzufangen. Ich stellte mich an das Tor und beobachtete die Schülermengen, die aus den Gebäude strömte. Vielleicht war es Einbildung, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, als würden die Schüler hier völlig anders aussehen, als von meiner Schule. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, ich hätte auf der Straße sofort erkannt, wer von welcher Schulform kam. Ich wusste, solche Gedanken sollte man definitiv nicht weiterverfolgen und auch nicht laut aussprechen. Aber ich konnte ja auch nichts dafür, dass sich in meiner Schule die Leute anders kleideten und andere Frisuren hatte, als die Leute hier. Als würde man mit jeder Faser klar machen, woher man kam. Und ich lenkte mich mit diesem Gedanken nur von Eddy und seiner möglichen Reaktion ab. Ich hasste es wegen etwas nervös zu sein und neigte dazu mich mit unwichtigen Dingen von meiner Nervösität abzulenken.

Ich überblickte die Menge und hoffte, dass ich Eddy erkennen würde. Aber er musste einfach aus dieser gleichaussehenden Schülermenge hervorstechen. Ich wusste, dass er anders aussah, wie die meisten Leute, die hier rumliefen.

Tatsächlicherweise erkannte ich ihn nach kurzer Zeit, wie er mit zwei Mädels und noch anderen Typen in der Nähe des Haupteingangs stand und sich unterhielt. Ich war mir nicht sicher, ob er nicht gerade erst rausgekommen war oder schon eine Weile dort stand und ich ihn nicht bemerkt hatte.

Ich merkte wie mein Herz schneller schlug. Fuck, ich hatte echt Panik, dass er mich zurückweisen wurde und ich wusste, dass es irgendwo lächerlich war. Immerhin waren wir beste Freunde, es gab kein Mensch, der mich so gut kannte, wie er. Also gab es wirklich keinen Grund für mich, sich wie ein dummes, kleines Mädchen aufzuführen.

Trotzdem musste ich noch einmal tief durchatmen und mir gut zu sprechen, um dann tatsächlich auf ihn zu zugehen. Er sah mich nicht, weil er mit dem Rücken zu mir stand. Aber ihn würde ich immer erkennen, selbst wenn ich ihn nur von hinten sah.

Auch wenn ich wusste, dass es auf andere im Moment nicht so wirkte, mir war gerade echt mulmig zu mute, wie ich auf die Gruppe von Eddy zu ging.

„Hey“, grüßte ich in die Runde und es drehten sich alle irritiert zu mir um. Ich fühlte mich dumm und ich fühlte mich wirklich furchtbar, als mich Eddys Blick traf. Es lag pure Verachtung drin und es zog sich alles in mir zusammen.

„Hey, Enni.“ Er klang wirklich nicht begeistert, schien mich aber nicht vor seinen Schulkameraden bloßstellen zu wollen. Ich lächelte ihn zaghaft an, er erwiderte es nicht. Er sagte auch sonst nichts mehr und ich stand wie ein Idiot neben den anderen, die wohl nicht ganz wussten, was sie mit mir anfangen sollten. Ich hatte ja eigentlich gehofft, dass er von alleine verstand, dass ich mit ihm reden wollte und nicht, dass er mich einfach nur komplett ignorierte. Scheiße, so hätte das nicht laufen sollen.

Erst als einer aus der Gruppe meinte, er müsste jetzt auch heim zu seiner Freundin, verteilten sie sich und ich stand mit Eddy allein auf dem Schulhof. Er wandte sich auch zum Gehen und schien sich wirklich zu weigern, mit mir zu reden. Gott, wir waren doch keine fünf mehr und schmollten uns an, bis man vergessen hatte, was passiert war!

„Hey, Eddy“, begrüßte ich ihn nochmals und er schnaubte nur. Warum musste eigentlich ich wie der reuige Hund angekrochen kommen, wenn es doch Sophie verbockt hatte? Könnte er es mir nicht leichter machen. „Können wir reden?“

„Ich wüsste nicht worüber.“ Eddy klang verletzt und sein verbissenes Gesicht zeigte, dass er es auch definitiv wach. Er dachte wirklich, ich wollte ihm seine Freundin ausspannen?

„Ich wusste nicht, dass Sophie sowas abziehen würde und ehrlich, ich hatte damit nichts zu tun! Ich will nichts von ihr, wirklich!“, beteuerte ich ihm, er ging allerdings einfach an mir vorbei und hatte auf Durchzug gestellt. Was sollte ich denn noch machen? Musste ich vor ihm auf den Knien rutschen, dass er mir überhaupt zuhörte.

„Eddy, hör mir doch zu!“, rief ich ihm nach und fühlte mich wirklich armselig dabei und es wurde noch schlimmer, als er sich einfach nicht umdrehte. Es war, als würde man gegen eine Wand reden und dieses übermäßige Gefühl der Machtlosigkeit schnürte mir den Hals zu. Es fühlte sich an, als würde ich keine Luft mehr bekommen und ich müsste jeden Moment sterben, weil er sich einfach immer weiter von mir entfernte. Es war wie in einem schlechten Alptraum, in den man rannte und rannte und das eigentliche Ziel immer weiter weg war und man eigentlich nur scheitern konnte. Ging es darum? Dass ich mich der Grausamkeit des Lebens einfach geschlagen gab.

Drauf geschissen. Ich rannte hinter ihm her und erwischte ihn gerade noch, wie er in den Bus einstieg. Ich ließ mich neben ihm auf dem Zweiersitz fallen. Er schaute nicht mal zu mir herüber.

„Sophie hat mich im Su Casa einfach so geküsst. Sie war betrunken, oder so. Keine Ahnung. Naja, deswegen war ich auch den Abend dann nicht mehr bei euch. Ich wollte schon am Sonntag mit dir darüber reden, aber nicht am Telefon... und ach, was weiß ich. Ich hätte einfach nicht gedacht, dass Sophie so eine dumme Schlampe ist. Und ich hatte nie vor, sie dir irgendwie auszuspannen.“

„Nenn sie nie wieder so!“ Ich hatte plötzlich seine ungeteilte, wütende Aufmerksamkeit. Er schaute mich wieder so an, als wäre ich der reinste Abschaum. Das war doch nicht fair!

„Du nimmst sie auch noch in Schutz?!“ Ich verstand es einfach nicht. Warum zum Henker glaubte er dieser dummen Kuh und nicht mir? Verdammt noch mal, ich war sein bester Freund seit immer und jetzt tat er so, als wäre ich einfach irgendein Arschloch, das sich wie das letzte Schwein aufführte!

„Ich kenn dich doch! Du vögelst doch alles, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist!“ Uff, das war hart. Ich hätte nie gedacht, dass Eddy so über mich dachte. Eigentlich hatte ich immer angenommen, dass es okay für ihn war, dass ich nicht so auf Beziehungen stand und ab und zu One-Night-Stands hatte.

„Hey, mach mal halb lang. Ich hab keinen Finger an Sophie gelegt. Die hat mich angemacht, okay?!“ Also bei allem was recht war, egal, ob ich jetzt mit vielen Mädchen geschlafen hatte oder nicht, Sophie wollte ich definitiv nicht.

„Gott, sie ist doch erst fünfzehn. Wenn du ihr von deiner eigenen Wohnung erzählst und das du sie malst würdest, ist doch klar, dass sie dich toll findet!“, wurde mir vorgeworfen und ich verstand es wirklich nicht.

„Du hast ihr doch erzählt, das ich alleine wohne und zeichne!“, stellte ich klar. Ich hätte ihr sowas bestimmt nicht gesagt, ich hätte sowieso nicht mit ihr gesprochen!

„Es war doch so klar, dass du das für dich nutzst! Du hast selbst gesagt, dass du sie hübsch findest!“ Ey, jetzt wollte er mir einen Strick aus meiner Notlüge drehen, oder was?!

„Ich hab das nur gesagt, weil ich keinen Bock hatte dir sagen zu müssen, dass ich sie für viel zu jung halte. Was dachtest du dir überhaupt bei einer Fünfzehnjährigen?!“ Jetzt musste ich ja auch nicht mehr so tun, als wäre es in Ordnung, dass sie noch ein halbes Kind war.

„Du spinnst doch!“ Eddy sprang wütend auf und stürmte einfach aus dem Bus raus, der gerade an einer Haltestelle stand, die aber definitiv nicht seine war. Ich hätte ihm noch folgen können, war aber ehrlich gesagt viel zu geflasht von dem Streit. Er war immer noch auf ihrer Seite... Ich mein, sie hatte aus fadenscheinigen Gründen mit ihm Schluss gemacht und seinen besten Freund geküsst und auf wen war er sauer? Da stimmte doch echt was nicht.

Irgendwie fühlte ich mich gerade maßlos enttäuscht von Eddy und dieses Gefühl brannte unangenehm in meinem Hals.

Im Unglück finden wir meistens die Ruhe wieder, die uns durch die Furcht vor dem Unglück geraubt wurde.

Nicht, dass ich es Nico jemals sagen würde, aber langsam hatte ich angefangen an seiner Gesellschaft Gefallen zu finden. Er war unkompliziert und ehrlich, machte sich nicht die Mühe besorgt um mich zu sein und interessierte sich auch sonst nicht wirklich für mich und er konnte gut kochen. Er war die letzten zwei Wochen eigentlich jeden Tag hier gewesen, meistens hatten wir irgendwann Sex und lagen dann untätig rum. Manchmal kauften wir gemeinsam ein und ab und zu machte er etwas für die Schule und ich zeichnete. Unsere Gespräche beschränkten sich meistens auf ein paar Gemeinheiten und das absolut Nötige.

Ich hatte ehrlich gesagt das Gefühl, dass es Nico nicht nur um den Sex ging, sondern einfach darum nicht zuhause zu sein. Wir sprachen nicht über sowas, aber ihr rief nie daheim an, wenn er spontan entschloss über Nacht zu bleiben. Wenn er gut drauf war, erzählte er mir irgendwelchen Anekdoten aus seinem Leben, während ich an meiner Mappe arbeitet. Niemals auch nur ein Wort über seine Eltern und ich würde einen Dreck tun und ihn danach fragen. Dafür wollte er auch nie wissen, wer die alte Frau auf dem einzigen Foto war, das es hier in der Wohnung gab. Oder warum ich in meiner Schublade mit Schreibzeug hundertfünfzig Dollar rumliegen hatte. Ich war ehrlich gesagt ziemlich überrascht gewesen, als er das Geld gefunden hatte. Ich schaute in die Schublade selten rein, da dort nur ein Tacker und fast leere Stifte lagen. Das würde allerdings erklären, warum letzten Monat meine Kohle so knapp gewesen war. Hätte mir ein ärgerliches Gespräch erspart.

Es war angenehm jemand da zu haben ohne einem das ganze Seelenleben hinkotzen zu müssen. Wir wussten auch so, dass in unseren Leben nicht alles glatt lief.

Nico war hier in meiner Wohnung anders, als ich ihn in der Schule erlebte. Es war jetzt nicht so, dass er zwei komplett verschiedene Persönlichkeiten hatte. Aber er war in mancher Hinsicht wie ich. Es gab Probleme, die gingen niemand etwas an und es gab Seiten an seinem Charakter von denen niemand etwas wissen musste. Und ich meinte damit nicht nur, dass er schwul war.

Manchmal hatte ich das Gefühl, als würde er sich gerne an dem Unglück anderer weiden. Ich schien ihn regelrecht magisch anzuziehen, wenn ich gerade in einer dumpfen Brühe aus Selbstmitleid hing, was trotz Nico oft genug vorkam und er hatte in keinsterweise im Sinn mich aufzuheitern, wenn er über mich herfiel. Er hatte dann einfach Bock. Aber das war in Ordnung, in dieser Hinsicht harmonierten wir ganz gut.

Es gab auch stille Momenten zwischen uns, da war uns beiden klar, dass wir einfach nur irgendwie kaputt waren im Vergleich zu den meisten anderen Menschen. Wahrscheinlich war das der Hauptgrund, warum wir überhaupt erst zusammen in meiner Wohnung saßen. Aber darüber sprachen wir nicht.

„Hey, Nico am Apparat“, hörte ich Nico aus dem Flur. Ich stand gerade unter der Dusche, als das Telefon klingelte. Nico, der sich hier mittlerweile wohl sehr heimisch fühlte, war offensichtlich ran gegangen, bevor ich überhaupt groß reagieren konnte.

„Der duscht gerade.“ Ah, es wurde über mich gesprochen. Ich stieg aus der Dusche und trocknete mich hastig ab, da ich keine Ahnung hatte, mit wem er da gerade redete und ich hoffte einfach nur, dass es nicht Eddy war oder meine Mutter.

„Ein Freund von ihm. - Nein, nein, wir kennen uns erst seit kurzem.“ Nico klang höflich und zuvorkommend, was schonmal soviel klar machte, das definitiv nicht Eddy am Telefon war. Ich wickelte mir ein Handtuch um die Hüften, verließ das Bad und nahm ihm den Hörer ab, bevor er noch mehr über sich erzählte.

„Deine Mutter“, flüsterte er mir noch kurz zu, bevor ich den Hörer ganz in der Hand hatte. Ich seufzte nur und war froh, dass Nico soviel Anstand besaß sich in mein Zimmer zu vergrümmeln.

„Hey?“, meldete ich mich und ich merkte jetzt schon, dass ich keinen Bock hatte, mit meiner Mutter zu sprechen.

„Ennoah?“ Ich unterdrückte es, meine Mutter zu fragen, ob sie noch mehr Söhne in Deutschland hatte, die sie zurück gelassen hatte. Das wäre zu kindisch gewesen.

„Und hast du mit Derrick geredet wegen dem Geld?“ Deswegen hatte sie vermutlich angerufen. Sonst meldete sie sich selten von sich aus. Ich hoffte nur, sie würde mir jetzt nicht sagen, dass es mit dem Geld nicht klappte. Sonst hätte ich wirklich ein kleines Problemchen.

„Derrick möchte gerne wissen, wofür du das Geld brauchst“, wurde mir mitgeteilt. So, wollte er das? Hatte er etwa Angst, ich würde mich hier von dem Geld Drogen kaufen und mich jeden Tag weghauen. Sie konnten eigentlich wirklich froh sein, dass ich das nie als Alternative zu meinen derzeitigen Tiefs gesehen hatte.

„Warum will er das?“, fragte ich. Eigentlich war ich nicht gewillt ihnen eine Auflistung meiner Ausgaben zu geben. Sonst interessierten sie sich doch auch nicht für mein Leben.

„Nun, du weißt schon....“, druckste sie rum. Wusste ich das?

„Ich kauf mir Nutten und Koks.“ Offensichtlich wollten sie doch genau das hören, oder? Verdammt, was dachten die sich eigentlich? Ich bettelte sie nicht aus Spass um Geld an und mich kotzte das vermutlich noch mehr an, als sie, die sich wenigstens wie die großen Gönner fühlen konnten.

„Ennoah!“, empörte sie sich. Ich verdrehte nur die Augen. Im prüden Amerika dürfte man vermutlich so Wörter wie Nutte gar nicht denken, geschweige denn aussprechen. Tz.

„Mensch, was glaubst du, wofür ich das wohl brauche? Ich muss essen und ich brauch auch Kohle für meine Mappe, das Material ist jetzt nicht gerade billig, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr wollte, dass ich nackt rumlaufen muss, oder?“

Ich hörte sie an der anderen Leitung seufzen. Ja, sie war schon sehr geplagt mit so einem schrecklichen Sohn wie mir, die arme Frau...

„Ich werde es Derrick sagen.“ Sie klang müde bei dem Satz, als hätte sie keine Lust mit ihrem Mann über ihren missratenen Sohn in Deutschland zu diskutieren. Tja, Pech gehabt. Sowas kommt davon, wenn man sich mit sechszehn einfach von irgendeinen Typen schwängern ließ.

„Und schick mir keine Dollarscheine!“ Vielleicht würde sie ja diesesmal auf meinen Wunsch hören, aber ich hatte so den Verdacht, dass ich lange davon träumen konnte.

„Sarah hatte übrigens vor drei Tagen Geburtstag, sie ist jetzt acht.“ Sie schien mir gar nicht zu zuhören und wie kam sie auf den Gedanken, dass ich das wissen wollte? An meinem Geburtstag hatte meine Mutter nicht mal angerufen.

„Und weißt du, wie alt ich bin?“, fragte ich sie zurück und fühlte mich plötzlich kindisch. Es war doch egal, ob sie wusste, wie alt ich mittlerweile war. Ich brauchte keine Aufmerksamkeit von ihr, von ihr am allerwenigsten.

„Ennoah, du wirst unfair“, sie klang tadelnd. Ich schnaubte nur verächtlich. Was wusste sie schon von unfair? Sie hatte doch keine Ahnung...

„Ich hab einen Freund da, ich mach jetzt Schluss.“ Ich hatte wirklich keinen Bock mehr auf das Gespräch. Immer wenn ich mit meiner Mutter sprach, verspürte ich das Gefühl, etwas zerschlagen zu wollen. Es war einfach nur frustrierend und immer dachte ich mir, dass war die Frau, die lieber eine Familie ohne dich hatte. Ich war kein Kind mehr, ganz bestimmt nicht, und ich war mittlerweile wirklich alt genug, um auch ohne meine Mami klar zu kommen. Aber das war ich mit vier nicht gewesen, auch nicht mit fünf, sechs oder sieben... Wie konnte man sein eigenes Kind einfach im Stich lassen? War ich wirklich so schrecklich gewesen?

„Bye, Ennoah.“

Ich legte auf ohne mich zu verabschieden. Ein leichter Kopfschmerz pochte hinter meiner Stirn und ich merkte, wie meine Hand leicht zitterte. Ich schüttelte leicht den Kopf, in der Hoffnung, dass davon irgendwas besser wurde. Der Geräusch des Fernsehers drang an meine Ohren und ich erinnerte mich daran, dass Nico noch hier war. Nico, der darauf stand, wenn ich schlecht drauf war und den ich jetzt flach legen würde. Einfach weil ich keine Lust hatte mir um etwas Gedanken zu machen.
 

Wir lagen zusammen auf meinem Bett, er hatte die Augen geschlossen, aber schlief nicht. Ich hatte immer noch leichte Kopfschmerzen, aber wollte immerhin nichts mehr an die Wand schmeißen. Also wenigstens gab es in dieser Hinsicht einen Fortschritt. Ich betrachtete Nicos nackten Körper, der meinen nicht berührte. An seinem Oberarm sah ich noch leicht meine Handabdrücke, wo ich ihn gepackt hatte. Nico war es egal, wenn ich manchmal etwas grober war, dafür akzeptierte ich es, wenn er mich biss. Mein Hals und Oberkörper sah relativ zerschunden aus. Aber Philipp und Jonas hatten ja die Vermutung aufgestellt, ich hätte mir eine Affäre angeschafft mit einer heißen, verheirateten Frau, die auf harten Sex stand und Robert dachte wohl, dass ich endlich eine feste Freundin hatte, die einem gerne Knutschflecken verpasste. Nico vertrat in der Schule der Meinung, dass ich meinen Staubsauger sehr gerne mochte. Arschloch. Ich war doch kein vierzehnjähriges Mädchen, dass sich mit dem Teil Knutschflecken verpasste, um behaupten zu können, sie hätte einen Freund.

Er konnte nur froh sein, dass ich nicht auf diese ganzen Knutschflecken-Markierungs-Scheiße stand, sonst hätte ich ihm einen auf der Stirn verpasst. Dann wüsste er mal, wie lästig es war, ständig danach gefragt zu werden.

Ich hatte auch am Anfang versucht ihn davon abzuhalten, mir andauerend in den Hals zu beißen. Aber spätestens, wenn wir zu Gange waren, vergaß er das und ich war dann meistens auch nicht mehr so recht da, um ihn daran zu hindern. Also musste ich mich wohl damit abfinden, dass es aussah, als hätte ich einen tollwütigen Vamp als Freundin. Solang niemand dachte, ich würde den Schulsprecher nageln war alles okay. Nicht, dass ich ein großes Problem damit hatte, dass ich Sex mit einem Kerl hatte. Aber mein Privatleben ging einfach niemand etwas an und da ich mit Nico auch nicht zusammen war und auch nie sein werde, wollte ich nichts, was auch nur im Ansatz nach einer offizielle Beziehung aussah. Ich wusste, dass es Nico genauso ging.

Wir waren beide nichts für eine feste Bindung. Das würde dann bedeuten man hatte irgendwelche Verpflichtungen, man müsste aufeinander Rücksicht nehmen, Verständnis haben und vermutlich sollte man sich auch über den Sex hinaus mögen. Wir beide konnten uns gerade mal so ertragen, aber auch nur, wenn wir uns mit anderen Dingen beschäftigten.

Ich starrte Nicos Körper immer noch an und er schien meinen Blick bemerkt zu haben, zumindest öffnete er seine Augen einen Spalt breit und schaute mich relaxt an.

„Ich dachte, deine Mutter ist tot.“

„Halt die Klappe.“

Er schloss wieder seine Augen, als hätte er nichts gesagt und wir blieben beide schweigend auf meinem Bett liegen. Ich starrte aus dem Fenster und lauschte seinen gleichmäßigen Atemzügen. Von unten hörte ich eines der Kinder von Frau Kammerer schreien und irgendwo im Haus gegenüber hatte jemand seine miserable Musik zu laut aufgedreht, so dass man sie hier leise hören konnte. In diesem Moment empfand ich mein Leben als weiß. Ich konnte es nicht anders beschreiben, es fühlte sich so an, wie ich mir die Farbe weiß als Gefühl vorstellte. Manchmal fühlte man sich gelb, rot, schwarz, selten mal braun und viel zu oft grau. Aber im Moment war es schlichtes Weiß. Mit diesem Gedanken fielen mir auch die Augen zu und mit dem Rücken zu Nico gewandt, schlief ich ein.
 

Zu sagen, Nicos Anwesenheit wäre schleichend gewesen, wäre falsch formuliert, da er plötzlich von heute auf morgen immer präsent gewesen war. Allerdings schien sich sein Leben langsam bei mir eingeschlichen zu haben. Ich fand T-Shirts von ihm in meinem Wäschekorb. Plötzlich stand eine Tasse im Schrank, die definitiv von ihm war. In der Küche waren auch nach und nach mehr nützliche Utensilien aufgetaucht, die ich bestimmt nicht gekauft hatte. Die Zahnbürste im Zahnputzbecher hatte schon nach drei Tagen ihren Platz bei mir gefunden und in der Dusche stand ein Duschgel, das ich mir nicht leisten konnte.

Ich wusste, dass alles so verdammt nach Beziehung aussah, dass es lächerlich klang, wenn ich sagte, Nico und ich waren Fuck-Buddies. Das dieser ganze Kram von ihm hier war, hatte eigentlich einen simplen Grund, wenn man die ganze Woche jeden Tag bei jemand verbrachte, fing man einfach an, Sachen mitzubringen, weil man sie brauchte. Man könnte fast sagen, Nico wohnte mittlerweile bei mir und er würde nur pro forma jeden zweiten Tag bei sich zuhause schlafen. Es störte mich nicht, wenn er hier war und wenn ich ehrlich war, war es anstrengender für mich, wenn ich nachts im Dunkeln in meinem Bett lag und neben mir niemand war, der leise schnarchte. Dann vermisste ich sogar dein leichten Tabakgeruch, den Nico verströmte.

Mir ging es um unverbindliche Nähe und ihm um Eigenständigkeit. Es war schwierig so etwas jemand zu erklären, der das nicht kannte. Aber bei Nico und mir ging es nicht um uns, sondern nur von den Möglichkeiten, die wir füreinander boten. Wenn es nicht Nico gewesen wäre, wäre es vielleicht die Blondine, an deren Namen ich mich nicht mal mehr erinnern konnte. Das war wirklich nicht weiter wichtig. Mittlerweile ging das mit mir und Nico so um die drei Wochen. Genauso lange, wie Eddy mich ignorierte.

Ich hatte nicht mehr versucht mich bei ihm zu melden. Es brachte ja auch nichts, wenn er mir einfach nicht zuhören wollte. Es war frustrierend, irgendwie auch verletzend und ich hatte einfach den Mut und die Energie, mich weiterhin ständig bei ihm zu melden. Es gab einfach Grenzen, wie viel ich aushalten konnte und ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn er mich wieder ablehnen würde. Ich hoffte einfach, dass er sich von alleine wieder melden würde. Was anderes blieb mir ja auch nicht übrig. Ich vermisste ihn und Nico war in keiner Form ein Ersatz für ihn.

Manchmal, wenn Nico mich umarmte, bildete ich mir ein, es wäre Eddy. Ich wusste nicht woran es lag, aber wenn ich spürte, wie sich Arme um mich schlangen und festhielten, musste ich immer an ihn denken. Aber das war meine Sache, es musste niemand davon wissen und es würde niemand was davon erfahren.

Ich schreckte auf, als sich Nico neben mir rührte. Er schaute mich aus verpennten Augen an, starrte dann mit zusammen gekniffen Augen zu meinem Wecker, stöhnte und drehte sich einfach wieder weg, um weiter zu schlafen. Wir hatten heute Samstag und die Möglichkeit endlich mal auszuschlafen. Ehrlich gesagt, waren wir erst ziemlich spät überhaupt zum Schlafen gekommen und ich konnte Nicos Reaktion durchaus nachvollziehen.

Ich hatte allerdings schon zwei Tassen Kaffee getrunken und an meiner Mappe gearbeitet. Mittlerweile hatte ich ein paar Aktzeichnungen von Nico, die ganz passabel aussahen, einige Portraitstudien von mir, wie ich depressiv schaute, drei Skizzenbücher voll mit kleinen Dingen, die mit P begannen oder auch mit anderen Buchstaben, aber ein Skizzenbuch wurde definitiv von Pilzen und Pinguinen dominiert. Wenigstens dieser Teil in meinem Leben machte Fortschritte. Nächste Woche wollte ich Donnerstags blau machen und zu einer Mappenberatung fahren, um endlich mal anständiges Feedback zu bekommen. Eigentlich hatte ich schon in den Osterferien geplant, auf eine Mappenansicht zu gehen, aber ich musste ehrlich sagen, wenn die eigene Großmutter zwei Wochen vorher gestorben war, hatte man wenig Motivation überhaupt das Haus zu verlassen, geschweige denn drei Stunden mit dem Zug quer durch Deutschland zu fahren.

Und letzten Monat war es einfach ein finanzieller Aspekt gewesen, die lange Fahrt nicht auf mich zu nehmen. Aber dadurch, dass ich die 150 Dollar gefunden hatte, beziehungsweise Nico, sie gefunden hatte, hatte ich keine Ausreden mehr, nicht auf eine Mappenberatung zu gehen.

Bis nächste Woche wollte ich noch ein paar Fotos machen, ich war mir noch nicht so ganz einig über das Motiv. Mir würde schon was einfallen, hoffte ich.

Da meine Kaffeetasse schon wieder leer war, erhob ich mich aus dem Bett und ging in die Küche. Während neuer Kaffee kochte, schaute ich mich in der Küche um, die jetzt irgendwie anders aussah, seit Nico hier war. Sie roch auch nicht mehr nach vergammelten Zwiebeln, sondern nach Tabak. Da Nico meistens rauchte, während er kochte. Er hielt sich wie ich, eigentlich nur in Küche, Bad und meinem Schlafzimmer auf. Anscheinend hatte er verstanden, dass die anderen Zimmer Sperrzone waren. Da er nicht in meinem Zimmer rauchen dürfte, war er mittlerweile auf die Küche ausgewichen.

Aber wenn man von den unangenehmen Tabakgeruch absah, war die Küche um einiges sauberer. Es stapelten sich keine Geschirrberge mehr auf der Spülmaschine und bis auf eine dreckige Tasse von gestern Abend und ein einem verdammt scharf aussehenden Messer neben der Spüle, gab es kein dreckiges Geschirr. Es sah wirklich so aus, als würde sich wieder jemand darum kümmern, in welchem Zustand die Räume waren. Vermutlich wäre auch der Spiegel im Badezimmer geputzt, wenn ich nachschauen würde.

Die Zigarettenschachtel und der Aschenbecher, die am Fensterbrett lagen, das Geschirrtuch, dass achtlos auf die Anrichte geschmissen wurden, alles sorgte dafür, dass es hier wieder so aussah, als wäre es hier bewohnt. Man fühlte sich hier nicht mehr so verloren und die Uhr hörte auf mir Vorwürfe zu machen, deswegen war es okay, dass Nico so oft hier war.

Ich brauchte niemand zum Reden und mir wäre es vermutlich auch relativ egal, ob wir Sex hatten oder nicht, aber ich brauchte einfach jemand, der diese Wohnung am Leben erhielt. Und Nico schien seinen Spass daran zu haben, nicht bei seinen Eltern sein zu müssen. Er war auch kein geborener Hausmann, wäsche Waschen und Klo putzen fand er wohl genauso Scheiße wie ich. Aber alles was in der Küche anfiel, schien er gerne zu machen und so Kleinigkeiten wie das Waschbecken und den Spiegel putzen war wohl etwas, dass er irgendwie nebenher machte. Keine Ahnung. Ich sah ihn nie direkt sauber machen hier. Das hätte mich auch schlicht und ergreifend wahnsinnig gemacht. Ich hasste es, anderen Leuten beim Arbeiten zu sehen zu müssen, wenn ich selber nichts machen wollte. Dann kam ich mir faul und unnütz vor, wenn das in meiner eigenen Wohnung passierte, empfand ich es als besonders schlimm.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, die dreckige Tasse auszuspülen, einfach damit ich etwas gemacht hatte, außerdem war es meine Tasse gewesen. Allerdings hatte ich keine Lust. Ich schüttete mir wieder meine Unmengen an Zucker in den Kaffee und ging zurück in mein Zimmer.

Mittlerweile hatte es Nico sogar geschafft, sich verschlafen aufzusetzen. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und hatte eine Kippe im Mund, die er noch nicht angezündet hatte. War seine Zigarettenschachtel eigentlich nicht in der Küche? Allerdings bemerkte ich eine weitere Packung auf dem Nachttisch und ich fragte mich, was die in meinem Zimmer machte. Immerhin hatte er hier Rauchverbot.

„Nico, raus mit der Fluppe!“

„Mann, mach nicht so einen Stress, die ist doch noch gar nicht an.“ Er nahm sie aber wieder aus dem Mundwinkel und legte sie auf die Schachtel. Anscheinend wollte er das Bett noch nicht verlassen. Allerdings hatte er sich meinen Zeichenblock gegriffen, der noch auf meiner Seite des Bettes gelegen hatte und blätterte ihn interessiert durch.

„Nichts gegen dich, aber wenn du solche Bilder in die Mappe tust, halten dich doch alle für schwul.“ Er hob mir eine Zeichnung von sich entgegen, auf dem er schlafend zusehen war und ich fand, Nico sah auf meinem Bild irgendwie schöner aus, als er tatsächlich war. Allerdings würde man bei solchen Motiven eigentlich eher ein Mädchen erwarten, die Geliebte oder so. Ich zuckte aber mit den Schultern.

„Ich denke, denen ist scheißegal, wen oder was ich vögle, solange es gut gezeichnet ist.“

Nico lachte, offensichtlich gefiel ihm meine Antwort. Er blätterte weiter meinen Skizzenblock durch und ich setzte mich neben ihn. Bei einer Aktzeichnung von sich blieb er hängen.

„Kommt das auch in deine Mappe?“ Man konnte nicht sagen, dass er irgendwelche gravierenden Komplexe hatte, was seinen Körper anging. Sonst hätte er wohl nicht diese Zeichnungen von sich machen lassen. Aber es war wohl nochmal eine andere Sache, wenn sowas in einer Mappe landete, die irgendwelchen Fremden durchschauten.

„Dafür hab ich es gemacht“, erklärte ich ihm allerdings. Ich brauchte keine Aktzeichnungen von ihm, wenn es nicht für die Mappe wäre. Zu dem hatte ich ihm das von Anfang angesagt.

„Schade, sonst hätte ich mir das aufgehängt. Ich muss sagen, ich seh verdammt scharf aus.“ Uff, Nicos Ego war sogar noch größer, als erwartet. Wahrscheinlich war er nur schwul, damit er sich selbst geil finden konnte, oder so.

„Du kannst es haben, wenn ich die Mappe wieder zurück kriege.“ Ja, ich war heute mal großzügig und eine Zeichnung konnte ich so im Nachhinein doch entbehren.

„Cool.“ Damit war das Thema erledigt und er legte den Block beiseite, um mich für einen Kuss zu sich zu ziehen.

An verblendeter Mutterliebe sind mehr Menschen zugrunde gegangen als an der gefährlichsten Kinderkrankheit.

Ich kritzelte gerade in mein Skizzenbuch, während Herr Werters uns irgendwas lustiges über Matrizen erklärte. So spannend, ich konnte kaum an mich halten, ihm nicht zu zuhören. Ich versuchte mich gerade mit pinken Pinguinen, um meine P-Wort-Idee weiter zu verfolgen und befand, daas ich nie wieder in meinem Leben einen pinken Pinguin malen wollte. Vielleicht wäre ein prauner, prüner oder plauer Pinguin mal was. Die Farben müssten sich doch nur einfach mit diesem Begriff neu etablieren und alles wäre lustig punt. Wie auch immer.

„Haben das alle verstanden?“, fragte unser Mathelehrer, wie üblich, wenn er etwas Kompliziertes erklärt hatte und er bekam irgendein Gemurmel von der Klasse, dass man als bejahend auslegen konnte, wenn man großzügig war. Ich wusste, dass ich zumindest soviel verstanden hatte, dass ich noch fünf Punkte in dem Fach kriegen würde. Schon peinlich, wenn man weder im mathematischen noch in sprachlichen Bereich irgendwelche Talente zeigte. Selbst in Deutsch dümpelte ich mit meinen neun Punkten fröhlich vor mich hin. Wahrscheinlich würde es helfen, wenn ich mal freiwillig ein Buch anfassen würde. Allerdings könnte ich mir auch stattdessen die Verfilmung anschauen, die es ja von jedem guten Roman geben musste, und eine Geschichte musste ich ja nicht zweimal sehen. Nico las ziemlich viel, aber er machte auch sonst viel für die Schule.

Wahrscheinlich hatte er mal Großes vor, eine Karriere oder sowas. Ich hatte zwar keinen Schimmer als was, aber er würde bestimmt viel Geld damit verdienen.

„Enno...“ Ich schreckte auf und starrte verwirrt in Nicos genervtes Gesicht. Warum saß er nicht an seinem Platz? War die Stunde schon um? Tatsächlich hatten alle um mich herum schon ihre Sachen eingepackt und nur ich saß noch da und malte pinke Pinguine. Verdammt, vielleicht sollte ich wirklich etwas besser auf meine Umgebung achten, ich hatte nicht mal den Schulgong gehört. Ich packte meinen Kram zusammen, während Nico ungeduldig neben mir stand und mit seinem Fuß auf den Boden tippte. Er wirkte heute ungewohnt nervös, normal war immer ich derjenige, der irgendwelche hektischen, unruhigen Bewegungen machte.

„Was iss´n los mit dir?“, fragte ich irritiert von ihm. Das war voll anstrengend, wenn der Gesprächspartner ständig an irgendwas zupft und nie still halten konnte. War ich auch so schlimm?

„Ich will nur den Bus nicht verpassen, okay?“

„Gott, muss ich mit? Du kannst doch jemand anders fragen. Benni hilft dir sicher gerne!“, nörgelte ich. Nico hatte mich gestern gefragt, ob ich ihm helfen würde, seinen PC zu mir zu bringen, weil meiner voll fürn Arsch war und er den für ein paar Schularbeiten brauchte. Ich hätte auch sagen können, dass er dafür nach Hause gehen könnte. Aber mir war es egal. Ich hatte in der Wohnung genug Platz, da würde ein PC mehr nicht weiter stören.

„Klar, weil du auch willst, das Benni weiß, wo du wohnst!“, konterte er und ich stöhnte genervt. Gott, konnte es manchmal kompliziert sein, wenn man Menschen meiden wollte. Da ich gegen dieses Argument nichts weiter sagen konnte, trottete ich hinter Nico her zum Bus.

Er war sogar so nett und zahlte mir das Busticket, sonst wäre ich nämlich auf keinen Fall mitgekommen. Dafür musste ich jetzt eine grausame, halbe Stunde in einem Bus voller Kinder ertragen. Da wir nach der Vierten aus hatten und dieses Glück nur die Grundschüler zwei Stationen vorher mit uns teilten, plärrten und schrieen diese Bälger um uns herum. Ich hatte nie verstanden, was man an sowas niedlich finden konnte. Aber ich war auch ein Kerl, mir fehlten vermutlich einfach die Hormone dafür, um Kinder zu mögen. Damit konnte ich allerdings leben.

Von der Bushaltestelle mussten wir dann noch eine Weile durch eines dieser typischen Vorstädtchen laufen, in dem eigentlich alle Straßen gleich aussahen und ich keine Ahnung hatte, wie ich wieder zur Haltestelle finden sollte.

Nicos Haus war... groß und es sah irgendwie alles sehr nach oberer Mittelschicht aus, der gepflegte Garten mit den häßlichen Rosen, die etwas kitschigen und sicher überteuerten Statuen dazwischen. Das kunstvoll getöpferte Namensschild an der Tür. Nico wirkte hier völlig deplaziert und wir waren erst durch das Gartentor getreten.

Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als wir das Haus betraten. Nico kickte seine ausgelatschen Chucks einfach in die Garderobe, wo sie verstörend unpassend zwischen zwei ordentlichen Paaren Pomps und zwei Paar schwarzen Herrenschuhen aussah.

„Deine Eltern sind wirklich nicht da?“, hakte ich nochmal nach, während ich meine Schuhe auszog und einfach nicht anders konnte, als sie ordentlich daneben zu stellen. Ich wollte hier kein Bild zerstören, das hier offensichtlich angestrebt wurde mit der dunklen Garderobe, die optisch an das Tischchen mit einer Vase, einer einzelnen Rose darin und einer hübschen Bleistiftzeichnung darüber, angepasst war.

„Sind beide arbeiten“, antwortete er mir und ich war ein bisschen zu abgelenkt von dem Flur, den wir betreten hatten und der vermutlich so groß war, wie mein ganzes Zimmer, um auf ihn zu reagieren. Eine dunkle Bordüre zog sich auf einer kaffeebraunen Wand entlang und dazu passend hingen Bilder in Brauntönen mit unterschiedlichen Motiven.

Der Treppenaufgang und der Flur oben war ähnlich gestaltet. Die Zimmertüren hatten alle ein schlichtes weiß mit dezenten silbernen Türgriffen und Nico latschte unbeeindruckt die Treppen hoch. Klar, er wohnte hier, da schaute man sich nicht die Bilder an, die man schon zum hunderttausendsten Mal in seinem Leben gesehen hatte. Aber ich fühlte mich mit meiner abgetragenen Jeans und ausgewaschenen T-Shirt wie ein Störfaktor und Nico sah mit seinen Piercings und den kurzen, blonden Haaren definitiv abgeratzer aus als ich. Es wirkte eigentlich so, als würde er bewusst nicht in diese Umgebung passen wollen.

„Bad ist da hinten im Flur, letzte Türe links und das is mein Zimmer“, wurde mir kurz erklärt und dann betraten wir Nicos Zimmer, das eine ziemliche Überraschung war. Es war so ziemlich das genaue Gegenteil von dem was ich erwartet hätte. Gut, es war Nico, der wurde ungern Erwartungen gerecht. Aber wenn man ihn kannte, würde man zumindest ein bisschen was von seiner Persönlichkeit in seinem Zimmer vermuten. Aber nichts, der Raum war klein, weiße Wände an denen nichts hingen, ein Bett, das mit hellblauen Laken bezogen und ordentlich gemacht war. Darüber hing ein Bücherregal in dem feinsäuberlich aufgereiht ein paar Schulbücher standen, die ungelesen aussahen. Ansonsten stand nur noch ein Schrank aus hellem Holz und ein Schreibtisch, der wohl passend zu den restlichen Möbeln ausgewählt wurde, in dem kleinen Raum. Das markanteste war hier wirklich noch der PC, den wir heute holen würden. Allerdings stach er mit seinen Flachbildschirm und dem stylischen Silber auch nicht wirklich raus. Wenn man in diesem Zimmer etwas interessantes sehen wollte, blieb man zwangsläufig an Nico hängen, der sich gerade sein T-Shirt über den Kopf zog und sich daran machte seine Hose aufzuknöpfen.

„Ich dachte, wir wollten nur deinen PC holen...“ Ich wusste nicht so recht, ob das ein Protest von meiner Seite aus oder es einfach nur eine Feststellung war. Aber kurz fand ich den Gedanken irritierend in einem anderen Bett als meinem Sex zu haben, allerdings nur solange, bis Nico mich auf sein Bett schubste und sich über mich beugte, um mich zu küssen. War vielleicht auch einfach so ein Gewohnheitssache-Ding und eventuell sollte man Nicos Bett mal eine Chance geben. Es war eigentlich ganz bequem und ich stand auf Nicos Küsse und allgemein, was er mit seiner Zunge anstellen konnte.
 

Zufrieden rollte ich von Nico runter und blieb erstmal liegen. Der Ortswechsel hatte keinen Unterschied gemacht, der Sex war dadurch nicht besser gewesen, aber auch nicht schlechter. Als war das wohl ganz okay, aber ich brauchte es nicht unbedingt nochmal. Vor allem, weil sich ein Problem ergab, dass bei mir zuhause sonst kein Ding war.

„Was mach ich jetzt mit dem Kondom?“

Nico stöhnte genervt und schien sich zu weigern, sich auch nur einen Zentimeter zu rühren. Ich trat ihn mit meinen Fuss in die Seite, weil ich es nicht ausstehen konnte, wenn er mir nicht antwortete und ich das Kondom los werden wollte.

„Gott, nerv nich, spül es das Klo runter oder so“, nuschelte er und ich verdrehte die Augen. Ich kletterte über ihn aus dem Bett und suchte nach meiner Boxershorts, da ich definitiv nicht nackt durch ein fremdes Haus laufen wollte, selbst wenn seine Eltern nicht hier waren.

„Verdammt, wo sind meine Shorts?“, fluchte ich, da ich sie einfach nicht finden konnte. Ich hatte keinen Schimmer, wo Nico sie hingeschmissen hatte, was mich gerade tierisch nervte. Wir würden nie wieder bei ihm Sex haben, damit war es besiegelt. Nico murmelte irgendwas zur Antwort, was ich nicht verstand und deutete eine Bewegung Richtung Ende des Betts an. Super, sehr hilfreich.

Meine Boxershorts war dann am Fussende zwischen Wand und Bett eingeklemmt und ich hätte noch lange unter dem Bett suchen können.

Ich zog sie mir über und stand dann erstmal etwas ratlos im Gang. Wo war das Bad gewesen? Hier gab es fünf Türen. Ich hatte keine Ahnung, wofür man soviele Räume überhaupt brauchte. Hm, was hatte Nico gesagt, wo das Bad war? Ganz am Ende vom Flur? Da gab es zum Glück nur eine Tür... Naja, wird mich schon kein Tiger anspringen, wenn es die falsche war. War sie nicht mal.

Ich entsorgte das Kondom und ignorierte einfach, das in dieses Bad jemand wie ich nicht mal einen Fuß setzten sollte. Einfach, weil hier alles so strahlte und glänzte und ich irgendwie wirklich abgefuckt aussah, wenn ich mich so im Spiegel anschaute. Was soll´s, ich hatte nicht vor, hier noch mal herzukommen.

Im Gang nahm ich mir allerdings die Zeit mir die Bilder anzuschauen, da ein paar Zeichnungen echt gut waren. Ich fragte mich, ob sie gekauft waren oder ob bei Nico jemand in der Familie zeichnete. Ich stand gerade vor einer Zeichnung von einem jungen Mädchen, kratzte mich am Hintern, als sich plötzlich jemand dezent hinter mir räusperte. Erschrocken zuckte ich zusammen und drehte mich um.

Vor mir stand eine Frau um die vierzig in adretter Hausfrauenklamotte und schaute mich etwas pikiert an. Ich tippte auf Nicos Mutter und hatte keinen Schimmer, was ich jetzt tun sollte. Ich mein, was sollte ich denn auch sagen? Ich stand mit Knutschflecken übersäht und Boxershorts in ihrem Flur und hatte ganz offensichtlich gerade mit ihrem Sohn Sex gehabt. Fuck, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie schien auch wirklich nicht begeistert zu sein mich zu sehen. Aber Mann, Nico meinte, es wäre niemand hier. Wie konnte er mich so ins Messer laufen lassen?! Ich hätte mir zumindest Mühe gegeben leise zu sein. Nein, warte, wir hätten gar nicht erst Sex gehabt.

„Nicolas!“, rief sie schließlich in einem herrischen Ton und ich rührte mich immer noch nicht. Wenn ich was sagen würde, würde sie mich sicher fressen, oder sowas. Ich hatte keine Ahnung. Ich konnte mit Müttern, Eltern allgemein, einfach nicht umgehen. Wenn Nico nicht gleich hier auftauchte, würde ich persönlich in sein Zimmer gehen und ihn vor seine Mutter zerren, nur damit sie mich nicht weiter so schockiert anstarrte. Ich fühlte mich wie ein ekliges, schäbiges Etwas unter ihrem Blick.

„Was?“, maulte Nico aus seinem Zimmer, man hörte es rumpeln und vermutlich zog er sich gerade an. Toll, er wollte auch nicht nur in Unterwäsche vor seiner Mutter zu stehen... Und er klang nicht sonderlich überrascht darüber, dass sie hier war.

„Was soll das hier?“ Dieses „Das“ klang als wäre ich sowas wie eine widerliche Hund, der ihr gerade an die teure Tapete gepinkelt hatte. Zum Glück kam endlich Nico aus dem Zimmer und sie löste ihren unangenehmen Blick von mir, um ihn auf ihren Sohn zu richten. Ich nutzte die Gelegenheit, um einfach in sein Zimmer zu huschen. Ich wollte ein Gespräch zwischen den beiden nicht mitkriegen. Nico und ich hatten nur Sex, keine Beziehung, ich wollte niemals seine Mutter kennen lernen und sie offensichtlich auch nicht mich.

Ich zog mich an, währenddessen schrie, brüllte und tobte Nicos Mutter. Vielleicht sagte Nico auch etwas, aber dann ging es in dem Geschrei unter. Ich hatte gerade meine Socken gefunden und angezogen, als es endlich wieder kurz still war.

„Raus aus meinem Haus!“, schrie seine Mutter.

„Fick dich!“ Mit diesen Worten stürmte Nico in sein Zimmer und knallte die Tür laut hinter sich. Ohne mich weiter zu beachten, ging er zu seinem Schrank, holte eine Tasche heraus und stopfte wahllos irgendwelche Klamotten hinein. Die Tasche schob er dann Richtung Computer und fing dann an, irgendwelche Kabel aus seinem PC zu reißen, damit er sie mit der Tastatur und der Maus auch einpacken konnte.

„Kannst du den Tower nehmen?“ Tower? Was für ein Turm? Er deutete auf seinen PC und ich fragte mich, warum gerade ich das schwere Teil tragen sollte und ob Nico gerade tatsächlich vor hatte, zu mir abzuhauen. Bevor ich was sagen konnte, war er aber schon aus der Tür raus und dort stand seine Mutter mit einem vernichtenden Blick. Gott, ich wollte hier echt nur weg.

Ich packte den PC und folgte Nico nach draußen, während seine Mutter uns mit zusammen gekniffnen Augen genau beobachtete. So als wollte sie sicher sein, dass ihr Sohn wirklich verschwand. Das war, glaube ich, das erste Mal in meinem Leben, als ich feststellte, dass andere Söhne auch schreckliche Mütter hatten. Ich hatte meine Mutter vielleicht seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen und sie hatte mich einfach so zurück gelassen, aber sie hatte mich dafür auch noch nie angeschaut, als wäre ich nur Abschaum. Ich wusste allerdings nicht, ob das wirklich arg viel besser war.

Wir standen schweigend mit einem PC, einem Flachbildschirm und einer großen Sporttasche an der Bushaltestelle und Nico wirkte nicht so, als würde er in der nächsten Stunde nochmal den Mund aufmachen. Was überraschend war, da er sonst eine ziemlich große Klappe hatte und immer frei Schnauze sagte, was er dachte.

Ich hatte keine Lust mit ihm darüber zu reden, da es mich eigentlich nichts anging. Wenn man davon absah, das wir ganz offensichtlich zu mir unterwegs waren und er vor hatte sich bei mir einzunisten. Es war nicht so, als hätte ich nicht den Platz und als würde mich seine Anwesenheit wirklich stören. Aber der Gedanke, plötzlich einen Mitbewohner zu haben war doch etwas seltsam. Naja, vielleicht war es auch nur für ein paar Tage, ich hab im Moment jedenfalls keinen Bock darüber zu reden. Sonst hätte ich ihn auch auf seine Mutter ansprechen müssen und auf die gesamte Situation an sich und das musste wirklich nicht sein.

Bei mir in der Wohnung angekommen, schleppte Nico seinen Kram in mein Zimmer, das langsam wirklich voll aussah und verschwand dann in der Küche, um eine zu rauchen. Ich hatte mich sowieso schon gewundert, warum er das nicht auf dem Weg hier her gemacht hatte, aber eigentlich war es mir egal.

Wenn Nico hier wirklich wohnen würde, müsste er definitiv etwas von den Nebenkosten zahlen, die bei mir sowieso horrend hoch waren und anscheinend versuchten mich in den finanziellen Ruin zu treiben. Ich überlegte, ob ich Nico das einfach sagen sollte, dann wäre das ganze Thema vom Tisch und ich würde nicht mehr alleine wohnen, womit ich durchaus klar kam.

Na gut, brachte ja nichts, das noch weiter aufzuschieben. Ich ging zu ihm in die Küche, wo er sich schon die zweite Zigarette angezündet hatte, wie ich mit einem Blick auf den Aschenbecher feststellte. Er starrte aus dem Fenster und wirkte immer noch angepisst, da er seine Stirn graus gezogen hatte und seine Finger die Zigarette fast zerdrückten.

„Wenn du einen Teil der Nebenkosten zahlst, kannst du hier bleiben.“ Kurz und schmerzlos, ging doch. Nico schaute immer noch aus dem Fenster und es ärgerte mich ein bisschen, das er nicht mehr Freude über mein großzügiges Angebot zeigte.

„Ich weiß“, anwortete er. Er wusste es? Hatte er vielleicht die ganze Situation einfach heraufbeschworen, um endlich von seinen Eltern und diesem unpassenden Haus weg zu kommen? Ich musste sagen, dass ich es ziemlich link fände, wenn es tatsächlich so wäre. Allerdings hatte ich nicht vor, danach zu fragen. Vermutlich würde er bei der Antwort sowieso lügen, also ließ ich es bleiben.

„Hast du soviel Kohle?“, hakte ich trotzdem nach und endlich schaute er auch in meine Richtung, etwas überrascht, dass Geld anscheinend wirklich relevant für mich war.

„Reichen hundertfünfzig Euro im Monat?“ Er klang dabei etwas unsicher, als würde er jetzt tatsächlich befürchten, ich würde ihn vor die Türe setzen, wenn das nicht der Fall wäre. Ich zuckte nur mit den Schultern, hundertfünfzig Euro reichten ganz gut, mehr hatte ich die letzten Wochen auch nicht gehabt. Wahrscheinlich zahlten ihm seine Eltern das Kindergeld aus. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sonst so ein hohes Taschengeld behalten durfte. Oder er war einfach nur verwöhnt, was möglich wäre, wenn man sein Elternhaus bedachte und seine Eltern würden ihn auch finanzieren, wenn sie ihm des Hauses verwiesen.

„Übrigens, wenn du nochmal so eine Aktion bringst, werf ich dich raus.“ So, damit waren die Fronten geklärt. Nico zog an seiner Zigarette, grinste mich kurz an, als würde er nicht viel drauf geben, was ich zu ihm sagte. Ich mochte dieses Grinsen, auch in diesem Moment. Ich hätte ihn geküsst, wenn er nicht gerade nach Rauch schmecken würde.

Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.

„Ey, ich hab keinen Bock drauf, dass du ständig mein Essen auskotzt. Du bist doch keine magersüchtige Tussi!“ Ich hing wieder über dem Waschbecken und versuchte einen erneuten Würgereiz zu unterdrücken, während ich von Nico abgekanzelt wurde. Ich würde mir gerne einreden, dass er besorgt um mich war, aber es klang eher so, als würde es ihn stören, dass Kochen für mich vergebene Liebesmüh war, oder so.

„Vielleicht kochst du auch nur Scheiße“, murrte ich und wischte mir über den Mund. Gott, als würde ich mich freiwillig so oft übergeben. Ich hatte auch keine Ahnung an was das lag, aber in letzter Zeit war mir öfter schlecht, vor allem Abends, wenn ich mich ins Bett legte und wenn ich ein Mädchen wäre, hätte ich mir wohl Stress wegen einer Schwangerschaft gemacht. Aber gestresst fühlte ich mich auch so. Gestern hatte mich Frau Lindner beiseite genommen, da sie sich Sorgen machte, um meine Zulassung zum Abitur auf Grund meiner Noten und Fehlzeiten. Von Eddy hatte ich immer noch nichts gehört. Das Nico hier war, war ja manchmal ganz nett. Aber Nico war nicht Eddy und er fehlte mir und ich fühlte mich einfach abgefuckt. Im Moment ganz besonders, was allerdings wohl jeder tat, wenn man sich gerade die Seele aus dem Leib gekotzt hatte.

„Halt die Fresse, du gehst morgen zum Arzt.“ Seit wann war Nico überhaupt in einer Position irgendwas in dieser Wohnung zu bestimmen? Ich merkte, wie mich plötzlich wieder der Würgereiz ergriff und übergab mich nochmals in das Waschbecken.

„Ach, leck mich doch...“, gab ich mich geschlagen. Es brachte doch nichts, da weiter zu protestieren. Es war wirklich kein Zustand, wie es gerade mit mir lief. Körperlich, psychisch, alles Dreck. Ich spülte mir den Mund aus und spritzte mir etwas Wasser ins Gesicht.

„Nicht in dem Zustand“, teilte er mir mit, reichte mir dann aber ein Handtuch, mit dem ich mir mein Gesicht trocken reiben konnte. Rührend. Mir kamen gleich die Tränen wegen seiner Besorgnis um mich.

Ich musste auch zugeben, dass ich noch keinen Unterschied bemerkt hatte, zu der Zeit, als Nico hier sich noch nicht offiziell wohnlich gemacht hatte. Anscheinend hatte er wirklich nicht vor in nächster Zeit zu seinen Eltern zurück zu gehen und wie ich das mitbekommen hatte, war es noch nicht mal zu einem Gespräch zwischen ihnen gekommen. Mir war es egal, er hatte mir gestern fünfzig Euro wegen den Nebenkosten gegeben und ich kam mir richtig reich vor damit. Allerdings würde ich das Geld tatsächlich dafür brauchen, wofür ich es verlangt habe. Strom, Wasser und Heizung zahlte sich eben doch nicht von allein.

Mir kam es nur so vor, als würde sich Nico etwas mehr verantwortlich für mich fühlen. Ich wusste allerdings nicht was ich davon halten sollte. Gerade nervte es mich auch. Das ich ständig kotzen musste, ging ihn eigentlich einen Scheißdreck an und es war ja nicht so, als wäre mir nicht selbst klar, dass ich mal zum Arzt sollte. Außerdem wusste ich ja, warum es mir eigentlich so schlecht ging. Mir hat Stress schon immer auf den Magen geschlagen und momentan hatte ich mehr als genug davon. Jetzt wo Eddy sich immer noch weigerte mit mir zu sprechen, bloß weil seine dumme Schnalle Scheiße gebaut hatte. Mir stieß es immer noch unangenehm auf, wenn ich daran dachte. Gott, es konnte einem doch nur mies gehen, wenn im Moment einfach alles schief lief.

Nico hatte gerade die Badezimmertür geöffnet, da er wohl mit seiner Standpauke fertig war, stand aber jetzt in der Tür. Ich setzte gerade dazu an, ihn anzumaulen, weil er so einen Arsch mal bewegen sollte, als ich feststellte, warum er stehen geblieben war.

„Eddy?“, fragte ich völlig irritiert. Er stand im Flur und starrte mit entsetzen Blick zu uns ins Bad. Ich hatte nur Boxershorts an und ich wusste, dass ich einfach übersäht war mit den Bissen von Nico, der selbst ohne T-Shirt da stand und mir eigentlich zu nah war für einen gewöhnlichen Kumpel. Irgendwie... naja, ich hatte das Gefühl, dass diese Situation gerade so richtig Scheiße war.

Eddys Blick wechselte von mir zu Nico und wieder zurück und ich spürte, wie er förmlich an den kleinen Bissen an meinem Schlüsselbein hängen blieb. Ich fühlte mich wie eingefroren. Ich konnte mich einfach nicht rühren und irgendwas sagen oder tun, um die Situation zu entschärfen.

„Dein neuer bester Freund, hm?“ Die Worte aus Eddys Mund klangen unglaublich bitter und er spuckte sie förmlich aus. Mein neuer, bester Freund? Eddy konnte nicht erwarten, dass ich die letzten Wochen völlig isoliert von der Außenwelt verbracht hatte. Ich wollte gar nicht wissen, wie dreckig es mir gehen würde, wenn Nico nicht hier gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte ich diese Wohnung hier einfach angezündet, in der Hoffnung, dass dieses Gefühl von absoluter Einsamkeit davon verschwindet... Ich mein, meine Oma stirbt, meine Mutter wollte nichts von mir wissen und dann verriet mich Eddy einfach für so eine Sumpfkuh, wie Sophie.

„Wir sind keine Freunde, wir ficken nur.“ Ich hatte keinen Bock diplomatisch und nett zu sein oder irgend jemand etwas vorzumachen. Ich freute mich nicht mal Eddy zu sehen. Eigentlich war ich sogar stinksauer. Nach Wochen kommt er hier her und hat nichts besseres zu tun, als mir Vorwürfe wegen Nico zu machen?!

„Charmant wie immer“, kommentierte Nico störend. Er hatte wohl keine Lust zwischen mir und Eddy zu stehen. Ich hatte nicht mal Lust, dass einer der beiden hier war.

„Verpiss dich einfach, ich will mit Eddy reden“, knurrte ich schlecht gelaunt und Nico verdrehte nur die Augen.

„Wie Ihr befehlt, Meister!“ Er deutete eine Verbeugung an und drängte sich an Eddy vorbei, der sofort einen Schritt beiseite machte, als er bemerkte, dass Nico auf ihn zu kam. Er wollte wohl jede mögliche Berührung mit Nico vermeiden. Könnte ja ansteckend sein, das mit den Piercings.

„Was willst du mit dieser Metallfresse?!“ Kaum war Nico verschwunden, warf Eddy dieses Thema wieder auf und ich verstand es einfach nicht. Hatten wir nichts anderes zu sprechen, als Nico? Sollte sich hier nicht jemand bei mir entschuldigen, dafür, das man so ein miserabler Freund war und mich einfach hängen ließ wegen einem Mädel?

„Genauso gut könnte ich dich fragen, was du hier willst. Du lässt wochenlang nichts von dir hören und dann kommst du her und regst dich über Nico auf? Was soll der Scheiß?!“ Ich war wirklich angepisst. Das war doch nicht sein Ernst, oder?

„Ey, denkst du etwa, ich reg mich nicht auf, wenn du mit irgendeinem komischen Punk rumvögelst?!“

„Lieber ein Punk, als ne dreckige Hure, wie Sophie! Außerdem geht dich das einen Scheißdreck an!“ Sich jetzt als Freund aufspielen wollen und ehrlich, Nico würde nicht so einen Mist abziehen, wie es seine Ex gemacht hatte.

„Du hast doch den Arsch offen.“ Eddy schüttelte fassungslos den Kopf, als wäre ich der Gestörte und nicht er.

„Gib mir meinen Wohnungsschlüssel und dann verschwindest du hier.“ Wir waren seit ich denken konnte die besten Freunde, aber auch ich hatte irgendwo meine Grenzen. Ich ließ mich nicht weiter von ihm beleidigen, bloß weil ich ihm sagte, was mit seiner tollen Freundin Sache war.

„Glaubst du, den will ich noch?!“ Eddy nestelte an seinem Schlüsselbund herum und warf mir schließlich den Schlüssel vor die Füße, um dann wütend die Tür hinter sich zu zu knallen.

Ich stürmte ins Bad und übergab mich nochmals. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und ich konnte mich nur auf dem Boden zusammen kaueren in der Hoffnung, dass die Krämpfe schnell wieder nachließen. In meinem Kopf hämmerte es schmerzhaft und ich hatte das Gefühl, als würde mein Körper mich umbringen wollen. So, als hätte einfach alles keinen Sinn mehr und mein Körper wusste es nur vor mir. Der Boden war kalt, aber ich fühlte mich zu erschöpft, um aufzustehen. Wenigstens flauten langsam die Schmerzen ab.

„Hm, soll ich dir einen Tee machen?“ Nico stand in der Tür und ich wusste, dass ich es eigentlich nicht mochte, wenn er sich um mich kümmerte, aber im Moment taten die Worte irgendwie gut. Ich nickte nur zur Antwort.

Nico verschwand wieder und ich hörte Geräusche aus der Küche. Ich zog mich mühsam am Waschbecken hoch und schaute mein Spiegelbild an. Ich fühlte mich widerlich. Ich hatte Eddy gerade aus meiner Wohnung verwiesen. Eddy, gerade ihn. Ich hatte ihn nicht eben ernsthaft aus der Wohnung geschmissen, oder? Scheiße... mir war echt nach heulen zu mute.

Ich ließ mich auf der Toilette fallen, konnte mich aber immer noch im Spiegel sehen. Mich und die ganzen Bisse von Nico. Ich sah verheerend aus, kein Wunder das Eddy schockiert war. Allerdings bot Nico keinen besseren Anblick mit seinen ganzen Blessuren. Und kurz hatte ich das Gefühl, als wären wir einfach nur gestört.

Als er wieder im Türrahmen erschien, eine dampfende Tasse in der Hand und ein leichtes Lächeln im Gesicht, verging das Gefühl immer noch nicht. Verdammt...

„Tee ist fertig“, sagte er unnötigerweise. Ich winkte ab, da ich den Tee definitiv nicht im Bad trinken wollte. Ich erhob mich träge und er ging mir voraus ins Zimmer.

Wir saßen schweigend auf dem Bett, ich schlürfte langsam meinen Tee, während Nico einen Film in den DVD-Player einlegte. Ich fühlte mich immer noch komisch und kein Stück besser, wenigstens waren die Krämpfe verschwunden.

Als die Tasse leer war, stand ich auf und ging in den leeren Raum. Ich ertrug es einfach nicht in meinem Zimmer zu bleiben. Es lag nicht mal an Nico, sondern an allem. Ich setzte mich auf dem Boden und starrte die heruntergerissene Tapete an. Fuck. So schlecht hatte ich mich seit Wochen nicht mehr gefühlt. Ich hatte meinen besten Freund aus der Wohnung geschmissen. Er hasste mich. Ich hatte den einzigen Menschen, der mir noch etwas bedeutet hatte aus meinem Leben verbannt. Vollidiot, ich war ein scheiß verdammter Vollidiot. Ich verspürte den Impuls, meinen Kopf einfach immer wieder gegen die Wand schlagen zu wollen, blieb aber apathisch sitzen. Was sollte ich denn ohne Eddy machen? Konnte überhaupt noch irgendetwas unsere Freundschaft retten? Ich hatte doch nichts ohne ihn...

Ich hörte wie die Türe knarrte und machte mir nicht mal die Mühe aufzusehen. Ich wusste ja, wer da stand und ich hatte keinen Bock Nicos mitleidigen Blick zu sehen. Vermutlich wurde er nur wieder von meinem Elend angezogen, wie eine Schmeißfliege von Scheiße. Ich überlegte, ob ich ihm sagen sollte, dass er wieder verschwinden sollte. Aber ich wollte den Mund nicht öffnen. Ich wollte nichts sagen, einfach nur hier sitzen und warten, bis die Welt endlich untergegangen war. Sie musste einfach untergehen, so schlecht wie ich mich fühlte.

Er setzte sich neben mich und ich spürte seine Schulter an meiner. Ich war froh, dass er nicht seinen Arm um mich legte. Das einzige Geräusch im Raum war unser Atem und wenn jemand was gesagt hätte, hätte es sicher gehallt. So musste sich doch absolute Einsamkeit anfühlen.

Ich schüttelte den Kopf, es war mir einfach alles zu viel. Ich merkte, wie eine unheimliche Frustration in mir aufstieg. Ich musste einfach was tun, irgendwas, egal was. Ich konnte einfach nicht hier sitzen und warten, dass endlich etwas anders wurde. Es musste nicht mal besser werden, nur anders. Ich wollte aufspringen, gegen die Wand treten, schreien.

Ich beugte mich zu Nico und küsste ihn hart, zog an seinen Piercings. Im Gegenzug vergrub sich seine Hand in meinen Haare und zog mich näher an sich. Seine andere Hand schob sich unter mein T-Shirt und fuhren fahrig über meine Haut.

Ich biss auf die Lippe, schmeckte den leicht metallenen Geschmack von Blut und er zuckte kurz zusammen, dafür krallte sich seine Hand in meine Haut, so dass ich jeden Fingernagel spüren konnte. Der leichte Schmerz sorgte dafür, dass dieses unbändige Gefühl schreien zu wollen, endlich etwas nachließ. Ich schubste Nico nach hinten, so dass er hart auf den Dielenboden aufschlug und mich kurz erschrocken anschaute, bis ein dreckiges Grinsen in seinem Gesicht erschien. Er stand doch drauf, wenn es mal härter zu ging.

Ich öffnete in einer hastigen Bewegung den Knopf seiner Hose und zog sie ihm dann, samt Boxershorts von den Beinen. Die Wände hörten auf mich vorwurfsvoll anzustarren und ich fühlte mich ruhiger. In diesem Raum war nichts außer Nico und mir, alles andere war egal. Die Gedanken, Erinnerung und Gefühle, die diesen Raum angefüllt hatten, waren verschwunden.

Nico lag unter mir, bog sich mir entgegen. Meine Hand war in seinen Haaren verkrallt und drückten ihn auf den Boden, hielten ihn unten.

„Du würdest im Moment doch lieber Eddy ficken...“, kam es unvermittel von Nico. Ich wusste, dass er das nur sagte, um mich wütender und frustrierter zu machen, aber es funktionierte. Ich konnte ihm nicht mal widersprechen.

„Scheiße, fuck, das tut weh!“, schrie Nico unter mir auf.

Selbst Schuld.
 

Ich hörte seinen gleichmäßigen Atem neben mir. Nico schlief, allerdings wachte er immer wieder auf und wimmerte leicht. Wahrscheinlich hatte er Schmerzen. Ich starrte im Dunkeln an die Decke und lauschte den wenigen Geräuschen, die es in meinem Zimmer gab.

Ich fühlte mich zum Kotzen.

Das Gespräch mit Eddy spielte sich immer und immer wieder vor mir ab und diesmal wusste ich auch ganz genau, was ich alles falsch gemacht hatte. Anderseits, ich hatte doch allen Grund gehabt, sauer auf ihn zu sein, oder? Man verriet seinen besten Freund nicht für ein Mädchen. Man ließ doch nicht wochenlang von sich hören, wenn man wusste, dass der andere einen brauchte, oder?

Nicos Worte hallten nach.

Wollte ich lieber Eddy vögeln? War es einfach nur schlichtweg Eifersucht gewesen, warum ich auf Sophie so schlecht reagiert hatte? Der Frust darüber, dass ich ihn niemals haben konnte? Der Gedanke fühlte sich unangenehm an und machte mich wütend. Verdammt noch mal, es konnte doch nicht sein, dass ich etwas von Eddy wollte...

Es lag doch einfach daran, dass er mein bester Freund war und plötzlich nicht mehr für mich da war, oder? Das er nicht mehr nur allein für mich Zeit hatte.... so eine Scheiße.

Ich konnte nicht mehr in meinem Bett liegen bleiben und stand auf. Diese Frustration von vorhin war wieder da und diesmal würde Nico sicherlich nicht dafür sorgen, dass sie etwas nach ließ. Mich würde es sowieso wundern, wenn ich ihn in der nächsten Woche auch nur küssen dürfte. Nicht, dass das sonderlich schlimm war, aber ich wusste im Moment einfach nicht, wie ich wieder runterkommen sollte.

Ich fuhr mir durch die Haare, ging im Dunkeln in meinem Zimmer auf und ab. Ich sollte mich von diesen lästigen Gedanken ablenken. Ich wollte Eddy niemals vögeln und ich wollte, dass diese Aussage stimmte. Nico drehte sich mit einem leisen Stöhnen um, wachte auf, da er sich vermutlich schlecht hingelegt hatte und ich wusste, dass er vorwurfsvoll in meine Richtung starrte.

Ich ging in die Küche.

„Tick. Tack“, empfing mich dort die Uhr und weigerte sich, mit ihrem penetranten Ticken aufzuhören, egal wie wütend ich sie anstarrte.

„Kümmer dich um dein Leben!“, sagte sie.

Ich hatte nicht mal Bock morgen auf die Scheiß-Mappenberatung zu gehen. Was sollte das auch? Bis auf ein paar Skizzenbücher mit bekloppten Pinguinen hatte ich doch überhaupt nichts vorzuweisen.

„Du hast nicht mehr viel Zeit. Tick. Tack.“ Die Uhr schien mit ihren kleinen, spitzen Zeigern auf mich zu deuten und zu lachen. Tick. Tack. Tick. Tack. Es klang, wie ein bösartiges Kichern, als wüsste sie, dass man mit mir nichts anfangen konnte.

„Halt die Klappe!“, schrie ich der Uhr entgegen und fühlte mich im gleichen Moment wie ein absoluter Idiot. Verdammt, es war nur eine dumme Uhr. Die tickten einfach, das war ihr Job.

„Tick. Tack.“

Ich ging zu der Uhr hin, packte sie und schmiss sie laut schepperend auf den Boden. Ich wollte keinen Ton mehr von ihr hören, ich wollte nicht mehr sehen, wie sich diese bescheuerten Zeiger auch nur einen Milimeter bewegten. Aber wie zum Trotz machte sie einfach weiter, als würde sie nichts davon abhalten können, mir vorzuführen, wie ich mein Leben verschwendete.

Ich trat nach der Uhr und sie rutschte einfach nur weg, anstatt in all ihre Einzelteile zu zerspringen, wie ich mir das vorgestellt hatte. Mit einem leisen Tick prallte sie gegen den Küchenschrank und ging weiterhin unbeirrt ihrem Uhren-Dasein nach. „Tick. Tack. Tick. Tack. Du kriegst mich nicht klein!“

Ich hob die Uhr wieder auf und schlug sie mit voller Kraft gegen die Küchenanrichte. Ich hörte ein leises Knacken und fühlte mich besser, aber nur so lange, bis wieder ein Tack zu hören war. Ich schlug die Uhr nochmals auf die Holzplatte, diesmal splitterte das Glasgehäuse, aber an der Funktion änderte das nichts.

„Tick. Tack.“

Ich schmiss die Uhr wieder auf den Boden und stürmte in den Flur, wo der Werkzeugkasten stand. Einem Hammer konnte selbst diese Uhr nichts entgegensetzen. Mit dem Werkzeug bewaffnet, attackierte ich dieses Ticken und erst als alle kleinen Zahnräder und Schräubchen vor mir lagen und in der Küche nichts mehr zu hören war außer mein eigener Atem, merkte ich, dass immer noch nichts besser geworden war.

Tick. Tack.

Ich bin wie ein alter Regenschirm. In Gedanken stehengeblieben.

Ich hatte die Nacht kein Auge mehr zu getan, auf die Mappenberatung würde ich also definitiv verzichten. Mir tat jedes Gelenk weh und mein Nacken war ganz steif vom gebeugten Sitzen, während ich gezeichnet hatte. Nico hatte sich zwar kurz beschwert, als ich das Licht angemacht hatte, um zumindest irgendetwas machen zu können. Ich hatte ihn allerdings einfach ignoriert.

Ich hatte keine Lust mit ihm zu reden oder überhaupt seine Anwesenheit zu akzeptieren. Da er sich allerdings kaum rühren konnte und ich irgendwie nicht ganz unschuldig an der Sache war, konnte ich ihn auch nicht rauswerfen. Irgendwann gegen neun oder zehn wachte Nico auch mal ganz auf. Er schaute mich ziemlich fertig an und wollte sich offensichtlich kein Stück bewegen.

„Wie viel Uhr haben wir?“, krächzte er dann schließlich.

„Zehn, oder so“, antwortete ich ihm, ohne zu ihm zu sehen. Ich wollte heute wirklich nur von allem meine Ruhe und das er hier jetzt so lag und eigentlich an und für sich ein einziger Vorwurf an mich war, machte es kein Stück besser so.

„Fuck...“ Wahrscheinlich wäre sein Fluch besser rüber gekommen, wenn er dabei nicht nur flach auf dem Bauch gelegen hätte und sich sonst kaum rührte. Aber er sah wirklich fertig aus und ich merkte, wie sich etwas wie schlechtes Gewissen bei mir rührte.

„Ich hab zwar nichts dagegen, wenn du mal ein bisschen grob bist... aber ich möchte am nächsten Tag schon noch laufen können“, brummte Nico und der Anflug eines schlechten Gewissens war wieder verschwunden. Er hatte es im Prinzip selbst provoziert und ich hatte keinen Bock darauf, mir von irgend jemand anhören zu müssen, dass ich an allem Schuld war.

Ich antwortete ihm also nicht. Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Immerhin hatte ich wegen ihm auch eine furchtbare Nacht hinter mir. Warum hatte er das mit Eddy überhaupt erwähnen müssen? Nico hatte doch keine Ahnung, von nichts.

Er kannte weder Eddy noch mich wirklich. Er war schwul, wahrscheinlich interpretierte er in jede Männerfreundschaft sofort irgendetwas Sexuelles hinein. Und trotzdem kam es mir so vor, als würde ich mir selbst etwas vorlügen. Was einfach alles nur noch schlimmer machte.

„Kannst du mir was zu trinken holen?“ Nico lag immer noch flach auf dem Bauch und schaute leidend zu mir hoch. Eigentlich hatte ich keine Lust extra wegen ihm aufzustehen, nur damit er etwas zu trinken hatte.

„Muss das sein?“, fragte ich deshalb etwas genervt. Ich hatte heute auch noch nicht viel getrunken, jammerte ich deswegen rum und schickte ihn durch die Gegend?!

„Ich glaub, wenn ich aufstehe, fängt es wieder an zu bluten.“ Nico klang weich, leidend und uncool. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn er so war. Ich mochte es allgemein nicht, wenn ich schwache Menschen um mich haben musste. Zusätzliche Belastung, ich hasste Belastung.

„Ich hol dir nachher was...“ Ich konnte nicht ganz nein sagen, aber ich würde auch nicht jetzt wegen ihm in die Küche gehen, wenn ich da nachher sowieso hin musste für meinen Kaffee. Ich hätte Nico ja vielleicht etwas davon angeboten, aber er mochte Kaffee nicht sonderlich. Selbst Schuld.

Anscheinend gab sich Nico mit der Antwort zufrieden, da er nichts weiter erwiderte. Wenn er fit gewesen wäre, hätte er mich vermutlich in Grund und Boden geflucht für meine Reaktion, allerdings hätte er da wahrscheinlich meine Hilfe auch gar nicht nötig gehabt.

Ich blätterte gerade eine Seite in meinem Skizzenbuch um, als ich wieder seinen Blick auf mir spürte. Warum musste er mich überhaupt anstarren, gab es nichts besseres zu sehen?

„Was?“, fragte ich ihn gereizt.

„Kannst du mir die Fernbedienung geben? Mir is langweilig...“

Ich schaute zur Fernbedienung, die auf dem Nachtkästchen lag und fragte mich, ob die tatsächlich aus Nicos Reichweite lag oder ob er mich einfach nur nerven wollte. Ich schaute zu Nico, der kurz die Augen geschlossen hatte. Seine linke Wange war leicht aufgeschürft, lag vermutlich daran, dass ich sein Gesicht auf den Holzboden gedrückt hatte. Ich wusste, dass er unter der Decke noch viel ramponierter aussah. Aus einem Impuls heraus wollte ich nachschauen und mich bestätigt fühlen, aber bevor ich tatsächlich die Decke über Nico bei Seite schlug, öffnete er die Augen wieder und schaute gequält in meine Richtung.

Ich beugte mich vor und schmiss ihm die Fernbedienung zu. Nico hatte kurz erschrocken die Augen zusammen gepresst, aus Angst ich würde ihn tatsächlich mit dem Gerät bewerfen. Er schlug vorsichtig die Augen wieder auf und starrte irritiert auf die Fernbedienung. Gott, war es heute anstrengend mit ihm Zeit zu verbringen. Ich wollte ihn nicht hier haben und ich wollte eigentlich, dass einfach alles anders war.

„Danke“, sagte er trocken, als wäre nichts und schaltete den Fernseher ein. Normalerweise war ich derjenige, der dieses Gerät immer am Laufen hatte, aber im Moment nervte es mich. Dieses ganze Gelaber. Bla bla bla. Ich bekam Kopfschmerzen und wusste nicht, ob ich Nico anschnauzen sollte, dass er wieder ausmachen sollte.

Ich starrte genervt auf die Mattscheibe, die weiterhin nur dummes Geseihre von sich gab, dann blickte ich zu Nico, der aussah, als würde er gleich wieder wegdösen und schließlich entschloss ich mich, einfach mal in die Küche zu gehen und mir meinen Kaffee zu holen. Vielleicht wurde davon etwas besser.

Als ich aufstand, schaute Nico sofort wieder in meine Richtung und ich wusste, er würde gleich wieder etwas sagen, das mir auf den Geist ging.

„Was machst du?“, fragte er und ich wollte ihm nicht antworten. Es ging ihn doch nichts an, was ich tat. Reichte schon, dass er hier die ganze Zeit da war.

„Küche“, antwortete ich trotzdem und verschwand aus der Tür. Er rief mir noch irgendwas hinter her, dass ich nicht verstehen wollte und befüllte die Kaffeemaschine. Ich schaute aus dem Fenster und stellte fest, dass das Wetter tatsächlich mal meiner Stimmung entsprach. Es war bewölkt, es nieselte und alles war irgendwie grau und schlammig und die Leute auf der Straße sahen so unzufrieden aus, wie ich mich fühlte. Allerdings nagelte mich dieses Wetter auch in der Wohnung fest. Ich wäre jetzt gerne einfach nur draußen, weg von Nico, weg von diesem Ort und vielleicht auch noch weiter Weg von dem Gedanken an Eddy.

Allein, wenn ich seinen Namen nur dachte, spürte ich ein unangenehmes Ziehen in meiner Magengegend. Es lag nicht nur daran, was Nico gesagt hatte und das daran wohl mehr wahr war, als mir lieb war, sondern auch an Eddys Verhalten selbst. Mir kam es gerade so vor, als würde unsere ganze Freundschaft dahinbröckeln und ich konnte einfach nichts tun. Sowas hatten wir noch nie. Es gab schon schwere Zeiten in unserer Freundschaft, aber niemals so etwas, niemals so krass. Auch nicht, als die Sache mit Ekatarina war. Das war damals heftig gewesen und eine harte Entscheidung, aber völlig anders als jetzt. Ich wusste immer, wie wichtig ein Freund war und wie banal eine Beziehung sein konnte. Vielleicht war Ekatarina das gewesen, was man als die erste, große Liebe beschrieben hätte. Ich erinnerte mich immer noch an ihren wunderschönen Körper, ihrem exotischen Akzent, ihre ganz spezielle Art zu küssen. Aber als Eddy mir klar machte, dass er sie auch irgendwie mochte, war Sense. Ich würde niemals ein Mädchen zwischen Eddy und mir kommen lassen. Warum hatte Eddy das zu gelassen? Ich fühlte mich völlig überfordert mit der Situation und das Nico hier war, schien alles nur zu verschlimmern. Allerdings konnte ich ihn einfach nicht wegschicken, was nicht nur daran lag, dass er die nächsten zwei Tage wegen mir wahrscheinlich nicht richtig gehen konnte. Ich wäre allein, wenn Nico auch noch gehen würde, das wusste ich und der Gedanke ans vollkommene Alleinsein erschien mir selbst jetzt, wo ich eigentlich nur meine Ruhe wollte unerträglich. So eine Scheiße, ich hasste es, wenn sich alles einfach widersprach. Wie konnte man zufrieden sein, wenn nichts zusammen passte?!

Mit einem letzten Ächzen spuckte die Kaffeemaschine noch ein paar Tropfen in die Kanne und war dann still. Aus meinem Zimmer hörte ich leise den Fernseher und ich wollte nicht zu Nico. Ich schenkte mir extrem langsam mein Getränk ein, löffelte penibel genau den Zucker hinein und brauchte auch unnötig lange dafür, die Milch aus dem Kühlschrank zu holen und dazu zu tun. Der Löffel klirrte beim Umrühren und ich fühlte mich lächerlich, weil ich versuchte Zeit zu schinden. Ich trank einen Schluck von meinem Kaffee, stellte ihn bei Seite, dabei fiel mein Blick auf die kaputte Uhr, die noch immer am Boden lag. Ihre Einzelteile lagen zerstört auf dem Boden verteilt und ich konnte ihr Ticken trotzdem noch hören. Ich musste wirklich aus der Wohnung raus, wenn es nur für ein paar Minuten war und ich wusste, dass diese Entscheidung ins Wanken geraten würde, hätte ich mir das Wetter nochmal angesehen.

Ohne Nico Bescheid zu geben, zog ich meine Schuhe und meine Herbstjacke an und verließ die Wohnung. Auf dem Weg nach unten, kontrollierte ich noch, ob ich meine Schlüssel und mein Geldbeutel dabei hatte und ich fühlte mich tatsächlich etwas besser, als ich schließlich das Haus verließ und mir die kalte Luft entgegen blies.

Ich wusste nicht genau, was ich jetzt tun sollte, aber draußen war schon mal eine annehmbare Abwechslung. Hätte ich einen Hund gehabt, wäre er eine gute Ausrede gewesen, etwas ziellos durch die Straßen zu laufen ohne total bescheuert auszusehen. So musste ich es jetzt wohl in Kauf nehmen, etwas desorientiert und verwirrt zu wirken, während ich die kleine Allee Richtung Innenstadt entlang lief und immer wieder die Straßenseite wechselte, um entgegen kommenden Leuten aus dem Weg zu gehen. Was soll´s.

Ich hatte endlich wieder das Gefühl, als könnte ich richtig atmen und vielleicht hätte ich schon früher mal aus der Wohnung gehen sollen, anstatt mich von Nico und Gedanken an Eddy nerven zu lassen. Als mir allerdings von einem Baum über mir ein kalter Tropfen in den Nacken fiel und mir unangenehm den Rücken hinunter lief, fiel mir auch wieder ein, warum ich die Idee nach draußen zu gehen, die letzten Tage kaum weiter verfolgt hatte. Es war eigentlich noch Sommer, aber das schien das Wetter nicht zu interessieren. Hatte bestimmt mit dem Klimawandel zu tun, Dreckszeug.

Für mich war das schlimmste an Regen nicht das Wasser an sich und wie es einen mit seinem penetranten Niederprasseln nervte, sondern die vielen Menschen mit ihren Regenschirmen. Ich hasste Regenschirme, als ich noch kleiner war, hatte ich ständig Angst, das mir die Augen ausgestochen wurden von diesen kleinen, spitzen Teilen am Ende des Regenschirms. Mittlerweile stießen mir die meisten Regenschirme zwar nur gegen die Schulter, aber stören taten die Teile trotzdem. Und je näher ich der Innenstadt kam, desto mehr Menschen mit Schirmen wurden es auf der Straße.

Allerdings wusste ich auch nicht, wo ich sonst hingehen sollte. Da es hier nichts gab außer Innenstadt oder Natur und mit Grünzeugs und Getier hatte ich noch nie viel Anfangen können. Deswegen stand ich jetzt auch unter dem Vordach einer Eingangspassage und überlegte, was ich jetzt tun sollte, außer mich über die Regenschirme aufzuregen.

Ich kaute an meinen Fingernägeln und beobachtete die vorbei gehenden Passanten. Es waren wenig Leute unterwegs, hauptsächlich Hausfrauen und ein paar Geschäftsleute und Studenten. Aber heute sahen irgendwie alle etwas unzufrieden und unglücklich aus. Als wäre das Wetter schon eine legitime Entschuldigung, um der deprimierenden Stimmung in sich offen zur Schau zu stellen.

Im gegenüberliegenden Schaufenster, konnte ich meine Spiegelung sehen und stellte fest, dass ich im Vergleich zu diesen ganzen vorbeihastenden Leuten einen noch viel jämmerlichen Eindruck machte. Leicht gebeugt, unnatürlich blass in der Spiegelung und dieser verlorene Ausdruck beim Nägelkauen. Ich ließ meine Hand sinken und rammte sie in meine Hose, um mir nachdrücklich klar zu machen, dass ich damit aufhören sollte.

Nico beschwerte sich auch schon darüber, dass meine Fingernägel kaum existierten. Trotzdem hatte ich ihn damit blutig gekratzt, als sich meine Finger in seine Seiten vergraben hatten und nicht los ließen. Gott, ich bekam Kopfschmerzen, wenn ich daran dachte.

Das war definitiv beschissen. Okay, jetzt hatte ich auch wieder ein schlechtes Gewissen. Es war nicht das erste Mal, dass ich meinen Frust auf die Welt beim Sex mit Nico rausgelassen hatte, aber niemals war es so derbe gewesen und eigentlich war es auch nicht gerechtfertig gewesen. Ich hasste es, wenn ich mich nicht unter Kontrolle hatte und mich so einfach von Nico provozieren ließ.

Ich starrte missmutig zur grauen Wolkendecke hoch und wusste immer noch nicht, was ich tun sollte. Ich wollte mich nicht bei Nico entschuldigen, weil ich dann irgendwas zugeben musste. Ich wollte vor niemanden eingestehen, dass es dazu einen Grund gab.

Es würde zu einem Zugeständnis führen, zu dem ich einfach nicht bereit war.

Zudem hatte die frische Luft nur kurz dazu geführt, mein Gemüt aufzuhellen und jetzt fror ich einfach nur, fand alles noch schlimmer als vorher und war nicht mal in meiner Wohnung. Der Tag heute war doch Scheiße. Es fehlte eigentlich nur noch, dass ich jetzt einem Lehrer über den Weg lief, der dann der Schulleitung petzen konnte, dass ich den Unterricht schwänzte. Was natürlich echt super war, wenn man sowieso schon auf der Kippe stand.

Eigentlich war es es eine saudumme Idee gewesen, überhaupt außer Hauses zu gehen. Nicos Gesellschaft wäre am Ende nicht so schlimm gewesen, wenn ich mich nicht so in die Sache hineingesteigert hätte. Im Moment war es einfach zu viel.

Ich musste mein Leben sortieren und es wieder auf die Reihe kriegen. So war das kein Zustand, so konnte man doch nicht leben. Ständig wütend und frustriert, deprimiert und überfordert. Es musste sich doch mal etwas ändern, oder?

Immer noch etwas unschlüssig darüber, was ich wirklich tun sollte, ging ich wieder Richtung meiner Wohnung. Unterwegs sah ich einen kleinen Imbiss und aus dem Impuls heraus und wahrscheinlich auch, weil ich heute noch nichts gegessen hatte, betrat ich ihn. Die Wärme, die mich gleich umfing, war stickig und unangenehm und ich überlegte, ob ich nicht wieder hinaus gehen sollte. Allerdings schaute mich die junge Frau hinter der Theke schon erwartungsvoll an und ich wäre mir dumm vorgekommen, wenn ich wieder rausgegangen wäre. Ich mochte es nicht, wenn Leute dachten, ich wüsste nicht, was ich tun wollte.

Ich mühte mir ein Lächeln ab und schaute konzentriert auf die Liste mit den Preisen, die über der Theke hing. Ich war hier schon ein oder zwei mal gewesen, wusste aber nicht mal, ob es hier schmeckte. Es roch jedenfalls wie es in einem Imbiss riechen musste, nach heißem Fett und Dinge, die darin frittiert wurden.

„Was darf es sein?“, fragte schließlich die Bedienung, die wohl nicht mehr länger warten wollte.

„Äh...“ Ich starrte immer noch konzentriert auf die Preisliste und stellte fest, dass ich immer noch nicht ganz wusste, was ich hier überhaupt wollte. Also allgemein, hier in dieser Imbissbude. Ich hätte nicht reingehen sollen.

„Pommes“, entschloss ich mich dann spontan. Da konnte man einfach nicht viel falsch machen und allzu teuer war das bestimmt auch nicht. „Zweimal“, fügte ich noch hinzu, als ich den Preis tatsächlich gefunden hatte. Nico würde heute nicht kochen können und ich erinnerte mich auch gerade daran, dass ich ihm noch nicht mal etwas zu trinken gebracht hatte. Au Mann...

Während ich darauf wartete, dass die unheimlich langsame Bedienung, die wohl gerade allein im Imbiss war, die Pommes in die Friteuse warf, rempelte mich ein älterer Mann an, der mich missgelaunt anstarrte und sich dann in eine hintere Ecke des Lokals verzog. Der Kerl tat fast so, als wäre ich Schuld daran, dass er in mich reingelaufen war. Einfach nur ätzend. Respekt vor Älteren haben, natürlich, ich hatte meiner Großmutter immer viel Respekt entgegen gebracht, aber genauso sollte man sich auch jüngeren Leuten gegenüber höflich verhalten.

Als der alte Kerl plötzlich anfing, irgendwas wirres vor sich hinzubrabbeln, war ich wirklich versucht, ohne meine Bestellung einfach wieder rauszugehen. Das war wirklich störend, wie er vor sich hinfasselte und es weckte unangenehme Erinnnerungen.

„Kannst du noch einen Moment warten, es gibt gerade ein Problem an der Friteuse“, wurde mir mit einem entschuldigenden Lächeln mitgeteilt und ich unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Service würde hier definitiv nicht groß geschrieben.

„Die Katze ist knusprig!“, rief der ältere Mann in meine Richtung und ich starrte entsetzt auf das gegrillte Fleisch, das vor mir auf dem Spieß vor sich hindrehte. Der Alte war doch einfach verrückt, oder?

„Erzähl keinen Unsinn, Weiser!“, rief die Bedienung zu dem Alten, während sie konzentriert an etwas werkelte und ich fragte mich, was ich hier überhaupt noch machte. „Das is nur der Weise aus der Küche. Er erzählt immer nur Unsinn, war früher mal ein berühmter Koch oder so, bis er irgendwie durchgeknallt ist. Ignorier ihn.“

Hatte ich nach sowas gefragt? Ich wollte nicht die Lebensgeschichte von einem verrückten, alten Typ in einem Lokal hören. Ich wollte Pommes, verdammt noch mal!

Missmutig starrte ich auf die Bedienung, die endlich meine Bestellung in die Friteuse warf und sich dann wieder an die Theke stellte, immer noch mit einem freundlichen Lächeln. Der alte Mann brabbelte weiterhin etwas komisches vor sich hin. Heute war nicht mein Tag, definitiv nicht, gestern auch nicht. Vielleicht war es auch einfach nicht meine Woche. Immerhin hatte sie damit angefangen, dass Nico zuhause rausgeworfen wurde. Wobei ich mir immer noch nicht sicher war, ob er das nicht einfach geplant hatte. Zuzutrauen wäre es ihm ja.

„Hier.“ Mir wurde meine Bestellung gereicht, ich kramte die zwei Euro aus meinem Geldbeutel und verließ mit schnellen Schritten das Lokal. Ich wollte wirklich nur noch in meine Wohnung, selbst wenn da ein gequälter Nico lag, der mich mit seiner Schramme auf der Wange total rallig machte und den ich nicht anfassen durfte...

Ich aß die erste Portion Pommes eher lustlos auf den Weg nachhause. Der Regen weichte die Kartoffeln etwas auf und es schmeckte irgendwie einfach alles grau, passend zum Wetter. Aber wenigstens etwas im Magen. Seit Nico hier war, sorgte er dafür, dass ich zumindest einmal am Tag etwas aß. Mein Körper war allerdings wenig dankbar, wie Nico schon festgestellt hatte. Aber richtig schlecht war es auch nicht.

Ich betrat meine Wohnung, kickte meine nassen Schuhe in den Gang und ging mit der feuchten Jacke noch an direkt in mein Zimmer, wo Nico immer noch auf dem Bett lag und döste. Er öffnete müde seine Augen und musterte mich kritisch.

Ich hob ihm die übrige Portion Pommes hin, deren Verpackung schon leicht durchgeweicht war. Er schaute skeptisch darauf und dann in mein Gesicht. Ich wollte mich nicht entschuldigen, das einzige was ich ihm anbieten konnte, waren die Pommes.

Schließlich nahm er sie, als ich mich neben ihn setzte und er sich nicht erheben musste. Er probierte eine Pommes und verzog etwas das Gesicht.

„Ich fühl mich vergewaltigt“, meinte er schließlich.

„So schlecht fand ich die Pommes jetzt gar nicht.“

„Ich meinte nicht das Essen.“

„Ich weiß.“

Enthaltsamkeit rächt sich immer. Bei dem einen erzeugt sie Pusteln, beim anderen Sexualgesetze.

Nico hatte eine Matratze aus dem alten Schlafzimmer meiner Großeltern in das leere Zimmer geschleppt, wo sie jetzt kahl auf dem blanken Boden lag. In der Ecke war ein kleiner Stapel an Büchern, auf die er meine Nachttischlampe gestellt hatte und daneben stand seine Sporttasche, die er mitgebracht hatte und sein PC.

Ich hatte ihm gesagt, dass er das Zimmer haben konnte. Es war Zeit für Veränderung und vielleicht war das die beste Möglichkeit um endlich vergangenes hinter mir zu lassen. Der Raum wirkte immer noch recht trist mit der spartanischen Einrichtung und der kaputten Tapete, aber hier schrie nichts mehr nach alten Erinnerung. Der Raum schwieg jetzt genauso wie die Küchenuhr, die in ihren kleinen Einzelteilen im Müll gelandet war.

Es fühlte sich auch nicht mehr beklemmend an den Raum zu betreten und Nico schien zufrieden. Genauer gesagt hatte er viele Pläne, was er alles machen wollte. Wenn ich an sein voriges Zimmer dachte, schien dieses hier einen krassen Kontrast dazu zu bilden. Vermutlich war es das erste Mal, dass er selbst über sein Reich bestimmen konnte. Ich merkte, wie es mir immer schwerer fiel, mir Nicos Welt überhaupt vorzustellen.

Ich dachte zu anfang, er wäre einer von den beliebten Kerlen, denen alles in den Arsch geschoben wurden. Also nicht aufs Schwulsein bezogen - ich war ehrlich gesagt etwas überrascht, dass er tatsächlich auf Kerle stand – sondern er hatte sehr verwöhnt auf mich gewirkt. So, als hätte es das Leben immer gut mit ihm gemeint.

Mittlerweile musste ich feststellen, dass Nico sich zwar mit den meisten Leuten gut verstand, aber immer einen gewissen Abstand zu ihnen wahrte. Sein Leben ging niemand etwas an und in dieser Hinsicht war er mir so ähnlich, dass es mich manchmal irritierte. Über sein Familienleben konnte ich mir allerdings kein richtiges Bild machen. Seine Mutter war wütend und enttäuscht, sie hatte aber nicht wie eine Frau gewirkt, der ihr eigener Sohn egal war, nicht wie meine Mutter. Ich war irritiert von Nico.

Und ich wusste, dass wir mittlerweile über die Stufe hinaus waren, dass wir einander egal waren. Er machte sich auf seine verschrobene Art Sorgen um mich und ich versuchte ihn irgendwie besser zu verstehen. Allerdings war uns beiden klar, dass wir nie mehr als friends with benefits wurden. Man war befreundet, man hatte ab und zu Sex miteinander, man war kein Paar.

Beziehungen war so das letzte was wir gebrauchen konnten...

Und Nico war nicht Eddy.

Eddy war allerdings nicht da, ich hörte nichts von ihm und ich wollte mich nicht mehr bei ihm melden. Gerade stand einfach zu viel zwischen uns und ich fühlte mich außer Stande daran etwas zu ändern. Es gärte immer noch in mir, dass er lieber dieses Flittchen rechtfertigte, als mir zu glauben. Er würde mich doch immer wieder, jedem Mädchen vorziehen, oder? Er war für mich meine Welt, es hatte keinen anderen Menschen mehr für mich gegeben. Ohne ihn wäre ich schon völlig zu Grunde gegangen. Trotzdem würde Eddy mich für eine Tussi immer hängen lassen.

Dieser Gedanke tat wirklich weh. Es war kein gutes Gefühl, wenn man wusste, dass man für den wichtigesten Mensch im eigenen Leben nicht das gleiche war. Ich war ein Kumpel, vielleicht auch manchmal wie ein Bruder gewesen, aber nicht die Welt.

Er würde viel für mich tun, aber nicht alles und ich musste die Grenzen unserer Freundschaft kennen lernen. Es war ziemlich bitter, dass die bei einem Mädchen lag. Es wäre auch ziemlich egal gewesen, ob Sophie jetzt ein nettes Mädel gewesen wäre und nicht so eine hohle Nuss. Sie wäre trotzdem noch diejenige, die wichtiger für ihn war, als ich.

Ich war schlichtweg eifersüchtig.

Das war wirklich mies. Ich sollte mich nicht daran stören, dass er endlich mal ein Mädchen gefunden hatte, ich hätte mich freuen müssen. Aber ich hatte Sophie von Anfang an nicht gemocht und wahrscheinlich war es eher Zufall, dass meine Aversionen gegen sie begründet waren. Nicht das mir das Eddy überhaupt glaubte, zumindest war ich vor mir selbst im Recht. Ich durfte Sophie schlecht finden, weil sie sich an mich rangemacht hatte. Ich mochte sie aber nicht, weil sie etwas mit Eddy gehabt hatte und das durfte ich nicht.

Freundschaften gingen kaputt, wenn man plötzlich die falschen Gefühle entwickelte. Aber was hieß hier plötzlich. Sowas passierte wenn dann nur schleichend, was es nicht besser machte, vor allem, wenn man nichts dagegen tun konnte, irgendwie.

Das Thema bereitete mir Kopfschmerzen und das ich Nico im Moment nicht mal anfassen durfte, obwohl die ganze Sache auch schon zwei Wochen her war, machte es nicht besser. Okay, es war auch offensichtlich, dass Nico nicht nur hier bleiben durfte, damit ich mit ihm schlafen konnte. Ich mochte es auch, dass er fast jeden Tag kochte und die Küche aufräumte.

Seit er sein eigenes Zimmer hatte, war es auch irgendwie entspannter und das obwohl wir trotzdem meistens bei mir auf dem Bett saßen. Was wohl auch daran lag, dass hier der Fernseher stand und man hier in der Wohnung nicht viel tun konnte. Aber ich musste Nico nicht immer sehen und er konnte mir auch aus dem Weg gehen, wenn ich wirklich unleidlich war.

Dafür wusste ich auch, dass er freiwillig in meiner Gesellschaft war, wenn er bei mir saß. Manchmal war allein schon dieses Gefühl besser, als das meiste andere, auch wenn es den Sex nicht ganz ersetzen konnte. Vor allem dann nicht, wenn Nico vor mir auf dem Bett lag, ohne sein T-Shirt und auf einem Stift rumkaute, während er irgendwelche Hausaufgaben machte, auf die ich keinen Bock hatte.

Mein Blick wanderte über seinen Körper, der zur Zeit bei weitem nicht so zerschunden aussah, wie sonst. Man sah nur noch leicht einen Kratzen an der Seite, der von meinen abgekauten Fingernägel stammten. Ich fuhr mit meiner Fingerkuppe darüber und Nico zuckte etwas erschrocken zusammen und schaute über die Schulter zu mir. Er hatte die Augenbrauen grimmig verzogen und es war ein offensichtliches Nein. Ich stöhnte genervt und ließ meine Hand wieder sinken. Ich hätte schon nichts gemacht.

Nico wandte sich wieder seinem Block zu und ich zappte mich durchs Fernsehprogramm. Ich hatte keine Lust aufs Zeichnen, ich wusste nicht mal, ob ich überhaupt noch auf eine Mappenberatung wollte. Je länger ich es hinauszögerte, desto größer wurden meine Zweifel bei der ganzen Angelegenheit. Keine Ahnung, mein Leben fiel mir gerade echt nicht leicht.

„Mein Vater hatte auch eine Affäre“, kam es plötzlich unvermittelt von Nico und ich verstand erst nicht, warum er mir das sagte. Erst als ich den Sprecher der Sendung, bei der ich beim Zapping hängen geblieben war, hörte, wurde mir klar, dass er sich darauf bezog. Es war einer dieser Reality-Shows und es ging, um einen untreuen Ehemann und darum, wie er versuchte sich seiner Familie zu liebe zu bessern. Total der Schwachsinn.

„Sind deine Eltern geschieden?“ Ich kannte mich mit Väter nicht aus, ich konnte mir nicht mal richtig vorstellen, wie es sein sollte, einen zu haben.

„Nein“, antwortete er knapp und legte den Block beiseite, um sich auf den Rücken zu drehen. So konnte ich sein Gesicht sehen, dass mich ernst anschaute. Es wirkte so, als wäre es ihm lieber gewesen, wenn sich seine Eltern geschieden hätten. „Und bei dir?“

Ich zuckte als Antwort unbestimmt mit meinen Schultern. Über meinen Vater gab es wirklich nichts zu sagen, ich wusste nicht mal, ob ich ihm überhaupt ähnlich sah.

„Meine Mutter hat sich mit sechszehn von irgendeinem Typen schwängern lassen“, erzählte ich schließlich doch. Soviel konnte Nico wissen, es war okay.

„Sowas suckt.“ Es tat Nico leid, er wusste aber, dass ich mit zu viel Mitleid einfach nichts anfangen konnte. Ich zuckte nur wieder mit der Schulter. Die Sache mit meinem Vater, den ich nicht kannte, war eigentlich etwas, was mich nie groß gekümmert hatte.

Nico streckte seine Hand nach mir aus und berühte mich im Gesicht, dort wo ich mich heute beim Rasieren geschnitten hatte. Ich lächelte ihn an, das war erste die Berührung seit zwei Wochen, die von ihm ausging. Er packte mich an meinem T-Shirt und zog mich ruckartig zu sich runter, um mich in einem Kuss zu verwickeln.

Gegenseitiges Wundenlecken, diesmal war Nico dran.
 

„Verdammt, du warst diesmal echt grob“, beschwerte ich mich, als er mich dazu antreiben wollte, wieder aus dem Bett zu kriechen, um mit ihm einkaufen zu gehen. Ich wollte definitiv nicht mehr viel tun.

„Sagt der Richtige...“ Nico zog eine Augenbraue hoch und schaute mich abschätzend an. Ich würde einen Dreck tun und immer noch ein schlechtes Gewissen haben wegen letztes Mal. Nico sollte sich jetzt entschädigt fühlen und basta.

„Ich hab keinen Bock auf einkaufen.“ Einer der vielen, vielen Sachen, die ich am Haushalt nicht mochte. Wahrscheinlich wäre es einfacher, aufzuzählen was ich daran mochte. Wenn ich mir das so überlegte... Es gab nur ein paar Dinge, die ich weniger schlimm fand, als die anderen. Müllrausbringen war okay, das konnte man machen, wenn man sowieso nach unten ging und die Geschirrspülmaschine ausräumen war auch noch erträglich. Alles andere vermied ich soweit es ging.

„Wenn ich heute einkaufe, wäschst du aber die Wäsche!“, forderte Nico. Verdammt, das war ja noch schlimmer. Zu dumm, dass Nico waschen genauso beschissen fand, wie ich. Das meiste andere, übernahm er eigentlich ohne groß zu murren. Nur das nicht...

„Warte, ich zieh mir nur noch schnell was über.“ Ja, was man doch noch alles hinbekam, wenn man vor seine Möglichkeiten gestellt wurde. Ich hievte mich aus dem Bett und stellte fest, dass es eigentlich ging. Ich schlüpfte trotzdem etwas steifbeinig in meine Hose und zog mir einen dünnen Pullover über, der vermutlich auch mal demnächst gewaschen werden sollte. Hrm... wie auch immer.

Nico beobachtete mich mit einem Grinsen, das eine gewisse Genugtuung zeigte, während ich mich anzog. Anscheinend freute er sich über seinen kleinen Sieg über mich. Wer hätte gedacht, dass Haushalt auf Erpressung und Korruption hinauslief. Kein Wunder, dass die Welt so verdorben war, wenn es schon in den eigenen, vier Wänden anfing.

Ich zog mir meine Schuhe an und schaute etwas kritisch auf die zerlatschten Chucks von Nico. Der wollte mit den Schuhen wirklich in den Regen raus? Aber sich darüber beklagen, das ich ungesund lebte, schon klar. Ich sagte allerdings nichts dazu, ich war nicht seine Mami, die auf ihn acht geben musste.

Mit Pfandgut und Einkaufstüten beladen, latschten wir dann durch den Regen und aus Nicos Schuhen hörte man lustige, schmatzende Geräusche, die darauf hindeuteten, dass seine Schuhe zu einem Feuchtbiotop mutiert waren. Er beklagte sich allerdings nicht darüber, es schien ihm irgendwo egal. Allgemein, seit er bei mir wohnte, schien er vielen Dingen, die ihm zu Anfang noch wichtig waren, völlig indifferent gegenüber zu stehen.

Ich kannte Nico schon seit ein paar Jahren, zumindest vom Sehen. In der Zeit waren seine Haare nie länger als geschätzte sechs Millimeter gewesen. Im Moment waren sie vermutlich so knapp zwei Zentimeter und damit richtig, richtig lang für seine Verhältnisse. Er sah damit aber ungewohnt nachlässig aus. Seine Klamotten waren auch nicht mehr gebügelt, sondern genau wie meine wundervoll zerknittert und nicht immer frisch gewaschen. Ich musste ehrlich zu geben, dass Nico mittlerweile immer mehr wie ein Punk aussah, was durch seine Piercings verstärkt wurde. Mir war es eigentlich egal. Es war nur komisch, weil ich wusste, dass Nico die Attitüde eines Punks völlig abging. Er hielt weder etwas von Anarchie, noch schnorrte er gerne Leute an. Er konnte sich gut in die Gesellschaft eingliedern und ich glaube, das einzige wo gegen er jemals rebellieren wollte, waren seine Eltern.

„Warum läufst du eigentlich rum wie ein Punk?“ Bevor ich mir wieder unnötig den Kopf über ihn zerbrach, konnte ich ihn auch einfach fragen. Nico schaute mich irritiert an, blickte dann an sich herunter und schien zu überlegen, was ich meinte. Seine Jeans hatte ein Riss über dem Knie, seine Chucks hatten definitiv schon bessere Zeiten gesehen, gerade bei dem Wetter, und eigentlich würde nur noch ein Palli und ein Iro fehlen.

„Das is nich Punk“, wurde mir erklärt und ich schüttelte nur ungläubig den Kopf.

„Was soll das sonst sein?!“

„Grunge, ich steh auf Kurt Cobain.“ Er grinste mich dabei an und ich fragte mich wirklich, wie er dann an einen Kerl wie mich geraten war. Ich wusste, dass ich dem Typ definitiv kein Stück ähnlich sah. Das einzige was ich mit ihm vermutlich gemeinsam hatte, war das wir ständig abgefuckt und müde aussahen und etwas mager waren.

„Hatte der nicht lange Haare?“

„Hm...“ Nico fuhr sich über seine Haare und ich hoffte für ihn, dass er nicht ernsthaft darüber nachdachte, sie sich lang wachsen zu lassen. Das würde ihm nicht stehen, er würde schrecklich damit aussehen. Mit langen Haaren würde ich ihn nicht mehr anrühren, naja, wahrscheinlich doch, aber ich würde es nicht gut heißen.

„Ich find mich cooler mit den kurzen Haaren“, kam es dann lapidar von ihm und er hatte dieses arrogante, selbstbewusste Grinsen auf den Lippen. Naja, wengistens wusste er, was ihm stand. Wenn man mal von dem vielen Metall in seinem Gesicht absah, das ich nur mochte, weil es beim Küssen irgendwie interessant war.

Ich schlug ihm auf den Hinterkopf, es war unhöflich so offen arrogant zu sein. Er boxte mich gegen die Schulter und ich verlor dabei beinahe die Tasche mit den Pfandflaschen. Ich zog es in Erwägung, ihm einfach einer dieser leeren Plastikflaschen über den Kopf zu ziehen. Aber wir waren ja alle zivilisierte Erwachsene und wussten uns zu benehmen. Ich trat nach Nico, der mir lachend auswich.

Wir gingen ein paar Schritte im Schweigen weiter, nur begleitet von dem Geräusche der schmatzenden Schuhe. Die Leuchtreklame des Supermarkt konnte man allerdings schon am Ende der Straße sehen, wurde auch mal Zeit.

„Meine Mutter hat gestern bei Tobias angerufen.“ Nico kickte einen Stein weg und von der heiteren Stimmung war plötzlich nicht mehr viel übrig.

„Wer ist Tobias?“ Keine Ahnung, warum ich gerade das fragte. Er schaute mich auch mit einem irritierten Blick an. Okay, es war wirklich nicht weiter relevant, wer Tobias war. Ich bildete mir ein, mich vage daran zu erinnern, dass einer aus unser Stufe so hieß.

„Ein Kumpel von mir... Meine Mutter versucht anscheinend gerade rauszufinden, wo ich bin.“ Stimmt ja, seine Mutter war der Punkt, nicht Tobias.

„Willst du wieder zurück?“ Ich wusste, dass er diese Frage nicht bejahen würde, sonst hätte ich ihn nicht gefragt. Er schüttelte wie erwartet mit dem Kopf.

„Ich sollte mich aber mal bei ihr melden, denk ich...“ Würde ich das sagen, nachdem mich meine Mutter mit so einem angewiderten Blick angesehen und mich rausgeschmissen hatte, so wie es seine getan hat? Ich würde einen Dreck tun, aber Nico war anders wie ich und vielleicht verstand ich auch einfach nicht alles, was zwischen ihm und seinen Eltern vor ging.

„Vielleicht“, antwortete ich deswegen, weil ich sonst nicht so genau wusste, was ich zu ihm sagen sollte. „Ich hasse es mit meiner Mutter zu telefonieren.“ Wahrscheinlich war ihm das schon längst klar, immerhin hat er schon ein Gespräch zwischen mir und meiner Mutter mitbekommen. Aber so gesehen, war es dann auch egal, wenn ich es ihm nochmal sagte.

„Was is eigentlich mit ihr?“, fragte er nach.

„Is in Amerika mit ihrer neuen Familie“, war meine knappe Antwort. Mehr gab es da nicht zu wissen.

„Bitter.“ Er kickte wieder den Stein vor sich und schaute mich dabei nicht an. Wir wollten nicht in Mitleid baden. Man musste doch zugeben, das wäre auch verdammt uncool, oder?

„Naja, ich mochte Amerika noch nie.“ Ich zuckte mit der Schulter, damit war das Thema für mich erledigt. Nico verstand das und die Ladentür des Supermarktes öffnete sich mit einem leisen Surren.
 

Ich räumte die Einkäufe ein, während Nico im Flur stand und die Nummer seiner Mutter wählte. Ich fühlte mich angespannt und mir wäre es lieber gewesen, wenn er nicht zuhause anrufen würde. Mir war schon klar, dass es irgendwo kindisch war. Aber ich hatte das Gefühl, als würde der Anruf etwas kaputt machen, weil eine Person eingeweiht wurde, die nicht hier her gehörte. Peter Pan und sein verlorener Junge? Egal, ich kam einfach nicht mit Müttern klar.

„Hey, ich bin´s“, hörte ich Nicos Stimme aus dem Flur. Er klang ganz lässig, aber vermutlich würde seine Körpersprache etwas anderes sagen. Ich hatte aber nicht vor nachzuschauen. Mich ging das Gespräch eigentlich nichts an, aber es war schwer in der Wohnung hier etwas nicht zu hören. „Bei einem Kumpel. - Ja, der. - Gott, fang nicht schon wieder damit an! - Mir geht es gut...“

Nico seufzte genervt und ich donnerte eine Konserve Thunfisch in den oberen Schrank, so dass ich nicht hören konnte, was er als nächstes sagte. Ich wollte ihn sowieso nicht belauschen.

„Enno?“, rief er plötzlich und ich hätte beinahe den Becher Sahne fallen lassen, den ich gerade in der Hand gehabt hatte. „Kann sie vorbei kommen?“

Nein. Die hatte hier nichts in meiner Wohnung zu suchen. Sie hielt mich für Abschaum und wollte sich doch nur bestätigt darin fühlen, wenn sie sich hier umsah. Wie kam die überhaupt auf die Idee, dass sie hier erwünscht war?!

„Is mir egal“, rief ich zurück. Gelogen. Aber die Wahrheit konnte ich ihm auch nicht sagen. Es war so gesehen Nicos Sache, ob er seine Mutter hier haben wollte oder nicht. Er zahlte mir Miete und das leere Zimmer gehörte nun ihm. Ich würde aber einen Scheißdreck tun und mein Zimmer verlassen, falls sie wirklich kommen sollte.

„Nein, morgen geht nicht. - Ach, da haben wir unsere Drogenparty mit anschließender Orgie, da willst du sicher nicht dabei sein. - Nein, es geht dich nichts okay? - Freitag ist in Ordnung.“

Er verabschiedete sich noch und kam dann zu mir in der Küche, half mir schweigend beim Einräumen der restlichen Einkäufe. Seine Mutter wurde also am Freitag hier vorbei kommen...

„Sie darf nicht in mein Zimmer“, stellte ich klar.

Nico sagte nichts dazu, er schien im Gedanken noch bei dem Gespräch zu sein. Er war überraschend höflich gewesen, ich hätte meine Mutter nach so einer Sache nicht wieder freiwillig angerufen. Ich rief meine Mutter sowieso nur aus Zwang an, ich würde ihr nie verzeihen können. Vielleicht beneidete ich Nico darum, dass er trotz allem mit seiner Mutter sprechen konnte.

„Wir schwänzen morgen die Schule“, teilte er mir mit und ich wusste mit diesem Nico nichts anzufangen. Er wirkte ernst und ich interessierte ihn im Moment nicht.

„Okay“, antwortete ich trotzdem. Es wurde Zeit, dass wir uns nicht mehr egal waren.

Die höchste wie die niedrigste Form der Kritik ist eine Art Selbstbiographie.

„Mann, was willst du? Ich dachte wir schwänzen heute“, maulte ich müde und entriss Nico wieder die Decke, die er mir weggezogen hatte. Ich wusste gar nicht was er wollte. Wir waren gestern überein gekommen, dass heute Schule kein Thema war, hatten dann Sex und jetzt wollte ich definitiv nicht aus dem Bett.

„Tun wir auch.“ Nico zog mir die Decke wieder weg, schmiss sie auf den Boden und verließ dann den Raum, um Gott weiß was zu tun. Verdammt, ich musste jetzt aus dem Bett um meine Decke wieder zu bekommen. Ich verstand gar nicht, was das sollte. Wenn wir schwänzten war es vernünftig nicht die Wohnung zu verlassen. Eigentlich hatte ich gedacht, dass Nico heute den Tag lieber mit mir im Bett verbracht hätte. So konnte man sich irren. Mann, ich wollte nicht aufstehen.

„Ach, Scheiße!“, fluchte ich und wälzte mich doch aus dem Bett. Warum musste er eigentlich immer seinen Willen kriegen?! Er war viel zu klein und zu gepierct, um sich ständig gegen mich durch zu setzen. Das war unfair.

Nur mit meinen Boxershorts bekleidet, ging ich in die Küche, wo Nico summend irgendwelche Tupperboxen in seinen Rucksack stopfte. Sah verdächtig nach einem Picknick oder sowas aus. Auch wenn das Wetter mir sehr unpassend dafür schien, wie ich mit einem Blick nach draußen feststellte.

„Gib mir mal die Milch.“ Wenn er schon dabei war, im Kühlschrank rumzuwerkeln. Kaffee hatte er auch schon gemacht und kurz konnte ich mich nicht gegen den Gedanken wehren, dass wir uns wie ein Paar benahmen und auch noch wie eines, das sehr glücklich miteinander schien und zusammen lebte. Brrr... mir stellten sich die Haare auf, wenn ich weiter daran dachte.

„Was packst du da ein?“, fragte ich schließlich. Vielleicht war das ja alles auch nur ein komisches Missverständnis und er wollte nur die Penner in der Innenstadt füttern gehen. Ich hoffe nur, er hatte kein Mitleid und wollte einen für sich behalten...

„Futter für nachher.“ Aha, wäre ich jetzt nicht von alleine drauf gekommen. Danke für die Information.

„Und was tun wir nachher?“, fragte ich genervt weiter. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn ich jemand die Antworten aus der Nase raus frimmeln musste. Nico grinste mich nur breit an und schien mir nichts sagen zu wollen. Eine Überraschung, hm?

„Bei einem Picknick streik ich!“ Damit das in jedem Fall klar war.

Nico lachte mich nur aus, okay, es war kein Picknick, wenigstens etwas. Sonst hätte ich die ganze Sache mit Nico als Mitbewohner vielleicht noch mal überdacht.

Ich konnte gerade noch ein paar Schlücke von meinem Kaffee nehmen, bevor er mich dazu antrieb, mich anzuziehen, damit wir endlich los konnten. Wohin auch immer...

Ich gab mir nicht die Blöße ihn nochmal zu fragen, was er eigentlich vor hatte. Aber am Ende bildete er sich noch etwas darauf ein. Also gingen wir schweigend Richtung Innenstadt, da Nico anscheinend auch nicht nach einem Gespräch zu mute war. Nicht das er schlechte Laune hatte, er schien nur im Gedanken nicht ganz da zu sein und es hatte vermutlich nicht mal mit unserem Ausflug zu tun.

Wir bogen ab und langsam wurde mir klar, wohin unser Weg uns führte, zum Bahnhof. Das wurde ja wirklich ein Ausflug! Waren wir dafür nicht die falschen Personen?! Sowas machte man doch mit der Familie oder seiner Freundin... Aber gut, ich würde jetzt nicht murren, Nico wusste, dass wir nicht zusammen waren und ich würde uns da jetzt keinen Stress machen. Außerdem interessierte es mich schon ein bisschen, was er eigentlich vor hatte.

Als wir dann am richtigen Gleis standen und ich die Orte sah, die der Zug anfuhr, war ich immer noch nicht schlauer. In denen gab es alle nichts spannendes, wo man jetzt unbedingt hin musste. Wir fuhren nicht mal Richtung Alpen, also würden wir zumindest nicht wandern gehen. Da wäre ich auch schwer dagegen gewesen.

Ich kaute auf meinen Fingernägeln rum, während Nico lässig neben mir stand, seine Händen in den Hosentaschen und seinen ausgebeulten Rucksack auf dem Rücken. Der Zug würde angeblich in zehn Minuten kommen. Ob Nico gewusst hatte, dass er mich rechtzeitig aus dem Bett bekam? Naja gut, er hatte mich genug gehetzt. Ich konnte nicht mal meinen Kaffee ganz zu Ende trinken, der stand jetzt einsam und verlassen auf der Anrichte in der Küche und würde heute Abend weggeschüttet werden. Ja, erst wird man heiß gemacht und dann einfach stehen gelassen, armer Kaffee.

Ich spuckte ein Stück Nagel aus und beobachtete die Uhr, wie sie sich bequemte mit dem Minutenzeiger einen Strich weiter zu wandern. Nico stand einfach nur da, total entspannt. Ich kam mir neben ihm immer wie ein nervöser Neurotiker vor. Ihn schien eigentlich kaum etwas aus der Ruhe zu bringen, wenn er gut drauf war. Er bemerkte meinen Blick und grinste mir offen ins Gesicht. So grinste er nur, wenn er mir sagen wollte, das alles okay war und es gelogen war. Ich tippte darauf, dass ihn der Besuch seiner Mutter morgen beschäftigte.

Mit einem lauten Quietschen und Kreischen fuhr der Zug endlich ein und müde, gestresst aussehende Menschen quollen heraus. Ja, Zugfahren war immer eine Wonne. Als endlich alle Leute ausgestiegen waren, die diesem Gefährt unbedingt entkommen wollten, stiegen wir ein und Nico suchte uns einen Vierer-Platz mit Tisch. Normalerweise setzte ich mich nie an solche Plätze, da sich dann während er Zugfahrt unweigerlich jemand neben einem setzte, aber im Moment war mir das auch egal.

„So...“, meinte Nico gedehnt und holte etwas aus seiner Jackentasche heraus. Ich schaute erwartungsvoll zu ihm. Er grinste mich selbstgefällig an. Ja, ja, du hast mich schon wieder dazu gebracht, irgendwas zu tun, was dich freut. Ich war ja so stolz auf ihn. Er schob mir lässig einen Umschlag zu, den er bis eben noch in der Hand gehalten hatte. Es war der typische Deutsche-Bahn-Umschlag für Fahrkarten. Ich zog ihn zu mir her und schaute hinein. Das war nicht sein Ernst, oder?!

„Wir fahren zur Mappenberatung“, teilte ich ihm meine Erkenntnis mit.

„Jub.“ Nico grinste mich breit an und schien ziemlich stolz auf sich zu sein. Aber hallo, was dachte er sich dabei? Man konnte doch nicht einfach so auf eine Mappenberatung fahren, ohne etwas dabei zu haben!

„Fuck...“ Er hatte mich wirklich überrumpelt. Ich war mir eigentlich nicht sicher gewesen, ob ich überhaupt noch zu einer Mappenberatung wollte und jetzt hätte ich nicht mal etwas dabei.

„War das ein Angebot?!“ Nico nahm mir die Karten wieder aus der Hand, berühte mich dabei kurz.

„Fuck, Mann, ich hab nichts dabei! Du hättest etwas sagen können, scheiße...“

Er lachte mich nur aus und kramte dann in seinem Rucksack rum. Er zog einen Din A3-Block raus und ein paar Skizzenbücher, an denen ich die letzten Tage immer gearbeitet hatte. Au Mann....

„Du spinnst doch...“ Ich lachte erleichtert und zog meine Arbeiten zu mir her.

„Immer wieder gerne.“

Wären wir hier nicht mitten in der Öffentlichkeit, ich hätte ihn jetzt geküsst. Es war das erste Mal, das sich überhaupt jemand wirklich darum kümmerte, ob ich studieren ging. Ich hatte im Moment wirklich das Gefühl, als wäre ich jemand wichtig. Jemand, der nicht Eddy war und mich nicht für eine dumme Schlampe hängen ließ.

Ich fühlte mich gerade echt glücklich. Naja, zumindest solange, bis ich nervös wurde. Verdammt, eine Mappenberatung. Was wäre, wenn sie meine Punte Pinguin-Reihe nicht mögen würden? Wie gut die anderen wohl waren?! Nervös blätterte ich durch meine Arbeiten und wusste nicht mal, ob ich davon etwas vorzeigen sollte. Okay, es wäre bescheuert, wenn ich das nicht tun würde, wenn Nico schon das ganze für mich organisierte.

„Von welchem Geld hast du die Tickets gekauft?“, kam mir da erst in den Sinn.

„Naja, ich würde sagen, den restlichen Monat zahlst du das Essen?“ Er kratzte sich am Kopf, als wäre es ihm etwas peinlich, dass er sein Geld für die Fahrt statt für Lebensmittel ausgegeben hatte. Fuck, das war mir egal, wir würden schon nicht verhungern. Ich würde zu meiner Mappenberatung kommen.

„Klar, kein Ding... boah, ich bin gerade voll geflasht!“ Ja, sonst war ich nicht so begeistert und schon gar nicht in der Öffentlichkeit, aber irgendwie... Das war wirklich etwas, was mir verdammt wichtig war und in letzter Zeit hatte ich meine Ziele schon ziemlich aus den Augen verloren. Vor allem nach dem ganzen Desaster mit Eddy.

„Ich merk´s.“ Nico lächelte leicht.

Ich hatte mich erst wieder etwas beruhigt und aufgehört, ständig meine Arbeiten durchzusehen, als sich eine ältere Frau neben uns setzte und skeptisch auf die Blöcke auf dem Tischchen schaute. Ich schob sie Nico hin und er packte sie ein. Wir verbrachten in diesem Zug fast die ganze Fahrt schweigend, ich im panischen Gedanken an die Mappeneinsicht und an was Nico dachte, keine Ahnung, interessierte mich in dem Moment auch nicht. Er hatte mir nur mal kurz erklärt, dass wir die nächste Station umsteigen mussten und da noch zwei Stunden fahren würden, bis wir endlich da waren. Deswegen war mir am Gleis auch nicht gleich klar gewesen, wohin wir eigentlich fuhren.

Die restliche Zeit im Zug verbrachte ich damit, mich selbst völlig fertig zu machen und mir auszumalen, was so alles schief laufen könnte. Was wenn wir die Uni nicht fanden? Oder den Saal? Oh Gott, wenn meine Arbeiten völlig zerrissen werden. Ich wollte unbedingt an diese Uni...

„Au Mann, man wird total nervös, wenn man dich nur anschaut!“ Ich schaute irritiert zu Nico auf und merkte erst jetzt, dass das beständige Tappen, das ich leise gehört hatte von mir stammte und ich meine Fingernägel wieder ordentlich runter genagt hatte.

„Sorry...“ Ich steckte meine Hände in die Hosentaschen, versuchte mich zu beruhigen und nicht weiter rumzuzappeln. Gelang mir vermutlich nur leidlich, aber ich hatte meinen Kopf wirklich mit anderen Sachen voll.

Zu meinem Glück war Nico wirklich gut vorbereitet. Er hatte sowohl eine ausgedruckte Stadtkarte, als auch eine Wegbeschreibung zur Uni dabei. Auf einem kleinen Notizzettel hatte er sich sogar die Saalnummer notiert und welcher Professor dort heute die Beratung machte. Es war anscheinend der Zeichenprof. Zufall?

Zur Uni fanden wir leicht hin, dort angekommen, irrten wir erst etwas ziellos über das Gelände und fanden dann kurz nach zwölf endlich die Mappenberatung. Es waren neben uns noch sieben andere Leute da, die riesige, dicke Mappen mit sich rumtrugen und ähnlich nervös wirkten. An einem Tisch am Ende des Saals saßen zwei jung aussehende Leute und blätterten gerade durch eine Mappe von einem Mädchen mit pinken Haaren. Das waren aber nicht die Zeichenprofs, oder?

Ich setzte mich zu einer der anderen und fühlte mich etwas verloren. Nico, der direkt neben mir hockte und meine Arbeiten herauskramte, sorgte auch nicht dafür, dass ich mich sicherer fühlte. Ich schielte auf die Sachen der anderen und stellte fest, dass ich kein Talent besaß und so kreativ war, wie ein Stück hartes Toastbrot. Was genau wollte ich hier?

Ich schaute panisch zu Nico, der mir meine Blöcke reichte und mich dabei angrinste. Gut, es war nur eine Mappenberatung, noch war gar nichts entschieden! Vor allem nicht, wenn man überhaupt noch nichts vorgezeigt hatte.

Als ich endlich dran war, hatte ich dann irgendwie ein Art Black-Out. Die zwei Leute, die anscheinend Studenten in den höheren Semester waren und bei der Mappenauswahl mit dabei waren, blättern durch meine Skizzenbücher und stellten komische Fragen.

„Was war denn deine Motivation für die Punt-Reihe? Plau, Prün?“

„Keine Ahnung, es sollte zu Pinguin passen?“

„Ah, okay...“

Und dann wurde wieder weiter geblättert und ich kam nicht mal dazu ihnen groß etwas zu erklären. Was sollte denn die ganze Eile?! Das sollte das Tempo bei der Mappenauswahl sein? Das war doch total übel... Dann nahmen sie meinen Zeichenblock zur Hand und schlugen willkürlich eine Seite auf. Es war eine Aktzeichnung von Nico, der nehmen mir stand. Und es war ziemlich eindeutig, dass er der Kerl war, der auf dem Bild war.

„Hm, deine Technik ist gut, aber soll die Pose irgendwas darstellen?“, fragte mich einer der Studenten und wir starrten alle vier auf die Zeichnung. Nico saß in der Hocke und schaute nach unten. Es sah irgendwie etwas deprimierend aus.

„Keine Ahnung...“, stammelte ich irritiert. Nein, ich hatte mir nichts dabei gedacht, es hatte sich einfach so ergeben.

„Hm... weißt du, Technik allein ist nich alles, das kriegt jeder hin, der viel übt. Du solltest vielleicht mehr Gedanken in deine Arbeiten stecken“, wurde mir dann erklärt und ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Was hieß hier Technik ist nicht alles? Mehr Gedanken? Waren meine Zeichnungen etwa schlecht, weil ich damit nicht die Mordsaussage machen wollte? Und ganz ehrlich, ich kannte in meinem Alter niemand, der technisch schon so weit war... Fuck, das nervte mich. Die taten so, als wären meine Zeichnungen nichts.

„Aktzeichnungen von Frauen wären auch interessant“, erklärte mir die weibliche Studentin, warf dabei aber einen Seitenblick auf Nico, dem das ganze anscheinend nicht mal peinlich war.

„Weiter vorne sind welche drin...“, erklärte ich ihr kurz. Ein paar Mädchen fanden es nämlich ziemlich cool, dass ich sie am nächsten Morgen noch gezeichnet hatte. Weniger cool fanden sie es, dass sie das Bild nicht bekamen, aber naja, war ja nicht so, als würde ich das ins Internet stellen oder sonst wie öffentlich machen.

Sie blätterte in meinem Zeichenblock weiter vor und blieb kurz bei dem Bild mit dem schlafenden Gesicht von Nico hängen.

„Was meinst du?“, fragte sie den anderen, der interessiert rüber schielt.

„Ja, nicht schlecht. Wirkt ein bisschen komisch, weil es ein Typ ohne Haare ist. Von der Idee her könntest du sowas noch öfter machen... Probier aber mal noch andere Medien aus, nicht nur Bleistift.“

„Ja, mach mehr mit Farben!“, beteiligte sich die Studentin an dem Gespräch.

„Okay.“ Ich konnte doch nur mit dem Bleistift umgehen.

„Und sei ruhig mal experimentierfreudiger. Geh mal ein bisschen von dem klassischen weg und versuch was krasser. Mach auch mal andere Formate, ruhig auch größere.“

Ich nickte wieder nur und hatte keine Idee, was sie mir damit sagen wollten, außer, dass das was ich da dabei hatte noch nicht das war, das sie haben wollten. Au Mann, das war schon etwas desillusionierend.

„Hm, bei den Frauen... kennst du vielleicht Aktmodele, die nicht so... genormt aussehen?“ Wir schauten wieder alle auf eine Zeichnungen von einem Mädchen, das ich persönlich ziemlich scharf fand. Hübsche, kleine Brüste, lange Beine, einen flachen Bauch und krass lange Haare. Ekatarina. Was meinten sie mit genormt?

„Äh, glaub nicht...“

„Hm... naja, gut... Hast du noch mehr?“

Ich schüttelte den Kopf und damit war ich entlassen und der Kerl hinter mir war dran. Ich packte meinen Kram wieder zusammen und verließ mit Nico den Saal. Ich fühlte mich etwas dumpf im Kopf und wusste gerade echt nicht, wie ich diese ganze Sache einordnen sollte. Es war echt mies gelaufen, oder? Gut, sie haben meine Technik gelobt, aber anscheinend war die ja nicht weiter von Bedeutung. Super.

„Hey, war doch gar nicht so übel...“, versuchte Nico mich aufzumuntern. Ich schaute nur düster in seine Richtung. Gar nicht so übel?! Er war doch neben mir gestanden, verdammt noch mal, es war eine Katastrophe gewesen! Hier riss sich definitiv niemand darum, dass ich mich bewarb. Das war wirklich Konkurrenzkampf, wenn ich hier her wollte. Nico klopfte mir auf die Schultern, was mich kein Stück tröstete und ich wollte jetzt einfach wieder in meiner Wohnung sein und mich total uncool etwas in meinem Selbstmitleid suhlen. Aber allein die Zugfahrt zurück würde noch zwei einhalb Stunden dauern. Ich seufzte und fuhr mir durch die Haare.

Ich musste einfach mehr für die Mappe machen, wenn mir das ernst war, sollte ich mich mehr reinhängen. Ich war das ganze bis jetzt einfach zu leichtfertig angegangen. Ich konnte durchaus passabel zeichnen, dass wusste ich. Aber das war nicht genug. Ich musste ihnen beweisen, dass ich besser war, als 80% der anderen Bewerber. Ich war mir noch nicht ganz klar darüber, wie ich das bewerkstelligen wollte, aber das müsste doch irgendwie möglich sein.

„Danke, dass du mit gekommen bist.“ Und das überhaupt für mich gemacht hast. Es war vielleicht nicht das dabei rausgekommen, was ich mir erhofft hatte. Aber es war echt nötig gewesen.

„Kein Ding.“ Nico lächelte mich mit seinen gepiercten Lippen an und diesmal fühlte ich mich wirklich ein bisschen besser. Immer noch ziemlich niedergeschlagen, aber zumindest nicht mehr ganz am Boden zerstört.

„Und hey, Schule wäre heute eh total abgefuckt gewesen.“

Erst bei diesem Satz wurde mir wieder klar, dass ich hier nicht der einzige war, der seine Probleme hatte. Nico schien wirklich beunruhigt zu sein, wegen der Sache mit seiner Mutter. Gut, er hätte auch gleich sagen können, dass sie nicht kommen sollte. Aber vermutlich hätte das nichts besser gemacht. Naja, außer vielleicht, dass es uns den ganzen Freitag verdarb. Hoffentlich nur denn... Anderseits war für mich die Woche sowieso erst mal gelaufen. Ich musste mich erstmal von dem Schock der Mappenberatung erholen und neuen Mut und Motivation fassen, um weiter zu machen. Das ging definitiv nicht mehr vor Montag, ich kannte mich.
 

Freitag schwänzte ich die Schule, im Gegensatz zu Nico, der sich pflichtbewusst wie immer aus den Decken schälte und sich zur Schule quälte. Zum Glück nörgelte er selten an mir, wenn ich echt mal keinen Bock hatte aufzustehen. Obwohl in letzter Zeit hatte er mich immer wieder mal damit genervt. Was sehr wahrscheinlich daran lag, dass er mitbekommen hatte wie Frau Lindner mit mir über meine Fehlzeiten gesprochen hatte.

Aber heute hatte wohl Nico Mitleid mit mir und ich wollte wirklich nicht aus dem Bett, den ganzen Tag nicht. Schon gar nicht, wenn seine Mutter hier vorbei kommen würde. Kurz hatte ich zwar in Erwägung gezogen irgendwas an der Wohnung aufzuräumen, damit sie nicht ganz so schäbig aussah. Allerdings war es die Frau zum Einen nicht wert, dass man für sie sauber machte, zum Anderen fand ich eigentlich hier nichts zum Beanstanden. Gut, vom Boden würde ich nicht essen, aber es gab hier auch nichts, das einem beim bloßen Ansehen krank machte.

Ich hatte zwar vorgehabt den ganzen Tag liegen zu bleiben und fernzusehen, aber leider war mein Bett irgendwann einfach zu aufgeheizt und ich musste einfach aufstehen und mich ein bisschen „auslüften“. Ich öffnete das Fenster, damit etwas frische Luft in den Raum kam und ging dann in die Küche, um dort das gleiche zu tun.

Etwas unschlüssig blieb ich dann im Flur stehen und betrat aus einem Impuls heraus, Nicos Zimmer. Mittlerweile hatte er es völlig für sich assimiliert und das Zimmer sah irgendwie so aus, wie ich mir sein Reich eben vorgestellt hatte. An den Wänden hingen jetzt ein paar Zeichnungen von mir, die mir sowieso egal waren. Außer dieser einen Aktzeichnung von ihm... ich konnte mich nicht erinnern, dass ich ihm die Erlaubnis gegeben hatte, sie sich einfach zu nehmen. Naja, was soll´s. Ein paar Poster waren auch dazu gekommen und die Matratze war nun bezogen und hatte sogar ihr eigenes Kissen und eine Decke. Sonst hatte sich noch nicht viel geändert, aber wenn ich Nico richtig verstanden hatte, würde ein Kumpel demnächst einen alten Schreibtisch und eine Couch vorbei bringen. Naja, das Zimmer passte in jedem Fall zu Nico...

Kurz zog ich es in Erwägung, ob ich seinen Aschenbecher leeren sollte, aber möglicherweise stand er noch mit voller Absicht dort provozierend neben dem Bett. Würde eigentlich nur noch fehlen, dass dort Kondome lagen und daneben Gleitcreme, oder so. Aber von dem Kram wusste ich, dass das bei mir im Zimmer war, in das seine Mutter ja definitiv nicht durfte.

Ich verließ den Raum wieder, schloss die Türe leise hinter mir und warf mich dann bei mir aufs Bett, um noch eine Weile in meine Decke eingewickelt bei offenen Fenster zu schlafen. Da war einem gleichzeitig warm und man hatte frische Luft, fand ich super. Schlafen sowieso.

Irgendwann wachte ich wieder auf und schaltete den Fernseher ein, um festzustellen, wie viel Uhr es war. Ich wusste nur, dass es noch nicht zwei war, sonst wäre Nico schon hier gewesen. Hm, wann seine Mutter wohl vorbei kam? Er hatte mir keine Uhrzeit genannt.

Ich blieb bei einer Richter-Sendung hängen und versuchte mir neue Dinge für meine Mappe einfallen zu lassen. Experimentieller? Was war das? Ich konnte mir darunter überhaupt nichts vorstellen. Ein weißer Strich auf einer schwarzen Leinwand? Ein Stuhl, dessen Projektion hinter sich auf eine Wand geworfen wurde? Mordern Art... Damit hatte ich nie viel anfangen können. War ich zu spießig für Kunst?

Ich hörte wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und wie Nico seine Schuhe mit einem lauten Klong auf den Boden pfefferte. Er hatte heute morgen schon schlechte Laune gehabt und offensichtlich hatte sie sich in der Schule nicht gebessert. Er stiefelte in mein Zimmer, packte die Fernbedienung und schaltete das Gerät aus, dann warf er sich auf mich und blieb einfach auf mir liegen.

Ich legte meine Arme um ihn und man konnte in dem Moment nur unseren Atem im Zimmer hören. Er fühlte sich warm und angenehm schwer auf mir an und zufrieden schloss ich meine Augen wieder. Ich musste ihn nicht fragen, wie sein Tag war oder wie es ihm ging. Sowas zu fragen, wäre auch schlichtweg dumm gewesen und die Antwort auch nicht weiter relevant.

Ich musste zugeben, dass ich das Gefühl genoß Nico im Arm zu halten. Ich kam mir wichtig vor und es tat auch mal gut, nicht derjenige zu sein, der die Umarmung brauchte. Ich spürte seinen gleichmäßigen, ruhigen Herzschlag und sog seinen Duft ein. Er roch nach einem Männerduschgel, das ich mittlerweile auch benutzte. Es war trotzdem angenehm.

Ich vergrub eine Hand in seinen Haaren und drückte ihn noch etwas enger an mich. Ich spürte seinen Atem an meiner Halsbeuge und kurz das kalte Metall seiner Lippenpiercings. Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. Wir beide waren ganz schön kaputt.

Die meisten Diagnosen stimmen mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit.

„Wo ist er?“, hörte ich die herrische Stimme von Nicos Mutter und hoffte, dass sie mit diesem Satz nicht mich meinte...

„Ja, Begrüßungen werden völlig überbewertet, nicht?“ Er hatte ihr gerade die Tür geöffnet und es lief jetzt schon alles schief, oder? Ich zog mir die Decke über den Kopf. Mir wäre es lieber, wenn Nico noch bei mir liegen würde, während er meinen Hals küsste und mich seine Haarspitzen leicht kitzelten. Aber das würde wohl nicht so gut kommen, wenn seine Mutter das sehen würde.

„Ich möchte mit ihm reden!“, forderte sie und ich bekam Kopfschmerzen. Sie war doch wegen Nico hier, oder nicht? Was zum Henker wollte sie denn von mir?! Ich bezweifelte nämlich stark, dass sie mir dafür danken wollte, dass ich ihren Sohn nicht hängen ließ und er nicht unter der Brücke schlafen musste.

„Ennoah tut hier doch nichts zur Sache.“ Nicos Stimme klang ziemlich verärgert und kurz fühlte ich mich an das Gespräch mit Eddy erinnert, der auch lieber über Nico gesprochen hatte, als über das eigentliche Problem, das offensichtlich vor lag.

„Was heißt hier ´tut nichts zur Sache´?! Natürlich tut der Kerl was zur Sache. Erst verführt er dich und dann holt der dich auch noch in seine Wohnung! Wie alt ist der überhaupt?!“ Ja, schon klar, ich war der Übeltäter. Nur zu, hängt mir ein „bad, old molester!“-Schild um den Hals. Bringt eure jungen, unschuldigen, heterosexuellen Söhne vor mir in Sicherheit... Gah! Ich könnte gerade echt in was reinschlagen!

„Mama, er ist bei mir in der Stufe...“ Nico klang völlig empört. Also ich musste sagen, an ihrem Geschwätz hat mir der Punkt mit dem Alter noch an wenigstens gestört. Allerdings sorgte der Satz dafür, dass sie kurzzeitig still war. War sie etwa überrascht? Verdammt, so alt sah ich auch wieder nicht aus! Was dachte die Frau eigentlich?

„Das machte es nicht besser!“, kam der etwas verspätete Konter und ich verstand das eigentliche Problem nicht so richtig. Lag es an dem Sex, an dem Fakt, das Nico nicht mehr zuhause lebte oder einfach an mir als Person? Wahrscheinlich alles zusammen.

„Bist du nur deswegen hier? Um dich über Ennoah auszulassen?“ Berechtige Frage, dass hätte ich Eddy auch fragen sollen. Offensichtlich war Nico definitiv besser in Streitsituationen.

„Gott, nein... Ich wollte sehen wie es dir geht.“ Ihr Worte klangen immer noch harsch, aber diesmal merkte man sogar, dass irgendwie eine verschrobene Art von mütterlicher Fürsorge dahinter steckte.

„Gut, wie du siehst“, antwortete er recht reserviert und dann herrschte kurzes Schweigen. Bis Nico empört rief: „Mama! Du musst nicht nach Einstichslöchern von Fixernadeln suchen!“

„Wer weiß, was ihr hier tut!“ Natürlich, Drogen, Sex und eigentlich war ich Nicos Zuhälter... Schon klar.

„Gott, für wie bescheuert hälst du mich?!“, herrschte er sie an. Wieder kurzes Schweigen.

„Und was machen die Zigaretten da?!“ Anscheinend hatte sie sich nur umgesehen, um einen neuen Punkt zu finden, an dem sie rumnörgeln konnte. Selbst wenn hier alles picobello ausgesehen hätte, sie hätte an der Wohnung bestimmt kein gutes Haar gelassen. Zum Glück hatten wir uns die Arbeit gespart und nicht sauber gemacht.

„Jetzt tut nicht so, als hättest du nicht gewusst, dass ich rauche...“ Ich konnte Nicos Augenrollen bei diesem Satz förmlich vor mir sehen.

Das nächste, was sie sprachen konnte ich allerdings nicht mehr verstehen. Da sie unvermittelt die Stimmen gesenkt hatten. Ich konnte dem Gespräch sowieso nicht mehr ganz folgen. Hatte sich seine Mutter nun abreagiert? Redeten sie jetzt ernsthaft wie normale Leute miteinander? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es nun zu einer großen Versöhnung kam. Das war so wahrscheinlich, wie die Möglichkeit, dass ich plötzlich Gefallen daran fand, den Haushalt zu schmeißen.

Irgendwann mal wurden ihre Stimmen wieder lauter, als Nico die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Vermutlich um sie hinaus zu begleiten.

„Du kannst hier anrufen, aber ein falsches Wort zu Enno und ich lass dich diese Wohnung nie wieder betreten“, hörte ich Nico in einem sehr ernsten, drohenden Tonfall sagen. Ihre Erwiderung bekam ich schon nicht mehr mit, da er sie wohl mittlerweile auf den Hausflur begleitet hatte.

Ihr Besuch war wirklich so ätzend gewesen, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Zum Glück hatte ich ihr nicht gegenüber treten müssen. Ich wäre wirklich nicht sehr charmant zu ihr gewesen.

Die Haustür fiel wieder ins Schloss und Nico betrat mein Zimmer. Er fuhr sich durch seine kurzen Haaren und schaute mich echt fertig an. Einmal Hölle und zurück, oder? Ich grinste müde zu ihm hoch. Mit einem Seufzen ließ er sich neben mir auf das Bett fallen und kroch mit unter die Decke. Unsere Körper berührten sich leicht dabei und seine Haut an meiner fühlte sich kühl an. Ich zog ihn nicht näher zu mir und er machte auch keine Anstalten etwas daran zu ändern.

„Meine Mutter wusste von der Affäre...“ Er klang so, als wäre er ganz weit weg. „Aber bei uns in der Familie geht’s altmodisch zu, da schweigt man einfach alles tot.“

Seine Berührung verlor langsam ihre Kälte und ich rutsche etwas näher an ihn heran. Es war ein bisschen albern, dass ich mich weder traute etwas zu ihm zu sagen, noch ihn in den Arm zu nehmen. Ich wusste nicht genau, was ich überhaupt tun sollte, also tat ich nichts.

„Ich glaube, sie wollte, dass ich die Familie rette. Du weißt schon, so als Mustersohn und so n Kram.“

„Dann bist du ganz schön missraten...“ Mein Mund war trocken und es klang nicht so lustig, wie ich mir das vorgestellt hatte.

„Dito“, gab er zurück und schaute in meine Richtung. Wir grinsten uns an. Nico wollte kein Mitleid von mir, er wollte auch nicht getröstet werden. Er wollte es einfach nur mal gesagt haben. Wir küssten uns nicht und berührten uns auch sonst nicht, sondern lagen nur da und schauten uns an. Wir waren uns noch nie so nah gewesen und es wurde mir unangenehm. Ich setzte mich auf und entfernte mich so von ihm. Er verzog kurz das Gesicht, wahrscheinlich deswegen, weil ich den Moment komplett ruiniert hatte. Aber ich wollte gar nicht wissen, wohin uns das alles geführt hätte.

Er drehte mir schließlich den Rücken zu, so dass er den Fernseher sehen konnte, nahm die Fernbedienung vom Nachttisch und machte den Ton wieder an, den ich wegen seiner Mutter ausgeschaltet hatte. Die Stimmen aus dem Gerät klangen falsch im Zimmer und schienen sich zwischen uns zu fressen. Ich merkte, dass ich es irgendwie bereute, nicht einfach liegen geblieben zu sein. Aber jetzt war es auch zu spät.

Ich seufzte und stand ganz vom Bett auf. Der Kaffee rief, oder so. Ich fühlte mich in jedem Fall müde und mochte dieses Gefühl los werden. Vielleicht wollte ich auch nur ein bisschen weg von Nico.

Ich setzte mich auf die Fensterbank in der Küche, während die Maschine den Kaffee aufbrühte. Ich tippte mit einem Fuss auf den Boden. Tapp. Tapp. Tapp. Zwischen mir und Nico hatte sich definitiv in den letzten Wochen etwas geändert. Tapp. Tapp. Tapp. Es fühlte sich fast so an, wie wenn Eddy um mich herum war. Ich merkte, dass mich dieser Punkt störte. Nico würde mir niemals in irgendeiner Weise Eddy ersetzen können, das wollte ich nicht und das ging einfach nicht. Es wäre auch alles anders, wenn dieser dummer Streit nicht wäre. Ich fragte mich wieder, warum Eddy überhaupt vor kurzem vorbei gekommen war. Er musste einen Grund gehabt haben und es war bestimmt nicht Nico gewesen. Hatte er mir am Ende damit sagen wollen, dass er mittlerweile bereit war, mir zu zuhören? Nicht, dass ich ihm noch viel zu erklären hätte.

Ich hopste von der Fensterbank und goß mir den fertigen Kaffee ein. Sollte ich ihn in der Küche trinken oder wieder zu Nico gehen? Ich entschied mich für die Küche und merkte, wie sich mein Magen schmerzhaft zusammen zog, als ich einen Schluck von dem Getränk nahm. Laut klirrend landte die Tasse im Spülbecken und ich rannte ins Badezimmer, um mich dort ins Klo zu übergehen.

Fuck! Scheiße! Mein Magen zog sich unangenehm zusammen und es tat wirklich weh. Ich hatte das Gefühl, als würde ich nicht richtig Luft bekommen und übergab mich nochmals in die Toilette. Fuck. Fuck. Das sollte aufhören. Mein Magen krampfte sich weiter zusammen und ich konnte nur auf dem kalten Fließenboden liegen, mir den Bauch halten und hoffen, dass es bald vorbei war. Scheiße, ich hasste meinen Körper. Mir liefen Tränen über die Wangen vor Schmerz und ich wünschte, es würde einfach alles aufhören.

„Enno?“, hörte ich Nicos Stimme dumpf nach mir rufen. Ich spürte, wie mir es schon wieder hoch kam und versuchte mich aufzurichten, damit ich mich nicht auf den Boden übergeben musste. Ich hielt die Kloschüssel umklammert und würgte Magensäure aus, als Nico schließlich das Bad betrat, um nach mir zu sehen.

Ich schaute gequält zu ihm auf und bekam nur einen entsetzen Blick zurück. Sah ich wirklich so beschissen aus, wie ich mich fühlte?!

„Okay, jetzt reichts mir, wir gehen jetzt zum Arzt. Sofort!“ Er verschwand kurz aus dem Bad und kam mit meinen Schuhen und meiner Jacke in der Hand wieder, die er vor mich hinwarf. Die Magenkrämpfe hatten wieder etwas nach gelassen, aber ich wusste wirklich nicht, ob es eine gute Idee war, nach draußen zu gehen. Als ich allerdings Nicos Blick sah, war mir klar, dass da keine Widerrede war. Naja, nicht in meinem jetzigen Zustand.

Ich zog mir die Schuhe im Sitzen an und kam mir seltsam fremd in meinem Körper vor. Meine Finger waren irgendwie steif, als ich mir die Schnürsenkel band. Ich verfehlte mehrmals die Jackenärmel beim Anziehen, als wüsste ich nicht, was mein Arm da eigentlich tat.

Nico war in der Zwischenzeit wieder irgendwo in der Wohnung verschwunden und hatte mich allein mit meinem Elend gelassen.

„Ist deine Krankenkarte im Geldbeutel?“, rief er und ich zog mich am Badewannenrand nach oben. Bevor ich ihm antworten konnte, stand er auch schon mit meinem Portemonnaie in der Tür und schaute mich abwartend an. Ich nickte nur. Ich hatte Angst den Mund aufzumachen. Meine Stimme würde nur unnatürlich und seltsam klingen.

Nico kannten den Weg zu meinen Hausarzt nicht, allerdings war es zum Glück nicht sonderlich weit und ich war diesen Weg mit meiner Oma oft gegangen. Wir kamen auch gerade noch rechtzeitig zur Sprechstunde, mussten aber trotzdem eine dreiviertel Stunde in einem überfüllten Warteraum sitzen und dabei grummelte es unangenehm in meinem Magen. Es war nichts akutes, ein Krankenwagen und Notaufnahme wäre definitiv nicht nötig gewesen, aber bestimmt schneller gegangen.

Nico redete mit mir über irgendwelches belangloses Zeug, wie der anstehenden Klausur in Geschichte, auf die er schon gelernt hatte und ich nicht. Er erzählte mir von irgendeinem Festival, auf dem er vor zwei Jahren mit Freunden gewesen war, heimlich, hinter dem Rücken seiner Mutter. Als ich endlich dran war, hatte ich immer noch ein leichtes Ziehen in der Magengegend und es wurde nicht besser, als der Arzt auf meinem Bauch rumdrückte.

Er fragte mich ein paar Sachen, wie zum Beispiel meine Ernährung aussah, in welchen Situationen mich übergeben musste, ob ich oft müde war und am Ende stand eine für mich sehr erschütternde Diagnose fest: Übersäuerung. Erschütternd deswegen, weil er mir Kaffeeverbot erteilte. Das war doch nicht sein Ernst, oder? Ich sollte auch sonst nichts Säurehaltiges trinken, also fiel sowas wie Cola auch flach. Wie sollte ich da überhaupt wieder wach werden? Okay, angeblich lag meine Müdigkeit auch an der Übersäuerung. Aber das war doch absurd, man konnte doch nicht von Kaffee eine Krankheit kriegen, die einen müde machte.

Er hatte mir noch ein Medikament verschrieben, von dem ich zweimal am Tag etwas nehmen sollte und abends essen durfte ich auch nicht mehr. Au Mann, ich hoffte nur, dass es dann endlich besser wurde.

Als ich Nico, der im Wartezimmer geblieben war, die Diagnose mitteilte, lachte er mich erstmal aus und zwar mit einer fiesen, hämischen Lache, bei der man sich echt verarscht fühlte. Fehlte eigentlich nur noch, dass er dabei auf mich zeigte. Ich würde ihm am liebsten etwas an den Kopf werfen, hatte aber leider nichts zur Hand, also begnügte ich mich damit ihm auf den Hinterkopf zu schlagen, als er endlich neben mir stand. Da hatte er zwar schon zu lachen aufgehört, aber verdient war es immer noch.

Wir machten noch einen Umweg über die Apotheke, ich kaufte mein viel zu teueres Medikament, das vermutlich auch noch fürchterlich schmecken würde und Nico wollte noch, dass wir basische Lebensmittel kaufen gingen, da wir das angeblich nicht daheim hatten. Er tat gerade so, als würde er sich damit auskennen.

Jetzt hatten wir jedenfalls jede Menge Joghurt im Kühlschrank stehen, den ich essen sollte. Sowas hätte ich nie freiwillig gekauft. Mist, wenn die Kotzerei nicht so unglaublich Scheiße wäre, hätte ich das sicher nicht gemacht. Nico hatte auch symbolisch die Kaffeemaschine ausgesteckt und in sein Zimmer gestellt. Ich hatte dabei das Gefühl, als würde man mir einen wichtigen Teil meines Lebens rauben und ich war mir verdammt sicher, dass er seinen Spass dabei hatte. Er selber trank ja keinen Kaffee, ihm konnte das ja egal sein.

Ja, alles in allem war der Freitag ein furchtbarer Tag für mich gewesen und Nico, der friedlich neben mir schnarchte, machte es nicht besser. Er sollte jetzt wach sein und wir sollten Sex haben, weil ich mir das nach diesem Tag verdient hatte. Nico hatte es nicht mal in Erwägung gezogen, wahrscheinlich weil ich immer noch wie der wandelnde Tod aussah. Ich spielte mit dem Gedanken ihn trotzdem zu wecken und boxte ihn schließlich in die Seite.

Er gab ein missmutiges Grummeln von sich und zog die Decke an sich ran. Pah, als würde das was gegen mich ausrichten. Ich boxte ihn nochmal in die Seite und beim dritten Versuch öffnete Nico schließlich verärgert seine Augen und blitzte mich an.

„Was?“, knurrte er aggressiv. Nico stand überhaupt nicht drauf, wenn man ihn mitten in der Nacht weckte. Aber das war mir im Moment egal. Ich beugte mich zu ihm und küsste ihn. Als er den Kuss erwiderte, konnte ich nicht anders, als triumphierend zu grinsen. Sieg für mich.
 

Ich wachte relativ früh auf, draußen war es noch dunkel und als ich auf den Wecker schaute, teilte er mir mit, dass wir erst vier Uhr nachts hatten. Allerdings fühlte ich mich aufgekratzt. Ich war aufgewacht mit dem dringenden Bedürfnis etwas tun zu wollen. Ich wusste auch was.

Ich kratzelte über Nico, der einfach friedlich weiter schlief, suchte im dämmerigen Licht ein paar Sachen zusammen und ging damit in Nicos Zimmer. Ich wollte malen, ich musste malen. Ich würde erst wieder schlafen können, wenn ich jetzt einen Pinsel nahm und einfach mal was mit Farbe machte.

Ich musste an meiner Mappe arbeiten. Ich wollte auf diese Uni und wenn ich dafür Farbe auf die Leinwand kotzen müsste, würde ich das auch tun! Ich wusste nicht, woher dieser innerliche Motivationsschub kam und hatte auch meine leisen Zweifel, dass er lange anhalten würde, aber jetzt wollte ich ihn nutzen.

Ich betrachtete kritisch die paar Farben, die ich gefunden hatte im fahlen Licht der Nachttischlampe. Anderes Licht gab es in diesem Raum momentan nicht. Es waren Wandfarben und ein paar Acrylfarben, die mir irgendwer mal geschenkt hatte. Pinsel hatte ich nur paar halbtote, ausgefranste Teile gefunden, aber die mussten es schon tun. Ich wollte ja kein Gemälde malen, ich wollte einfach nur... keine Ahnung. Farbe, Papier, drauf damit.

Ich öffnete ein paar Tuben und mir schlug sofort ein unangenehmer, irgendwie verfaulter Geruch entgegen. Okay, absolut widerlich. Ich drehte die Tube wieder zu, die so offensichtlich stank und hoffte, ich hatte mit den anderen mehr Glück. Die rochen zwar nach Farbe, aber davon wurde mir wenigstens nicht gleich schlecht.

Ich zog meinen Block mit dem dicken Papier heran und machte probeweise ein paar Striche mit dem Pinsel. Es fühlte sich fremd in meiner Hand an und alles war soviel ungenauer, wie ich es sonst gewohnt war. Bei einem Bleistift machte man einen Strich und dann war dort ein Strich. Mit so einem Pinsel macht man einen Strich, dann ist da Farbe und dort und irgendwie alles verwackelt, keine Ahnung. Ich packte eine Tube drückte Farbe direkt aufs Blatt und schmierte mit den Pinsel darüber. Genau arbeiten konnte ich damit eh nicht, also warum sich die Mühe machen und was darstellen?

Ich stellte allerdings schnell fest, dass mich das Malen frustrierte und ich bereute es, etwas von meinem teuren Zeichenpapier genommen zu haben. Das war echt das Papier nicht wert gewesen. Ich ging in die Küche, um dort aus dem Altpapier Zeitung und Kartons zu holen. Dafür musste man wenigstens nichts zahlen.

Ich schmierte weiter Farben drauf, ich konnte überhaupt nicht sagen, ob das was ich machte nur im entferntesten was brachte. Ich wurde auch nicht ruhiger dadurch und irgendwie brannte es förmlich in mir, weiter auf diesem billigen Papier rumzuschmieren und immer mehr Farbe drauf zu klatschen. Ich starrte das Bild an und hatte das Gefühl, irgendwas darin zu erkennen, wusste allerdings nicht was. Irgendwas fehlte.

Ich schaute mich in dem Raum um und entdeckte ein paar Socken. Ja, Socken schien mir ein guter Plan. Ich tunkte die Socken in Farbe und zog sie über den vollgeschmierten Karton, ließ sie schließlich am Ende davon liegen. Von dort aus schauten mich die verschandelten Socken vorwurfsvoll an. Sie hatten nie als Kunst enden wollen, sie wurden nicht mal oft genug getragen, das sie Löcher hatten. Socken waren nicht dazu da, plötzlich auf einem Karton zu kleben. Socken sollten ihren langen, schleichenden Tod an Füssen finden. Aber jetzt war es auch schon zu spät.

Die Socken hatten mir den letzten Rest gegeben, ich wollte wieder ins Bett und schlafen. Ich knipste das kleine Licht aus, ging noch ins Bad, um die ganze widerliche, stinkende Farbe von meiner Haut zu bekommen und kroch dann um sechs wieder zu Nico unter die Decke. Ich fühlte mich jetzt definitiv etwas ruhiger. Wahrscheinlich war auch einfach nur von den vergammelten Farben total zugedröhnt.

Ich weiß mit Gewissheit, dass es zu viel Gewissheit in der Welt gibt.

„Du hast meine Socken zu Kunst fabriziert.“ Wir standen beide in Nicos Zimmer und schauten uns das Farbmassaker von meiner Aktion heute Nacht an. So am hellichten Tag sah es noch viel viel schrecklicher aus und ich schämte mich regelrecht für das, was ich da produziert hatte. Und das ich Nicos Socken in die Sache mit reingezogen hatte, machte es nicht besser.

„Tut mir leid...“ Ehrlich, das meinte ich diesmal richtig ernst. Er klopfte mir auf die Schultern, was wohl soviel hieß, ich sollte es nicht so schwer nehmen. Aber er sagte sonst nichts zu dem, was ich da gemacht hatte. Meine Zeichnungen überschüttete er normalerweise regelrecht mit Lob. Ach, Fuck, ich kam mit Farben einfach nicht klar. Außerdem konnte mir das doch niemand verdenken, mit den schlechten Material, das ich da hatte. Pinsel, die schon Haarausfall bekamen, wenn man sie schief anschaute, Farben, die schon ein Eigenleben entwickelt hatten und ein Malgrund aus dem Altpapier. Da konnte ja nichts vernünftiges rauskommen.

Hm, um Ausreden war ich ja nich verlegen. Aber vielleicht sollte ich mir vernünftiges Malzeug kaufen gehen. Wenn sie Farbe wollten, sollten sie Farbe bekommen, aber nicht so einen Dreck, wie er gerade vor mir auf dem Boden lag.

„Sag mal, den wie vielten haben wir heute?“, fragte ich etwas aus dem Zusammenhang gerissen.

„Keine Ahnung, den zwanzigsten oder so?“ Nico wirkte von der Frage etwas überrumpelt und schien nicht zu verstehen, warum ich das gerade fragte, während ich auf die traurigen Überreste seiner Socken starrte. Mir tat es Leid mit den Socken, aber das mit dem Stoff war relativ interessant.

„Okay, wir müssen diesen Monat nicht mehr unbedingt einkaufen, oder?“ Der Kühlschrank war ja einigermaßen voll mit all den basischen Lebensmitteln, die mir gut tun sollten.

„Naja, wenn wir keine großen Fressorgien feiern nicht unbedingt.“ Er verstand immer noch nicht ganz auf was meine Fragen abzielten.

„Cool, dann besorg ich mir jetzt Malzeug.“ Geld war ja offensichtlich da. Naja, jetzt keine Unmengen davon, aber für die Basics der Malerei sollte das schon reichen.

„Äh... okay.“ Nico war irritiert von meiner Aktion, aber er schien sich wohl nicht negativ dazu äußeren zu wollen, da es um meine Mappe ging. Ansonsten würde ich auch nicht freiwillig Farben kaufen gehen. Aber ich fühlte mich herausgefordert. Es musste doch möglich sein mit soliden Werkzeug und Material etwas brauchbares zu malen. Andere Leute konnten das schließlich auch.

Ich holte noch meinen Geldbeutel, zählte das Geld darin nach, dreißig Euro. Okay, ich hoffte, ich musste nicht alles davon verbraten. Ja, ja, als Künstler musste man Hungern und Leiden, damit was dabei rum kam. Bestimmt half das meiner Mappe ein ganzes Stück weiter.

„Willst du mit?“ Ich zog mir gerade die Schuhe an. Nico stand im Flur und beobachtete mich dabei. Es sah nicht so aus, als hätte er große Ambition wirklich mit zu kommen, aber man konnte ja mal fragen.

„Nee, nicht bei dem Wetter...“ Er verzog das Gesicht und ich konnte ihn echt verstehen. Regen, Wind, glitschiges Laub, einfach igitt. Ich wollte aber jetzt meine Farben haben und ich würde mich spätestens morgen ärgern, wenn die Geschäfte zu hatten, dass ich heute nicht gegangen bin.

„Verständlich.“ Ich lächelte ihn an und aus einem Impuls heraus, ging ich zu ihm, um ihm noch einen Abschiedskuss zu geben. Was ich gemalt hatte war zwar furchtbar, aber ich fühlte mich gerade voller Energie und motiviert und ich stand darauf Nico zu küssen.

Ich löste den Kuss und grinste Nico breit an, der mich etwas verklärt an sah und verabschiedete mich dann. „Bin so in zwei Stunden wieder da.“

Brauchte ja alles seine Zeit die richtigen Farben zu finden, Preise abzugleichen und ich wollte auch noch nach billigen Textilien gucken. Vielleicht gab es in diesem komischen Ein-Euro-Laden etwas was ich brauchen konnte. Gucken konnte ja nicht schaden.

Das Wetter ignorierte ich einfach, wenn ich ein bestimmtes Ziel hatte, konnte ich auch Regen aushalten. Außerdem waren es auch nur zwanzig Minuten zu Fuß zum Künstlerbedarfsladen. Ich kaufte dort immer meine Bleistifte und Tuschestifte, hatte allerdings um die Malerecke immer einen großen Bogen gemacht, da es mich einfach nie interessiert hatte.

Jetzt stand ich vor einem riesigen Regal voll mit den unterschiedlichsten Farben und mich beschlich der Verdacht, dass ich mir mit den dreißig Euro nicht mal mehr als eine Tube leisten konnte. Ich mein, was dachten die sich dabei, für ein kleines Fläschen verfickte Farbe zwanzig Euro zu verlangen?! Was konnte diese Farbe? Malte die sich von alleine auf die Leinwand, oder was? Die Preise wurden auch am Ende des Ganges nicht freundlicher und ich war wirklich versucht das Projekt Farbe einfach wieder abzublasen. Es musste doch noch irgendwo billigere Farben als das geben, das konnte doch nicht sein, dass das einzige war, was es in diesen Scheiß großen Laden gab!

Ich ging in einen anderen Gang, der mich mit bunten Flaschen und Tübchen anlachte und stellte erleichtert fest, dass ich mir dort wenigstens drei Tuben mit den Grundfarben leisten konnte und noch Geld für die Pinsel übrig waren. Naja, was hieß, erleichtert, eigentlich hatte ich nicht gedacht, dass ich wirklich die dreißig Euro für so wenig Kram ausgeben würde, aber immerhin konnte ich mir überhaupt etwas kaufen. Ich angelte mir die Farben, die ich haben wollte aus dem Regal und las mir kurz durch, was hinten drauf stand. Hauptsächlich Bla, das mir gar nichts sagte. Es waren Acrylfarben, soviel wusste ich mittlerweile. Ich hoffte nur, sie stanken nicht so erbärmlich, wie die bei mir zuhause. Dafür waren die doch einfach zu teuer. Ob ich eine Tube einfach aufdrehen konnte? Hm...

Ich schaute mich kurz im Gang um, ob einer der eifrigen Verkäufer in der Nähe war und öffnete dann eine Tube, als ich niemand sah. Roch... naja, wie Farbe, aber wenigstens nicht wie dreimal verdaute Kotze einer Katze mit Magenprobleme, also war von daher tolerierbar.

Jetzt brauchte ich nur noch die dummen Pinsel und... Malgrund. Gott, Leinwände konnte ich mir doch gar nicht leisten. Ich wollte nicht mal nachschauen, wie teuer die hier waren. Vielleicht sollte ich mir wirklich noch Handtücher aus dem Ein-Euro-Shop holen, das war definitiv mal ein Experiment und so gesehen auch mal ein anderes Format.

Bei den Pinseln war ich in etwa so wählerisch wie bei den Farben. Ich suchte die aus, die am billigsten waren ohne dabei auszusehen, als ob sie sofort Borsten-Suizid begehen würden. Naja, besser als der Kram, den ich zuhause hatte, war es alle mal.

Mit meiner geringen Beute trottete ich dann Richtung Kasse und hatte dabei irgendwie das Gefühl, um mein Geld betrogen zu werden. Zu was man alles bereit war, wenn es um die Bewerbungsmappe ging war schon ganz erstaunlich. Vermutlich würde ich mir nicht so einen Stress bei der Mappe machen, wenn sie nicht die erste Qualifikation für die Uni war. Anhand von den Mappen wurde ausgewählt, ob man überhaupt zur Aufnahmeprüfung durfte oder nicht, was eigentlich schon ziemlich krass war, wenn man sich das überlegte. Hinzu kam, dass von sechshundert Bewerber gerade mal siebzig bis achtzig zur Prüfung eingeladen wurden und davon auch nur die Hälfte genommen wurden. Man musste also nur zu den besten fünf Prozent gehören, naja, nur. Gott, ich durfte nicht mal dran denken, das deprimierte mich. Genau wie das Geld, das ich gerade ausgeben musste.

Ich beobachtete den Kassierer dabei, wie er gelangweilt dieses überteuerte Zeug über das Band zog und mir dann noch, freundlich wie er war, den Kram lieblos in eine Plastiktüte stopfte. Er hatte ein Lippenpiercing, ziemlich kurze Haare und ich fand ihn kein Stück attraktiv dadurch, obwohl das die Features waren, die ich bei Nico besonders anziehend fand. Ob es wohl einfach an Nico lag?

Ich wickelte die Tüte nochmals um den Inhalt und versuchte das ganze in meine Jackentasche zu stecken. Musste aber feststellen, dass dieser Versuch zum Scheitern verurteilt war, da die Taschen definitiv zu klein waren und die fast winzigen Tuben erstaunlicherweise doch noch zu groß. Deswegen baumelte die Tüte jetzt an meinem Handgelenk und ich fühlte mich irgendwie albern damit, sie war durchsichtig rosa und ich fragte mich, was rosa mit Künstlern zu tun hatte. Die mussten sich doch irgendwas bei der Farbwahl gedacht haben, oder nicht? Naja, eher nicht... immerhin war es durchsichtig rosa, verdammt noch mal! Ich hätte meinen Rucksack mitnehmen sollen, es war peinlich damit rumzulaufen. Man konnte nicht im Ansatz damit cool aussehen, selbst Nico hätte damit lächerlich gewirkt.

Der Ein-Euro-Laden war irgendwie nicht mehr dort, wo ich ihn in Erinnerung hatte und ich stand erstmal mit einem blöden Blick vor einem leeren Schaufenster, hinter dem sich eigentlich lange Reihe an billiger Ware zeigen sollte. Seit wann war denn der Laden hier weg? Ich war mir ziemlich sicher, dass er letztens hier noch stand. Ich fühlte mich ein bisschen dämlich, wie ich vor dem leeren Laden stand und anderen Leuten im Weg war, die sich gerade durch die Fußgängerzone wühlten. Samstagmittag eben, alles viel zu voll.

Ich starrte das leere Schaufenster noch mit einem bitterbösen Blick an, als mir eine kleine Notiz in der Ladentür auffiel. Umgezogen in die Rabengasse 5... Ja, ja, wer lesen konnte war klar im Vorteil. Die Rabengasse war nur zwei Straßen weiter und ich verstand gar nicht, warum sich da überhaupt ein Umzug lohnte, wenn sich eh eigentlich kaum etwas änderte. Hoffentlich waren dadurch nicht auch die Produkte teurer geworden, sonst hätte ich nämlich Farben, aber nichts worauf es sich gelohnt hätte zu malen.

Ich stiefelte die zwei Straßen weiter und stand vor einem Laden, der identisch mit dem alten Geschäft aussah. Die Regale waren gleich angeordnet und es waren sogar die selben Waren aufgereiht, sah zumindest von Außen schon mal so aus. Man hörte ein leises Kling, als ich den Laden betrat und man wurde umhüllt von dem Kopfschmerzen verursachenden Geruch billiger Plastikprodukte. Jeah...

Ein Kind mit verrotzer Nase drängte sich an mir vorbei und wich ihm aus, bevor er irgendwas von seinem Schleim auf mir landen konnte. Dabei stieß ich prompt in dessen Mutter, die mich empört anschaute, als ob es meine Schuld wäre, dass sie direkt hinter mir stand. Bevor sie allerdings etwas zu mir sagen würde, was mich tierisch nerven würde, ging ich einfach eiligen Schrittes in einen anderen Gang. Da waren lange Beine echt vom Vorteil, man bewegte sich immer irgendwie schneller vorwärts als andere. Auch wenn man sonst meistens Ärger hatte, wenn man kurz davor war die, zwei Meter-Marke zu knacken. Die Welt war nämlich nicht wirklich für große Menschen gemacht. Ständig stieß man wo an, die Plätze in Bussen und Autos waren prinzipiell zu eng und man musste eine gewisse Toleranz gegenüber unliebsame Begegnungen mit Hängelampen und Türrahmen entwickeln. Bestimmt wäre ich in der Schule viel besser, wenn ich mir nicht schon soviele Gehirnzellen ausgeschlagen hätte.

In die Regalreihe, in die ich geflüchtet war, gab es auch tatsächlich das, was ich gesucht hatte. Häßliche, raue Handtücher, die ihre fünfzig Cent nur mit Mühe und Not wert waren. Ich zählte mir sechs Stück ab, alle in einem dezenten blau-weißen Muster und marschierte damit dann zur Kasse, bevor ich wieder mit irgendwelchen komischen Leuten zusammen stieß.

Die Handtücher wurden in eine weitere häßliche Plastiktasche gestopft, ehe ich überhaupt widersprechen konnte. Wo waren die guten, alten Zeiten hin, als einen der Kassier noch unfreundlich angemault hat, ob man eine Tüte wollte oder nicht und er einen dabei angeschaut hatte, als würde er einem den Kopf abreißen, falls man ja sagen sollte?! Da hatte ich noch nicht mit hellblauen und rosa Tütchen durch die Gegend laufen müssen.

Ich fand allerdings das hellblau weniger peinlich als das rosa und stopfte einfach die eine Tüte in die andere und machte mir auf dem Weg nachhause Gedanken, was ich nun tatsächlich mit meinen überteuerten Einkäufen machen sollte. Ich wusste nicht genau, wie gut sich Handtücher bemalen ließen, wahrscheinlich müsste ich wieder auf etwas abstraktes zurückgreifen. Ich hasste abstrakte Kunst, hatte nie verstanden, für was das gut sein sollte. Aber vermutlich hatten sie genau das bei der Mappenberatung gemeint, als sie von Experimenten geredet hatten.

Ich könnte die Handtücher wie Bilderrahmen an der Wand befestigen und darauf irgendwelche abstrakte Scheiße produzieren, die sich dann auf der Wand fortsetze und langsam Gestalt zu etwas sinnvollen wie einem Körper annahm. Das war doch voll der Plan, oder? Doch, ich fand, das war schon mal ein Versuch wert. Allerdings war ich mir nicht sicher, wie ich das in meiner Mappe präsentieren sollte. Das müsste ich nämlich fotographieren und meine Fotos sahen immer irgendwie überhaupt nicht gut aus. Auch wenn ich eine überteuerte Spiegelreflexkamera dafür hatte. Hrm... ich könnte auch einfach die Handtücher zusammenknüllen und mit Farbe überschütten, das war auch abstrakt und nicht aufwendig... und viel zu teuer. Dafür hätte ich auch einfach Wandfarbe hernehmen können.

Naja, mir würde schon was einfallen, wenn ich mich erst mal hinsetzte. Ich war mir ziemlich sicher, dass sich abstrakte Künstler bedeutend weniger Gedanke über ihre Werke gemacht hatten. Wahrscheinlich waren die meisten davon unter Drogen. Zumindest sahen ihre Arbeiten immer danach aus.

Ich ging motiviert und mit dem Wissen, dass ich mit meinem klaren, scharfen Verstand, einfach irgendwas hinkriegen musste, das besser war, als das was diese ganzen „Künstler“ so fabrizierten, gleich in Nicos Zimmer, als ich daheim angekommen war. Ich rief ein kurzes „Hallo!“ in die Wohnung und packte dann meine wenigen Farben und die Pinsel aus.

Ich breitete meine Beute vor mir aus. Etwas mager. Wäre ich Jäger und Sammler und hätte damit für das Überleben meines Clans sorgen müssen, ich wäre kläglich gescheitert. Aber heute war ja alles anders, heute bekam man ja auch schon ungefragt rosa Plastiktütchen. Hm, das könnte ich eigentlich aus lauter Frust auch als scheußliche Kunst verwerten. Muss ja nicht immer alles schön sein, was man so machte. Mein Blick fiel auf das Socken-Farb-Massaker. Ja, das Prinzip mit der Häßlichkeit hatte ich definitiv schon verstanden. Am besten sollte ich es einfach verbrennen, aber wahrscheinlich würden mich die giftigen Dämpfe einfach töten. Ich hatte schon immer gewusst, das Farben einfach heimtückische Biester waren. Ich hatte schon meine Gründe, warum ich selten etwas mit ihnen machte.

Ich beschloss, dass ich einfach meinen ganzen Hass auf Farben, ihren Preis, ihrer Bosheit Gestalt verleihen wollte und begann damit „Kunst“ zu machen. De facto sah das so aus, dass ich wie ein Irrer Farben auf alles schmierte, was mir in die Quere kam. Übrigens waren Handtücher echt nur leidlich zum Malen geeignet. Die raue Oberfläche sorgte dafür, dass man keinen vernünftigen Strich ziehen konnte und man eigentlich gezwungen war, etwas grobschlächtiges, rohes zu malen. Egal...

„Hey, das sieht stark aus.“ Nico hatte ohne, dass ich es bemerkt hatte den Raum betreten und deutete gerade auf ein zusammengeknülltes Handtuch, dass dem Kritiker-Tod gestorben ist. Es war die Faser nicht wert gewesen, aus der es hergestellt geworden war. Ich zog eine Augenbraue hoch und schaute Nico abwertend an. Der Satz war nicht sein Ernst gewesen, oder? Er grinste mich als Reaktion nur lässig an. Ihm war es egal, wenn ich nichts von seiner Meinung hielt. Manchmal war es fast unverschämt beleidigend, wie unwichtig ich ihm sein konnte.

„Tu es einfach in die Mappe, ich glaube, die stehen auf so kranken Scheiß. Das Handtuch sieht echt so aus, als hätte man es in die Organe von jemand reingedrückt, der gerade am Verbluten war“, erklärte er mir und ließ sich dann neben mir nieder. Er schaute mir genau wie Eddy immer wieder gerne dabei zu, wenn ich zeichnete oder mich anderweitig kreativ betätigte. Ich hatte nie ganz verstanden, was er daran so toll fand. Mich würde das eigentlich nur schrecklich langweilen. Aber solange er mich nicht beim Arbeiten störte, war es mir ziemlich egal.

„Ach genau, vorhin hat dein einer Freund angerufen...“ Mein einer Freund? Ich schaute verwirrt zu Nico, der auf seine Hände gestützt im Schneidersitz da saß und sehr entspannt aussah. Es kam selten vor, dass mich jemand anrief und dieser Satz irritierte mich gerade richtig.

„Wer?“, hakte ich nach.

„Eddy... Und er war ziemlich patzig. Ich glaube ja, er ist eifersüchtig auf mich.“ Noch immer hatte Nico diese relaxte Pose und ich wollte ihn gerade echt erwürgen für diese selbstgefällige Art!

„Eddy hat angerufen?! Wann?“ Mein Ton war lauter und unfreundlicher geworden, aber es tat mir kein Stück leid. Verdammt, sowas musste er mir sagen! Was dachte er sich eigentlich dabei?! Hatte er Angst, ich würde ihn sitzen lassen für Eddy?

„Vorhin als du weg warst...“ Er schaute mich arglos an, als wäre nichts dabei, dass er mir erst Stunden später Bescheid gab, dass sich mein bester Freund auf dessen Anruf ich schon seit Wochen sehnsüchtig wartete, gemeldet hatte.

„Gott, das war vor Stunden! Warum hast du mir nichts gesagt?!“, herrschte ich ihn aufgebracht an. Ich schmiss den Pinsel auf den Boden und stürmte zum Telefon, als hätte Eddy gerade eben erst aufgelegt und als wäre ich nicht schon viel zu spät. Ich wählte hektisch seine Nummer, meine Fingern fanden die Tasten dabei blind und ich lauschte ungeduldig dem nervtötende Freizeichen.

„Neufelder, hallo“, meldete sich endlich die Stimme von Eddys Mutter.

„Hey, hier ist Enni. Der Eddy hat vorhin angerufen und ich wollte fragen, ob er da ist.“ Meine Finger zwirbelten nervös am Telefonkabel herum. Er musste einfach da sein, jetzt würde alles wieder gut werden. Ich wusste es, ich konnte es spüren.

Eine Übertreibung ist eine Wahrheit, die ihre Ruhe verloren hat.

„Tut mir leid, Enni, er ist gerade weg gegangen. Soll ich ihm etwas ausrichten?“, entschuldigte sich Eddys Mutter. Scheiße, scheiße, so eine verdammte Scheiße. Das war nicht ihr ernst! Ich konnte ihn doch nicht um ein paar Minuten verpasst haben. Ich unterdrückte den Impuls gegen die Wand zu treten, weil das mir definitiv mehr weh getan hatte, als meine Wut unter Kontrolle zu bringen.

„Wo wollte er denn hin?“, riss ich mich zusammen. Vielleicht war er ja gerade unterwegs zu mir, weil er nichts von mir gehört hatte und unbedingt mit mir reden wollte. So war es bestimmt.

„Ich glaube zu Marcel, die wollten heute noch irgendwo hin.“

„Okay, danke. Schönen Tag noch“, verabschiedete ich mich, bevor ich ausfallend wurde. Ich war so unglaublich sauer, wütend, frustriert. Das konnte doch nicht wahr sein! Da meldete sich Eddy endlich von alleine wieder, die erste Chance seit Wochen, wieder alles gerade zu biegen und dann verbockte es mir Nico. Verdammte Kacke! Ich schlug mit der Faust gegen die Wand, meine Kontrolle war weg. Er verstand doch überhaupt nicht, was Eddy eigentlich für mich war. Nico war ein billiger Zeitvertreib im Vergleich zu ihm. Gott, er hatte mir doch mit Absicht nicht Bescheid gesagt, dieses Arschloch! Ich riss die Türe zu seinem Zimmer auf, wo er noch auf dem Boden saß und sich über eine Malerei von mir gebeugt hatte. Scheiße, war ich sauer.

„Was denkst du dir eigentlich, du gottverdammtes Arschloch!“, schrie ich ihn an und es war mir egal, dass die Nachbaren mich hören konnten. Nico schaute völlig perplex in meine Richtung, so als hätte er keine Ahnung, was er gerade angerichtet hatte. Heuchler. Flachwichser!

„Was zur Hölle ist dein Problem?!“, fragte er mich in einem Tonfall, als wäre ich ein Gestörter. Ich packte ihm am Kragen und zog ihn zu mir hoch, was bei seiner Winzigkeit eh nicht viel ausmachte. Verfickter, dummer, kleiner Zwerg!

„Du, du bist mein Scheißproblem!“, brüllte ich ihm die volle Wahrheit ins Gesicht. Wäre er nicht gewesen, hätte sich das zwischen mir und Eddy schon längst geregelt. Warum war mir das eigentlich nicht früher aufgefallen?! Hätte ich nur nie in meine Wohnung gelassen! Er schnorrte sich hier doch eh nur durch.

Nico packte meine Hand und riss sie grob von seinem Kragen, um mich schließlich ganz weg zu schubsen. Ich taumelte linkisch ein paar Schritte nach hinten, da ich nicht erwartet hatte, dass sich Nico tatsächlich wehrte.

„Ich hab keine Ahnung, was los ist, aber zieh mich bloß nicht in diese beschissene Eddy-Sache mit rein!“ Seine Hände waren zu Fäusten geballt und er sah so aggressiv aus, wie noch nie. Ich machte trotzdem einen Schritt auf ihn zu, vielleicht um ihn einzuschüchtern oder einfach um ihm zu zeigen, dass ich vor so einem Winzling definitiv keine Angst hatte. Er wich tatsächlich einen Schritt zurück, hatte aber immer noch diesen grimmigen Gesichtsausdruck.

„Du hast dich da doch zu erst eingemischt mit deiner Scheiß-Eifersucht!“ Er war es doch, der auf Eddy eifersüchtig war. Warum sollte auch Eddy sich irgendwelche Sorgen machen, dass Nico für mich wichtiger war? Nico war Dreck. „Bloß weil ich so bescheuert war und dich hier hab wohnen lassen, bildest du dir sonst was auf uns ein!“

„Ich bilde mir gar nichts auf uns ein!“, protestierte er, klang dabei aber so, als würden ihm gerade alle Felle davon schwimmen. Du warst so ein schlechter Lügner!

„Solltest du auch nicht, du warst für mich sowieos nichts anderes als ein rechter Hand Ersatz!“ Nico brauchte gar nicht denken, dass der Sex mit ihm irgendwas besonderes war ohne das ich nicht auskommen würde. So gut war der Sex mit ihm sowieso nie gewesen...

„Krepier doch!“, schrie er mir ins Gesicht, stieß mich bei Seite und stürmte aus dem Zimmer. Ich donnerte gegen die Wand und starrte ihm nach, wie er aus der Wohnung verschwand. Sollte er sich doch verpissen! Wer brauchte schon Nico?!

Ich fuhr mir durch die Haare und sank an der Wand herab. Gott, fühlte ich mich jetzt erschöpft, fast so, als hätte dieser kurzer Disput all meine Energie ausgesaugt. Es war doch nur Nico, es war doch scheißegal, wenn er sauer auf mich war. Zu dem hatte er Mist gebaut und nicht ich. Verdammt nochmal, er hatte mir die Sache mit Eddy total verbockt. Ich musste unbedingt mit Eddy sprechen! Und zwar so schnell wie möglich. Fuck, was war, wenn er jetzt dachte, ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben, weil ich nicht gleich zurück gerufen hatte?! Würde er es verstehen, wenn ich ihm sagen würde, dass es Nicos Schuld war?! Gott, er verstand nicht mal, warum ich überhaupt mit dem Typ vögelte. Okay, das verstand ich selbst nicht, aber im Moment bereute ich es. Wäre Nico nicht gewesen, hätten Eddy und ich uns schon wieder längst versöhnt. Und Nico war der ganze Stress definitiv nicht wert gewesen... Ich merkte, wie noch immer die Wut in mir brodelte und sie ließ nicht nach, solange ich in seinem Zimmer saß und seinen Kram vor mir liegen hatte, seine Bücher, seine Klamotten, die Matratze, auf der er nie schlief und sein Aschenbecher. Ich rappelte mich auf, kickte den Aschenbecher weg, so dass sich die Asche und die Zigarettenstumpel darin auf dem Boden verteilte und schlug dann die Tür laut knallend hinter mir zu. Nico war ein Vollidiot. Ich wollte jetzt Eddy sehen.

Was hatte seine Mutter gesagt? Er war bei irgendeinem Kumpel, Manuel, Marcel? Hm, wenn er mit denen wegging, gingen sie meistens ins Murphys. Da musste man nicht tanzen, sondern stellte sich cool zu einem Mädel an die Bar, deswegen gingen sie dort lieber hin, als ins Su Casa, die Mädchen dort wollten keine feschen Tänzer, sondern Typen, die einem einen Drink spendierten. Ich mochte das Murphys von der Atmosphäre, aber nicht von den Mädchen.

Egal, ich wollte da nicht wegen einem Mädchen hin, sondern wegen Eddy, der einfach dort sein musste. Dann würde ich das alles hinbiegen und alles wäre wieder in Ordnung. Alles Roger. Ich biss mir die Lippe blutig, als ich nach meinen Schlüsseln suchte, um endlich aus der Wohnung zu können. Wir hatten erst halb acht und Eddy würde mit seinen Kumpels frühstens um Neun im Murphys erscheinen, aber ich wusste weder wo Manuel oder Marcel wohnten, noch wollte ich ihn dort sprechen. Wenn ich früh genug in dem Club war, war es auch leichter Eddy abzufangen.

Ich wusste noch nicht ganz, was ich zu ihm sagen sollte. Aber „Hey, du hast heute angerufen!“, war bestimmt ein guter Einstieg. Immerhin musste Eddy ja auch einen Grund gehabt haben, warum er sich bei mir gemeldet hatte. Ich fragte mich welcher, aber wahrscheinlich wollte er sich einfach entschuldigen. Bestimmt war ihm mittlerweile klar, was für eine dumme Kuh Sophie war und es tat ihm leid, dass er sich mir gegenüber etwas unfair verhalten hatte. Naja, solange er mir keine Vorhaltungen wegen Nico machte, war mir sowieso alles Recht. Über Nico wollte ich heute keinen Ton mehr hören, ich war immer noch sauer auf ihn.

Übel gelaunt kickte ich einen Stein, der vor mir lag, weg und beobachtete wie er auf die Straße hopste und dort dann liegen blieb. Verdammt, jetzt konnte ich ihn nicht nochmal treten. Beschissener Stein, beschissener Nico.

Der Verkehr nahm etwas zu und es waren immer mehr Jugendliche auf der Straße, als ich mich der Innenstadt näherte. Klar, Samstagabend, da wollte jeder vernünftige Mensch mit Hormonüberschuss Party machen. Mir war nicht nach feiern, ich wollte endlich wieder mit Eddy reden. Ich vermisste es mit ihm vor dem Fernseher rumzulümmeln, während wir ein Sixpack Bier tranken und uns über irgendwelche häßlichen Menschen, die dort auf der Mattscheibe flimmerten, lustig machten. Ich wollte, dass er wieder vor meiner Tür stand, mit einem breiten Grinsen und mir dann von seinem Tag erzählte, weil es ihm wichtig war, dass ich an seinem Leben teil haben konnte. Ich wollte einfach, dass er wieder bei mir war.

Ich merkte erst, dass ich völlig abgeranzt aussah, als ich kurz vor dem Murphys meine Spiegelung in einem Schaufenster sah. Ich blieb vor dem Schaufenster stehen und starrte mich an. Kacke, ich hatte immer noch die Klamotten an, die ich schon beim Malen getragen hatte. Die Hose hatte in jedem Fall auch schon bessere Tage gesehen und das T-Shirt war definitiv nicht frisch gewaschen. Und ich hatte Farbe im Haar und im Gesicht. Das einzige, was tragbar aussah, war die Jacke, die ich in all meiner Weisheit angezogen hatte, da es draußen mittlerweile frischer war als noch vor ein paar Wochen. Scheiße, so konnte ich doch nicht Eddy gegenüber treten. Ich sah aus wie so ein dummer Straßenkünstler, der nichts konnte, als sein bisschen Talent am Straßenrand zu verschachern. Eddy konnte solche Leute nicht ausstehen.

Scheiße, an meinen Klamotten konnte ich jetzt auch nichts mehr ändern. Ich versuchte nur mir die Farbe vom Gesicht zu kratzen, was mehr oder weniger funktionierte. Aus den Haaren bekam ich das Zeug auf die Schnelle allerdings nicht raus. Wie war die überhaupt da rangekommen? Farbe gehörte auf den Pinsel, auf... die Handtücher, aber doch nicht auf mich. Lebende, wandelnde, verschandelte Kunst, das war ich, oder?

Ich zupfte noch an einer Haarsträhne an der Farbe hing und seufzte resigniert. Eddy musste mich auch so akzeptieren, ich steigerte mich viel zu sehr in die Sache rein. Er kannte mich, er wusste, dass ich kein Schnorrer war, kein Straßenkünstler.

Ich hörte hinter mir zwei Mädchen kichern und sah sie in der Spiegelung vorbei gehen. Sie lachten über mich, würde ich auch, wenn ich mich gerade so sehen würde. Ich hoffte nur, die wollten nicht auch ins Murphys. Sahen aber nicht so aus, das waren Mädels, die tanzen wollten. Zumindest sagte deren Outfit mit den viel zu kurzen Röcken das.

Ich wartete bis sie um die Ecke bogen und ich nicht mehr ihr Gekicher hören musste. Das Murphys lag zum Glück in der anderen Richtung. Ich schob meine Hände tief in meine Hosentaschen und vermied es auf den letzten Metern noch einmal in ein Schaufenster zu sehen. Einmal hatte gereicht.

Ich stiefelte die paar Stufen zu dem Club runter und ärgerte mich, als mich der Türsteher aufhielt. Ausweiskontrolle? Der wollte mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass er dachte, ich sei unter 18? Nicos Mutter hatte mich ja auf Ende zwanzig geschätzt, was allerdings auch nicht viel besser war. Angepisst kramte ich meinen Ausweis aus meinem Geldbeutel und zeigte ihn vor.

Der Typ hielt ihn mit zusammengekniffen Augen dicht vor sich und starrte mit einem grimmigen Blick auf das Geburtsdatum, auf das Passfoto und dann schaute er kurz mich an. Ja, ich war derselbe, wie das Kerlchen mit dem kurzen Haaren und dem hinreißenden Lächeln. Kaum zu glauben, nicht?

Er winkte mich durch und ich konnte endlich rein. Ich konnte mich gar nicht erinnern, dass sie im Murphys Ausweiskontrollen hatten. War aber schon eine Weile her, seit ich hier gewesen war.

Ich ging gleich zum langen Tresen, an dem noch nicht viel los war. Außer eine Gruppe von Jungs, die sich wohl schon besaufen wollten, bevor hier überhaupt wer Interessantes auftauchte, belästigte auch noch niemand die Barkeeperin.

Ich wartete aber geduldig, bis sie deren Bestellungen erfüllt hatte und winkte ihr dann mit einem Lächeln zu. Ihr Gesicht kam mir bekannt vor, sie arbeitete schon seit einer Weile hier. Wie hieß sie noch gleich? Angelika? Ja, irgendwie sowas. Ich hatte mal mit ihr rumgeknutscht, fiel mir ein. Aber nicht hier, sondern in irgendeinen anderem Club, in dem sie nicht arbeitete. Sie lächelte, als sie mich erkannte. Ich grinste zurück, ob das Grinsen reichte, dass sie mich auf etwas einlud? Ich hatte nicht wirklich Kohle dabei, war ja alles für die Scheiß-Farben drauf gegangen.

„Hey, Enno, du warst ja ewig nicht mehr hier!“, begrüßte sie mich und umarmte mich kurz über den Tresen hinweg, als wären wir alte Freunde. Manche Mädchen waren so. Man musste nur mal drei Worte mit ihnen gewechselt haben, schon war man mit ihnen ganz dicke. Ganz zu schweigen, wenn man ihnen mal die Zunge in den Hals gesteckt hatte. Ich lächelte aber trotzdem, eigentlich war sie ja ganz nett.

„Hatte viel zu tun“, log ich und fand, dass ich dabei cool klang. Jungs, die nicht immer Zeit hatten, fanden Mädchen klasse. Warum, hatte ich nie ganz verstanden.

„Ja, sieht man.“ Ihr Blick glitt über meine Klamotten und ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie peinlich mir mein Aufzug war. Hey, ich war kreativ, ich war Künstler, ich durfte so aussehen.

„Naja, ich hab bis eben noch gemalt. Sag mal, kannst du mir Bescheid geben, wenn du Eddy siehst?“, wechselte ich das Thema. Angelika musste ja mitbekommen, wenn er hier war. Immerhin bediente sie den Tresen. Ich hoffte nur, sie wusste überhaupt wie er aussah. Ich war mir nicht sicher, ob sie sich schon mal wirklich begegnet waren.

„Eddy?“, fragte sie nach und ich seufzte. Okay, sie hatte keinen Schimmer, wer er war. Naja, was soll´s.

„Nicht so wichtig.“ Ich winkte ab und bestellte schließlich eine Rumcola, auf die sie mich dann tatsächlich einlud, als ich ihr total überrascht mitteilte, dass ich irgendwie kein Geld bei mir hatte. Ich war mir doch so sicher gewesen, dass da noch fünf Euro drin sein müssten. Ja, ja, wer´s glaubt, war selbst Schuld. Naja, vielleicht erhoffte sie sich einfach was davon, wenn sie mir etwas spendierte. Manchmal war es schon ganz praktisch, so einfach mit Mädchen klar zu kommen. Ich hatte nie so ganz verstanden, warum andere Kerle immer so ein wahnsinniges Problem damit hatten. Sie waren unkompliziert, solange man nicht zu nett zu ihnen zu war. Nettsein war der absolute Untergang, wenn man ein Mädchen wollte. Zumindest war das meine Erfahrung. Und wenn man ein netter Kerl war geriet man an Mädchen wie Sophie und wer wollte schon so eine?! Bah, dumme Schnepfe.

Ich nahm einen großen Schluck von meinem Getränk und wartete. Eddy musste heute einfach kommen, das war er mir schuldig. Verdammt, ich hoffte nur, ich saß nicht in der falschen Bar. Aber er hatte mir erzählt, dass er mit Manuel immer ins Murphys ging. Er würde das bestimmt nicht in den letzten Wochen geändert haben, hoffte ich zumindest.

Hatte ich schon mal erwähnt, wie sehr ich es hasste zu warten? Ich tippte nervös mit dem Fuss auf dem Boden und nippte all paar Sekunden an meinem Drink. In dem Tempo war er demnächst leer. Ich wusste allerdings nicht, was ich sonst tun sollte. Angelika war zu beschäftigt, um sich weiter mit mir zu unterhalten. Außerdem wusste ich sowieso nicht, über was ich mit ihr reden sollte. Mein Leben war momentan nicht sonderlich spannend, eigentlich hauptsächlich nurdeprimierend und etwas zu seltsam, als das ich mit jemand darüber reden wollte. Das mit Nico ging niemand etwas an und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Mädchen darauf standen mit einem Typ zu schlafen, der sich auch schon mal von einem Kerl hat flach legen lassen. Ich war definitiv nicht verklemmt, was Sex anging. Aber ich brauchte mein Initimleben vor niemand auszubreiten, schon gar nicht vor irgendwelchen Mädchen, die ich hoffentlich nicht mehr als einmal sehen musste.

Die Eiswürfel in meinem Glas klirrten und berührten meine Lippen, als ich den letzten Schluck trank. Die kühle Berührung ließ mich kurz an Nicos Küsse denken. Sie hatten aber anders geschmeckt, nie süß, sondern immer etwas nach Tabak. Ich hatte den Geschmack sowieso nie sonderlich gemocht.

Mann, wo blieb Eddy? Der Laden wurde langsam voller und ich hatte die Leute, die durch den Eingang kamen immer genau im Blick, aber nie war er dabei. Ich saß hier mittlerweile schon eine dreiviertel Stunde mit einem leeren Glas und wartete. Ein paar Gesichter kamen mir vage bekannt vor, aber niemals waren es die vertrauten Züge von Eddy. Scheiße, was war, wenn er heute wirklich nicht hier her kam? Dann machte ich mich hier gerade zum Affen, wie ich all diese Neuankömmlige mit meinem Blick taxierte. Angelika hatte mich vorhin auch schon ganz komisch angesehen. Warten war definitiv nicht cool. Ich war im Moment nicht cool. Ich war nervös, hibbelig, gestresst. Ich wollte das Eddy jetzt endlich da war. Irgendwann hielt ich es einfach nicht mehr auf dem dummen Barhocker aus und stand auf, um dann etwas ratlos im Raum zu stehen. Ich wurde von anderen Leuten angerempelt, denen ich offensichtlich im Weg stand und ich hätte am liebsten jemand einfach nur geschubst, um meinen Frust Platz zu machen. Aber so bescheuert war ich dann auch wieder nicht, außerdem würde das nur Stress bedeuten. Und ich brauchte definitiv nicht noch mehr davon.

Gerade als ich mir einen Platz an einem Tischchen suchen wollte, um nicht noch einen Ellbogen in den Magen gerammt zu bekommen, entdeckte ich endlich jemand, den ich kannte. Marcel, Manuel oder wie auch immer er hieß. Auf jeden Fall der Kumpel von Eddy, auf den ich gewartet hatte. Da war Eddy bestimmt nicht weit. Ich hielt nach ihm Ausschau, entdeckte ihn aber so spontan nicht. Also ging ich auf Manuel zu, der noch von zwei Kumpels begleitet wurde.

„Hey!“, begrüßte ich sie und bekam wenig begeisterte Blicke zu geworfen. Ich erinnerte mich noch vage, dass sie nie gerne mit mir weg gegangen sind, weil sie sich neben mir doof vorkamen. Naja, ich konnte ja nichts dafür, dass sie kein Selbstbewusstsein hatten.

„Hey...“, kam es schließlich von Manuel. Er konnte mich ja schlecht ignorieren, wenn ich direkt vor ihm stand.

„Sag mal, ich such Eddy, wisst ihr, wo er ist?“ Es war zwar irgendwie peinlich, dass gerade ich, sein bester Freund, diese Typen nach seinem Verbleib fragen musste, aber mir blieb ja im Endeffekt nichts anderes übrig, wenn ich jetzt noch mit ihm sprechen wollte. Ich bemühte mich, dabei lässig auszusehen, so als wäre mir ihre Antwort relativ egal. Ich gab mir vor irgendwelchen Bekannten sicher keine Blöße.

„Eddy? Keine Ahnung...“ Manuel zuckte mit den Schultern und ich ärgerte mich. Wie, keine Ahnung? Seine Muter hatte gesagt, dass Eddy bei ihm war.

„Wollte er heute nicht zu dir?“, hakte ich nach. Ich war doch nicht extra hier her gekommen, um dann am Ende ohne Eddy da zu stehen.

„Nee, der wollte zum Marcel, glaub ich.“ Er schaute fragend in die Runde und die anderen zwei, schauten nur desinteressiert. Danke auch, ihr Wichser.

„Oh, okay. Ihr wisst nicht zufällig, wo die hinwollten?“ Ich kam mir gerade wirklich dumm vor. Eddys Mutter hatte doch Manuel gesagt, oder? Scheiße, ich hätte besser zuhören sollen. So eine Kacke.

„Nee, keinen Schimmer.“ Ja, ja, das dachte ich mir schon. Wäre ja auch mal eine Überraschung, wenn sie hilfreich wären. Ich war gerade wirklich genervt.

„Hm, okay... Naja, ich werd dann mal“, verabschiedete ich mich, da ich keinen Bock mehr auf ihre Fressen hatte. Mann, und jetzt? Das war wirklich beschissen, ich war mir so sicher gewesen, dass Eddy hier sein würde. Keine Ahnung, was ich nun machen sollte. Wenn Manuel nicht Marcel war, wusste ich nicht, was Eddy gerne mit dem richtigen Marcel unternahm. Ich hatte sowieso kaum Überblick über Eddys Freundeskreis, einfach, weil es mich nie sonderlich interessiert hatte.

Ich verließ das Lokal und stellte draußen fest, dass ich meine Jacken drinnen liegen gelassen hatte. Mah, ich hasste es, so verpeilt zu sein. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck drehte ich mich wieder um, ignorierte den Türsteher, der mich zum Glück kein zweites Mal nach meinen Ausweis fragte, und stiefelte zurück.

Meine Jacke hing noch über den Barhocker, an dem ich die ganze Zeit gewartet hatte und gerade, als ich sie griff, traf mich Angelikas Lächeln. Ich blieb daran hängen und erwiderte es. Ihre Schicht würde noch eine halbe Stunde dauern, bis zum Ende der Happy Hour. Ihr Lächeln war einladend und eine halbe Stunde nicht solange, wenn man sowieso nichts anders mehr tun konnte.

Ich wusste nicht, wo Eddy war und ich hatte keine Lust die Clubs in der Stadt nach ihm abzuklappern, am Ende hatte er nämlich einfach einen Zockabend bei Marcel und war gar nicht außer Hauses. Ich war echt ein Idiot gewesen, dass ich ernsthaft angenommen hatte, ihn einfach abfangen zu können.

Ich wollte mich nicht wie ein Idiot fühlen, ich wollte auch nicht alleine in meine Wohnung zurück. Angelika mitzunehmen war okay. Nico war doch sowieso nicht da, also interessierte es niemand. Ich beobachtete noch, wie sie von ein paar Leuten die Bestellungen entgegen nahm, immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Sie war ganz hübsch mit ihren brünetten, halblangen Haaren, die sie hochgesteckt hatte und dem Lippenpiercing, das immer wieder aufblitzte. Ich hatte schon lange nicht mehr mit einem Mädchen geschlafen, wurde mal wieder Zeit, oder?

Sie rief mir noch zu, das ich vorne draußen auf sie warten sollte und verschwand dann hinter der Tür auf der „Zutritt nur für Personal“ drauf stand. Gut, dann war es heute Abend eben Angelika und nicht Nico. Wo war da schon der Unterschied?!

Ich stand in der Kälte und starrte in den Nachthimmel, während ich wartete. Es war zu hell in der Stadt und man konnte kaum Sterne entdecken. Mich befielen keine nostalgischen, wildromantischen Gefühle. Mir war einfach nur kalt.

Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen.

Der Körper neben mir war ungewohnt warm und irgendwie weicher, als sonst. Ich brauchte einen Augenblick, bis mir klar wurde, dass nicht Nico neben mir lag. Seltsam, wie schnell man sich an jemand gewöhnen konnte. Da Angelika noch schlief, blieb ich einfach liegen und starrte an die Decke. Der gestrige Tag war defnitiv nicht so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt hatte.

Nicht mal den Sex hatte ich so genoßen, wie ich es erwartet hatte. Sie war nicht er und sowieso viel zu zimperlich. Ich hatte mich zusammenreißen müssen. Unter Kontrolle bleiben, wenn man es am wenigstens wollte.

Ihre Körper so nah an meinem wurde mir zu viel. Ihre Haut brannte auf meiner und das Bett war von dieser Nähe überhitzt. Ich schob mich vorsichtig aus dem Bett, achtete darauf, dass sie nicht aufwachte. Ich wollte jetzt einen Kaffee, den ich dann genüßlich am offnen Fenster in der Küche trinken würde. Die kühle Luft würde mir sicher gut tun und mir wieder etwas Ruhe geben.

Als ich in der Küche stand, fiel mir erstmal auf, das hier was fehlte, die Kaffeemaschine. Stimmt ja, die hatte Nico für mein Wohl weggeräumt. Ob das Kaffeeverbot unter diesen Umständen auch noch galt? Das unruhige Rumoren in meinem Magen sagte mir, dass es ihm ziemlich egal war, ob Nico hier war oder nicht. Er wollte keinen Kaffee, ich schon, aber ich wiederum wollte nicht in sein Zimmer gehen. Also nahm ich mir einen Naturjoghurt aus dem Kühlschrank, dessen Verpackung sich angenehm kühl auf meiner Haut anfühlte, allerdings ziemlich bescheiden schmeckte. Warum hatte ich aus lauter Geiz auch unbedingt einen ohne Geschmack gekauft?! Das war doch widerlich.

Unzufrieden löffelte ich den Becher in drei Bissen leer und schmiss den Joghurtbecher, samt Löffel in das Spülbecken. Ich würde das nachher noch wegräumen.

Ich wollte gerade wieder ins Zimmer, als sich der Schlüssel im Schloss drehte und mir ein etwas überrascht aussehender Nico gegenüber stand. Er hatte wohl nicht gedacht, dass ich gerade im Flur stehen würde. Ich für meinen Teil war irritiert, dass er überhaupt hier war. Ich merkte, dass ich immer noch einen leichten Ärger in mir spürte, vor allem, weil ich Eddy gestern nicht mehr erwischt hatte. Aber es war lang nicht mehr diese unbändige Wut, die mir selbst manchmal Angst machte.

„Morgen“, grüßte er mich und mied dabei meinen Blick. Der Streit gestern war definitiv häßlich gewesen, es war irgendwie unangenehm ihm jetzt so gegenüber zu stehen. Ich fühlte mich kurz aus einem unerfindlichen Grund schuldig, einfach weil Nico aussah, als hätte er eine bedeutend schlimmere Nacht gehabt, als ich.

„Morgen“, würgte ich schließlich auch heraus und wir standen unbehaglich im Flur. Jemand musste etwas sagen, die Situation entschärfen. Normal hatte ich dieses Problem mit Nico nicht, ich musste bei ihm nicht sensibel sein und es war immer egal gewesen, was ich gesagt hatte. Aber zur Zeit war irgendwie nichts mehr normal. Es schien mir einfach alles aus dem Ruder zu laufen und wie ich jetzt vor Nico stand, er mit seinen unwilligen, grimmigen Gesichtsausdruck, ich mit Kratzspuren von Angelikas Nägeln auf dem Rücken, hatte ich das Gefühl, als würde in meinem Leben gerade etwas gehörig schief laufen.

„Uhm... könnte ich vorbei ins Zimmer, ich bin müde“, sagte Nico schließlich. Offensichtlich wollte er im Moment keine wichtigen Unterhaltungen führen, sollte mir recht sein. Ich ging ein Schritt bei Seite und beobachtete mit einem dumpfen, leeren Gefühl, wie er die Türklinke zu meinen Zimmer runterdrückte und den Raum betrat. Ich hätte „Halt“ rufen sollen, ich hätte ihn davon abhalten sollen, den Raum zu betreten. Angelika lag dort noch nackt im Bett. Ich tat es nicht, stand nur im Flur und rührte mich nicht. Er sagte etwas zu ihr, sie antwortete ihm. Es drang nicht richtig zu mir durch, was sie miteinander sprachen. Er verließ den Raum, schloss die Türe leise und ging in sein Zimmer ohne den Blick zu heben, er schaute mich nicht mal mehr an. Erst, als seine Tür ins Schloss fiel, kamen die Geräusche zurück.

Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was jetzt los war. War er verletzt wegen Angelika, noch sauer wegen Eddy? Gab es Grund dazu? Oder wollte er einfach nicht stören? Er wusste doch, dass wir nie mehr gewesen waren als, naja, Kumpels, die mal Sex hatten. Es war nie etwas verbindliches gewesen, Angelika durfte nicht das Problem sein. Ihre Kratzer brannten auf meinem Rücken.

Ich schüttelte kurz den Kopf. Nico musste seine Grenzen kennen und ich war irgendwo immer noch angepisst wegen der Eddy-Sache. Er hätte sich wenigstens bei mir entschuldigen können. Ihm hätte doch klar sein müssen, wie wichtig das alles für mich war. Und das Angelika hier war, war mein gutes Recht. Ich hatte ihn ja auch nicht gefragt, was er letzte Nacht so getrieben hatte oder mit wem.

Ich blieb trotzdem noch mal kurz vor seinem Zimmer stehen und starrte die Tür für einen Augenblick an, dann wandte ich mich um und ging zu Angelikas Wärme.

Sie lächelte mich verschlafen an, ihre brünetten Haare standen ihr wild ab und es blitzte nackte Haut unter der Decke hervor.

„Dein Mitbwohner war ganz schön schlecht drauf...“, meinte sie und ich würde ihr gerne sagen, dass sie die Klappe halten sollte. Aber das konnte ich nicht zu ihr sagen, sie war nicht Nico und sie meinte es nicht böse. Ich legte mich wieder zu ihr unters Bett und zog sie an mich. Ihr Körper schmiegte sich weich an und mich umhüllte ihr sanfter Mädchenduft. Ich schloss die Augen und versuchte einfach den ganzen Ärger zu verdrängen. Es war noch viel zu früh am Morgen, ich wollte mir im Moment über nichts Gedanken machen.

Probleme hatten sowieso die Angewohnheit sich nicht von selbst zu lösen, also war es egal, ob ich mich jetzt darum kümmerte oder nicht. Im Moment konnte ich wenigstens noch diesen Körper an meinem genießen.

Ich schreckte irgendwann aus meinem leichten Schlaf auf, als sich Angelika neben mir rührte. Sie hatte mir einen kurzen Kuss auf die Wange gegeben und saß jetzt aufrecht im Bett, trug aber schon ihre Unterwäsche.

„Hey“, murmelte ich müde und rieb mir über die Augen. Ich fragte mich, ob Nico überhaupt hier gewesen war. Ich fühlte mich so, als wäre ich gerade erst aufgewacht.

„Guten Morgen!“ Angelika strahlte mich gut gelaunt an und ich beneidete sie ein bisschen darum, dass sie direkt nach dem Aufwachen so fit war. Ich war eigentlich noch zwei Stunden später kaum ansprechbar. Ich erwiderte ihr Lächeln, einfach weil ich ihre Anwesenheit gerade als sehr angenehm empfand. Sie war wirklich okay und offensichtlich unkompliziert.

Sie hob ihr schwarzes Shirt vom Boden auf und zog es leider schon über. Sie hätte ruhig noch eine Weile ohne rumsitzen können, dagegen hätte ich definitiv nichts gehabt.

Gerade als sie ihre Haare aus dem Kragen gezogen hatte, viel ihr Blick auf meinem Zeichenblock, der immer griffbereit neben meinem Bett lag.

„Darf ich?“, fragte sie mich, während sie den Block schon auf ihren Schoß legte.

„Klar.“ Dafür waren Zeichnungen schließlich da, dass sich das jemand angucken konnte. Ich hasste Zeichner mit falscher Bescheidenheit, ich mochte es, wenn sich andere für meinen Kram interessierte. Immerhin war das etwas, worauf man stolz sein konnte.

Ich setzte mich auf, um ihr über die Schulter zu sehen, während sie durch den Block blätterte. Sie blieb an der gleichen Aktzeichnung hängen, wie damals die Typen bei der Mappenberatung. Offensichtlich ein Eye-Catcher.

„Ist das dein Mitbewohner?“, kam es etwas irritiert von ihr. Allerdings nahm sie das Bild ziemlich genau unter Augenschein.

„Jub“, bestätigte ich ihr. Es freute mich, dass sie ihn erkannt hatte. Das sprach definitiv für die Arbeit.

„Hm, okay... ist das nicht etwas schräg seinen Mitbewohner nackt zu zeichnen?“ Sie blätterte weiter, so dass sich ihr noch mehr Zeichnungen zeigten. Ich mochte es wirklich ihn zu zeichnen, stellte ich fest. Ich hatte sonst nur von Ekatarina soviele Bilder, selbst von Eddy gab es weniger. Aber ihm war das immer peinlich, wenn ich versuchte ihn zu porträtieren.

„Nico und ich haben was miteinander, da ist das nicht so das Ding.“ Ich dachte mir nicht viel dabei, als ich Angelika das erzählte. Sie machte einen lockeren Eindruck auf mich, außerdem hatte sie mit meinem Freundeskreis rein gar nichts zu tun und ich musste mir keine Sorgen machen, dass sie es irgend jemand weitererzählte. Als Reaktion bekam ich auch nur ein amüsiertes Lachen.

„Okay, das kam unerwartet, siehst nicht nach so einem Typ aus. Er ist aber ganz schnuckelig.“ Gerade war sie bei dem Bild angekommen, auf dem er schlafend zu sehen war. Naja, die Zeichnung beschönigte einiges.

„Hm, ich weiß nicht, ob es das ganz trifft...“ Nico war zwar klein, aber sonst weder von der Art noch von seinem Äußeren irgendwie niedlich. Wahrscheinlich hätte ich ihn dann auch nicht angerührt. Ich stand nicht auf niedlich, auch nicht bei Mädchen. Ich wollte jemand mit Selbstbewusstsein und Charakter und davon hatte Nico manchmal zu meinem Leidwesen mehr als genug.

„Er is aber nicht schlecht drauf wegen mir, oder?“, kam es plötzlich etwas besorgt von ihr. Ich schüttelte aber den Kopf. Nein, Nico war definitiv nicht deswegen so mies gelaunt. Ich wollte ihr aber nicht eklären, an was es lag. Das ging sie dann doch nichts an.

„Okay, dann is ja gut. Ich will hier ja niemand dazwischen funken, oder so.“ Es klang sogar ehrlich gemeint. Irgendwie machte sie das sympathischer.

„Nee, keine Sorge, das passt schon.“ Nico und ich waren ja nicht zusammen, also alles bestens. Niemand musste sich wegen der Sache irgendwie Gedanken machen.

Angelika klappte den Block schließlich zu und legte ihn wieder zurück auf das Nachttischchen. Dabei fiel wohl ihr Blick auf den Wecker, da sie plötzlich hektisch aufsprang und nach ihrer Hose griff.

„Verdammt, ich komm zu spät!“, fluchte sie und schloss den Knopf ihrer Jeans. Dabei konnte man ihren hellen, flachen Bauch sehen und ich fand es etwas Schade, dass sie jetzt schon weg musste. One-Night-Stands eben, sie machte ihren Standpunkt klar. Sie suchte noch schnell den wenigen Kram, den sie dabei gehabt hatte, zusammen und ich bekam nicht mal einen Abschiedskuss, als sie ging. „Hat Spaß gemacht mit dir!“

Und weg war sie. Ich seufzte und ließ mich wieder ins Bett fallen. Wurde ich langsam sentimental, dass ich es jetzt als Schade empfand, dass sie einfach gegangen war? Ich hätte gerne noch jemand gehabt, mit dem ich etwas kuscheln konnte oder zumindest zusammen fernsehen. Klang total nach Weichei, das wurmte mich und der Umstand, das Nico weiterhin in seinem Zimmer schmollte. Er war so albern.

Gut, wir hatten uns gestern gestritten, aber das war doch kein Grund sich jetzt weiter im Zimmer zu verkriechen. Ein Sorry von seiner Seite und die Sache wäre erledigt. Aber schön, wenn er sich lieber alleine auf seiner Matratze flänzte, als mit mir fernzusehen war das seine Sache. Wahrscheinlich verpestet er sowieso gerade seine Luft mit Zigarettenqualm. Mir immer vorhalten, wie ungesund ich lebte und sich selbst mit dem Rauchen vergiften, soviel zu Doppelmoral. War mir doch egal. Ich würde jetzt bestimmt nicht zu ihm rüber gehen und ihn um Gesellschaft anbetteln. Vielleicht war ich manchmal ein bisschen armselig, aber so tief würde ich dann doch nicht sinken. Zu dem sollte er sich bei mir entschuldigen und nicht andersrum.

Ich merkte, wie meine Verärgerung wuchs, je länger Nico in seinem Zimmer saß und nicht zu mir kam. Was sollte das überhaupt? Wir waren doch keine kleinen Kinder mehr, die nicht miteinander reden konnte. Wütend zappte ich durchs Programm, als könnte es etwas für Nicos Verhalten, hatte meine Augenbrauen zusammen gezogen, war genervt von den stupiden Sendungen. Ich schmiss die Fernbedienung frustriert auf das Nachttisch und starrte angepisst auf die Mattscheibe. Gott, wenn er nicht gleich rüber kommen würde... das war doch lächerlich. Er war schon drei Stunden in seinem Zimmer, in dem es nichts gab außer dem Aschenbecher und meinen häßlichen Malereien. Das musste doch langweilig sein. Es war eigentlich fast schon kränkend, dass er dieses dumme Zimmer mir vorzog. Ich trat den Nachttisch schlecht gelaunt, stieß dabei den Wecker um, der mit einem empörten Pieps auf den Boden prahlte und stand dann auf. Das war kein Zustand, wenn er nicht zu mir kommen wollte, würde ich eben zu ihm gehen.

Ich riss seine Tür mit viel Schwung auf und setzte dazu an, ihn anzublaffen. Aber dafür hätte jemand im Raum sein müssen. Nico war nicht im Zimmer. Kurz fühlte ich mich verwirrt, war er im Badezimmer oder in der Küche? Ich lauschte beunruhigt in die Wohnung, nichts zu hören. Ich ging in den Flur, vielleicht war er nur leise. Auch hier empfing mich nur Stille.

Ich klopfte an die Badezimmertüre, bekam keine Reaktion, drückte die Türklinke nach unten und ohne Widerstand öffnete sich die Tür. Der Raum war leer. Das konnte doch nicht sein.

Ich stürmte in die Küche, wo mich nicht mal mehr das Ticken der Uhr begrüsste. Das war nicht sein Ernst!

„Nico?!“, rief ich schließlich laut nach ihm und in der Hoffnung, dass ich ihn irgendwie übersehen hatte. Keine Antwort. Ich fuhr mir gestresst durch die Haare, er musste doch hier sein. Schließlich schaute ich im letzten Raum dieser Wohnung nach, dem ehemaligen Schlafzimmer meiner Großeltern. Es war so kahl und kühl, wie immer. Ich spürte wie sich ein Kloß bei mir im Hals bildete und sich das Gefühl, das dieses Zimmer verursachte auf mich übergriff. Ich schmiss die Tür wieder zu, es wurde aber nicht besser.

Nico war nicht da.

Okay, beruhig dich, Enno. Vielleicht war er nur kurz Zigaretten kaufen, oder so. Hätte ich nicht mitbekommen, wenn er die Wohnung gerade verlassen hatte? Vielleicht war ja der Fernseher zu laut. Es konnte ja auch sein, dass er vor einer Weile für einen kleinen Spaziergang rausgegangen war. Sowas konnte doch mal vorkommen. Ich musste mir keinen Kopf machen, oder?

Ich ging nochmals in seinem Zimmer, schaute mich mit klopfenden Herzen um. Ich wollte die Bestätigung, dass alles noch in Ordnung war und stellte fest, dass Sachen fehlten. Seine Sporttasche mit den Klamotten war nicht mehr da, genau wie ein paar Bilder nicht mehr an den Wänden hingen. Fuck. Ich schlug mit der Faust gegen die Wand, spürte nur ganz dumpf der Schmerz, der dadurch entstand. So eine verdammte Scheiße. Meine Augen brannten und ich rieb mir mit der anderen Hand darüber. Nico konnte nicht weg sein, er durfte doch nicht einfach gehen. Warum sollte er überhaupt abhauen?

Ich merkte, wie meine Glieder schwer wurden und mich wieder dieses wahnsinnige Gefühl von Wut und Frust ergriff. Wie konnte er einfach verschwinden ohne ein Wort zu sagen?! Ich machte einige Schritte in das Zimmer, sah mich wieder um. Er musste doch irgendeinen Zettel geschrieben haben. Irgendwas! Ich riss die Decke von der Matratze, schaute unter das Kissen, durchwühlte meine Malereien und trat schließlich gegen die Kaffeemaschine, die hier noch immer stand und mich gerade richtig ankotzte. Er hatte sie in das Zimmer gestellt, damit ich auf meine Gesundheit achte. Als hätte ihn das jemals interessiert, verlogener Bastard. Wenn ich ihm wichtig gewesen wäre, hätte er sich nicht einfach verpisst, bloß wegen so einer Kleinigkeit wie einem Streit. Feigling, Arschloch... Ich verpasste der Kaffeemaschine noch einen Tritt, so dass sie laut schepperend umfiel. Dann verließ ich das Zimmer, ich ertrug es einfach nicht.

Im Flur blieb ich stehen und atmete tief durch. Ich wollte immer noch etwas zerstören und laut schreien. Wie konnte Nico mich so verarschen?! Erst als ich zu fest in meine Lippe biss und den Schmerz spürte, wurde mir überhaupt klar, dass ich auf ihr rumgekaut hatte. Der leichte Schmerz holte mich aber aus meinen Gedanken. Ich musste irgendwas tun.

Ich musste zu Eddy! Warum war ich nicht gleich zu ihm gegangen, als Angelika weg war? Warum hatte ich Idiot eigentlich darauf gewartet, dass Nico zu mir kommen würde? Ich war doch total bescheuert. Was wollte ich mit Nico, wenn Eddy doch die einzige Person war, die mich verstand?! Abgesehen von dieser dummen Sophie-Sache, die sich ja mittlerweile erledigt hatte. Bestimmt hatte er deshalb angerufen.

Ich zog mir meine Schuhe an, nahm mir die Jacke von der Garderobe, checkte ob ich die Wohnungsschlüssel eingepackt hatte und machte mich auf dem Weg zu ihm. Warum auch anrufen? Sonntags war er so gut wie immer daheim und ich musste ihn jetzt wirklich sehen. Ich hätte auch nicht gewusst, zu wem ich sonst sollte.

Mich empfing draußen ein Schwall kalte Luft und ich zog meine Jacke fröstelnd zu. Ich kam mir dumm und verlassen vor, als ich den Weg zu Eddy ging. Dumm, weil ich mich verlassen fühlte. Ich sollte mich nicht über Nico aufregen. Es war doch schon immer klar gewesen, dass er nur hinter meiner Wohnung her gewesen war. Ich erinnerte mich vage an das erste Gespräch mit ihm, bei dem wir uns nicht beschimpft hatten. Er hatte nach meiner Wohnung gefragt, das er selbst ausziehen wollte. Gut, vielleicht stand Nico auch ein bisschen auf mich, aber er hätte bestimmt auch Robert flach gelegt, wenn der eine eigene Wohnung gehabt hätte, oder? Naja, vielleicht nicht unbedingt Robert, der schien nicht zu ihm zu passen. Eher noch Jonas? Keine Ahnung, ich fühlte mich mies und ich wollte heulen. So erbärmlich das klang, ich brauchte eine Umarmung von Eddy. Dann sah die Welt immer gleich wieder besser aus.

Ich wusste nicht so genau, was ich ihm sagen sollte, worüber wir reden mussten. Es war viel passiert, irgendwie. Ich erinnerte mich mit Horror an das Gespräch im Bus und daran, dass er Sophie in Schutz nahm. Damals, als die Sache mit Ekatarina war, hatte ich nichts zu ihm gesagt. Ich hatte sie für ihn verlassen und nicht mal über ihn gelacht, als nichts aus ihnen geworden war. Hätte er Sophie verlassen, wenn ich ihm das gesagt hätte? Ich schüttelte den Kopf, schlechte Gedanken, dumme Gedanken.

Eddy hatte angerufen, weil jetzt wieder alles gut war. Bestimmt. Er würde es mir verzeihen, dass ich mir einen dummen Punk und Schnorrer in die Wohnung geholt hatte, um mit ihm zu vögeln und ich würde einfach ignorieren, dass Sophie jemals existiert hatte. Genau so funktionierte Freundschaft, oder nicht?

Du würdest doch lieber ihn vögeln. Dieser Satz schlug wie ein Bombe in meine Gedanken ein, eigentlich schon längst verdrängt und jetzt viel zu präsent. Eddy vögeln, ficken, ihn flach legen, mit ihm Sex haben, den Geschlechtsverkehr vollziehen, kopulieren, Liebe mit ihm machen... Liebte ich Eddy auf eine völlig kaputte, verquere Art? Ich bekam Magenschmerzen, wenn ich daran dachte. Es stimmte schon, er war wichtig für mich, der wichtigste Mensch für mich, der noch lebte. Hieß das gleich, dass es auch eine körperliche Anziehung sein musste?

Ich würde mit Eddy schlafen, er müsste nur ein Wort sagen und ich wäre dafür bereit. Der Gedanke erschreckte mich und doch war er nicht zu leugnen. Ein Freund mit dem man Sex hatte? Oder wäre es eine Beziehung? Liebe. Was für eine Scheiße.

Ich würde niemals versuchen Eddy zu irgendwas in diese Richtung zu bewegen. Dafür war er mir zu wichtig und Sex zu banal. Ganz davon abgesehen, dass es schon deswegen nie dazu kommen würde, da Eddy nicht auf Kerle stand, er war nicht mal im Ansatz bi. Ihn würde der Gedanke regelrecht anwidern.

Das wusste ich schon immer, oder? Das ich bei ihm auf verlorenen Posten stand. War ich deswegen immer mit diesen Kleinigkeiten zufrieden gewesen? Wenn er mich glücklich anstrahlte, wenn er mit mir auf dem Bett saß, wir Bier tranken und schlechte Filme schauten, wenn er mich im Arm hielt, genau in den Momenten, in denen ich am liebsten sterben wollte.

Er war viel zu wichtig, als das ich jemals für ein unbedachtes Verlangen alles zerstören würde. Ich musste ihn sehen. Ich wusste, dass ich nichts mehr unter Kontrolle kriegen würde, wenn ich ihn nicht mehr zurück gewinnen konnte.

Vielleicht war die Vorstellung ja aufregend, reißerisch, einsam und allein nur mit der Kunst in einer verlassenen Wohnung zu leben. So stellte man sich das doch vor, exzentrische Künstler. Aber ob ich wollte oder nicht, ich konnte nicht alleine sein. Ich war so ein erbärmlicher Idiot, wenn sich die Einsamkeit heranschlich. Ob Nico das gewusst hatte? Hatte er diesen Umstand ausgenutzt?! Ich hätte ihn niemals in meine Wohnung gelassen, wenn nicht diese komische Sophie-Sachen zwischen Eddy und mir vorgefallen wäre. Bedeutete das nicht auch, dass ich Nico überhaupt nicht mehr brauchte, wenn mit Eddy alles im Lot war?

Der Gedanke beruhigte mich auf eine abstruse Art und Weise. Es war egal, dass Nico weg war, nicht weiter von Bedeutung, völlig irrelevant. Ich brauchte nur Eddy, nur ihn, niemand sonst. Nur einen einzigen Menschen, für mich allein.
 

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PS.: Ich hab gestern Nacht endlich das letzte Kapitel (Kapitel 27) geschrieben und heute Mittag schon mal ein ausführliches Nachwort angefangen. Falls ihr Fragen für das Nachwort habt, was euch schon immer auf der Seele gebrannt hat zu meiner Person, zur Story, oder irgendwas anderes, einfach her damit, das wird dann alles beantwortet. XD

Alles, was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe.

Ich wusste nicht, wie ich dieses Gefühl, das mich gerade ergriffen hatte, am besten beschreiben sollte. Schock, blankes Entsetzen, purer Horror? Mein Herz hatte sich zusammen gekrampft und schlug trotzdem weiterhin schmerzhaft in meiner Brust. Mein Magen war ein kalter Klumpen aus Fassungslosigkeit und ich wollte sie am liebsten auskotzen.

Ich stand aber nur im Türrahmen und starrte auf die beiden Menschen vor mir. Eddy hatte beschützend einen Arm um Sophie gelegt, die mich mit großen, erschrockenen Augen anschaute, ängstlich wirkten sie beide. Als wäre ich gekommen um hier und jetzt ihr Glück zu zerstören. Ich war ein Invader, ein böser Eindringling, völlig unerwünscht und ich rang um meine Fassung.

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Ich konnte dieses verstörende Schweigen nicht ertragen. Es kam nur ein verunglückter Laut aus meiner Kehle. Ein Schluchzen, ein Japsen oder ein Todesröcheln? Mir blieb die Luft weg und die Übelkeit kroch in mir hoch. Ich musste aus diesem Raum, aus diesem Haus, aus diesem Land, weg von dieser Welt. In meinem Kopf hämmerte es, rauschte das Blut viel zu laut, meine Hand hatte sich in den Türrahmen gekrallt und ich konnte mich kein Stück bewegen. Konnte sie nur anstarren. Ich war machtlos, oder?

Es gab nichts in der Welt, was ich noch tun konnte.

Man hatte mich verlassen. Gänzlich und vollkommen. Mir war so schlecht und ich war mittlerweile ziemlich sicher, dass niemals der Kaffee die Ursache für mein Leiden gewesen war. Es war nicht der Kaffee, sondern nur mein Leben, was mein Körper so hasste.

„Enno...“ Seine Stimme klang besorgt, aber ängstlich. Das war keine Angst um mich, sondern vor mir. Ich richtete meinen Blick auf sein Gesicht und fand immer noch keine Worte. Was sollte es noch bringen? Musste man noch darüber sprechen? Es gab keinen Menschen für mich, niemand wollte bei mir blieben. Man konnte mich nur verlassen, oder? Meine Mutter hatte es schon gewusst, mein Vater noch viel früher und jetzt war es auch Eddy klar.

Ich schüttelte den Kopf, überfordert von allem. Ich konnte das alles hier keine Sekunde länger ertragen. Trotzdem kostete es mich unendlich viel Kraft mich von diesem Anblick zu lösen. So ähnlich, wie wenn sich dein Blick in die heraushängenden Eingeweide eines Unfallsopfer bohrt, das Unfallopfer, das dein bester Freund war, den man für immer verloren hatte. Entsetzen und trotzdem das perfide Interesse sich am Elend zu weiden, dem eigenen Elend. Ich torkelte die Treppe nach unten, niemand hielt mich auf, so sehr ich es auch hoffte.

Wo war seine Stimme, die nach mir rief? Die mir sagte, dass alles nur ein Missverständnis war? Das einfach alles in Ordnung war.

Niemand rief.
 

Ich wusste nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen war und ich fragte mich, warum ich nicht das Glück hatte, dass mich einfach ein Auto überfahren hatte auf dem Weg hier her. Es hätte bestimmt Gelegenheiten gegeben, bestimmt. Ich konnte nicht mehr.

Warum hatte niemand Mitleid mit mir? Mit leiden... Gegenseitiges Wundenlecken?! Mein Kopf fühlte sich schwer an und ich lag nur da auf meinem Bett, versuchte mich nicht völlig zu verlieren. Was war passiert? Wann genau war eigentlich alles schief gelaufen? Bei meiner Geburt oder schon bei meiner Empfängnis. Ungeplant und unerwünscht.

Ich hasste den Gedanken, dass ich es meiner Mutter übel nahm, dass sie mich nicht abgetrieben hatte. Ich wollte nicht sterben, aber im Moment wollte ich noch viel weniger leben. Es hätte einfach nicht so weit kommen sollen. Eine wertlose Existenz weniger, oder? Ich... ich... was passierte mit den Menschen, die nie ihren Platz in der Welt gehabt hatten?!

Erinnerungen an früher zogen in meinem Kopf vorbei. Ich hatte mal einen Platz gehabt, als ich neben meiner Großmutter auf der altersschwachen Couch gesessen hatte, sie mir Plätzchen gab und Geschichten erzählte. Damals war alles okay gewesen. Ich war glücklich gewesen. Aber Glück kam nicht von allein, es kam nur mit den Menschen und dann gingen sie einfach. Man konnte nichts tun, nur zusehen, wie einem alles zwischen den Finger davon rieselt.

Zeit.

Tick. Tack.

Früher oder später würde ich immer alleine hier in diesem Bett liegen und mich fragen, warum es niemand schaffte, bei mir zu bleiben.

Lag es an mir?

Es musste an mir liegen, an wem denn sonst? Ich wurde verlassen, aufgegeben für ein besseres Leben in Amerika, mit Sophie, irgendwo, nur nicht bei mir. Was war man wert, wenn einen niemand wollte? Ich hatte nichts was ich anderen Leuten geben konnte und ich war mir sogar selbst zu viel. Ich wollte weg von mir, meinem Körper, einfach alles was mich ausmachte. Ein Leben war doch nichts wert, wenn man es in Einsamkeit verbringen musste. Ich wollte nicht einsam sein, niemals, aber ich konnte es nicht aufhalten.

Hatte meine Großmutter nicht auch versucht endlich von mir wegzukommen, wenn sie nie ihre Tabletten genommen hatte, wenn sie nie auf mich hören wollte? Egal was man tat, am Ende war man doch wieder allein, oder? Immer allein in diesem Raum, der einem nur mit Schweigen antwortete.

Ich merkte, wie Angst in mir hochkroch. Angst vor mir selbst und den Weg, den meine Gedanken gingen. Sterben... Warum noch weiter Zeit verschwenden? Einfach alles los werden und zum Nullpunkt kommen. Sich verlieren und dann war alles erledigt.

Ich hasste diese Gedanken, fühlte mich schuldig dabei. Man durfte sich nicht den Tod wünschen, selbst wenn er völlig irrelevant war. Es würde niemand interessieren, wenn ich hier jetzt einfach an meinem eigenen Unglück krepieren würde. Niemand rief nach mir.

Und trotzdem waren es peinliche, feige Gedanken. War ich nicht schon längst aus dieser postpubertären Depressionen heraus und hatte das lächerliche Gedankengut der todessehnsüchtigen Romantiker abgelegt? Mein Magen schmerzte, ich konnte nicht denken.

Es kostete mich erstaunlich viel Kraft, einfach die Fernbedienung zu nehmen und mit dem Drücken eines Knopfes die Stille zu töten. Belangloses, stupides Gerede erfüllte den Raum. Alles besser, als die eigenen Gedanken.

Ich wollte das alles in mir dumpf wurde, müde und erschlagen. Nicht mehr verzweifelt, frustriert, wütend. Es sollte einfach alles in mir schweigen, dann könnte ich mir einreden, dass ich sowieso schon tot war. Das ich meinen Nullpunkt längst erreicht hatte und ich nichts mehr verlieren konnte, nicht mal mehr mein Leben.

Ich war so ein armseliger Vollidiot. Selbsterkenntnis war der erste Schritt zur Besserung? Ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte. Ich sollte etwas tun, mich bewegen, an mir selbst arbeiten, aber ich konnte kaum meine Augen offen halten.

Und es kam mir so vor, als hätte ich diese Gedanken schon tausendmal gedacht, was nichts besser machte.

Hallo und guten Tag, willkommen in Ennoahs Leben. Sie sehen heute die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung eines sehr trostlosen Lebens. Verpassen sie auch nächste Woche nicht, wie er sich im Elend wälzt und schalten sie ein! Selber Zeit, selber Sender.

Ich hasste mein Leben und insbesondere mich. Mit diesem Gedanken war ich irgendwann weg gedämmert zum Sonntagabendprogramm.
 

Ich starrte auf die flimmerenden Bilder der Mattscheibe und hatte keine Ahnung, was ich mir da überhaupt anschaute. Ich fühlte mich wie in Watte eingepackt, ganz dumpf, weit weg und so, als würde ich gleich ersticken.

Meine Augen brannten, sobald ich sie schloss, schmerzten sie und ich musste sie wieder aufreißen und vor mich hinstarren. Mein Zunge klebte an meinem Gaumen und meine Lippen klebten zusammen, waren spröde und ich wollte den Mund nicht öffnen. Ich musste auch nicht, niemand war hier, mit dem ich hätte reden können.

Hier war nur ich, der Fernseher und meine Gedanken, die sich weigerten in eine konkrete Richtung zu gehen. Vielleicht zu meinem eigenen Schutz? Klares Denken konnte gefährlich sein, für alle, vor allem für mich. Ich wollte nicht denken, nur da liegen und starren. Starren und da liegen, sich nicht rühren müssen.

Mein Körper fühlte sich an, als hätte man ihn lieblos über mich gestülpet. An manchen Enden ziepte er, an anderen war er einfach zu groß und wenn ich mich bewegte, drehte sich alles um mich, als würde ich nicht mal mehr in die Umgebung passen.

Ich fühlte mich verloren.

Frustriert strampelte ich die aufgeheizte Decke von mir runter und fror sofort wieder. Ich legte mich anders hin, weil mein Rücken schmerzte und merkte, dass es immer unangenehm war, egal wie ich da lag. Ich schmiss die Decke auf den Boden und legte das Kopfkissen auf meinen Rücken, in der Hoffnung, dass ich jetzt glücklich war.

Als würde mich sowas glücklich machen, als würde ich jemals glücklich werden... Was sollte nur aus meinem Leben werden? Ich konnte mich nicht rühren, ich hatte seit gestern morgen das Bett nicht mehr verlassen. Heute war Dienstag, oder schon Mittwoch?

Ich hätte den Videotext anschalten müssen, um rauszufinden, welchen Tag wir hatten oder ich wartete auf das Abendprogramm. Wie viel Uhr hatten wir? Ich wollte nicht mal meinen Kopf heben, um nachzusehen.

Es fühlte sich alles so schwer an. Man hatte mir die falsche Haut übergezogen, meine Venen mit Blei gefüllt und dann in Watte gepackt, einfach, um mein Leben so unerträglich wie möglich zu machen.

Komische Gedanken flatterten an mir vorbei und ich machte mir nicht mal die Mühe, sie zu fassen. Waren nicht wichtig, würden mich nur weiter deprimieren. In die Schule gehen? Pah, für was denn noch? Ich würde sowieso niemals studieren. Wer würde schon so jemand wie mich freiwillig auf einer Uni nehmen? In der Schule waren nur überall diese Menschen, die mit einem reden wollten. Bla. Bla. Bla. Wie geht es dir denn nach diesem Verlust? Bla. Bla. Bla. Du siehst nicht gut aus, bist du sicher, dass du zurecht kommst? Bla. Bla. Bla. Wir verstehen deine Lage ja, aber Schulregeln, sind Schulregeln. Du darfst nicht mehr fehlen. Bla. Bla. Bla. Bla. Ich könnte so kotzen.

Außerdem war dort Nico...

Und? Nico, Nico war doch egal, oder? Nein, er war nicht egal. Er war sowas von nicht egal. Er ist auch einfach gegangen. Er war egal, meine Mutter war egal, Eddy war egal... oder mein Leben war egal. Niemand interessierte sich, was ich machte, wenn ich hier sterben und verrotten würde. Ich wäre nicht mal Madenfutter, um diese Jahreszeit gab es hier keine Fliegen mehr.

Ich würde hier nur liegen und langsam austrocknen und verwesen. Mein Fleisch würde von meinen Knochen faulen und dann wäre dieses Wattegefühl verschwunden und die Haut, die nicht passt. Irgendwann mal.

Ich schloss gequält meine Augen und wollte heulen, aber dafür hatte ich keine Kraft. Ich wollte nicht sterben, ich wollte nur nicht hier alleine liegen. Ich wusste aber nicht, was ich tun sollte. Es war alles so schwer. Selbst die Fernbedienung lag unendlich weit weg, nur einen Knopf drücken, die Hürde schien mir unüberwindbar.

Meine abgenagten Fingernägel schabten über die Haut meines Arms, immer wieder. Ich spürte ein leichtes Brennen und wie die malträtierte Stelle wärmer wurde. Aber ich verstand den Zusammenhang nicht. Ich machte weiter, bis ich mich grau fühlte. Wenn man grau war, dann waren die Geräusche mit den Farben verschwunden und es war nicht mehr weit, bis man eingeschlafen war. Grau war gut, nein, grau war nicht gut, aber auch nicht schlecht.

Ich schreckte von einem schrillen Geräusch auf, dass ich nicht zu ordnen konnte. Werbung, Telefon, Türklingel? Völlig überfordert schaute ich mich um, mein Leben fühlte sich gerade so unendlich falsch an. Ich wusste nicht mal, ob man dieses Vegetieren noch Leben nennen durfte.

Telefon. Es war das Telefon. Endlich verstand ich dieses Klingeln.

Ich wusste nicht, wo ich plötzlich diese Energie her nahm, aber ich musste unbedingt das Telefon erreichen, bevor der Anrufer wieder auflegte. Für irgend jemand war ich wichtig, ich war nicht komplett allein, oder? Jemand rief.

Ich schrammte mit der Schulter gegen die Wand, da ich mich nicht so gut auf den Beinen halten konnte, wie ich zunächst dachte. Scheiß Körper!

Gehetzt hob ich ab, lauschte in den Hörer. Bitte, lass es kein Tuten sein. Ich will mit jemand reden! „Hallo?“, kam es unsicher durch die Leitung. Ich kannte die Stimme nicht. Es war nicht Eddy und auch nicht Nico. Warum denn nicht?

„Hey“, krächzte ich mühevoll und merkte, wie mein Hals weh tat. Ich hatte die letzten Tage nichts gesagt. Das Sprechen kam mir fremd und unnatürlich vor. Und ich wollte wieder auflegen. Warum hatte ich nur abgenommen? Es hatte doch keinen Sinn, wenn es jemand war, den ich nicht kannte.

“Hey, Ennoah. Ich bin´s, Robert”, stellte sich mein Anrufer vor und ich musste kurz nachdenken. Robert, Robert. Okay, der Typ, der in der Schule neben mir saß, der der Animes mit dickbrüstigen Frauen in Latexkostümen schaute. Warum er?

“Hey”, würgte ich nochmals vor, wusste nichts anderes zu sagen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals mit Robert telefoniert zu haben. Wir hatten schließlich nicht viel miteinander zu tun.

“Und wie geht´s dir so? Du warst ja die Woche über nicht in der Schule und naja...” Er wusste wohl nicht, was er jetzt weiter sagen sollte. Wahrscheinlich hatte er nur angerufen, weil es ihm irgend ein Lehrer aufgetragen hatte. Vielleicht Frau Lindner, das würde so zu ihr passen.

“Könnte besser sein”, antwortete ich einigermaßen ehrlich. Als meine Oma gestorben war, war es mir ziemlich beschissen gegangen, aber das hier, das schien irgendwie eine ganz andere Essenz zu haben. Es war das eine, wenn man sich schlecht fühlte, weil das Leben einen fickte, etwas ganz anderes, wenn man selbst an dem ganzen Mist Schuld war und das war momentan leider definitiv der Fall. Ich hatte gerade einfach alles verbockt, mit Eddy, mit Nico, mit allen. Die Erkenntnis brachte mir allerdings nichts, weil ich einfach nichts daran ändern konnte.

“Was hast du denn?”, fragte Robert unsensibel und ich wusste, dass ich mir jetzt wieder eine Ausrede für eine seltsame Krankheit aus den Fingern saugen musste.

“Keine Ahnung, irgendwas mit dem Magen und so. Total beschissen...” Auch nicht so richtig gelogen, ich hatte sein Tagen wieder Magenkrämpfe, ob es daran lag, dass ich kaum etwas gegessen hatte oder ganz allgemein mit meiner Übersäuerung zu tun hatte, wusste ich nicht.

“Oh, okay, glaub ich. Weißt du denn, wann du wieder kommst?” Dieses Gespräch hatte ich gefühlte tausendmal schon geführt. Immer dieselben Fragen, immer nur Bla. Ich wollte mit Robert nicht reden, hatte kein Lust mein Leben und meinen Hass auf mich zu rechtfertigen.

“Ich hoffe morgen. Weiß es aber noch nicht. Muss gucken wie es mir geht...” Bla Bla Bla, als würde Robert meine Antwort wirklich interessieren. Man musste es einfach sagen, weil es sich so gehörte. Am liebsten hätte ich ihm geantwortet, dass ich nie wieder meine Wohnung verlassen wollte, um einfach hier zu verrotten. So wie es allen am liebsten wäre, dann hätte man mich endlich los.

“Hm, okay. Wir schreiben morgen ja eine Arbeit, also falls du nicht kommst, brauchst du halt ein Attest vom Arzt.” Als wüsste ich das nicht selbst, ich brauchte niemand, der mir sowas sagte.

“Ja, ich schaue mal, wie es mir geht. Aber ich hätte sowieso ein Attest”, log ich. Es würde kein Problem werden, mir eines zu holen, wenn ich mich überhaupt dazu aufraffen konnte. Auch wenn es mir im Moment ziemlich egal war.

“Okay, gut. Die Lehrer fragen nämlich schon nach dir.”

Ich verdrehte die Augen. Als hätten sie ein Recht darauf zu wissen, wie es mir ging. Alles Idioten.

“Hm, naja... Ist halt doof mit meinem Magen und so”, nuschelte ich ins Telefon und war einfach nur tierisch abgefuckt.

“Ja, glaub ich. Dann ... sehen wir uns ja morgen, oder so?”

“Ja, bis dann.”

Kurz schwiegen wir uns noch unbehagliches an, dann legte ich auf. Ich musste ehrlich sagen, nach dem Gespräch fühlte ich mich immer noch ziemlich miserabel. Mir war schwindelig und mein Arm schmerzte unangenehm. Die aufgekratzte Stelle hatte sich entzündet und vielleicht sollte ich tatsächlich mal etwas dagegen tun. Es sah wirklich widerlich aus, so als würde mein Arm bald abfaulen. Irgendwie faszinierte mich der Anblick und ich musste mich echt zusammenreißen, um nicht darin rumzupieksen. Das würde nämlich weh tun. Ich hatte keine Lust auf Schmerzen und keine Lust dagegen etwas zu tun. Keine Lust auf irgendwas.

Ich verkroch mich wieder in mein Bett, ignorierte mein Leben. Auch wenn ich wusste, dass es so nicht weiter gehen konnte. Ich fühlte mich nur unfähig, jetzt was daran zu ändern. Es kam mir unmöglich vor, noch irgendwas gerade zu biegen. Meine Großmutter lebte nicht mehr. Eddy hatte sich gegen mich entschieden. Nico war gegangen. Meine Mutter wollte nichts von mir wissen. Die Mappenberatung war deprimierend verlaufen. Die Lehrer wollten mich von der Schule haben. Ich war auf ganzer Linie gescheitert. Mir kamen selbst die Typen in den Reality-Shows nicht mehr armselig vor. Erschütterend.

Ich zappte mich durch das Programm, schlief ein, träumte wirres Zeug, wachte wieder auf und hätte mir am liebsten die Haut von den Knochen gerissen. Mir war wahnsinnig heiß, alles tat weh und ich hatte keinen Schimmer, was ich dagegen tun konnte. Mein Körper hasste mich wohl so sehr, wie ich ihn.

Schließlich wurde es fast unerträglich, einfach nur zu liegen. Ich wälzte mich aus dem Bett und fiel mit einem dumpfen Laut einfach auf den Boden, der sich angenehm kühl an meiner Haut anfühlte. Ich breitete meine Arme aus, um noch mehr von der Kühle zu erhaschen. Mein Atem ging langsam und die Welt war so groß geworden. Unter meinem Bett sah ich Staub, alte Socken und ein paar Stifte, die ich schon länger vermisst hatte. Sah aus wie mein Leben. Vergessen und unter das Bett gekehrt.
 

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So, kurz vor Schluss nochmal die volle Dröhnung Depression! Keine Sorge, bald hab ihr es überstanden.

Alleinsein kann es erst geben, wenn die Einsamkeit aufgehört hat.

“Es ist wichtig, dass du kontrollierst, ob sie ihre Tabletten immer nimmt.” Doktor Berens schaute mich mit einen ernsten, eindringlichen Blick an. Ich schaute auf das Rezept, dass mir der Arzt gegeben hatte und mochte das Gefühl von Verantwortung nicht, das auf mir lastete. Sollte sich nicht irgend jemand anderes um sowas kümmern? Ich war doch viel zu jung dafür. Meine Oma saß mit einem etwas abwesenden Blick auf dem Patientenstuhl neben mir. Ich wusste nicht mal, ob ihr klar war, dass wir gerade über sie sprachen. In den letzten Wochen ist es immer schlimmer geworden.

Doktor Berens schien bemerkt zu haben, dass mir die Situation ziemlich zusetzte. Er lächelte mich mit einem schwermütigen Blick an. Das war das Lächeln eines Mannes, der wusste, was zu viel Verantwortung bedeutete.

“Kann ich sonst noch was für dich tun?”, fragte er und ich wünschte, er könnte mir die ganze Last einfach abnehmen. Aber auch ein Arzt hatte Grenzen und die hatten wir bei meiner Großmutter schon längst erreicht. Das wusste er, das wusste ich.

“Nein, danke.” Ich erhob mich und meine Oma schaute kurz verwirrt zu mir. Ich verabschiedete mich noch knapp von unserem Hausarzt und half ihr vom Stuhl, um mit ihr nach hause zu gehen. Vielleicht war es peinlich in meinem Alter mit einer alten Dame an der Hand gesehen zu werden, aber ganz ehrlich. Das war mir so schnuppe. Coolsein, immer das Gesicht wahren, sowas wollten doch nur Leute, die sowieso keine Ahnung vom Leben hatten. Ich war schon froh, dass ich mit Oma noch diesen Weg gehen konnte.

Es wurde aber immer anstrengender. Das nächste Mal müsste wohl Doktor Berens einen Hausbesuch machen. Meine Hand, mit der ich nicht meine Großmutter stützte, hatte ich fest um die Tablettenverpackung geschlossen. Mein Magen schmerzte etwas und ich wünschte, ich könnte irgend jemand anders einfach alles aufbürden. Es war kein netter Gedanke, immerhin klang es so, als würde ich meine Großmutter los werden wollen. So war das nicht, ich wollte ihr helfen. Aber ich wusste nicht, ob ich es allein schaffte. Doktor Berens hatte mit mir über ein Altersheim gesprochen. Wäre das Verrat?

Der Druck um meine Hand wurde stärker und ich schaute verwundert zu Oma, die mich leicht anlächelte.

“Heute ist doch ein schöner Tag. Findest du nicht auch, Spatz?”, fragte sie mich. Ihre Stimme klang dünn und unsicher, als müsste sie sich an die Wörter erinnern. Ich erwiderte ihren Händedruck und versuchte mich in einem Lächeln. Heute war kein schöner Tag, aber das konnte ich ihr nicht sagen.

“Ach, Spätzchen, ich bin so froh, dass ich dich habe.” Sie seufzte und schien sich etwas mehr auf mich zu stützen. Ich schaute auf sie herab, auf ihre kleinen, weißen Hände. Ihre Adern leuchteten blau durch die dünne Haut. Ihr Griff war stärker, als man es ihr zutrauen würde. Aber ohne mich würde sie fallen.

Es wäre Verrat, sie brauchte mich und ich brauchte sie.

Zuhause brachte ich sie ins Bett, da sie von dem Arztbesuch müde war und legte mich selbst hin, während ich zu dem Säuseln des Fernsehers einschlief. Nicht die Tabletten vergessen! Kontrolliere, dass sie die Tabletten einnahm!
 

Ich schlug die Augen auf und schaute mich orientierungslos um. Mein Körper fühlte sich unangenehm kühl und steif an. Kein Wunder, ich lag auf dem Boden meines Zimmers. Wie war ich dahin gekommen? Egal, nicht so wichtig. Hatte ich heute schon nach meiner Großmutter gesehen? Ich wusste es gar nicht. Was wenn sie die Tabletten schon wieder unter ihrem Kissen versteckt hatte? Es war wichtig, dass sie sie immer zu sich nahm. Ich sprang auf, musste mich aber kurz an der Wand abstützen. Irgendwie war ich nicht so fit. Brühtete ich eine Erkältung aus? Ich fasste an meine Stirn und spürte, dass sie unangenehm heiß war.

Ich schüttelte den Kopf, darum würde ich mich kümmern, wenn ich nach Oma gesehen hatte. Einen kurzen Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich sowieso schon spät dran war mit der Kontrolle. Meine Großmutter musste dreimal täglich ihre verschiedenen Tabletten nehmen, morgens, mittags und abends. Ich war wirklich spät dran für ihre Abend-Medizin, es war schon nach sieben.

Hoffentlich schlief sie noch nicht.

Ich schwankte in den Flur und schaute in das Wohnzimmer, wo sie immer tagsüber saß und aus dem Fenster blickte. Das Zimmer war kahl und leer, es lag nur eine Matratze am Boden. Ich hatte die Einrichtung demoliert, ich erinnerte mich wieder. Dann war Oma sicher schon in ihrem Bett. Ich musste ihr jetzt trotzdem ihre Tabletten geben und auch wirklich darauf achten, dass sie all genommen hatte. Nur so konnte es ihr wieder besser gehen.

Ich ging zielstrebig auf ihr Schlafzimmer zu, öffnete vorsichtig die Tür und linste hinein. Der Raum war von dem typischen, grauen Licht der Dämmerung erfüllt und ließ alles irgendwie trist aussehen. Ich betrat das Zimmer ganz und ging zu dem Bett. Es war leer, genauer gesagt, fehlte sogar einer der Matratzen des Ehebetts. Hier war niemand.

Natürlich nicht. Konnte man so blöd sein?

Ich stand vor der leeren Hälfte des Bettgestells. Auf dieser Seite hatte immer meine Oma geschlafen. Hier waren keine Tabletten unter dem Kissen versteckt. Von wem auch? Ich kletterte ungelenkt über den Lattenrost auf die andere Seite des Bettes, um mich dort auf der übrig gebliebenen Matratze zusammen zu rollen.

In diesem Raum hier roch noch alles nach meinen Großeltern. Ich musste nur die Augen schließen, dann konnte ich mir vorstellen, dass alles wieder in Ordnung war. Es gelang allerdings nicht, sobald ich die Augen geschlossen hatte, schlug die geballte Einsamkeit auf mich ein. Die Erkenntnis, dass ich so einsam war, wie ein Mensch nur sein konnte. Und ich war selbst Schuld.

Ich wachte von dem Schmerz in meinem Arm auf. Ich hatte immer noch nichts gegen die Entzündung gemacht und mittlerweile war es wirklich lästig geworden. Ob mir wohl mein Arm einfach abfaulen würde? Ich schaute auf die Wunde und hatte nicht das Gefühl, als würde es mich irgendwas angehen. Auch wenn ich das Puckern in meinem Arm spürte, drang es irgendwie nicht richtig zu mir durch. Vielleicht faulte er wirklich einfach ab. Naja, war nur der linke Arm. Der war nicht wichtig, damit zeichnete man nicht.

Ich schüttelte den Kopf. Okay, das war idiotisch. Ich wollte definitiv keinen Arm einfach wegen so einer Lapalie verlieren. Ich schälte mich aus dem Bett und ging ins Bad. Im Badezimmerschränkchen müsste schon irgendeine Salbe gegen dieses Wehwehchen liegen. Ich durchwühlte den Schrank, musste aber feststellen, dass ich hier weder eine Wundsalbe da hatte, noch irgendein Pflaster, das groß genug für die Wunde war. Die Verletzung war nicht tief, aber großflächig, ähnlich wie bei einer Verbrennung. Hm, vielleicht konnte ich auch einfach Fenistil auf die Wunde machen, zumindest das hatte ich da. Nahm man doch auch bei Sonnenbrand und das kühlte ja angeblich.

Naja, war bestimmt besser wie nichts.

Ich schmierte mir großzügig etwas von dem Zeug auf die Wunde und tatsächlich fühlte es sich angenehm kühl auf der Haut an. Aber nur solange bis es anfing zu brennen und ich mir die durchsichtige Pampe hastig von dem Arm waschen musste. Verdammt. Nichts wäre definitiv besser gewesen, als die Salbe.

Ich setzte mich auf den Klodeckel und hielt mir den Arm. Gott, wenn ich gewusst hätte, dass es so lästig werden würde, wenn man sich nur ein bisschen den Arm aufkratzte, hätte ich mir meine Fingernägel noch viel gründlicher abgekaut. Scheiß Dreck.

Aber hey, wen wundert´s? Passte doch. Egal was ich tat, es war zum Scheitern verurteilt. Ich starrte auf die häßliche Wunde und fragte mich, ob eine Narbe zurück bleiben würde. Standen Mädchen nicht auf Kerle mit Narben?

Das letzte worüber ich mir eigentlich noch Gedanken machen sollte, waren Mädchen. Aber mit denen war es immer einfach gewesen. Man gab ein bisschen vor ihnen an, gaukelte ihnen etwas über sich vor, verbrachte eine paar schöne Stunden und dann war alles besser.

Ich schaute in den Spiegel und ich hatte große Zweifel, das mich in meinem Zustand irgendjemand anrühren würde. Selbst Nico, der auf seine verschrobene Art und Weise auf Elend abfuhr, würde nichts von mir wollen. Wollte er sowieso nicht mehr. Gott, ich hatte es mir selbst mit ihm verdorben. Ich hatte doch noch nicht mal gewusst, dass wir etwas gehabt haben, das man ruinieren konnte.

Ha, ich war wirklich einer dieser Volldeppen, die sich nicht mit dem begnügen wollten, was sie haben konnten. Sie brauchten immer das, was sie nicht kriegen durften. Hatte ich wirklich Eddy Nico vorgezogen? Natürlich hatte ich das. Ich kannte Eddy schon mein Leben lang. Er war mein Held gewesen, mein Retter, mein Beschützer in schwerer Zeit und jetzt war er einfach weg. Hatte ich einfach zu viel erwartet? War es einfach zu vermessen gewesen, zu denken, er würde mich irgendeinem Mädchen vorziehen? Hatte ich mir einfach zu viel auf unsere ewige Freundschaft eingebildet? Es war doch nicht nur Freundschaft gewesen.

Wahrscheinlich lag es daran.

Nico hatte Recht gehabt. Ich wollte Eddy, nicht unschuldig, sondern mit Haut und Haar. Dafür war es zu spät. Nein, eigentlich hatte es dafür nie eine Zeit gegeben. Eddy war die unglückliche Liebe meines Lebens. Warum musste mir das erst jetzt in meinem schmuddeligen Badezimmer, während ich auf dem Klodeckel saß und meinen eitrigen Arm betrachtete, klar werden?

Warum zur Hölle musste Nico Recht haben und zwar in allem? Und wieso war er nicht hier, um das alles auszubaden, um sich seiner Wahrheit und ihrer Konsequenz zu stellen? Ich konnte das alleine nicht. Ich konnte nichts alleine. Auch das hatte Nico gewusst. Besserwisserisches Arschloch!

Ich verließ das Bad und ging spontan in die Küche, wo sich noch einige Kochutensilien von Nico befanden. Er hatte sie nicht mitgenommen, waren sie ihm auch so egal, wie ich?

Erst jetzt wo ich in der Küche stand, wurde mir klar, dass ich die letzten Tage so gut wie nichts gegessen hatte und das ich keine Lust hatte, daran etwas zu ändern. Der Kühlschrank war sowieso leer und Kochen war einfach zu anstrengend. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich mich nicht solange auf den Beinen halten konnte, um mir einen Topf Nudeln zu machen. Schwach.

Gott, ich war wirklich erbärmlich.

Würde ich es können, ich hätte jetzt über mich gelacht. Dieses fiese Nelson-Lachen, bei dem man mit dem Finger auf jemand zeigte und „Ha Ha!“ rief. Genau so. Was anderes hätte ich für dieses selbstmitleidige Verhalten nicht verdient. Eine Schande war das. Hätte ich die Küchenuhr nicht in all ihr kleinen Bestandteile zertrümmert, sie hätte zustimmend getickt. Selbst sie vermisste ich irgendwie.

Wurde Zeit, dass ich wieder in mein Zimmer ging und die Küche verließ, die sowieso nie mein Reich gewesen war. Ich schlief zu den Simpsons ein und wachte wieder zu Scrubs im Vormittagsprogramm auf.

Ich hatte nicht mal den Versuch gestartet heute doch in die Schule zu gehen. Wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht mal, was für eine Klausur wir heute schrieben. Hätte mich Robert gestern nicht angerufen, hätte ich nicht mal gewusst, dass es sowas wie Schule noch gab. Allerdings müsste ich mir nun wirklich ein Attest besorgen, wenn ich mir mein Leben nicht völlig ruinieren wollte.

Okay, vielleicht war gerade alles Scheiße und ich hatte wirklich große Zweifel daran, ob sich der Aufwand das Haus zu verlassen und zum Arzt zu gehen überhaupt lohnen würde, nur damit ich eventuell nicht von der Schule flog. Aber irgendwann musste ich einfach wieder raus, raus aus diesem Teufelskreis aus Selbsthass und Selbstmitleid. Es gab nun mal eine Zeit, da musste man sich wieder aufrappeln und irgendwie versuchen, den Schaden zu dezimieren, den man seinem Leben schon zugefügt hatte.

Aber noch nicht jetzt.

Immerhin wusste ich, dass ich heute oder morgen das Haus verlassen würde, weil ich mein Maximum an Elend erreicht hatte. Ab da ging es nur wieder aufwärts, es musste einfach, weil es nicht mehr weiter runter ging. Das war doch erbauend, oder?

Als es wieder klingelte, war mir auch gleich klar, dass es das Telefon war. Ich wusste sogar, bevor ich abhob, wer am anderen Ende der Leitung sein würde. Das ganze Gespräch, das ich gleich führen würde, konnte ich schon in meinem Kopf sehen und ich fragte mich, ob ich überhaupt abheben sollte. Aber immerhin war ich schon aufgestanden und stand vor dem Gerät, starrte es wohl mit einem stumpfen Blick an. Irgendwie fasziniert beobachtete ich meine Hand, wie sie nach dem Hörer griff und abhob. Wusste gar nicht, dass sie das sollte.

„Hallo, Ennoah?“, hörte ich die helle, klare Stimme von Frau Lindner.

„Hallo“, antwortete mein Mund, wie mechanisch. Meine Stimme klang noch so angeschlagen wie gestern. Von was hätte sie auch besser werden sollen?

„Oh, du klingst ja gar nicht gut.“ War Frau Lindner wirklich besorgt? Vielleicht. Keine Ahnung.

„Magenschmerzen.“

„Hm, ja, das hat man mir gesagt. Das kommt in letzter Zeit öfter vor, oder?“ Oh, wie sensibel sie nachfragte. Ich wusste, dass Frau Lindner nur deswegen bei mir zuhause anrief, damit man der Schule keinen Vorwurf machen konnte, falls mich tatsächlich ein tragischer... Unfall ereilte. Man musste doch auf den Jungen ohne Familie ein Auge haben, nicht? Ich war doch sonst ganz allein. War ich wirklich. Der Anruf von ihr war trotzdem nicht tröstlich.

„Möglich.“

„Ennoah...“ Sie schwieg kurz, schien nach den richtigen Worten zu suchen. Kurz erinnerte die Frau mich an meine Mutter und ihre Telefonate. Ob ich ihr das mal sagen sollte? „Der Direktor hat heute mit mir gesprochen. Falls du Montag nicht zur Schule kommst und kein Attest hast, könnte es ziemlich problematisch mit der Zulassung zum Abitur werden.“

„Ich hab ein Attest.“ Das wollte sie hören. Dann war doch alles im Lot.

„Und du kommst am Montag wieder?“, versicherte sie sich. Frau Lindner schien mit meiner Antwort nicht so ganz zufrieden zu sein.

„Ja.“ Alles was Madam befahl. Hauptsache das Gespräch war bald vorbei.

„Weißt du, wenn du willst, kannst du mal mit unseren Schulpsychologen sprechen.“

„Warum?“ Ein Seelenklempner würde mir auch nichts gegen die Einsamkeit bringen und das war das einzige, was mich fast um den Verstand brachte.

„Er könnte dir helfen.“ Das glaubte sie doch selber nicht, oder? Was wollte unser unfähiger Schulpsychologe schon ausrichten? Ich hatte schon mal mit ihm geredet. Wir waren alle sehr höflich zu einander gewesen und darüber eingekommen, dass uns das alles nicht weiter brachte.

„Ich habe nur Magenschmerzen“, betonte ich nochmals. Das war nicht mal gelogen, die letzten Tage war es so schlimm wie lange nicht mehr. Anscheinend war gar nichts essen, ähnlich strapazierend wie das falsche essen.

„Okay, gut.“ Sie glaubte mir kein Wort. Aber das war ihre Sache. „Ich hoffe, wir sehen uns dann Montag.“

„Ja. Bis dann.“

„Bis dann, Ennoah.“ Sie betonte meinen Namen nochmal extra. Keine Ahnung warum sie das machte. Ich legte auf und ich sollte mir jetzt definitiv einen Termin bei Doktor Berens machen, wenn ich noch irgendwas geregelt bekommen wollte. So ein Dreck.

Ich ging kurz in mein Schlafzimmer, um dort nach der Uhrzeit zu sehen. Okay, es war halb elf. Sollte um die Uhrzeit ein Lehrer nicht beim Arbeiten sein? Tz... Naja, egal. Die Sprechstunde meines Hausarztes ging noch bis zwölf. Es sollte also noch für eine Dusche reichen, die wirklich dringend nötig war. So widerlich hatte ich mir lange nicht gefüllt und die Verletzung an meinem Arm trug nicht unerheblich dazu bei.

Ich schälte mich aus meinen Klamotten, die alle irgendwie muffig rochen und stieg unter die Dusche. Das Wasser stellte ich eine Spur kälter als sonst, in der Hoffnung, das es so etwas Leben aus mir rauskitzelte. Nicht wirklich, mir wurde nur noch schwindeliger davon.

Ich beeilte mich mit dem Duschen. Das Letzte was ich wollte, war in der Dusche wegkippen. Das war mir mal passiert, als ich wegen meinen krassen Wachstumsschüben immer wieder mal umgekippt war. Ich hatte mir mein Schultergelenk ausgekugelt, hatte verdammt weh getan. Groß werden, war definitiv schmerzhaft, nicht nur im übertragenen Sinne.

Beim Einseifen spürte ich meine Rippen unter meinen Händen. Ich musste aussehen wie der lange, wandelnde Tod oder Dirk Nowitzki. Vielleicht hätte ich ja Basketballspieler werden soll, für irgendwas sollte doch diese irrsinnige Größe gut sein. Jetzt fehlte mir nur noch Sportlichkeit und das Talent dafür.

Ich trocknete mich ab und ging nur mit einem Handtuch um die Hüfte in mein Schlafzimmer. Irgendwo mussten noch saubere Klamotten sein. Nico und ich hatten erst letzte Woche Wäsche gewaschen. Kam mir vor, als wäre das schon ewig her. Tatsächlich fand ich frische T-Shirts in der Kommode, auf der auch mein Fernseher stand. Naja, erstmal waren da nur Kleidungsstücke von Nico, die mir nicht in tausend Jahren passen würden. Kleiner Gnom.

Ich wühlte noch etwas in der Schublade und fand dann endlich etwas von mir. Das T-Shirt war ausgewaschen, zerknittert und fühlte sich steif an. Wir hatten immer noch nicht rausgefunden, wie meine Oma und seine Mutter die Wäsche so lenor-weich gekriegt haben. Na gut, vielleicht sogar mit Lenor, dafür hatten wir aber kein Geld. Aber eventuell war es auch ein großes Frauengeheimnis.

Ich zog das T-Shirt trotz all seiner Defizite über, fand noch eine Jeans auf dem Boden, die nicht total dreckig war und machte mich schließlich auf den Weg zu meinen Hausarzt.

Auf dem Weg dahin, versuchte ich immer auf jeden fünften Pflasterstein zu treten. Es war angenehm, sich abzulenken und über nichts nachzudenken, als irgendeinen Unsinn. Weiche Wäsche, Basketballspieler, Pflastersteine. Alles bestens. Alles bestens.

Im Wartezimmer saßen nur noch zwei ältere Damen, die wahrscheinlich nur zum Arzt gingen, damit sich überhaupt wer um sie kümmerte. Eine schaute mich mit einen abschätzenden Blick an. Pah, die wusste gar nicht, wie ich noch vor einer Stunde ausgesehen hatte. Aber vielleicht hätte ich mich doch noch rasieren sollen. Das war mir allerdings doch zu viel gewesen, bloß für ein Attest.

Ich ignorierte den Blick der Frau, tippte dafür aber unablässig auf den Boden und zwar hauptsächlich, um sie damit zu nerven. Die kleinen Gemeinheiten des Alltags.

Ich hörte aber mit dem Tappen nicht auf, als sie von der Arzthelferin aufgerufen wurde und mit schwerfälligen Schritten den Raum verließ. Kein Wunder, dass ich solange warten musste, so lahm wie sich dieses alternde Ungetüm bewegte. Egal, ich brauchte das Attest, wenn ich mir meine Zukunft nicht komplett versauen wollte. Ich wusste nicht, ob es wirklich etwas änderte. Aber besser als nichts, oder?

Als die Arzthelferin meinen Namen rief, war ich trotzdem froh, endlich aus diesem stickigen Raum zu kommen. Für Doktor Berens hatte ich mir schon meinen Text zurechtgelegt, den ich ihm vorjammern würde. Schreckliche Magenschmerzen, Übelkeit, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, was nicht mal gelogen war, aber die hatten mich sonst auch nicht vom Schulbesuch abgehalten. Es lag ausschließlich an mir, tat es immer. Oh, und ich hatte natürlich noch die eiternde Wunde. Sollte ich ihm die auch zeigen? Ich linste noch kurz zu meinem Arm, bevor ich das Behandlungszimmer betrat. Wenn ich schon mal hier war. Die Wunde tat nämlich wirklich etwas weh und es wäre ganz nett, etwas dagegen zu bekommen.

Der Arzt musterte mich besorgt, als ich ihm meine Leiden schilderte, kurz die Wunde zeigte und behauptete, dass ich keine Ahnung hatte, woher sie stammte. Er registrierte meine tiefen Augenringe, meinen krassen Gewichtsverlust, mein ungepflegtes Erscheinungsbild und wusste das ich log, auch was die Verletzung anging. Er sah einfach alles und deswegen hatte er mir ein Attest geben und mir eine entzündungshemmende Salbe zugeschoben. Immerhin musste jemand etwas tun, um mir zu helfen. Und wer sollte das sein, wenn nicht mein Hausarzt?!

„Ich will ehrlich mit dir sein, Ennoah.“ Doktor Berens lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und sah mich mit einem kritischen Blick an. Der Sessel knarzte unangemessen laut für seinen Preis. Ich wartete, dass der Arzt weiter sprach. Es kam immerhin nicht oft vor, echter Ehrlichkeit zu begegnen.

„Ich mache mir Sorgen um dich. Drogen haben schon ganz andere Männer zu Grunde gerichtet.“ Er hatte seine Hände vor seiner Brust gefaltet und diese Gestik irritierte mich ähnlich wie das Gesagte. Mir wurde gerade Drogenkonsum unterstellt, von meinem langjährigen Hausarzt? Einfach so. Ich wusste nichts, was ich auf diesen Vorwurf erwidern sollte, so absurd kam er mir vor. Gott, als hätte ich nicht schon genug Probleme. Ich schüttelte etwas fassungslos den Kopf.

„Ennoah, ich meine es gut mit dir. Ich weiß, was du alles durchgemacht hast.“ Ha, auf die verständnisvolle Tour. Fick dich ins Knie. Er saß hier in seinem Arztkittel, in seinem Designerstuhl, einen Kuli vor sich liegen, der mir für einen Monat die Nebenkosten zahlen könnte und wollte mir ernsthaft erzählen, dass er mich verstand? In welchem Universum konnte er nur ernsthaft eine Ahnung von meinem Leben haben? Ich schnaubte verächtlich. Das bedurfte keinen weiteren Kommentar. Doktor Berens seufzte, setzte dazu an, etwas zu sagen. Etwas was ich heute nicht noch einmal hören wollte. Geh zum Psychologen, lass dich beraten. Du bekommst dein Leben nicht alleine hin. Die hatten doch keine Ahnung. Ich erhob mich hastig von meinem Stuhl, bevor mein Hausarzt tatsächlich zu Wort kam und verließ den Raum ohne Verabschiedung. Hätte ich den Mund aufgemacht, ich wäre nur unflätig geworden. Mir sonst was für beschissene Anschuldigungen an den Kopf werfen und mir dann mit bekloppten Ratschlägen kommen. Die konnten mich alle kreuzweise.

Wenigstens hatte ich das Attest bekommen, das sicher in der Gesäßtasche meiner ausgewaschenen Jeans deponiert war. Mit hastigen, verärgerten Schritten ging ich nach hause. Unten checkte ich noch meinen Briefkasten, der mit Werbung und Mitteilungsblätter voll gestopft war. Eigentlich erwartete ich Post von meiner Mutter, fand allerdings nichts von ihr. Es war Mitte des Monats, normalerweise schickte sie das Geld immer am Anfang. War denen nicht klar, dass ich das zum Leben brauchte? Vor allem jetzt, wo Nico weg war, dessen Geld definitiv hilfreich gewesen war, gerade was die laufenden Betriebskosten der Dreckswohnung anging.

Vielleicht sollte ich die nächsten Tage neben Essen auch auf Strom verzichten. Einfach weil ich keine Ahnung hatte, womit ich den Scheiß bezahlen sollte. Mit übler Laune stiefelte ich die Treppen nach oben und hätte dabei beinahe eines der Kinder von Frau Kammerer niedergestreckt, das mir entgegen gerannt kam. Ich verzog genervt das Gesicht. Mistkröte. Es murmelte eine Entschuldigung und hüpfte dann munter die restlichen Treppen nach unten. Oben hörte ich seine Mutter die Wohnungstüre verschließen und ich seufzte.

Gleich würde sie mir entgegen kommen, dann müsste ich lächeln und höflich sein und so tun, als wäre mein Leben nicht einfach nur zum Kotzen. Als sie mich sah und freundlich grüßte, bekam ich noch ein müdes Grinsen hin, mehr hatte ich hier heute definitiv nicht zu bieten. Smalltalk war einfach zu viel. Ich drängelte mich eilig an ihr vorbei und hoffte, dass mein Mundwinkelverziehen reichte, um sie mir vom Hals zu halten.

„Ennoah, warte mal!“, rief sie mir nach und ich verdrehte die Augen, bevor ich mich ihr zu wandte.

„Ja?“, würgte ich hoch.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“ Ich hatte wohl irgendwelche mütterlichen Gefühle bei ihr geweckt. Anders konnte ich mir ihre Frage nicht erklären. Sonst interessierte sie sich einen Scheißdreck für mich. Warum gerade jetzt?!

„Klar.“ Leugnen war die Devise. Niemand wollte die Wahrheit hören. Nicht mal ich, besonders nicht ich. Ich versuchte die Wunde auf meinem Arm unauffällig zu überdenken. Man konnte sie ziemlich deutlich sehen, da ich nur dieses dumme, kurzärmlige T-Shirt anhatte.

„Dann ist ja gut.“ Sie lächelte falsch, ich lächelte falsch, sie ignorierte meine Verletzung und ich ignorierte, dass sie es bemerkt hatte. Damit war dieses unangenehme Gespräch beendet. Mein Leben ging sie nichts an, bloß weil sie ein Stockwerk unter mir lebte. Als ich endlich wieder in meiner Wohnung war, fühlte ich mich unglaublich ausgelaugt. Das alles hatte mir mehr Kräfte geraubt, als erwartet.

Ich steckte das Attest noch in meinen Schulrucksack, der verwaist im Gang lag und schmiss mich dann in mein Bett. Mein Arm pochte mittlerweile wirklich unangenehm, deswegen kramte ich noch die Salbe aus meiner Hosentasche hervor. Na, hoffentlich half sie etwas. Sie roch aufdringlich nach Gesundheit und Kräuter und würde mir häßliche Fettflecken auf mein Laken machen. Einen Verband hatte ich nicht da, um dagegen etwas zu unternehmen. Was soll´s. Ich wollte nur noch schlafen, am besten für immer.

Ich bin frei und mir ist schlecht. Warum sollte mir nicht schlecht sein?

Au Mann, ich hab voll das schlechte Gewissen, dass euch das letzte Kapitel so deprimiert hat. ;_; Ich... ich... hab nichts zu meiner Rechtfertigung zu sagen, manchmal ist man einfach deprimiert und schreibt deprimierende Dinge.

Übrigens ist das jetzt das Kapitel zu dem man sich schon durch die aktuellste Illustration hat spoilern können. -lach- Es ist nicht 1 zu 1 die gleiche Szene, kommt aber wohl nahe ran.

Und wisst ihr, die Story geht auch nicht spurlos an mir vorbei. Ich hab mir gerade Fernsehen bestellt. Ich hab jetzt über ein Jahr keinen Kabelanschluss mehr, aber jetzt halt ich es nicht mehr aus. Ich brauch Fernsehen und Ennoah ist Schuld! Ich mein, ich werd es bereuen, dass ich jetzt fünf Euro mehr im Monat zahle für stupide Unterhaltung, aber Gott, es ist meine stupide Unterhaltung! Und ich hab was zu beichten, ich war als Kind früher schwer fernsehsüchtig und jetzt werd ich rückfällig.

Egal... weiter mit dem nächsten Kapitel. Es kann ja nur besser werden, oder?

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Mein Schädel dröhnte, als ich das Schulgebäude betrat. Überall waren laute Stimmen, die sich in mein Hirn bohrten, mich malträtierten. Ich hätte mir am liebsten die Ohren zu gehalten und geschrien. Aber das wäre nicht nur nutzlos, sondern würde mich auch komplett wahnsinnig aussehen lassen. Keine Schwäche anmerken lassen. Junge, die konnten deine Angst riechen. Ich hatte heute auch vorsorglich einen Longsleeve angezogen und ein Pflaster über meine Wunde geklebt, nur um sicher zu gehen. Ich schaute um mich und diese ganzen Gesichter, die ich sicher schon tausendmal gesehen hatte, kamen mir unendlich fremd vor. Alles verschwamm in Unkenntlichkeit und ich wollte nur noch weg. Cool, Mann. Komm wieder runter, Enno! Ich atmete tief durch. Alles bestens. Alles bestens.

Ich kaute auf meiner Lippe und versuchte einfach die Menschen um mich herum auszublenden. Die beachteten mich noch nicht einmal, es störte mich einfach schon, dass sie hier waren. Irgendwann hatte ich es aber tatsächlich zu dem Raum geschafft, in dem wir Englisch hatten. Das Zimmer war noch abgesperrt und es tummelten sich schon ein paar Leute aus unserem Kurs davor. Automatisch suchte ich nach Nico und wusste nicht, ob ich enttäuscht oder erleichtert war, als ich ihn nicht entdeckte. Ich würde so oder so bald auf ihn treffen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich auf ihn reagieren sollte. Allein wenn ich daran dachte, wurde ich unruhig. Naja, unruhiger, als ich sowieso schon war. Bevor ich mich in eine Panikattacke reinsteigern konnte, riss mich Robert zum Glück aus meiner Gedankenwelt. Er grüßte mich mit einem unsicheren Blick. Mensch, ich hatte mich gestern Abend extra noch rasiert. Warum musste er so schauen?

„Na, wie geht’s so?“, leierte Robert ein kränkliches Gespräch an.

„Naja, geht so...“ Ich zuckte mit der Schultern. Was hätte ich auch groß darauf antworten sollen, ohne ihm mein ganzes Seelenleben zu offenbaren.

„Schön, dass du wieder da bist.“ Dem Satz schwang noch etwas nach und sagte mehr, als ich wollte. Schön, dass du dich noch nicht umgebracht hast. Hätte mich irgendjemand ernsthaft davon abgehalten? Natürlich, niemand wollte, dass ich starb, trotzdem würde auch niemand aktiv etwas dagegen unternehmen, oder? Glück für sie, dass ich nicht vor hatte zu sterben. Ich war armselig, aber auch ich hatte noch irgendwo meinen Stolz.

„Und hab ich was verpasst?“ Nicht, dass ich vorhatte meinen Stoff nachzuholen, aber es war ein Gesprächsthema.

„Naja, nicht viel. Die Arbeit halt. Die war ja so zum Kotzen! Sei froh, dass du nicht mit geschrieben hast.“ Ich wusste ja noch nicht mal in welchem Fach wir geschrieben hatten! Außerdem musste ich nachschreiben und in der Regel war man da immer angeschmiert, weil einem die Lehrer die extra Arbeit übel nahmen, die sie damit hatten.

„Wie ist es bei den anderen so gelaufen?“ Bla Bla Bla. Seinen Soll erfüllen, Erwartungen zumindest im Minimum gerecht werden.

„Weiß nicht, glaub auch nicht so gut. Außer vielleicht bei Nico, aber war ja klar.“ Robert verdrehte die Augen, weil wir das meistens taten, wenn wir über ihn redeten. Nico konnte alles, wusste alles und es war unverschämt, dass er dafür relativ wenig machte. Ich wusste das besser, als die meisten hier. Allerdings fand ich das Gesprächsthema nicht gut. Nico war also in der Schule gewesen, hatte seinen normalen Alltag, anstatt völlig durchzudrehen wie ich. Gut, seit der Oberstufe nahm er das ganze Schulding sowieso sehr ernst. Ich erinnerte mich noch an die Zehnte. Da gab es kaum eine Woche an der er nicht gefehlt hatte. Jetzt war er eigentlich sowas wie ein Streber, wenn man von seiner ganzen, vorlauten Art absah und seinem Aussehen. Okay, Nico war kein Streber, aber er hatte trotzdem gute Noten, was es nicht besser machte.

„Wegen einem Nachschreibetermin weißt du nichts, oder?“

„Nee, ich denke, da musst du direkt fragen.“

„Hrm...“ Ich wusste ja noch nicht mal wen. Egal, es würde sich schon noch alles irgendwie regeln. Ich würde dem Englischdrachen gleich mein Attest geben und mich als anwesend eintragen lassen und dann war die Welt gleich schon mal ein Stück besser, weil ich etwas getan hatte. Ich musste dann nur noch den restlichen Schultag überleben und den darauf und den darauf und … Besser nicht dran denken, das demotivierte mich.

Das zerknitterte Attest drückte ich der Englischlehrerin noch vor der Tür in die Hand, damit es den anderen nicht so auffiel. Wahrscheinlich bemerkten die meisten Leute aus dem Kurs nicht einmal, dass ich so selten da war. Die Lehrerin überflog es kurz und legte es dann ins Klassenbuch. Ihr war es ziemlich egal, wie oft ich ihren Unterricht besuchte. Ich war weder eine Bereicherung, noch so schlecht, dass es störte.

Ich setzte mich neben Robert und fixierte den Platz, an dem Nico sitzen sollte. Er war nicht da und ich wüsste gerne, wieso. Verschlafen, krank oder hatte er gerochen, dass ich heute hier sein würde? Vielleicht mied er mich. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, dass so etwas banales wie ein Streit mit mir ihn von der Schule fernhalten würde. Meine Gedanken waren verschwendet. Nico stolperte mit einem Brötchen im Mund und einer Tasse Kakao – Kaffee mochte er nicht sonderlich, dieser Kostverächter – in das Klassenzimmer. Er nuschelte eine Entschuldigung, versprach der Lehrerin, dass er ihr für diesen ungebührlichen Auftritt einen Kaffee spendieren würde und drehte sich nicht mal in meine Richtung um. Er hatte nicht mal zu meinem Platz herüber gelinst, als er den Raum betreten hatte. Wusste er überhaupt, dass ich hier war? Er musste es wissen. Wie konnte er so seelenruhig da sitzen, mit seinen Tischnachbar reden und mich nicht mal wahrnehmen?! Mein Blick haftete an ihm, wie eine Fliege an einer klebrigen Falle. Ungesund.

Man sah ihm nichts an. Er sah zufrieden, glücklich und unbeschwert aus. So wie immer. War er einfach nur ein guter Schauspieler, oder war die Welt für ihn wieder in Ordnung? Jetzt wo er mich los war. Ich fühlte mich verraten. Wahrscheinlich war er wieder heim zu Mama gekrochen, hatte sich entschuldigt und bekam dann wieder das Essen vorgesetzt, die Wäsche gewaschen und musste sich keine Gedanken um sein Leben machen. Und was hatte ich? Ich konnte mir ja nicht einmal mehr Kaffee machen! Gott, ich hätte die Kaffeemaschine niemals getreten, wenn sie nicht dort auf den Boden gestanden hätte und ich nicht so verdammt wütend auf Nico gewesen wäre!

„Ennoah!“ Ich zuckte zusammen und starrte konfus zur Lehrerin. Was wollte sie denn? An den Unterricht hatte ich gar nicht mehr gedacht.

„Vorlesen!“ Jawohl, Sir! Jetzt musste ich nur rausfinden, was. Ich schaute hilfesuchend zu Robert, der unauffällig auf ein Blatt tippte, das vor mir lag und mir noch gar nicht aufgefallen war. Okay, das bekam ich hin. Ich begann den Text zu lesen, stolperte über einfache Wörter, kroch zum nächsten Satz, wurde von etwas Unaussprechlichen nieder gestreckt und verblutete beim letzten Abschnitt. Die Lehrerin hatte Mitleid und rief jemand anderen auf, um mich zu erlösen. Ich war noch nie gut gewesen im Vorlesen, aber das war gerade selbst für mich eine Schande gewesen. Aber hatte ich etwa angenommen, dass dieser Tag auch nur im entferntesten gut werden könnte?

Ich heftete meinen Blick weiterhin auf das Blatt und vermied es aufzusehen. Nico wusste jetzt definitiv das ich hier und wahrscheinlich auch, dass es mir ziemlich bescheiden ging. Interessierte ihn das überhaupt? Eher nicht. Ich war doch nur der Idiot, bei dem er wohnen konnte und als Bonus gab es sogar noch Sex dazu. Kaum gab es etwas Stress ließ er mich hängen. Ich hatte doch von Anfang an gewusst, dass er für nichts taugt. Trotzdem brannte in mir die Enttäuschung.

Mittlerweile war mir Nico wohl wichtiger geworden, als ich jemals erwartet hatte. Verdammte Scheiße! Er konnte sich doch nicht einfach so aus meinem Leben verpissen, wie es meine Mutter getan hatte. Ehrlich, das ging nicht! Arschloch!

Ich beschloss, dass ich ihm das auch gleich am Ende der Stunde mitteilen würde. Was dachte er sich überhaupt? Erst so tun, als wäre ich ihm wichtig und dann nicht mal den Anstand haben, irgendwelche Verantwortung zu übernehmen!

Als es dann zum Stundenende gongte, hatte ich mich so sehr in meine Wut und meinen Frust hineingesteigert, dass ich besser meine Klappe gehalten hätte. Tat ich leider Gottes nicht. Stattdessen ging ich mit grimmiger Miene zu Nico, der im Gang stehen geblieben war und sich dort mit Bennie unterhielt. Er stand mit dem Rücken zu mir und ignorierte mich. Ihm war nämlich definitiv klar, dass ich hinter ihm stand. Das er nicht mal in meine Richtung schauen konnte, brachte das Fass nicht zum Überlaufen. Es wurde einfach gesprengt! Ich packte ihn an der Schulter und drehte ihn mit einem harten Ruck zu mir um. Ich wurde entsetzt angestarrt, nicht nur von Nico.

„Du bist so ein gottverdammtes Arschloch!“ Mich traf nur ein verwirrter Blick. Musste der so tun, als hätte er keine Ahnung von was ich redete, so, als wäre er unschuldig, unbeteiligt.

„Scheiße, schau nich so bescheuert! Du weißt genau wovon ich rede. Du hast mich doch nur komplett verarscht und lässt mich jetzt in der Scheiße sitzen! Aber glaub bloß nicht, dass ich mir das gefallen lasse!“ Ich machte einen Schritt auf ihn zu, vielleicht um ihn zu schlagen oder einfach nur, um ihn zu schubsen. Er wich zurück. Die anderen starrten uns an wie ein fehlgeschlagenes Experiment, für das sich niemand verantwortlich fühlte.

Nico schüttelte den Kopf, hatte dabei die Stirn gerunzelt, als könnte er mir nicht folgen.

„Sag was!“, forderte ich und wusste einfach nicht mehr, was ich tun sollte. Irgendeine Reaktion, irgendwas! Er musste etwas sagen, sonst war ich verloren.

„Du hast so einen Schaden, Enno“, kam es leise von ihm. Seine Stimme war nicht deswegen gesenkt, weil er Angst vor Zuhörern hatte. Er war müde von mir. Er hatte mich und alles an mir unendlich satt.

„Ach, fick dich doch. Ich brauch so einen Flachwichser wie dich nicht!“ Warum musste gerade das eine Lüge sein?! Ich war ein Vollidiot, Nico auch und nun klebten meine Worte in dem peinlichen Netz des Schweigens fest und gleich würde die fette Spinne der totalen Schande kommen und mich fressen. Ich spürte der Blick der anderen auf mir. Sie wussten nicht was los war, es ging sie auch nichts an. Mein Leben war Sperrgebiet und ich hatte es nicht gut genug bewacht.

Robert legte mir eine Hand auf die Schulter, erst jetzt merkte ich, dass ich am ganzen Körper zitterte. Ich schüttelte ihn ab. Die Berührung war mir unangenehm. Ich konnte keine Nähe ertragen, nicht im Moment. Ich wollte hier nur noch weg. Mein Kopf schmerzte. Mein Arm pochte. Alles dröhnte.

An den Weg nach Hause konnte ich mich nicht mehr erinnern, nur an das Gefühl zu ersticken. Mein Leben steckte mir im Hals und ich konnte es einfach nicht herunterschlucken. In der Wohnung angekommen, konnte ich nur in den leeren Raum torkeln und mich dort auf die Matratze fallen lassen. Die verschandelten Wände starrten mich an. Im Zimmer hing noch Nicos Geruch und vielleicht bildete es mir nur ein, aber ich glaubte noch leicht den Duft meiner Großmutter wahrzunehmen. Es roch nach Verlust. Ich inhalierte ihn. Langsam bekam ich wieder Luft und mein Körper beruhigte sich. Meine Gedanken nicht, sie schwirrten um mich, macht mir Angst und ich war froh, dass ich sie nicht zu fassen bekam. Ich schlief ein.
 

Mein Blick fiel auf die Farben, die immer noch hier im Zimmer lagen. Ich hatte sie erst vor knapp einer Woche gekauft. Wer hätte erwartet, dass dieses Ereignis soviel mit sich ziehen würde. Hätte ich diese überteuerten Farben nicht gekauft, hätte ich Eddys Anruf nicht verpasst, hätte ich mich nicht mit Nico gestritten und alles wäre irgendwie besser gewesen, als jetzt. Konnte es wirklich sein, dass so etwas Triviales so eine Scheiße verursachte?! Ich starrte die Farben an. Ich hatte noch nicht einmal etwas sinnvolles damit gemacht. Alles umsonst, oder?

Ressourcenverschwendung, genau wie ich.

Gott, in wie viel Selbstmitleid konnte man eigentlich versinken? Ich erhob mich von der Matratze, kickte einer der Farbtuben in die Ecke, die dort unbeeindruckt liegend blieb. Ich würde mir jetzt eine Tasse Tee machen, da ich nichts anderes zu trinken hier hatte und würde etwas malen. Etwas was es Gott verdammt noch mal wert war, das mein Leben ein Haufen Scheiße war. Ich hatte keine Lust mehr auf mein ewiges Gejammere. Es wurde ja doch nichts besser davon.

Als ich mit meinem Tee wieder in dem Raum stand und das dämmrige Abendlicht durch das Fenster fiel, wusste ich sogar was ich malen wollte. Es würde vielleicht nicht das beste Bild meines Lebens werden, aber wenn hier schon keine echten Menschen waren, sollten zumindest gemalte das Zimmer beleben. Dann könnte ich mit den Malereien an den Wänden sprechen und ganz offiziell verrückt sein.

Beschwingt durch diesen Gedanken blätterte ich meine Zeichnungen der vergangen Monate durch und blieb zu meiner Überraschung an einer Zeichnung von Nico hängen. Er wäre nicht der erste Mensch gewesen, an den ich gedacht hätte. Aber je längere ich meine Skizzenblöcke durchsah, desto größer war das Bedürfnis gerade ihn zu malen. Vielleicht lag es daran, dass ich das Gefühl hatte, jedes Detail seines Körpers zu kennen. Ich musste nur die Augen schließen und konnte ihn vor mir sehen, wie er in meinem Bett liegt mit einem frivolen Grinsen zu mir hochblickte.

Ich schlug die Augen wieder auf. Ich würde Nico zeichnen, aber nicht so. Das würde ich nicht aushalten. Selbstmitleid hin oder her, man musste sich nicht auch noch selbst quälen. In meinem Skizzenblock fand ich dann schnell ein Motiv, mit dem ich sprechen würde. Immerhin war das das Hauptziel, oder? Wenn es schon kein echter Mensch mit mir aus hielt, dann sollten es doch wenigstens die gemalten schaffen.

Auf der Skizze war Nico zu sehen, wie er nur mit Jeans begleitet die Pose des Denkers machte. Ich hatte es damals als lächerlich empfunden. Nico war der Meinung sie wäre klassisch und dennoch cool. Naja, egal.

Ich betrachtete die Zeichnung eingehend, bevor ich sie beiseite legte und beschloss doch etwas eigenes zu zeichnen. Ich hatte ihn schon so oft gezeichnet, ich brauchte keine Vorlage mehr.

Mit einem sehr weichen Bleistift setzte ich mich vor die Wand mit der zerfetzten Tapete. Vielleicht nicht der beste Untergrund fürs Malen, aber das war mir egal. Das war nur ein Ding für mich und es würde auch niemand zu Gesicht bekommen außer mir.

Mit großen, weiten Strichen, die irgendwie ungewohnt für mich waren, nahm die Skizze an der Wand langsam Gestalt an. Nico lag auf seinen Ellenbogen gestützt da und starrte zur Tür, so als würde er nur darauf warten, dass jemand den Raum betrat. Ich lächelte leicht und fuhr die Konturen seines Gesichtes nach. Sah er wirklich so aus? Egal, nicht so wichtig.

Ich öffnete einer Farbtuben, die neben mir lag, und griff zu einem der neuen Pinsel, drückte die Farbe direkt auf die Borsten und verteilte sie großzügig auf der Zeichnung an der Wand. Die Tapete und ihre Retro-Blümchen schimmerten an manchen Stellen durch. Der Bleistiftstrich vermischte sich leicht mit dem Weiß aus der Tube und gab dem ganzen einen schmutzigen Grauton. Ich suchte nach anderen Farben, rot, gelb, irgendwas, was dem Bild das gespenstische nahm. Nico sah aus wie ein an der Wand gefangener Geist, der hoffnungsvoll zur Türe sah. So, als würde er nur darauf warten, dass sie sich öffnete und er verschwinden konnte.

Ich hätte nicht ihn zeichnen sollen. Mit ihm wollte ich nicht reden, er wollte nur weg von hier. Frustriert ließ ich den Pinsel sinken, starrte diesen gemalten Nico an. Ich erkannte ihn in den schmutzigen, hellen Tönen. Sein Blick von mir abgewandt. Das war er.

Ich blieb auf dem kühlen Boden sitzen. Mittlerweile hatte ich nur noch Licht von der kleinen Nachttischlampe, die sich Nico hier rein gestellt hatte. Langsam verschwamm das Bild vor meinen Augen, der Pinsel fiel mit einem leisen Klack auf die Dielen und ich konnte mich nicht mehr rühren. Ich fühlte mich so unendlich erschöpft. Ich wusste nicht einmal, wie ich mich wieder erheben sollte. Die Kälte des Bodens zog sich durch meinen Körper und alles fühlte sich irgendwie taub an.

Nullpunkt erreicht.

Das Leiden ist so lange nötig, bis du erkennst, dass es unnötig ist.

Ein Geräusch weckte mich. Ich konnte es aber nicht zu ordnen. Träge öffnete ich meine Augen, konnte aber im fahlen Licht der Nachttischlampe nicht viel erkennen. Meine Glieder schmerzten, das Pflaster war von meiner Verletzung abgegangen, ich hätte sie schon längst wieder einsalben müssen. Das war zu viel. Mir war kalt. Mit steifen Bewegungen schaffte ich es, mich vom Boden aufzurappeln und mit wankenden Schritten zur Matratze zu gehen, um mich dort erschöpft fallen zu lassen.

Es roch nach Farbe. Mir war schlecht und heiß.

Mein Körper rächte sich für die miese Behandlung der letzten Tage. Ich hatte mir eine astreine Erkältung eingefangen und verfluchte mich und meine Nachlässigkeit. Wundervolle Idee im Herbst im T-Shirt auf dem kalten Holzboden zu schlafen, vor allem, wenn es einem eh schon schlecht ging. Bei meinem Glück würde mir auch noch demnächst der Arm abfaulen. Ganz toll gemacht, Ennoah. Kannst dir auf die Schultern klopfen! Ich sollte mich in mein warmes Bett ein Zimmer weiter legen. Irgendjemand anrufen, dass er nach mir schaute, mir meine Wunde versorgte. Notfalls Frau Kammerer unter mir, die mir mal ihre Nummer da gelassen hatte. Einfach nur irgendwer, damit ich sicher sein konnte, das mein Körper mich nicht einfach umbrachte.

Allerdings war ich schon zu schwach, um mich überhaupt von der Matratze hochzuraffen. Mein Zimmer lag also in unerreichbarer Ferne. Verdammt. Ich schloss die Augen und hoffte, dass es davon besser wurde. Wenn ich noch ein bisschen weiter schlafen würde, hätte ich bestimmt genug Energie. Hoffentlich.

Ich hörte, wie jemand den Raum betrat und laut fluchte. Verärgert öffnete ich meine Augen. Ich wollte schlafen, ich brauchte Schlaf! Aber wenn man an mir rumriss und mich anbrüllte ging das nicht. Ich versuchte den Arm weg zu schieben, der mich in eine aufrechte Position drückte, schaffte es aber nicht. Jetzt war ich auch gezwungen Nico anzusehen, der mich ernsthaft besorgt anstarrte. Wahrscheinlich sollte ich mich freuen, dass er hier war. Aber mein Kopf schmerzte, mir war kotzübel und ich spürte jeden Knochen in meinem Leib auf eine sehr unangenehme Art und Weise und irgendwie war Nico auch Mitschuld daran. Außerdem hatte ich Fieber, da hatte ich es nicht so drauf mit dem Klardenken. Ich setzte sogar dazu an, ihn zu beleidigen und ihm noch mal klar meine Meinung zu sagen. Es kam aber nur ein heiseres Krächzen aus meinem Hals und ich entschloss mich, das alles auf später zu verschieben.

„Ennoah, du musst ins Bett!“, sprach Nico eindringlich auf mich ein. Pah, als wüsste ich das nicht selbst. Ich starrte ihn nur giftig an, was er wohl als ein Nein interpretierte. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, mich mit erstaunlich viel Kraft hochzuhieven. Ich strauchelte, als ich plötzlich wieder auf den Beinen stand und ließ mich schwer gegen ihn fallen. Er ächzte unter meinen Gewicht, konnte mich aber halten.

„Dafür, dass du so ein Gerippe bist, bist du ganz schön schwer“, nörgelte er, als er mich in mein Zimmer schleppte. Er schmiss mich unsanft auf das Bett und starrte unzufrieden auf mich herunter. Ihm schien ganz offensichtlich nicht zu gefallen, was er sah. War mir egal. Ich griff nach meiner Decke und versuchte mich darin einzurollen. Scheiterte allerdings daran, da ich noch darauf lag und sie nicht unter mir hervorziehen könnte. Nico verdrehte genervt die Augen, beugte sich über mich und deckte mich der zweiten Decke zu, die noch im Bett lag. An die hatte ich nicht mehr gedacht. Er schüttelte kurz den Kopf und wandte sich ab, um den Raum zu verlassen. Nico wollte gehen?!

Ich spürte, wie Panik in mir hoch kroch. Ich lag zwar wieder in meinem Bett, aber was sollte ich machen, wenn er wirklich ging?!

Ich streckte meinen Arm aus und krächzte ihn an, fühlte mich dabei armselig. Ich war ein Gestrandeter in der Wüste, der die Quelle anflehte nicht zu versiegen. Nico hatte Mitleid und setzte sich auf den Bettrand, strich mir in einer ungewohnt liebevollen Geste meine verschwitzen Haare aus der Stirn. Er lächelte dabei nicht, sondern blickte mich nur besorgt an. Seine Berührung tat trotzdem gut. Sein Hand ruhte auf meiner Wange und ich wünschte mir, dass er mich küssen würde. Stattdessen legte er sich zu mir, schlang seine Arme um mich und zog mich näher an sich heran. Ich hörte sein Herz ruhig und gleichmäßig schlagen. Seine Hand fuhr über meinen Rücken, eine tröstende Geste. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich weinte. Es war kein erlösendes Heulen, sondern pure Erschöpfung.

Ich konnte einfach nicht mehr und wusste nicht, wie es nun weiter gehen sollte. Ich war nur froh, dass mich Nico im Arm hielt und ich nicht mehr alleine war. Ich hätte die Einsamkeit nicht länger ausgehalten und ich würde sterben, wenn er jetzt gehen würde. Wie ein kleines Kind drückte ich mich an ihm, sein T-Shirt saugte meine Tränen auf und sein Griff verstärkte sich noch etwas. Er flüsterte leise in mein Ohr. Sagte mir, was für ein dummer Idiot ich war und dass ich doch auf mich aufpassen musste. Nico war, genau wie ich, nicht gut im Trösten. Ich wusste, dass er sich überfordert und unwohl fühlte. Aber umso mehr erleichterte es mich, dass er trotzdem liegen blieb und mich nicht im Stich ließ.
 

Ich hörte Nico in der Küche fuhrwerken. Von diesem Geräusch war ich aufgewacht. Ich fühlte mich an den Tag erinnert, als er zum ersten Mal bei mir gewesen war. Es kam mir vor, als wäre das in einem anderen Leben gewesen. Soviel war passiert in den letzten Wochen, viel zu viel.

Ich wäre gerne aufgestanden und zu ihm gegangen, einfach um sicher zu sein, dass er wirklich hier war. Aber ich wusste, dass ich froh sein konnte überhaupt aufrecht zu sitzen, ohne umzukippen. Im Zimmer war es dunkel und mein Digitalwecker teilte mir mit das es weit nach zwei Uhr nachts war. Ich hatte Durst und als hätte Nico das erwartet, stand ein Glas Wasser auf dem Nachttisch. Ich stützte mich auf meinen Ellenbogen und nahm vorsichtig das Glas in die Hand. Dabei stellte ich auch fest, das mein Arm bandagiert war. Was Nico alles konnte, faszinierend. Unbeholfen trank ich ein paar Schluck von dem Wasser. Ich fühlte mich trotzdem noch wie ausgetrocknet, aber es war besser als davor.

Ich stellte das Glas wieder zurück, war dabei aber so ungeschickt, dass es mit einen lauten Klirren auf dem Boden aufschlug und ich musste nicht mal nachsehen, um zu wissen, das es zersprungen war. Mit einem genervten Seufzen ließ ich mich in mein Bett zurück fallen. Im Moment könnte ich nicht mal zeichnen, so grobmotorisch fühlte ich mich. Mein Körper schien gerade seinen ganz eigenen Willen zu haben, der damit zusammen hing, einfach nur dazu zu liegen und zu leiden. Gott, als könnte er meine kranke Psyche ausschwitzen und mit Viren töten. Dummes Ding.

Nico stand in der Tür und schaute verwirrt zu mir, als wäre er überrascht mich wach zu sehen. Ich mühte mir ein Grinsen ab, das weh tat, weil meine spröden Lippen aufeinander klebten.

„Danke“, krächzte ich schließlich, da er sich immer noch nicht rührte, sondern mich nur anstarrte. Dann schüttelte er den Kopf und wand sich wieder ab. Ich wusste nicht, was das bedeutete, konnte ihn aber auch nicht zurückhalten.

Mit diesem enttäuschten Gefühl schlief ich wieder ein. Als ich aufwachte, wusste ich nicht einmal, ob Nico wirklich hier gewesen war oder ob ich ihn mir nur im Fieberwahn eingebildet hatte. Ich hatte davon geträumt, das er ging oder war er wirklich weg? Ich lauschte mit Herzklopfen in die Wohnung, könnte aber nur meinen Atem hören, der unnatürlich fremd in meinen Ohren klang. War ich überhaupt wach? Plötzlich war ich mir nicht einmal sicher, ob Nico hier gewesen war. Vielleicht war es Eddy gewesen. Eddy, der mich immer in den Arm nahm, wenn es mir nicht gut ging. Ich erinnerte mich an eine Umarmung. Es lagen Trümmer um mich herum und jemand hielt mich fest. Ich hörte die gebrechliche Stimme meiner Großmutter. Sie rief nach mir. Sie brauchte meine Hilfe. Ich schlug die Decke beiseite und versuchte aus dem Bett zu kommen. Jemand hielt mich auf. Zu schwach, um mich dagegen zu wehren, sank ich wieder in die Laken zurück.

Eine kühle Hand legte sich auf meine Stirn, eine Stimme sprach leise aber eindringlich auf mich ein. Ich spürte, wie ich langsam wieder zur Ruhe kam. Der Raum war wieder leer, keine Stimmen, keine Gesichter und niemand, der mich umarmte. Wieder allein. Ich spürte meine heißen Tränen über die Wange laufen und schmeckte ihr Salz auf meinen Lippen.
 

„Gott, Enno, du machst mich so fertig.“ Nico saß am Bettrand und hielt mir auffordend eine Tablette hin, die ich wohl schlucken sollte. Bittere Medizin, wie die Tatsache, dass er nicht blieb. Ich nahm sie ihm aus der Hand und er reichte mir ein Glas Wasser, das auf meinem Nachttisch gestanden hatte. Hastig schluckte ich die runde, gelbe Kapsel herunter und versuchte den unangenehmen Geschmack auf der Zunge mit dem Wasser mitzuspülen. Es gelang mir nicht wirklich. Ich hatte es schon immer gehasst, irgendwelche Tabletten nehmen zu müssen. Seit ich sie meiner Oma immer reinbetteln musste, stand es nicht besser um meine Aversionen.

„Glücklich?“, fragte ich Nico, der mich die ganze Zeit genau beobachtet hatte. Hatte sich so meine Großmutter gefühlt, als ich darauf geachtet hatte, dass sie ihre Medikamente nahm? Ich wusste nicht an was es lag, aber irgendwie fühlte ich mich schuldig unter seinem Blick. Als hätte ich die Nachbarkatze angezündet, oder sowas.

„Weißt du, ich bin eigentlich nur gekommen, um meine restlichen Sachen zu holen.“ Er schüttelte kurz den Kopf. Ich konnte ihm ansehen, dass er es bereute hier zu sein und sich nun verantwortlich für mich zu fühlen.

„Ich hatte mir schon ernsthaft überlegt, den Notruf anzurufen.“ Seine Stimme klang sehr ernst und gefasst, als hätte er sich auf dieses Gespräch die letzten Stunden ganz genau vorbereitet. Er würde bald etwas sagen, was ich nicht hören wollte. Mir blieb eine Erwiderungen aber nur im Hals stecken. Ich kaute nervös auf meinem Daumennagel und schaute ihm gespannt an. Das Sitzen war irgendwie anstrengend, aber ich konnte nicht liegen, wenn Nico so redete.

„Du weißt hoffentlich, wie kaputt du eigentlich bist...“ Sollte ich dazu etwas sagen? Ja, ich wusste, dass im Moment etwas nicht ganz mit mir stimmte. Aber das würde wieder vergehen. Es sah vielleicht nicht so aus, aber ich hatte mein Leben definitiv noch im Griff. Ich nahm keine Drogen, ich saß nicht auf der Straße und ich wollte mich nicht umbringen, zumindest nicht wissentlich. Ich hatte im Moment nur einen kleinen Durchhänger, das war doch verständlich, oder? Ich wünschte, ich könnte das Nico irgendwie glaubhaft rüberbringen. Ich hatte keinen Schimmer wie, also kaute ich weiter an meinem Nagel.

„Was erwartest du denn von mir, Enno?“ Nico hatte die Stirn gerunzelt und wirkte jetzt nicht mehr so gefasst, sondern wieder überfordert. So wie heute Nacht, als er mich umarmte und mich leise beschimpft hatte. Ich wich nun seinem Blick aus. Was hatte ich für Erwartungen? Keine konkreten. Es war nicht so ein „Bitte verlass mich nicht!“-Ding, oder? Ich würde ohne ihn klar kommen, theoretisch. Ich hatte nur noch ihn und ich kam nicht alleine zu recht. Es war irrelevant, wer die Einsamkeit fernhielt. Aber das war nicht das, was Nico wollte. Hier ging es um Zugeständnisse. Es sah vielleicht nicht so aus, aber wir verhandelten hier um meine Gefühle. Eigentlich war es ja ziemlich link von ihm, dass er das in meinem geschwächten Zustand tat. Vielleicht hätte er auch anders keine Chance. Allerdings war ich auch jetzt nicht bereit, ihm das zu geben, was er wollte. Das Eingeständnis, dass ich ihn brauchte und er mir wichtig war. Es war keine Sache des Stolzes. Ich brachte es nur nicht über meine Lippen, weil ich wusste, dass es im Grunde gelogen war. Ich wollte nicht ihn speziell, sondern nur irgend wen und so unfair konnte ich einfach nicht sein. Eventuell hatte ich auch etwas Angst, aber das war nicht der Hauptgrund. Nico seufzte und erhob sich, gab mir aber noch die Möglichkeit etwas zu sagen. Ich brachte es nicht über mich.

„Okay, gut. Dann wäre das geklärt. Ich hab deinen komischen Freund angerufen und ihm gesagt, dass du krank bist. Er hat gemeint, er kommt bald vorbei. Bis dahin... Naja, es ist alles in Greifweite, was du brauchst, denk ich.“ Nico fuhr sich durch die kurzen Haare und sein Blick schweifte kurz unruhig durch den Raum. Suchte er einen Grund noch ein bisschen länger zu bleiben? Er fand keinen.

„Man sieht sich, Enno. Und pass besser auf dich auf, okay?“ Er grinste mich noch schief an und zog dann die Zimmertür hinter sich zu. Wäre das ein kitschiger Liebesfilm, würde ich laut nach ihm rufen, hektisch aus meinem Bett springen und ihm mit Fieber die Treppen hinab folgen, draußen auf der Straße abpassen und in seine Arme fallen. Aber allein schon die Tatsache, dass ich zwei Köpfe größer war als er und ihm schlecht in die Arme fallen konnte, machte diese Szenerio unrealistisch. Es wäre einfach nicht in Ordnung gewesen, ihm etwas vorzulügen, nur damit er nicht ging.

Und deswegen lag ich nun wieder allein in diesem Raum, dem nicht mal der leichte Tabakgeruch von Nico nachhing.

Ich hörte kurze Zeit später, wie sich ein Schlüssel im Schloss der Wohnungstüre drehte. Mein Herz schlug ungewollt etwas schneller. Hatte Nico noch den Schlüssel zu meiner Wohnung? Vielleicht war ich nur verwirrt vom Fieber und hatte das Gespräch falsch eingeschätzt. Konnte es sein, dass es gar kein Abschied gewesen war? Ich lauschte den Schritten, wie sie sich meinem Zimmer näherten und starrte wie gebannt auf die Tür.

Noch nie war ich so enttäuscht gewesen, Eddy zu sehen. Er stand da mit einem reuigen Blick, hatte einen Wohnungsschlüssel in der Hand, den er nicht haben sollte. Ich hatte noch vor Augen, wie er ihn vor mich geworfen hatte und unsere Freundschaft mit Füssen getreten hatte. Jetzt stand er hier, Schuld und Mitleid stand über sein ganzes Gesicht geschrieben und ich fragte mich, wessen Schlüssel er dort hielt.

„Hey“, sagte er mit belegter Stimme, um die unangenehme Stille zu brechen, die das Zimmer erfüllte hatte.

„Hey“, gab ich tonlos zurück. Ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Ich sah ihn vor mir, wie er mit Sophie im Arm auf seinem Bett saß und mir nichts erklären konnte. Er konnte mir nicht sagen, warum er diesem dummen Mädchen mir vorgezogen hatte.

„Ich, also...“ Er brach ab und setzte neu an. „Du siehst wirklich nicht gut aus.“

Danke, dass wusste ich auch. Er konnte nur froh sein, dass er diesen unangenehmen Besuch nicht auf einer dummen Krankenstation machen musste. Das hätte durchaus auch noch passieren können. Ich war mir mittlerweile sicher, das mein Körper ernsthaft versucht hatte, mich umzubringen. Dieses heimtückische Ding!

„Ich fühl mich auch nicht so besonders.“ Hier kamen die Worte, die mir vorhin gefehlt hatten. Warum? Lag es daran, dass Eddy mir wichtiger war als Nico oder war es andersrum? War es mir egal, wenn ich durch meine Worte Eddy an mich ketten würde? Ich wusste es nicht genau. Ich konnte nur den Schlüssel in seiner Hand anstarren. „Wie... wie bist du denn reingekommen?“

„Oh.“ Eddy starrte kurz überrascht den Schlüssel an, als hätte er ihn ganz vergessen. „Der lag unter der Fussmatte. Vorhin hat mich ja dein... naja, der Punk angerufen, dass du krank bist und meinte, ich soll herkommen und der Schlüssel würde da liegen und naja... das war dann auch so.“

Irgendwie wirkte diese ganze Situation völlig irreal. Nico hatte mit Eddy telefoniert, ihm seinen Schlüssel gegeben und Eddy war gekommen, bloß weil es ihm ein Kerl gesagt hatte, den er nicht mal sonderlich mochte. Hatte Nico einfach aufgegeben? Hier, du kannst Enno haben. Lohnt sich nicht mehr um ihn zu kämpfen. Nimm ihn oder lass es bleiben. Eddy war gekommen. Lief es wirklich darauf hinaus, er oder Nico? Gab es die letzte Option überhaupt noch.

„Ich hab dich vermisst, Enni.“ Seine Stimme klang ehrlich und in diesem Moment war Eddy wieder der, den ich kannte. Mein bester Freund und der einzige Mensch, der immer wieder zurückkam.

„Ich dich auch.“ Meinte ich es so ehrlich, wie er? Ich war mir nicht sicher. Die letzten Wochen hatte ich um ihn getrauert, ihn verflucht, mir seine Anwesenheit herbei gesehnt und ihn von mir gestoßen. Es würde nicht mehr so werden, wie früher. Das wussten wir beide.

Trotzdem lächelte er erleichtert. Eddy hatte Angst gehabt hierher zu kommen, Angst vor meiner Abweisung. Ich war ihm nach wie vor wichtig, aber nie auf die Art, wie ich es gerne hätte. Es war keine bittere Erkenntnis, im Grunde war es mir immer klar gewesen. Ich hatte es nur nie vor mir zugeben können. Ich erwiderte sein Lächeln.
 


 

Ende.

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Und, wie hat es auch gefallen?! Na, na, war das nicht ein total unbefriedigendes Ende? Naja, deswegen geht es doch noch weiter. Man will ja nicht so sein... XD Aber ehrlich, in der ursprünglichen Fassung wäre es nach dem Kapitel nicht weiter gegangen. O_O Möglicherweise war ich da auch etwas schlecht drauf, als ich das so geplant hatte. -hust-

Es gibt Revolutionen, die machen die Welt auf komplizierte Art einfacher. Dazu gehört das Telefon.

Ich hörte ihm zu, wie er mir von einer Lan-Party erzählte, auf die ich never ever freiwillig gehen würde. War sein Leben schon immer so belanglos gewesen oder lag es einfach an mir? Er unterstrich das Gesagte mit ausschweifenden Bewegungen. Als er mir eine Explosion veranschaulichen wollte hätte er beinahe das Geschirrjenga auf meinem Nachttisch zum Kentern gebracht. Was eigentlich amüsant war, da ihm das ziemlich peinlich gewesen war.

Aber normalerweise war Eddy ruhiger, benutzte nicht so eine ausladende Gestik und wir sprachen über andere Dinge. Es herrschte eine befremdliche Atmosphäre zwischen uns, die ganzen letzten Tage schon. Eddy war nach der Arbeit immer noch bei mir vorbei gekommen, um zu sehen wie es mir ging. Ich hatte die meiste Zeit im Bett gelegen und ferngesehen, zu mehr war ich nicht fähig gewesen. Einmal war Frau Lindner bei mir vorbei gekommen, schockiert über meinen gesundheitlichen Zustand. Sie hatte auch versprochen noch mal gründlich mit dem Rektor über meinen Fall zu sprechen. Der Besuch meiner Lehrerin war mir ziemlich unangenehm gewesen, vor allem, weil mein Zimmer einem Schlachtfeld glich. Es wirkte ein bisschen so, als hätte ich mein Leben gerade wirklich nicht im Griff. Wenigstens hatten die anderen Räume wieder vernünftig ausgesehen. Nico hatte in der letzten Nacht, in der er hier gewesen, mein depressives Chaos beseitigt. Wahrscheinlich aus Mitleid der Wohnung gegenüber. Ich erinnerte mich noch vage dran, dass auf dem Boden in der Küche zerbrochenes Geschirr gelegen hatte und die Spüle mit dreckigen Tassen voll gestapelt gewesen war. Als ich mich wieder etwas bei Kräften gefühlt hatte und in der Küche gewesen war, hatte sie förmlich gefunkelt. Die Habseligkeiten von Nico waren allerdings auch verschwunden. Ähnlich hatte es im Bad ausgehen. Der Wäschekorb war leer und die frisch gewaschene Wäsche hing zum Trocknen über der Badewanne. Nichts davon hatte noch Nico gehört. Es war ein beunruhigendes Gefühl, wie schnell seine Spuren in dieser Wohnung wieder verschwunden war.

Allerdings war ich viel zu krank gewesen, um mir darüber ernsthaft Gedanken zu machen.

Jetzt ein paar Tage später, fühlte ich mich wieder einigermaßen auf dem Damm und freute mich, dass Eddy immer noch vorbei kam, obwohl mein Gesundheitszustand das nicht mehr verlangte. Über Sophie verloren wir kein Wort. Es war ein rotes Tuch für unsere Freundschaft.

Vielleicht wirkten unsere Gespräche deswegen manchmal etwas gekünstelt, unnatürlich. Es tat irgendwie weh, aber das war nun mal der Preis. Wenn wir wieder Freunde sein wollten, mussten wir neu anfangen und sowas war offensichtlich schwer. Es würde sich lohnen, hoffentlich.

„So, du, ich pack´s wieder. Ich treff mich noch mit... jemand.“ Er stockte kurz. Jemand war Sophie und er konnte es nicht sagen.

„Is okay. Ich bin eh etwas groggy im Moment.“ Ich lächelte müde. Ich würde ihm bei der Sache nicht mehr rein reden. Es war seine Angelegenheit, sein Leben und ich hatte Angst, wieder zu verlieren. Totschweigen und irgendwann war sowieso alles vergessen. Zeit heilte doch alle Wunden, auch diese.

„Okay, cool. Ich komm morgen Mittag mal noch vorbei. Bis dann!“ Er gab mir nichtmal die Hand. Eine Umarmung mit ihm war undenkbar. Eddy berührte mich sowieso nicht mehr, seit er von Nico wusste. Er setzte sich nicht zu mir aufs Bett, achtete darauf immer einen gewissen Abstand zu mir zu halten. Vielleicht war es okay. Es verletzte mich jedenfalls weniger als ich erwartet hatte.

Erschöpft ließ ich mich in mein Bett zurück sinken, als Eddy die Wohnung verlassen hatte. Heute war Samstag und bald war wieder Montag. Der letzte war ja nicht so der Hit gewesen. Konnte ich mich da überhaupt noch blicken lassen? Robert hatte jedenfalls nicht mehr versucht mich anzurufen. Nico auch nicht.

Ich musste ehrlich zugeben, dass die Wohnung ohne ihn anders war. Mir fehlte der unangenehme Tabakgeruch. Mich störte es, dass ich nachts nicht mit ihm um meine Bettdecke kämpfen musste. Ich wurde morgens oft zu früh wach und wunderte mich, dass mich kein Geklapper aus der Küche weckte.

Ich wusste, was das alles zu bedeuten hatte. Aber es half nichts. Es war nicht Liebe, sondern Gewohnheit. Vielleicht wollte Nico auch gar nicht mehr als das. Ich müsste nur zugeben, was es war. Nicht nur Sex und nicht nur Freunde, nur eben keine Beziehung?

Ich wollte nicht und vermutlich lag da das Problem. Es würde nicht funktionieren, wenn ich schon von Anfang keine Zukunft darin sah. Nico wusste das auch, deswegen hatte es nur eine Chance gegeben. Er würde es mir nicht nochmal anbieten, weil er sich zu schade dafür war. Er verstand ein Nein und hatte genug Stolz es zu akzeptieren. Wenn man mal davon absah, dass ich nie Nein gesagt hatte. Nicht ausdrücklich.

Okay, okay. Langsam verstand ich diese komischen, verwirrten, nutzlosen Teeniegedanken, die in Filmen immer völlig überdramatisiert wurden. Oh, lieb ich sie oder nicht? Sie ist ja ach so toll, aber ich weiß ja nicht. Sowas war doch zum Kotzen und ich hatte keinen Bock drauf. Mir war durch und durch bewusst, dass er wichtig für mich war. Ich war kein Vollidiot, ich wollte aber schlicht und ergreifend keine Beziehung. Weder mit Nico, noch mit sonst jemanden. Ich war mir doch schon selbst zu viel. Warum sollte ich mich dann noch für einen anderen Menschen verantwortlichen fühlen wollen? Beziehungen waren kompliziert und anstrengend. Verlangten Toleranz und Respekt und zumindest sollte man sich doch sympathisch sein. Und ich musste ehrlich zu geben, manchmal konnte mich Nico wirklich nerven. Wenn er mir provokant in den Hals biss und mir schon wieder einen Knutschfleck verpasste. Wenn er mir irgendeinen Unsinn über gesunde, ausgewogene Ernährung erzählte und dabei rauchte wie ein Schlot. Wenn er mir Vorhaltungen darüber machte, wie wichtig es war, sich um die Zukunft zu kümmern.

Doch, das hatte mich alles genervt und zwar ausschließlich genervt und nicht scharf gemacht. Er hatte so ein paar Eigenarten und Ticks, denen ich nie ganz widerstehen konnte. Seine direkte, schonungslose Art, seine maßlose Arroganz und Selbstgefälligkeit. Die völlige Ignoranz meiner Launen. Das schiefe Grinsen und wenn er einfach nur lässig da lag und faul war.

Genervt von mir und meinen Gedanken schaltete ich den Fernseher wieder an, der während Eddys Besuch aus gewesen war. Ablenkung wäre vielleicht ganz gut. Ich hielt nicht viel davon mich mit Gedanken an Nico zu martern. Ich starrte die Mattscheibe an und es half nichts. Das Programm war zu stumpfsinnig, um mich ernsthaft zu interessieren und ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Damn it. Normalerweise funktionierte das besser.

Genervt stand ich auf und ging in den Flur, zum Telefon. Ich war ja wundervoll darin mich selbst zu belügen. Ehrlich, ein Meister. Aber in dem Punkt musste ich mir einfach eingestehen, dass ich keine Ruhe finden würde, wenn ich das mit Nico nicht klären würde. Ich wusste zwar nicht wie und auch nicht ganz genau was. Das würde sich aber bestimmt noch rausstellen.

Nicos Handynummer hing noch an der Pinnwand über dem Telefon. Ob er einfach vergessen hatte, sie abzumachen oder hatte er sie bewusst hängen lassen?

Ich wählte seine Nummer. Während ich dem Freizeichen lauschte, nagte ich ungeduldig an meiner Lippe. Konnte er nicht mal abnehmen?! Wahrscheinlich hatte er sein Handy wieder irgendwo verlegt und suchte jetzt verzweifelt danach, um es dann im Gefrierfach zu finden oder so. Ich hatte es ja letztens mal im Küchenschrank in einem Topf gefunden. Weiß die Hölle, wie es da hin gekommen war. Aber vielleicht war auch Nico nicht gerne erreichbar.

Jedenfalls musste ich mich gedulden und ich hatte keine Lust drauf. Ich würde nur diese eine Mal anrufen und wenn die Mailbox dran ging, hatte sich das einfach erledigt. Punkt.

„Hallo?“, fragte mich eine gänzlich unbekannte Männerstimme. Verwirrt zog ich die Stirn graus. Ich wusste, dass das Nicos Handynummer war. Ich hatte ihn schon ein, zweimal darauf angerufen.

„Äh, hey, kann ich... äh Nico sprechen?“

„Warte, der ist gerade noch im Bad“, wurde mir erklärt und ich fragte mich, was das für ein Kerl war, der einfach an Nicos Handy ging. Hatte er mich so schnell ersetzt? So schnell einen neuen Idiot gefunden, um den er sich kümmern konnte? Ich würde aber nicht nachfragen, mit wem ich sprach. Ich wollte es eigentlich auch gar nicht wissen.

„Okay.“ Mein unbekannter Gesprächspartner und ich schwiegen uns an und schienen beide darauf zu hoffen, dass Nico endlich wieder aus dem Bad kam, um uns aus dieser Situation zu erlösen. Ich hörte, wie der Typ irgendwas sagte, was nicht an mich gerichtet war und sich dann jemand das Handy ans Ohr hielt.

„Ja?“, hörte ich nun endlich Nicos Stimme.

„Ich bin´s“

„Oh.“ Kurzes Schweigen. Er war überrascht. „Und wie geht’s dir mittlerweile?“

„Besser.“ Zumindest gesundheitlich, emotional fühlte ich mich immer noch etwas unausgeglichen. Hatte aber auch schon schlechtere Tage gehabt.

„Schön zu hören.“ Es klang nicht ehrlich. Vielleicht glaubte er mir meine Antwort auch nicht ganz, oder es interessierte ihn einfach nicht wirklich. Er machte es mir im Moment nicht wirklich einfach. Aber warum sollte er auch? Wir hatten es uns nie einfach gemacht.

„Du, sag mal, können wir reden?“, presste ich die Wörter schließlich doch heraus. Es klang nicht so, aber dieser Satz hatte mich einiges an Überwindung gekostet. Ich hörte, wie er kurz etwas zu dem Kerl sagte, der wohl mit ihm im Raum war. Er entschuldigte sich und schien das Zimmer verlassen zu haben. Sollte wohl jemand nicht mithören.

„Enno...“ Er seufzte. „Du weißt doch, dass das keinen Sinn mit uns hat.“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Gut, Nico war schon immer sehr direkt gewesen. Aber er hat mich nicht mal peinlich Rumstottern und nach Worte suchen lassen. So, das waren die Tatsachen, so sah es aus. Friss oder stirb. Er hatte recht.

„Hey, das wusste ich von Anfang an.“ Mir war immer klar gewesen, dass das mit Nico und mir etwas war, worüber man nur den Kopf schütteln konnte. Und? Es hatte weder ihn noch mich an irgendwas gehindert. Für Leute wie uns gab es einfach nichts anderes. Emotional schwer gestört.

Nico lachte kurz als Antwort. Es war nicht bitter, sondern ehrlich. Wahrscheinlich erinnerte er sich an unser erstes Gespräch, in dem ich ihn völlig abblitzen ließ und er mich als Arschloch betitelt hatte. Ja, wir waren ein Dreamteam und einfach für einander bestimmt. Vermutlich verdienten wir uns einfach.

„Okay, worüber willst du mit mir reden?“ Und da war es, die zweite Chance, an die ich eigentlich nicht geglaubt hatte. Über was wollte ich nochmal mit ihm reden? Ach, genau, ich hatte keinen Schimmer.

„Ich hatte ja gehofft, dass sich das irgendwie im Gespräch ergibt.“ Es brachte ja nichts, mir jetzt etwas aus den Fingern zu saugen. Es hätte nicht intelligenter geklungen, als diese schnöde Wahrheit. Und vor Nico konnte ich mal eine Schwäche eingestehen. Eine und nur dieses einmal. Natürlich, wer´s glaubt. Das hier würde peinlich für mich werden.

„Du bist so ein Idiot.“ Er lachte bei der Aussage. Er amüsierte sich über diese Tatsache. Super.

„Ja, ich weiß.“ Ich fuhr mir durch die Haare. Es herrschte Schweigen in der Leitung. Er wartete darauf, dass ich noch irgendwas sinnvolles sagen würde. Okay, denk nach, Enno, lass dir was einfallen. Du hast angerufen, weil... du Nico vermisst. Aber das konnte ich nicht sagen. So ein Scheiß.

„Und? Hat sich die Sache mit deinem Freund eingerenkt?“ Die Frage verstörte mich und eigentlich wollte ich darauf nicht antworten. Er sprach von Eddy, ich wollte nicht ihm darüber reden.

„Äh ja, mehr oder minder.“

„Freut mich.“

„Ja, mich auch.“ Das Gespräch dümpelte ja wirklich frustrierend vor sich hin. Wenn ich nicht gleich irgendwas weltbewegendes sagte, etwas das dafür sorgte, dass endlich alles klar wurde, würde Nico gleich auflegen. Nachvollziehbar.

„Dann ist ja alles gut.“

„Ja, schon.“ Nein, Enno. Falscher Satz. Falsche Situation. Tu was. Sofort!

„Okay, bis dann, Enno.“

„Bis dann.“ Warum zum Teufel hatte ich aufgelegt? Scheiße. Wie konnte ich so dumm sein? Aber bei mir hatte sich alles ausgeklinkt. Die hohlen Phrasen von Nico haben mich völlig betriebsunfähig gemacht. Konnte nur wie ein Roboter darauf antworten und mir selbst dabei zu sehen, wie ich schon wieder alles ruiniert. Gott, ich gehörte geschlagen. Ich hatte es so dermaßen verkackt. Wäre doch besser die Mailbox rangegangen, dann hätte ich mir das alles ersparen können. Warum musste Nico überhaupt abnehmen? Warte, hatte er nicht mal. Den anderen Typ hatte ich verdrängt und auch die Tatsache, dass mich Nico niemals gebraucht hatte. Im Gegensatz zu mir. Ich schüttelte den Kopf.

Mein Blick fiel auf seine Handynummer, die in seiner akkuraten Schrift vor mir hing. Er hatte nur vergessen, sie mitzunehmen. Das wusste ich jetzt. Ich riss den Zettel von der Pinnwand und schmiss ihn in meinem Zimmer einfach in den Müll.

Das war es gewesen.

Ich sollte wieder in Depressionen verfallen, einfach aus Gewohnheit und weil ich sonst offensichtlich nichts konnte. Stattdessen wechselte ich unbeholfen den Verband um meinen Arm, betrachtete kritisch die Entzündung, die mittlerweile ganz gut abgeklungen war. Eine Narbe würde ich wohl trotzdem behalten. Egal.

Ich würde mich gleich bei Eddy melden und fragen, ob er heute Abend doch Zeit für mich hatte. Er hatte sowieso ein schlechtes Gewissen wegen mir. Ich wäre sogar dazu bereit auf irgend einen Zockabend mit zu kommen. Ich wollte mich nur heute Abend nicht in der Wohnung verkriechen, auch wenn ich immer noch etwas angeschlagen war.

Ich war enttäuscht von mir, wegen dem Gespräch. Aber gut, jetzt war alles geregelt und ich musste schauen, dass ich wieder ohne Nico zurecht kam. Das hatte schließlich Jahre lang auch super funktioniert.

Und deswegen redete ich mir ein, dass ich mich nicht fast zu Tode langweilte, als ich bei Marcel zuhause rumsaß und zuschaute wie er, Eddy und ein Typ, dessen Namen mir nicht mehr einfiel, irgendein dummes Spiel zockten. Ich hatte mir sogar Zeichenkram mitgenommen, aber in ihrer Gegenwart war es mir irgendwie unangenehm es auszupacken und tatsächlich etwas zu machen. Deswegen lächelte ich, wenn sie lachten und starrte auf das Spiel. War auch nicht langweiliger, als das Abendprogramm von RTL. Es war auch tausendmal besser, als krank in der Wohnung zu liegen. Ich war zwar nicht mehr sterbenskrank, fühlte mich aber immer noch ziemlich matt. Das hatte ich auch erst gemerkt, als mich Eddy bei mir abgeholt hatte und wir zu Marcel gelaufen sind, der doch noch ein gutes Stück weit weg wohnte.

Aber es war auch eine gute Ausrede gewesen, nicht mitzuzocken. Ich war nämlich unheimlich schlecht bei allem, was mit Spielekonsolen zu tun hatte. Wahrscheinlich lag das aber auch nur daran, dass ich als Kind nie sowas gehabt hatte. Die meisten hier hatten zumindest seit sie zehn sind irgendwas in der Art zu hause herumstehen. Mich hatte das nie interessiert. Auch nicht, als sich Eddy dafür begeisterte.

„Boah, Enni, hast du das gesehen?!“, rief Eddy plötzlich aufgeregt und drehte sich kurz zu mir um. Was gesehen? Es sah doch schon seit Stunden alles gleich aus.

„War cool.“ Mit solchen Aussagen lag man meiner Erfahrung nach nie falsch. Er strahlte mich an und ich konnte nicht anders, als etwas zu grinsen. Ich verstand zwar nicht so genau um was es ging, als ihm die anderen für irgendwas total beeindruckendes gratulierten, aber war auch nicht weiter wichtig.

Ich wusste, dass das hier nicht so ganz meine Welt war, war es nie gewesen. Aber ich wollte, dass Eddy und ich wieder Freunde sein konnten. Egal, ob er ein Mädchen hatte oder nicht. Vielleicht musste ich dafür auch einfach lernen, dass ich nicht alles an Eddy einfach nur toll fand.
 

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So, einfach so, aus Spass an der Freud. Die ersten drei Leute (falls sich überhaupt soviele die Arbeit machen), die mir sagen können, von wem alles die ganzen unterschiedlichen Zitate in den Titeln stammen, inklusive dem kommenden von Kapitel 26 und 27, darf sich was von mir wünschen. Eine Geschichte, ein Bild, meine ICQ-Nr. oder liebevoll gebackene Kekse - ich kann übrigens echt toll backen! Oder keine Ahnung, anderen Kram, den ich so zu bieten hab, eine Storyidee oder sowas. Ihr wisst schon, jedenfalls schickt es mir per ENS und ich sag euch dann Bescheid, ob er zu den glücklichen Gewinnern gehört, oder so. -verwirrt guck-

Oh und genau, für das Nachwort sind Fragen nach wie vor sehr willkommen. XD

Wir sind auf einer Mission: zur Bildung der Erde sind wir berufen.

Mission: Lebe dein Leben! Erster Auftrag: Montag in die Schule gehen. - Gescheitert. Ich bin erst um drei Uhr nachmittags aufgewacht. Das war so eine verdammte Scheiße gewesen. Vor allem, weil ich wirklich wollte. Mein Körper war aber immer noch nicht so fit, wie ich das selbst eingeschätzt hatte. Sonntag hatte ich auch fast den ganzen Tag geschlafen, weil ich für alles andere zu erschöpft gewesen war.

Mein Attest ging allerdings sowieso noch bis Mittwoch, deswegen musste ich mir wenigstens darum keine Gedanken machen. Doktor Berens hatte sogar einen Hausbesuch gemacht, als Nico bei ihm angerufen hatte wegen einem Termin. Naja, was hieß sogar. Wenn ein Patient nicht zum Arzt kommen konnte, musste der Arzt eben zum Patient kommen. War ja kein Berg-Mann-Sache, bei der jemand zu massiv und groß war, um sich zu bewegen. Warte, doch ich. Naja, ein Berg war ich auch nicht. Dafür war ich viel zu dürr. Igitt, Fleischberge. Verwirrt von meinen eigenen Gedanken schüttelte ich den Kopf, wovon mir prompt etwas schwindelige wurde.

Ich packte das besagte Attest in meine Schultasche, schaute kurz zu meinem Wecker. Hatte ich noch genug Zeit, um kurz noch etwas zu essen? Die Digitalanzeige sagte Nein. Naja, was soll´s. Ich würde den Schultag auch so überleben.

Auftrag: Dienstag in die Schule gehen. - Check.

Ich war so gut. Naja, ich fühlte mich schon erschöpft, als ich in der Schule angekommen war. Aber die Erschöpfung würde sich sicher während des Unterrichts wieder etwas legen. Ansonsten würde ich einfach heute Nachmittag noch ein oder zwei Stunden schlafen. Allerdings musste ich unbedingt noch Wandfarbe kaufen. Das Geld von meiner Mutter war nämlich endlich gekommen. Warum erst so spät, wusste ich allerdings nicht. Ich würde meine Mutter auch nicht anrufen und danach fragen.

Die Wandfarbe wollte ich für das leere Zimmer. Ich musste Nico überweißeln. Aus meinem Leben streichen, war ein weiterer Auftrag bei der Mission meines Lebens. Es war nicht gesund, an irgendetwas festzuhalten und nachzutrauern. Ein klarer Schnitt. Nico hatte das auch verstanden und mittlerweile war ich froh, dass es keine Spuren mehr von ihm in der Wohnung zu sehen waren. Es wäre alles nur schlimmer geworden. Jetzt brauchte ich nur noch die Farbe, um das letzte Indiz von Nicos Existenz in meiner Wohnung zu tilgen.

Er saß in Geschichte zwei Reihen vor mir. Unsere Blicke haben sich nicht mal gekreuzt, als ich etwas zu spät das Klassenzimmer betreten hatte. Wir hatten über alles gesprochen und ich würde mich nicht weiter mit ihm quälen. Deswegen folgte ich dem Unterricht, machte mir Notizen, versuchte mich zu beteiligen und erwischte mich nur selten dabei, wie ich ihn anstarrte. Nico hat aber kein einziges Mal zu mir gesehen. Er war besser in solchen Sachen, wie es aussah. Oder es war einfacher nach vorne zu starren, als sich zu jemand umzudrehen.

Naja, es war keine Tortur für mich. Es ging. Ich fühlte keine Verbitterung und war weder wütend auf ihn, noch auf mich. Alles bestens. Alles bestens.

Nach der Stunde ging ich zu Frau Lindner. Nächster Auftrag: Die Zukunft angehen. Es gab nämlich ein kleines Problem mit meinen Fehlzeiten und der Tatsache, dass die Mappenberatungen nur Mittags unter der Woche statt fanden. Und ich musste auf eine weitere Mappenberatung. Ich wollte nächste Woche gehen, hatte mir sogar schon am Montag Sachen dafür rausgesucht, die ich dort zeigen wollte. Wenn ich schon nicht in der Schule gewesen war, hatte ich den Tag wenigstens nicht ganz sinnlos verbracht.

Frau Lindner hatte die Stirn gerunzelt, als ich ihr klar machen wollte, dass ich für nächsten Donnerstag eine Beurlaubung brauchte. Sie wies mich noch mal auf meine Fehlzeiten hin und ich sie auf meinen unbändingen Wunsch studieren zu wollen. Am Ende hatten wir eine Patt-Situation. Ich bedankte mich trotzdem, dass sie sich so für mich einsetzte und sie seufzte ergeben. Ich würde nur dieses eine Mal die Beurlaubung bekommen und sie hoffte inständig für mich, dass das alles funktionieren würde, mit meinem Studium und meinem Leben allgemein. Ich lächelte erfreut.

Ich mochte Frau Lindner, und wer weiß, wenn sie keine Lehrerin wäre, einige Jahre jünger und … okay, ich müsste zu viele Abstriche machen. Aber ich mochte sie wirklich.

Erst als ich mich zum Gehen abwandte, bemerkte ich, dass Nico noch da war und uns anscheinend belauscht hatte. Unsere Blicken trafen sich kurz und ich fragte mich, ob ich ihn darauf ansprechen sollte. Ich entschied mich dagegen und verließ den Klassenraum. Ein klarer Schnitt. Wir hatten uns nichts mehr zu sagen.

Der restliche Schultag zog sich etwas und in den letzten zwei Stunden kämpfte ich ernsthaft gegen den Sekundenschlaf. Nicht nur im Straßenverkehr, nein, auch im Unterricht konnte sowas tödlich enden! Würden zu meinen Fehlzeiten noch Schlafen im Unterricht dazu kommen, hatte ich es definitiv verkackt. Frau Lindner hin oder her.

Allerdings war ich ziemlich erschöpft. Schule bestand eben nicht nur aus da sitzen und nichts tun. Man musste mit anderen reden, ihnen wieder etwas von den Leiden der letzten Tage vorjammern. Mir ging es ja so elend. Ach, das letzten Montag? Fieberwahn. War nicht so ganz bei mir. Nein, nein, ich hab es nicht mit den Drogen übertrieben. Warum zur Hölle dachten eigentlich alle, ich würde Drogen einschmeißen?! Das war wirklich anstrengend und ermüdend. Und im Unterricht verlangten die Lehrer auch noch, dass man mitarbeitete, dabei blieb. Ich verstand manches von dem aktuellen Stoff einfach nicht, weil ich die letzten Wochen nicht dagewesen war. Das machte es besonders entnervend. Ich wollte zu hören, aber wenn ich nicht wusste, um was es ging, war das einfach Kotze.
 

Als ich dann endlich zuhause in mein Bett fallen konnte, hatte ich weder Wandfarbe gekauft, noch die Dollarscheine wechseln lassen und Essen hatte ich auch nicht eingekauft. Aber immerhin war ich in der Schule gewesen! Also definitiv ein Fortschritt und ein wichtiger Punkt, um wieder alles einzurenken. Es war nicht so leicht, sein Alltagsleben wieder hinzukriegen, wenn man sich für eine Weile ausgeklinkt hatte. Besonders dann nicht, wenn sowieso alles schon unnötig kompliziert war. Vorhin hatte ich auch endlich mal wieder meinen Briefkasten geleert und verstand endlich die Leute, die ihre Rechnungen am liebsten alle wegschmeißen würden. Telefonrechnung, Versicherungen, Werbung und immer noch Infoprospekte, die Nico angefordert hatte, weil er wollte das wir unseren Strom- und Gasanbieter wechselten und uns Internet in der Wohnung besorgten. War jetzt auch alles hinfällig. Okay, vielleicht nicht ganz. Er hatte mir mal vorgerechnet, wie sackviel Nebenkosten wir sparen könnten, wenn wir die Anbieter wechseln würden. Mit oder ohne ihn, es gab Änderungen, die sich lohnen würde. Aber darum wollte ich mich jetzt nicht kümmern. Das war einfach schon wieder zu viel.

Vor allem müsste ich dann mit irgendwelchen Menschen telefonieren, zu irgendwelchen Stadtwerken gehen und eigentlich wollte ich jetzt einfach schlafen, damit ich morgen immer noch fit genug war, um wieder in die Schule zu gehen. Gut Ding will Weile haben und ich musste erstmal alles mit kleinen Schritten angehen.
 

Am Abend kam Eddy mit einem Sixpack Bier vorbei. Es war fast wie früher. Wir schauten fern, tranken Bier und unterhielten uns darüber, wie lächerlich der Film war, den wir uns gerade ansahen. Irgendein deutscher Liebesfilm, der so vorhersehbar war, das es richtig gehend weh tat. Dafür konnte man viel darüber lachen. Es war also eine angenehme Stimmung, die ich sehr genoß.

Vielleicht lag es auch ein bisschen an dem Bier. Ich hatte seit Wochen nichts mehr mit Alkohol getrunken. Eigentlich seit Nico bei mir eingezogen war. Er hielt nichts von Alkohol. Hätte seine Gründe, hatte er gesagt. Und da alleine trinken armselig und deprimierend war, hatte es einfach nichts für mich gegeben. Nicht das ich es vermisst hätte, mir war es nicht mal aufgefallen. Erst jetzt, wo ich das Bier trank.

Hm, ich war in letzter Zeit auch kaum noch weg gewesen, keine Clubs, keine Parties, sondern zuhause rumgammeln. Was irgendwie auch an Nico lag. Er ging nicht gerne weg, was ich bei ihm nie ganz verstanden hatte. In der Schule war er immer im Mittelpunkt, er hatte nie viel dafür tun müssen. Es gab kaum jemand, der ihn nicht mochte. Und trotzdem mied er Parties wie die Pest. Das wäre ihm immer zu viel Gedöns. Er verhielt sich in seiner Freizeit wie ein einsiedlerischer Streber und in der Schule wurde er behandelt wie ein Prinz. Aber gut, ich hatte mittlerweile rausgefunden, dass es eine starke Diskrepanz zwischen dem was Nico ausstrahlte und er tatsächlich war gab. War mir egal. Ich dachte nur darüber nach, weil mich der Alkohol eben etwas sentimental machte und der Film eine langweilige Passage durchmachte.

Ich schaute kurz in Eddys Richtung, der eben einen Schluck aus seiner Flasche nahm. Ich lächelte leicht. Wir waren immer noch Freunde, nichts würde daran ändern. Aber die Art unserer Freundschaft war anders geworden. Nicht nur wegen Sophie, vielleicht auch wegen Nico. Er und Eddy waren so verschieden. Warum musste ich an Nico denken, wenn ich Eddy sah? Wieso die Vergleiche?

Ich nahm einen größeren Schluck aus dem Bier und richtete meinen Blick wieder auf die Mattscheibe. Der männliche Hauptdarsteller vermasselte es gerade mit dem weiblichen Hauptdarsteller, da er zu dumm war seine Gefühle auszudrücken, bemerkte es im letzten Moment und rettet alles, in dem er sich der absoluten Blöße und Schande hingab, was die Frau so sehr rührte, dass sie nicht anders konnte als ihn heiß und innig zu lieben. Der Film war zu ende, er war zum Kotzen. Vielleicht hatte man das Gefühl, durch die schlechte Kameraführung, dem dilettantischen Schauspielkünsten, den miserablen Schnitten, dass der Film direkt aus dem Leben gegriffen war. Er war aber nur schlichtweg Unsinn, etwas was einen Drehbuchautor gerade mal einen Monat vor einem möglichen Hungertod rettete und was er vermutlich im Fieberwahn geschrieben hatte.

Eddy merkte wohl, wie mir der Film aufs Gemüt schlug. Er schaltete den Fernseher aus und erhob sich. Es war sowieso schon etwas nach zehn. Er müsste jetzt bald nach Hause. Übernachten würde er hier nicht mehr. Generell würde ich ihn diese Woche vielleicht noch am Donnerstag sehen, die restliche Zeit gehörte ... anderen Menschen. Ich überlegte, ob ich etwas sagen sollte. Einfach um ihm am Gehen zu hindern, aber vielleicht tat uns ein bisschen Distanz auch gut. Auch wenn das für mich Alleinsein bedeutete. Aber er würde jetzt gehen und zuhause noch Sophie anrufen und ihr erzählen, wie sein Tag war. Der Gedanke machte mich im Moment krank. Ich wusste, dass es ungesund war. Ich musste die Sache mit Sophie, Eddy und mir einfach mir lassen, genauso wie bei Nico. Aber gerade in diesem Moment, nach diesem elendigen, dummen Liebesfilm kam einfach wieder alles hoch. Warum gerade Sophie?

„Du gehst jetzt, oder?“, fragte ich unnötigerweise. Eddy zuckte unbestimmt mit den Schultern, was „Ja.“ hieß.

„Soll ich noch bleiben?“, kam stattdessen von ihm. Er hatte immer noch Mitleid mit mir und machte sich vielleicht noch sorgen.

„Nee, kein Ding. Sophie wartet sicher schon.“ Ich klang wie eine verbitterte, alte Frau, die von ihrem Ehemann betrogen wurde. So fühlte ich mich auch. Was zum Kotzen war, ich hatte keinen Bock drauf. Eddy schaute mich unsicher an. Das war das erste Mal, dass ich sie freiwillig erwähnt hatte. Ich hätte es nicht tun sollen.

„Enni...“ Er klang immer noch leidend. Wegen ihm oder wegen mir. Keine Ahnung. Ich sollte es ihm nicht so schwer machen. Eddy wollte sich nicht zwischen mir und ihr entscheiden. War vielleicht auch besser so, ich würde verlieren. Ich sollte die Klappe halten.

„Ist doch wahr. Ich versteh sowieso nicht, was du noch von ihr willst.“ Halt die Klappe, Enno. Sei still, sei kein Idiot! Du hast nur noch Eddy. Ich könnte meinen Kopf gegen die Wand schlagen, aber stattdessen beobachtete ich mich dabei, wie ich einen Streit provozierte, wie ich mich absichtlich in Elend stürzte.

„Komm, ich hab da keinen Bock mit dir darüber zu reden.“ Eddy war in diesem Moment mehr Freund, als ich mir wünschen konnte. Aber ich war immer noch in meinem Arschloch-Modus. Ich konnte nicht aufhören.

„Warum? Weil ich dir sage, was Sache ist?!“ Es kochte in mir, ich musste es aussprechen. Einfach weil mein Leben immer noch Scheiße war und Eddy hier war, nicht Nico.

Als Reaktion für meine unangemessene Provokation bekam ich nur ein fassungsloses Kopfschütteln. Als würde er sich fragen, was bei mir falsch lief. Wäre er nicht der erste, die meisten wollten doch wissen, warum ich so kaputt und schräg war. Leben, keine Ahnung. Arschlöcher, Eddy auch.

„Okay, du hast einfach keine Ahnung. In Ordnung, keinen Plan.“ Jetzt redete er mit mir, als würde ich nichts verstehen. Wusste er mehr als ich über Mädchen. Wie heimtückisch und manipulativ sie manchmal sein konnten. Wie sie einem im Stich ließen, weil sich was besseres ergibt?! Er wusste doch von nichts.

„Von was? Von Frauen? Glaub mir, da weiß ich bedeutend mehr als du.“ Jetzt war ich überheblich, spielte auf Dinge an, die er schon immer beneidetet hatte. Die vielen Mädchen, die dem exzentrischen Charme eines Künstlers verfallen wollten.

„Du, Enni, du hast doch keine Schimmer, wie es ist eine Beziehung zu führen. Alles was du kannst, ist irgendwelche Mädchen aufreißen, mit ihnen vögeln und dich dann verziehen.“ Ich wollte ihm widersprechen, sagen, dass das nicht stimmte, dass ich Beziehungen gehabt hatte. Aber ich konnte ihm keine nennen. Vielleicht Ekatarina, aber mit ihr was zu Ende, bevor etwas angefangen hatte, wegen Eddy. Das konnte ich ihm nicht vorhalten, es war meine eigene Entscheidung gewesen. Vielleicht hatte es ja immer an Eddy gelegen. Schlechter Gedanke. Was war mit Nico gewesen? Dafür hatte ich nicht genug Mumm und selbst wenn, würde ich das sagen, würde Eddy gehen und nicht mehr kommen. Beziehung mit einem Kerl, auch noch gepierct. Das wäre zu viel, auch für mich. Ich schüttelte frustriert den Kopf. Beziehungen hin oder her, das war doch gar nicht der Punkt.

„Ich weiß zumindest, wann ein Mädchen okay ist und wann nicht“, gab ich defensiv zurück. Eddy würde dieses Argument nicht gelten lassen, auch wenn ich Recht hatte. Er seufzte entnervt.

„Lassen wir das Thema einfach, okay? Ich hab wirklich keine Lust schon wieder mit dir zu streiten.“

Ich überlegte, ob ich noch was darauf erwidern sollte, aber er hatte Recht. Ich ließ die Schultern hängen. Eigentlich konnte ich froh sein, dass er überhaupt noch mit mir sprach.

„Ich komm Donnerstag wieder vorbei, okay?“, hakte er nach und ich nickte nur. Jetzt fühlte ich mich wie der letzte Idiot. Ich hatte Eddy absichtlich provoziert, ihm schien das auch aufgefallen zu sein, schob es aber wohl auf meine Laune.

„Bis dann“, verabschiedete ich mich noch, bevor er das Zimmer verlassen hatte. Ich musste mich ja nicht komplett asozial verhalten.

„Joh, bis dann.“ Er lächelte sogar noch kurz und mir kam die Freundschaft unangenehm falsch vor. Ich mochte Eddy nach wie vor und er mich auch, aber es schien überhaupt nichts mehr zu passen. Frustriert von dem Gedanken, ließ ich mich in meine Kissen fallen. Es sollte endlich alles wieder einfach funktionieren, verdammt nochmal.

Ich bemühte mich gerade wirklich. Ich hatte die Befreiung für die Mappenbesichtigung. Ich hatte sogar Zeug, das ich vorzeigen konnten und mit dem ich echt Chancen haben könnte. Ich hatte das mit Eddy geregelt, irgendwie und trotzdem...

Vielleicht sollte ich am Wochenende mal wieder weggehen, neue Leute kennen lernen. Mädchen. Zum Ficken. Ich brauchte mir doch nichts vor zu machen. Ablenkung.

Aber bis zum Wochenende war es noch ein bisschen und man konnte sich auch anders ablenken. Eine Mappe machte sich schließlich auch nicht von allein. Wenigstens kam ich da weiter.

Ich hatte mich im Fotografieren probiert, damit die Spiegelreflexkamera, die mir meine Oma zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hatte, nicht völlig unnütz war. Die vielen Knöpfe und Einstellungen irritierten mich etwas, aber es war vermutlich alles eine Sache der Übung. Ich musste nur erstmal raus finden, was mir die ganzen Knöpfchen und Rädchen brachten. Belichtungszeit, Blende, alles schön und gut. Probieren ging über Studieren. Deswegen hatte ich gestern sicher drei Stunden in dem etwas bedrückenden Raum mit Nico an der Wand verbracht und mich gewundert, warum zur Hölle die ganzen Fotos so dunkel waren. Blitz konnte ich nicht ausstehen, machte die Bilder alle zu steril, aber die Kamera war so teuer, es müsste sicher auch ohne gehen.

Irgendwann hatte ich mal den Dreh raus und ich hatte ein paar interessante Bilder von den Handtüchern, die aussahen, als hätte man sie in Gedärme gedrückt. Ich mochte die Fotos, wusste aber nicht, ob sie irgendwelchen künstlerischen, technischen Aspekten entsprachen. Egal, es ging nicht immer um Qualität, sondern auch um das Auseinandersetzen mit anderen Medien, oder so.

Nach der Foto-Session war ich aber froh, wieder den Raum zu verlassen und Nico nicht sehen zu müssen. Ich hatte noch nicht die Wandfarbe gekauft, um ihn zu überweißeln. Ich wusste selber nicht so genau, warum. Vergessen, versäumt, Morgen vielleicht.

Donnerstag hatte Eddy doch keine Zeit, war nicht so schlimm. Ich war mittlerweile voll drin, mit der Arbeit an meiner Mappe. Eigentlich sollte ich mich mit den Stoff für die verpasste Klausur auseinandersetzen, aber ich hatte keine Lust. Es war nur Physik, darin war ich sowieso nie gut gewesen und der Lehrer setzte auch keine Erwartungen in mich. Wird schon schief gehen, ich brauchte nur sechs Punkte zum Bestehen, in der letzten Arbeit hatte ich sogar sieben Punkte geschrieben und auch nichts dafür gemacht. Alles bestens. Alles bestens.

Heute wollte ich sowieso in der Stadt, mit oder ohne Eddy war da egal. Ich hatte vor, die Fotos zu entwickeln, damit ich sie als kleines Büchlein binden lassen konnte. Ich musste mir noch ein Thema für den Fotoband einfallen lassen, würde aber vermutlich sowas klangvolles wie „solitude ´87“ als Titel bekommen. Außerdem musste ich noch einkaufen. Mit Eddy ging das gar nicht, er hatte keine Geduld dafür und suchte prinzipiell zu teure Dinge aus, das machte ich also lieber alleine. Ich wurde auch immer besser darin, ehrlich. Zumindest war ich nicht mehr kurz davor zu verhungern und ich hatte mich in letzter Zeit auch kaum noch übergeben. Lag vielleicht auch daran, dass ich keinen Kaffee mehr getrunken hatte. Ging ja auch schlecht, wenn man keinen Löskaffee mochte und die Kaffeemaschine tot war.

Das Leben ging weiter. War das die Lektion, die ich schon die ganze Zeit lernen sollte? Man musste sich nur wieder aufraffen, weiter machen. Aber irgendetwas fehlte.
 

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Ah, das war das vorletzte Kapitel. O___O"

Alles klar für die Evakuierung der Seele.

„So, du gehst wieder auf eine Mappenberatung?“ Und plötzlich ging Nico wieder neben mir her, als wäre nie etwas gewesen. Einfach so. Es war Freitagnachmittag und ich war erstmal viel zu perplex von seiner Anwesenheit, um darauf zu reagieren.

„Ja“, antwortete ich verspätet und mit einem verwirrten Ton. Warum redete er wieder mit mir? Sollte ich irgendwas tun, damit er es auch weiterhin tat? Was intelligentes sagen oder ihm zumindest Sex anbieten? Ich war mir aber nicht sicher, ob dafür nicht der Zug schon abgefahren war.

„Cool, freut mich. Dir scheint es auch sonst wieder besser zu gehen.“ Mit schlurfenden Schritten ging er neben mir her, starrte auf den dreckigen Boden, als wäre es Zufall, dass er gerade mit mir sprach.

„Geht so.“ Ich zuckte unbestimmt mit den Schultern.

„Naja, gut, ich werd dann mal wieder.“ Er hob die Hand zur Verabschiedung. Nicht mal ein Lächeln im Gesicht für mich. Ich schaute ihm zu, wie er ging. Seine Hände in den Hosentaschen, die Haare verstruppelt kurz und der Gang entnervend langsam.

„Hey, Nico, warte mal.“

Er drehte sich um, einen fragenden Blick im Gesicht. War er überrascht, das ich ihn zurückhielt, wollte er nicht genau das provozieren? Wir standen uns gegenüber und schwiegen. Ich müsste ihm jetzt alles sagen. Ich kaute auf meinen Nägeln und er starrte mich ungeduldig an.

„Schau mich nicht so an! Du weißt genau, dass mich das schwach macht.“, stieß er plötzlich aus. Er seufzte und fuhr sich durch die Haare. Ich grinste ihn an. Er stand nach wie vor auf Elend, also folglich auch auf mich.

„Willst du noch mit zu mir?“, fragte ich schließlich. War mir der Antwort sicher.

„Nee, sorry. Toby wartet schon auf mich.“ Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Er konnte doch nicht im einem Moment sagen, dass er noch immer eine Schwäche für mich hatte und im nächsten einfach alle Hoffnungen zerschmettern.

„Okay, kein Ding.“ Lüge, schrie es. Gott, scheiß verdammte Lüge. Aber was blieb mir übrig? Ich sollte das bisschen Würde, das ich noch hatte, zusammen kratzen und jetzt einfach gehen. Tat ich auch.

„Vielleicht demnächst?“, hörte ich noch in meinem Rücken.

„Nee, lass mal.“ Chance für uns vorbei, verkocht, nicht mehr genießbar. Das Leben war Scheiße und warum musste ich so ein Idiot sein, der immer erst alles zu spät registriert?

Ich machte auf den Weg nach Hause noch einen Umweg über den Baumarkt. Es gab da Dinge, die ich schon zulange aufgeschoben hatte. Bewaffnet mit einem Kübel weißer Farbe, einem Spachtel für die kaputte Tapete und einer Farbrolle betrat ich die Wohnung. Es brachte nichts, sich noch etwas vorzumachen. Das mit Nico war Geschichte und je schneller ich ihn aus meinem Leben radierte, desto besser. Außerdem brauchte der Raum schon seit langem eine Renovierung. Ich sollte es als einen Art Neustart sehen. Alles raus. Alles neu.

So wie es Nico mit mir gemacht. Gott verdammt, die ganze Scheiße ist gerade mal ein paar Tage her und er hatte schon wieder einen neuen Idioten gefunden? War wahrscheinlich der gleiche Typ, mit dem ich am Telefon gesprochen hatte. Toby? Ich kannte den Kerl nicht mal, Nico hatte ihn nie erwähnt. Wäre auch schön blöd von ihm gewesen. Anderseits haben Nico und ich uns selten über irgendwas unterhalten. Die meiste Zeit haben wir eh nur gevögelt. Perfekte Grundlage. Für was? Ich sollte definitiv dieses Wochenende weggehen.

Ich stellte den Farbkübel in das abgefuckte Zimmer und ging dann wieder in Flur um Eddy anzurufen. Müsste auch schon Feierabend haben. Am Mittwoch hatte er gemeint, dass wir am Wochenende eventuell was machen könnten und es wäre eine gute Gelegenheit sich gepflegt mit ihm zu besaufen.

Routiniert tippte ich seine Telefonnummer ein und lauschte schlecht gelaunt dem Freizeichen. Ich hoffte wirklich, dass er das Wochenende Zeit hatte. Ich wäre so unendlich genervt, wenn ich mich die ganze Zeit mit Scheiß Gedanken an Nico quälen müsste. Musste definitiv nicht sein.

„Neufelder, hallo?“ Eddy klang verplant. Kam sowieso selten vor, dass er mal selbst ans Telefon ging.

„Ich bin´s. Wie siehst aus mit Party dieses Wochenende?“, kam ich gleich zum Punkt.

„Wäre cool. Im Dexter ist heute Happy Hour.“

„Cool. Holst du mich ab?“ Ich lag sowieso auf dem Weg ins Dexter. War auch schon länger her, das ich dort war. Coole Studentenbar, viele ältere Mädels und gute Preise. Was wollte man mehr?

„Joh, bis dann.“

„Bis dann.“

Ich mochte Telefongespräche mit Eddy, die waren einfach und nicht entnervend. Jetzt müsste ich nur noch das Zimmer bis dahin gestrichen bekommen. Naja, Eddy würde frühstens um neun vorbei kommen, also hatte ich noch ein paar Stunden Zeit. Auch wenn das Tapeteabschaben etwas langwierig werden könnten. Aber wenn man sich schon mal die Arbeit machte, sollte es schon gründlich sein.

Erstmal umziehen. Ich hatte schon genug Klamotten, die voll mit Farbflecken waren, ich brauchte nicht noch mehr davon. Außerdem fühlte man sich erst in abgeranzten Klamotten so richtig arbeitswürdig.

Mit gemischten Gefühlen machte ich mich an die Aktion Zimmerrenovierung. Ich hatte noch von meinem Zimmer in Erinnerung, dass es höllennervige Arbeit war, die Tapete ordentlich von der Wand zu schaben und irgendwie hatte ich darauf gerade nicht wirklich Bock. Allerdings wollte ich das etwas voran ging und das funktionierte nur, wenn man etwas tat. In Bewegung bleiben, Alter.

Ich hatte gerade mal ein paar Fetzen von der Wand bekommen, als mich schon wieder die Lust verließ. Es war einfach langweilig. Ich spielte mit dem Gedanken, mir den Fernseher anzumachen und ganz laut zu drehen, um ihn hier zu hören. Allerdings war die Idee auch nicht so der Hit. Frau Kammerer musste nicht wissen, dass ich mir tatsächlich Nachmittagsfernsehprogramm reinzog. Am Ende sprach sie mich wieder auf irgendwelche Probleme an, die ich ganz offensichtlich hatte, aber nicht zugeben wollte.

Ich puhlte etwas unmotiviert an einem Tapetefetzen herum, der dafür sorgte, dass ich plötzlich ein ordentliches Stück von dem gemalten Nico abriss, quer über den Schritt. Ich hatte ihn kastratiert. Irgendwie verstörte mich der Gedanke gewaltig. Wer hätte gedacht, dass das so nervenaufreibend werden würde?

Vielleicht sollte ich mir erstmal einen Joghurt holen. Nahrung war wichtig. Das hatte mittlerweile selbst ich verstanden und besonders viel hatte ich heute nicht gegessen, außer den Pommes auf dem Weg nach hause.

Ich löffelte den Becher in der Küche leer und spülte sogar noch den Löffel ab, einfach um mich noch ein bisschen vor der Arbeit zu drücken. Mittlerweile kam ich sogar besser zurecht mit den basischen Lebensmitteln. Ich kaufte einfach nur das, was Nico immer für mich besorgt hatte und wenn nichts anderes da war, konnte man auch keinen Scheiß essen, der einen ständig kotzen ließ. Die Tabletten hatten auch ganz gut angeschlagen und mittlerweile vermisste ich den Kaffee auch kaum noch. Nur manchmal erwischte ich mich noch, wie ich im Supermarkt vor dem Löskaffee stand und mit mir haderte. Kaffee und Kotzen? Kein Kaffee, dafür aber keinen Kaffee haben? War nie eine besonders leichte Entscheidung und ich musste gestehen, dass ich mir ein Instant-Milchkaffee-Pulver gekauft hatte, nur so für den Notfall.

Eigentlich konnte ich mir doch einen anrühren, oder? Es war ja sowas wie Notfall. Naja, zumindest hatte ich den Kaffee als Motivationsschub nötig. Während ich mir das Getränk anrührte, fiel mein Blick auf das kleine Radio, das meine Oma immer beim Kochen angehabt hatte. Den hatte ich längst vergessen, was wohl auch daran lag, dass ich selten Musik hörte.

Aber jetzt war es eine gute Alternative, als sich in der Stille mit der Arbeit rumzuquälen. Mit dem Milchkaffee in der linken und dem Radio in der rechten Hand begab ich mich dann wieder zum Raum des Grauens. Ehrlich, es war ein eigentlich ein Wunder, das ich das Zimmer ohne irgendwelche totalen Psychosen betreten konnte.

Ich stellte den Milchkaffee auf das Fensterbrett, das Radio daneben und steckte ihn ein. Ich hoffte nur, es kam irgendein Sender rein, der nicht nur Volksmusik spielte. Tatsächlich fand ich etwas, das Musik abspielte, die einem nicht permanent auf den Zeiger ging. Das tat es in jedem Fall.

Ich drehte das Radio auf eine angenehme Lautstärke und hoffte, dass ich dadurch mehr Bock hatte, tatsächlich etwas zu machen.

Hm, ich könnte die Arbeit ja mit meiner Mappe verbinden. Von der Wand alle zehn Minuten ein Bild machen, um den Fortschritt zu zeigen und das Ganze würde ich dann unter „Renovierung Leben“ nennen. Genial.

Ich ging die Spiegelreflexkamera und einen Stuhl holen, um sie darauf zu legen. War ein trauriger Stativ-Ersatz, aber etwas besseres hatte ich leider nicht. Noch ein Foto von der Wand in ihrem aktuellen Status und dann konnte mich eigentlich nichts mehr aufhalten, außer ich mich selbst.

Naja, mit der Musik lief es dann tatsächlich um einiges besser. Und die Werbesendungen machten mich so aggressiv, dass es nur förderlich für das Abschaben von Retro-Tapete sein konnte. Das mit den alle zehn Minuten fotografieren vergaß ich irgendwie und beschloss, es müsste schon reichen, wenn die Bilderreihe nur aus fünf Bilder bestehen würde. Man verstand ja, um was es ging. Und Hauptsache ich machte ein paar Fotos. Langsam fand ich das Fotografieren auch gar nicht mehr so schlimm und es war einfach auch wichtig für meine Mappe. Man hatte wenig Chancen, wenn man sich in seiner Bewerbungsmappe nur mit einem Medium auseinandersetze. Idealerweise sollte ich am besten noch einen abgedrehten Film drehen, in dem ich nackt und schreiend durch die Gegend rannte, einen sozialkritischen Comic zeichnen, Müll schmelzen, einfach weil sowas toll aussehen musste und keine Ahnung, was für die alles Kunst war. Ich begnügte mich momentan noch mit den etwas konventionelleren Sachen wie Malerei – auf Handtüchern! - Fotografieren von meinem erbärmlichen Leben und einen Menge an Zeichnungen und Skizzenbücher. Aber noch hatte ich Zeit, es waren immer noch fünf Monate bis zum Abgabetermin. Anderseits würde ich in der Zeit auch mal mein Abitur schreiben, mit dem ich mich vielleicht auch mal auseinander setzen sollte. Immerhin sorgte das erst dafür, dass ich überhaupt studieren konnte. Zum Glück war der Schnitt egal. Was besseres als eine 3,2 würde ich in meinem Abizeugnis nämlich nicht schaffen. Egal, Hauptsache Abi.

Eigentlich überraschend, dass mein Leben gerade gar keine riesige Katastrophe war. Vielleicht kam es mir immer noch ein bisschen so vor. Ich war nicht unbedingt super glücklich. Aber das Leben fühlte sich anders an, wenn man plötzlich wieder Perspektiven sah.

Demnächst müsste Eddy vorbei kommen. Wir würden weggehen, vermutlich noch ein oder zwei Kumpels von ihm dort treffen, so dass es egal war, wenn ich dann irgendwann mit einem Mädchen verschwinden würde. Vielleicht war Angelika dort, ich wusste noch, das sie gerne im Dexter rumhing, zumindest hatten wir da mal miteinander rumgeknutscht. Angelika war ganz sympathisch gewesen, der Sex befriedigend. Mehr brauchte ich im Moment nicht. Hoffte ich.

Kurz dachte ich an das Gespräch von heute Mittag mit Nico. Vielleicht demnächst? War das ein Angebot gewesen, das ich abgelehnt hatte? Ja, war es. Aber er hatte schon einen Kerl, auf den er mich unbedingt hinweisen musste. Toby. Was das schon für einen Namen war! Ich war mir jedenfalls zu schade, um als irgendein Notnagel herzuhalten, wenn der aktuelle Lover von ihm mal keinen Bock auf ihn hatte. Wahrscheinlich war der auch genervt von Nicos Bissen, wenn sie... Gott, Enno, reiß dich zusammen und mach dich nicht so fertig! Tu nicht so, als wäre dir nicht klar gewesen, dass er auch mal mit anderen Kerlen Sex hatte!

Ich schabte den letzten Rest der Tapete weg. Hatte von mir eine häßliche, abgerissene Wand in frustrierend braun. Ganz entzückend. Nicos Gesicht war noch zu sehen, das hatte ich auf die bloße Wand gemalt. Noch immer war sein Blick auf die Tür gerichtet. Zum Glück würde das Weißeln schnell gehen. Vielleicht eine halbe Stunde, dann hatte ich noch Zeit genug zu duschen, auch wenn die Mädchen bestimmt total auf meinen animalische, männlichen Schweißgeruch standen. Naja, wie auch immer.

Ich legte den Boden behelfsmäßig mit Zeitungspapier aus dem Altpapier aus. Ha, genau deshalb ich das schon seit Wochen nicht runter gebracht. Genau deswegen und aus keinem anderen Grund. Ich öffnete den Farbkübel und erinnerte mich wieder daran, dass ich den Geruch von Farbe nicht mochte. Naja, egal, was sein musste, musste sein.

Ich tunkte die Rolle in die weiße Farbe, streifte etwas von der überschüssigen Farbe ab und strich dann mit einer großzügigen Bewegung über Nicos Gesicht. Es war kein Gefühl der Erleichterung, wie ich es mir erhofft hatte, aber auch kein Bedauern. Zumindest war es keine Kastration! Allerdings sah man Nico immer noch leicht durch die Farbe schimmern. Verdammt, ich hatte keinen Bock, mehrere Schichten zu streichen! Nicht mehr heute. Aber darauf würde es hinauslaufen, als ich weiter strich stellte ich fest, dass das Braun der Wand fast überall noch durchleuchtete. So ein Mist aber auch! Eigentlich hätte ich mir das denken können. Es war immer mehr Arbeit sein Leben auf Vordermann zu bringen, als man zunächst dachte. Wäre ja zu schön, wenn etwas ganz leicht funktionieren würde.

Das Türklingen riss mich aus meinen Gedanken. Verdammt, Eddy war zu früh! Ich war noch nicht mal ganz mit der ersten Wand fertig. Ich hatte gerade mal Nico leidlich überstrichen. Noch voll mit Farbe auf Klamotten und Hände rannte ich in den Gang, drückte das Schlüsselsymbol, öffnete die Wohnungstür und ging wieder zurück in den Raum. Ich wollte zumindest noch die eine Wand fertig kriegen, bevor wir los gingen. Solange musste Eddy einfach warten. Außerdem müsste er es ganz toll finden, wenn ich irgendwelche gruseligen Gemälde von Exlover übermalte. Und er hatte diesmal sogar Musik! Zwar nur Radiomusik, aber immerhin.

Ich strich weiter verbissen die Wand, hörte die Tür knarren, als er die Wohnung betrat. Er würde schon von alleine rausfinden, in welchem Raum ich war.

Ich schaute auf, als er dann das Zimmer betrat. Weiße Farbe tropften auf meine Socken, als ich wie erstarrt zur Türe starrte. Aber ehrlich, das war mir im Moment so egal.

„Äh... hey“, stammelte ich unbeholfen, fühlte mich rundweg unattraktiv und voller Farbe.

„Hey.“ Nico grinste mich an, musterte mich von oben bis unten. Ich wusste nicht was ich sagen oder tun sollte. Ich mein, Nico stand hier einfach da, als wäre er nie weg gewesen.

„Du renovierst?“

„Ja, war nötig.“ Wir schauten beide auf die Wand, die immer noch aussah wie das Vergewaltigungsopfer eines verrückten Künstlers, was in dem Fall wohl ich war. Warum redeten wir gerade darüber? Und was zur Hölle wollte er hier? Würde er wieder gehen, wenn ich ihn das fragte?

„Hätte nicht gedacht, dass du mich so schnell überstreichst.“

„Du hast dich also erkannt?“ Irgendwie war ich schon etwas überrascht darüber, da ich ihn doch auf eine etwas expressionistische Art dargestellt hatte, wenn man von seinem Gesicht absah.

„Klar, fand ich verdammt gruselig“, erklärte er mir ehrlich. Noch immer schauten wir die Wand an, nicht uns.

„Verständlich.“ War es so gesehen auch irgendwie. Aber ich hatte zu dem Zeitpunkt Fieber und war allgemein geistig nicht zurechnungsfähig. Ich hätte bestimmt weitaus schlimmere Dinge tun können, wie zum Beispiel mein Ohr abschneiden und ihm zu schicken. Aber wer wollte schon van Gogh sein? Außerdem sah ich mit Ohren bedeutend besser aus.

„Aber irgendwie sexy. Eigentlich schade, dass du es überstrichen hast.“ Plötzlich tauchte dieses dreckige Grinsen auf seinem Gesicht auf und traf mich mit voller Wucht. Seine Augen blitzen in meine Richtung. Immer wenn er mich so ansah, lief es auf Sex hinaus. Ich fühlte mich wie ein pawlowscher Hund, der allein bei seinem Blick scharf wurde. Verdammt.

„Ich könnte dir mein Ohr geben!“ Oh Gott, Ennoah, was redest du da?! Ich musste den Impuls unterdrücken mir die Farbrolle gegen den Kopf zu schlagen, vor lauter Dummheit. Ohren, wer wollte hier über Ohren reden? Aber das war das einzige, was mir dazu eingefallen war und nichts damit zu tun hatte, ihm die Klamotten vom Leib zu reißen. Dafür war gerade definitiv nicht der richtige Zeitpunkt. Wir sollten reden.

„Weiß nich, ich hatte es nie so mit van Gogh. Zu viele Sonnenblumen und so.“ Er zuckte mit den Schultern, lächelte aber leicht. So sah ein Besitzer seinen Welpen an, der ihm gerade begeistert einen ekligen, vermoderten Ast vor die Füße legte und begeistert mit dem Schwanz wedelte. Ich wusste nicht, ob ich mich von diesem Blick geschmeichelt fühlen sollte. Eher nicht.

„Und er war verrückt“, fügte ich noch hinzu. Wobei verrückt vielleicht auch manchmal auf mich zu traf, auf eine sehr negative Ohr abschneidende Art.

„Naja, der Untergang vieler großer Männer waren Frauen.“ Nico lehnte sich lässig gegen den Türrahmen. Noch immer trennten uns gefühlte tausend Kilometer, auch wenn es nur ein paar unüberwindbare Schritte waren.

„Ach, deswegen bist du schwul?“ Würde zu ihm passen. Er hatte sich eine Rechnung gemacht und festgestellt, dass er mit Männern besser dran war, weil die nicht plötzlich schwanger wurden und sowieso von der Geschäftswelt bevorteilt wurden und später mehr verdienen würden, als eine Frau. Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass ich in diese Rechnung nicht mit einkalkuliert war. Ich kostete mehr Nerven als es eine schwangere Frau jemals könnte und irgendwie hatte ich meine Zweifel, dass ich als Künstler jemals zu großen Reichtum kommen würde. Trotzdem stand er hier.

„Jub. Und naja, schau dich an. Du bist so mit Abstand der kaputteste Mensch, den ich kenne und auch der, der mit den meisten Frauen was hatte.“ Er sah selbstgefällig aus, weil seine Argumentation schlüssig klang.

„Dann bist du jetzt also mein Retter?“ Kurz schlug mein Herz schulmädchen-like schneller. Er hatte mich zwar gerade irgendwie beleidigt, aber es war Nico.

„So sieht´s aus.“ Er lächelte wieder, stieß sich vom Türrahmen ab und kam auf mich zu. Ich stand immer noch mit der Farbrolle da, hatte mir die Socken versaut und wusste im ersten Moment nicht, wohin mit diesem dummen Ding in meiner Hand, damit es mir nicht im Weg war, mich retten zu lassen. Ich fand, dass der Boden mit den Zeitungspapier okay war und pfefferte das Ding einfach hin.

Nico lachte über diese Aktion. Ich verdrehte nur die Augen. Er konnte so nervig sein. Ich packte ihn an seiner Jacke, die er noch nicht abgelegt hatte und zog ihn grob zu mir. Ich hatte mich schon genug zum Affen gemacht, jetzt wollte ich, was mir zustand.

Er erwiderte meinen stürmischen Kuss, in dem er mich leicht in meiner Unterlippe biss, daran saugte. Etwas, was normalerweise ich machte, weil seine Piercings einfach dazu einluden. Ich überzeugte ihn aber davon, dass meine Lippen nur halb so interessant waren, wie meine Zunge und konnte spüren, wie er in den Kuss hinein grinste. Egal, durfte er sich eben selbstgefällig und triumphal fühlen. Meine Hand fuhr durch seine kurzen Haare, sorgte dafür, dass er den Kuss nicht so schnell abbrechen würde und das sich weiße Farbe darin verteilte. Egal. Alles egal. Gott, war ich happy, dass er hier war. Schließlich löste ich den Kuss vorsichtig. Verwundert schaute er mich an, schien sich zu fragen, was das jetzt sollte.

„Ich muss Eddy anrufen!“, erklärte ich wenig hilfreich.

„Äh, also das wollte ich jetzt definitiv nich hören.“ Er verschränkte die Arme und ich verdrehte die Augen.

„Gott, ich muss ihm nur erklären, dass ich heute doch keine Zeit habe.“ Ich konnte mir was besseres vorstellen, als mit Nico in flagranti erwischt zu werden. Darauf würde es nämlich hinauslaufen, weil ich Nico jetzt definitiv flach legen wollte, sowas von. Und danach war ich bereit ihm alles zu geben, was er haben wollte. Ohren, Arme, Beine... Hm, naja, vielleicht nicht gerade meine rechten Arm, den brauchte ich noch zum Zeichnen, so mit der Hand dran und allem. Aber so vom Prinzip her, alles. Auch das Zugeständnis, das er wollte, das mit der Beziehungführen und allem.

Ich wählte schnell Eddys Nummer. Nico beobachtete mich, wie ich da im Flur stand und auf das verdammte Freizeichen wartete.

„Neufelder, hallo.“ Eddys Mutter hob ab.

„Hey, hier ist Enni. Ist Eddy noch da?“, fragte ich etwas gehetzt. Nico grinste mich schon wieder so an, und machte gerade seine Jacke auf. Nicht das sich darunter irgendwas attraktives verbarg, außer einem abgewetzen T-Shirt. Aber Nico mit weniger Klamotten war definitiv besser, als mit mehr.

„Ja, soll ich ihn rufen?“

„Nein, ist nicht nötig. Können Sie ihm einfach sagen, dass ich heute doch keine Zeit habe? Danke.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten und im vollen Bewusstsein, dass das schlichtweg unhöflich war, legte ich wieder auf. Sie würde das schon weiter leiten.

Mit einem Nicken in Richtung des Schlafzimmers machte ich klar, wohin Nico und ich jetzt definitiv verschwinden würden.
 

Mit einer befriedigenden Müdigkeit betrachtete ich Nico, der neben mir auf dem Rücken lag und eine rauchte. Nur das eine Mal durfte er das. Heute war einfach Ausnahmetag für alles. Mit einem Grinsen stellte ich fest, dass er weiße Streifen von Farbe auf sich hatte. Vielleicht hätte ich vor der ganzen Sache noch duschen sollen, aber an so etwas dachte man auch nicht mehr im Hormonrausch.

„Was is?“, fragte er mich, schaute zu mir herüber. Ich lag auf dem Bauch, stützte mich aber dann mit die Ellenbogen ab, um ihn besser ansehen zu können. Verdammt, ich war gerade richtig glücklich. Ich grinste ihn breit an.

„Sag mal, wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, Chancen bei mir zu haben? Wenn ich doch mit so vielen Mädchen was hatte...“ Das hatte ich mich schon ein paar Mal gefragt. Wie war Nico eigentlich auf mich gekommen, von all den Menschen?

„Keine Ahnung, ich dachte einfach du hast keinen hohen Standard, wenn es darum geht, was zu nageln.“ Er zuckte nur mit den Schultern und zog an der Zigarette. Ich sah ihm aber an, dass er sich freute mir einen Seitenhieb unter der Gürtellinie verpasst zu haben.

„Hey, ich hatte nur Sex mit wunderschönen Frauen! Naja, meistens.“, protestierte ich. Tz, keine hohen Standards! Ich würde nicht jede oder jeden nehmen! Eigentlich sollte sich Nico geehrt fühlen, dass ich überhaupt bereit war mit ihm Sex zu haben!

„Naja, aber für dich war es doch offensichtlich kein emotionales Ding, oder?“

„Klar, aber ich hätte auch hetero sein können, oder nicht?“, wand ich ein. Nico zuckt nur mit den Schultern.

„Bei dir waren die Chancen besser, als bei dem Typ aus dem SportLK.“

„Wen meinst du?“ Ich hatte keine Ahnung, von wem er sprach.

„Der Typ, der immer so abgefuckt aussieht.“

„Da gab es viele. Warte, halt mal. Ich war nur zweite Wahl?!“ Erst jetzt sickerte die Erkenntnis zu mir durch.

„Tja...“ Er grinste mich breit an und blies mir dann Zigarettenrauch entgegen. Mit einem gezielten Tritt beförderte ich ihn aus dem Bett. Er brauchte sich gar nicht soviel darauf einzubilden, dass ich ihn auf seine arrogante, selbstgefällige Art total scharf fand und ihn irgendwie echt mochte. Gar nichts. Aber eigentlich eine ganze Menge, weil er der einzige Mensch war, dem ich so nah sein wollte, dass ich ihn aus meinem Bett schmeißen konnte.
 

Ende
 


 

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So, das wars vorerst. Ich hoffe, ihr seid jetzt glücklich! XD Das Nachwort mit ein paar Infos, die euch vielleicht interessieren könnten, findet ihr in meinem Weblog. XD

Übrigens werden noch ein bis drei Kapitel als Epilog hochgeladen, die sich aber mehr auf die einzelnen Charaktere beziehen, die nicht Enno sind, und ihr Leben bis Nullpunkt.

Und dann wird es hoffentlich ab Herbst eine Fortsetzung geben. xD
 

So, Danke fürs Lesen. Ihr habt mich mit eurem Interesse an meiner Story, sehr, sehr glücklich gemacht. Ehrlich Leute. *_*

Adrian und die Ekatarina-Angelegenheit

Stellt euch das schönste Mädchen vor, das ihr je gesehen habt. Egal ob auf der Straße, in einer Zeitschrift, im Fernsehen und trotzdem kommt ihr noch nicht an die Schönheit von Ekatarina heran. Das klingt kitschig, ich weiß. Ennoah würde mich für solche Gedanken auslachen, aber er hat auch keine Ahnung.

Er redete mit ihr so, als wäre sie nur eines seiner vielen Mädels. Dieses selbstgefällige Lächeln im Gesicht, dieser selbstsichere Tonfall. Ekatarina stand auf ihn. Das war so ernüchternd. Ganz kurz, echt nur einen Moment, hatte ich ja gehofft, sie hatte mit mir gesprochen, weil sie mich interessant fand. Aber es war wie immer: sie hatte nur mit mir geredet, weil ich sein bester Freund war.

Und er, der Vollidiot, er tat so, als wäre nichts dabei, dass das mit Abstand schönste Mädchen aller Zeiten auf ihn stand. Ich konnte ja nicht mal richtig auf ihn sauer sein deswegen. Er war einfach wie immer, schien mit seiner exzentrischen Künstlerart die Mädchen nur so anzuziehen, musste nicht einmal etwas dafür tun. Ich fand es ungerecht.

Ich mochte Ekatarina wirklich. Ihre dunklen Augen versprachen ein aufregendes Geheimnis. Ihr exotischer Akzent erzählte von einem verheißungsvollen Land voller... Ach, verdammt. Ich stand auf dieses Mädchen, allein der Gedanke an sie machte mich scharf.

Und Ennoah kümmerte es nicht. Er hatte mit ihr gescherzt, seine Arme um sie gelegt, an sich gezogen und geküsst. Er kannte das aufregende Geheimnis, das ihre Augen versprachen, hatte dieses verheißungsvolle Land besucht. Scheiße, sie hatten Sex und man sah es ihnen sowas von an.

Mich hatte Ekatarina noch nicht einmal in Erwägung gezogen. Sie wusste vermutlich nich einmal mehr, wie ich hieß. Ich war ja nur der kleine, langweilige Freund von Ennoah.

Es fraß mich auf, die Beiden so zu sehen. Ich wusste, dass es lächerlich war, so eifersüchtig auf meinen besten Freund zu sein. Ennoah meinte es nicht böse, er konnte einem hübschen Mädchen eben nicht widerstehen und wenn sie sich ihm so an den Hals warf, erst nicht. Aber es half nichts, ich wollte Ekatarina. Warum er und nicht ich?

Und dann war plötzlich Schluss zwischen ihnen. Einfach so hatte dieser riesige Idiot sie abserviert, weil er nicht wollte das etwas zwischen uns stand. Gott, Ekatarina hatte doch nichts mit unserer Freundschaft zu tun. Wie konnte ein einzelner Mensch so dumm sein? Ein Mädchen wie Ekatarina begegnete man nur einmal im Leben. Man musste sie ganz festhalten und nie wieder gehen lassen. Nie wieder. Als er mir von der Trennung erzählte, wusste ich nicht, ob ich maßlos wütend sein oder mich freuen sollte.

Immerhin war sie wieder frei, Ekatarina, das schönste Mädchen auf Erden. War das vielleicht meine Chance? Suchte ein Mädchen mit gebrochnen Herz nicht nach Trost? Ich konnte trösten. Ich würde alles für sie tun.

Als wir uns dann gegenüber standen, klopfte mir mein Herz bis zum Hals. Ich konnte eine unbestimmte Hoffnung in ihrem Blick sehen. Sie freute sich mich zu sehen. War ich ihr doch nicht so egal gewesen, wie ich gedacht habe?

„Hat Ennoah dich geschickt?“, fragte sie mit einem Leuchten in ihren Augen. Meine Welt zerbrach. Ennoah. Immer wieder Ennoah. Wenn es um Mädchen ging, konnte ich ihm einfach nicht das Wasser reichen. Niemals. Ich schüttelte den Kopf, schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und haute ab.

Zuhause warf ich mich auf mein Bett und heulte. Es war so unfair. Warum musste ich immer gegen Ennoah verlieren? War er soviel interessanter, soviel besser als ich?

Und dann stand er bei mir im Zimmer, hatte Bier dabei und „GTA – San Andreas“, das ich mir schon seit Wochen kaufen wollte, aber nie das Geld dafür hatte.

Was sollte man machen? Er war trotzdem noch mein bester Freund.

Sophie und die Ennoah-Angelegenheit

Ich hatte mir Ennoah anders vorgestellt. Adrian hat soviel von ihm erzählt. Er war Zeichner, lebte alleine, weil seine Mutter nach Amerika abgehaut ist. Und mein Freund machte sich Sorgen um Ennoah, da er sich anscheinend stark verändert hatte, seit seine Großmutte verstorben war.

Deswegen hatte ich mir den besten Freund von Adrian introvertiert und unscheinbar vorgestellt, schüchtern bei hübschen Mädchen und Adrian der einzige Mensch, der ihn verstand.

Als dann plötzlich der große, gutaussehende Kerl mit diesem absolut Hammer-Lächeln vor mir stand, war ich schon ziemlich baff. Einfach alles an ihm war sexy, die lässige Art, wie er sich bewegte, seine dunkle, raue Stimme und wie er einfach so gechillt da saß und uns mit einem geheimnisvollen Blick bedachte.

Ich spürte mein Herz ganz stark klopfen, als sich unsere Blicke trafen und kam nicht umhin, Adrian mit ihm zu vergleichen. Was eigentlich nicht fair von mir war. Ich mochte Adrian wirklich gerne, er war so absolut lieb, hinreißend, süß zu mir. Aber Ennoah hatte so eine Ausstrahlung, das war total krass.

Das war genau einer dieser Typen, die man immer im Club sah und man sich niemals traute, sie anzusprechen, weil sie einfach zu cool waren, zu gut aussahen. Hätte mich Adrian nicht vorwarnen können? Ich hätte … keine Ahnung … mir ein spannenderes Gesprächsthema überlegen können. Ich wollte, dass Ennoah mich nicht zu langweilig fand. Das Adrian jetzt mit meinem Klavierstunden anfing, war dann auch etwas peinlich. Aber ich wusste ja, wie er es meinte und seinen Kuss erwiderte ich gerne.

Auch wenn es mir dann doch etwas peinlich war, als ich plötzlich Ennoahs Blick auf uns spürte. Was er wohl von uns hielt? Ich war mir nicht sicher, ob Ennoah mich gut genug für seinen besten Freund empfand. Ich wollte, dass er mich mochte. Vielleicht nicht nur wegen Adrian.

Und ich fühlte mich total dämlich, dass ich mich so schnell von Ennoah beeindrucken ließ. Eigentlich war ich schon immer der Meinung, dass man auf so hyper charismatische Kerle nicht viel geben sollte, da sie meistens doch nur arrogant und überheblich waren. Aber irgendwie war es was ganz anderes, wenn man mal plötzlich mit einem sprach.

Ennoah wirkte ganz und gar nicht arrogant, er war wirklich witzig und dieses Lächeln, einfach nur rawr. Okay, okay, es war doch völlig normal, auf solche Kerle zu stehen, oder? Aber das bedeutete nicht, dass ich wirklich was von ihm wollte oder ihm Adrian vorziehen würde.

Bei Adrian wusste ich, was ich hatte und von Ennoah könnte man vielleicht ein bisschen träumen, genau wie von Johnny Depp. Oh ja, Johnny …

Das wir noch zusammen in den Club gingen, fand ich ja ziemlich cool. Ich wusste schon ganz genau, dass ich es Cora unter die Nase binden würde, mit was für Kerlen ich unterwegs war. Adrian war ja auch nicht von schlechten Eltern und hey, beide waren schon volljährig. Coras Ex-Freund war gerade mal ein halbes Jahr älter als sie gewesen.

Das der Abend so einen fatalen Verlauf nehmen würde, hätte ich allerdings nicht erwartet. Ich verstand es selbst nicht ganz. Irgendwie war da Ennoah gewesen und er schien mir in diesem Moment so … unwiderstehlich. Adrian war nicht da und ich wusste, das Cora so scheiß neidisch war, dass ich überhaupt mit Ennoah zu tun hatte.

Ich hasste faule Ausreden, wie der Alkohol war Schuld. Er senkte vielleicht die Hemmschwelle, aber der Wille musste schon da sein. Natürlich war er da. Man musste sich Ennoah doch nur ansehen. Er war außerdem so nett gewesen und irgendwie reizte mich die Vorstellung, einmal mit so einem Typ zusammen zu sein. Er schien mir auch nicht so abgeneigt, aber vielleicht hatte mir da doch der Alkohol was vorgegaukelt. Ich wusste es nicht. Es war alles so komisch.

Und plötzlich hatte ich meine Lippen auf seine gedrückt. Warum? Ich erschreckte mich zwar, war aber irgendwie richtig erleichtert, als er mich sofort von sich stieß. Keine Ahnung. So war wenigstens nichts passiert, was ich mir niemals vor Adrian hätte verzeihen können. Auch wenn schon ein Kuss hart an der Grenze war. Es war nicht in Ordnung, betrunken oder nicht, Adrian wäre verdammt verletzt, wenn er davon erfahren würde.

Ennoah und ich sahen uns noch kurz an und ich wusste, er würde genauso wenig mit Adrian darüber reden, wie ich. Und dann war er verschwunden in der Menschenmenge.

Nicolas und die Tobias-Angelegenheit

So, der letzte "Epilog"-Teil, diesmal mit Nico. Worauf wohl schon viele gewartet haben. Ich hoffe, An der Fortsetzung von Nullpunkt arbeite ich im Gedanken schon sehr intensiv, werde aber wohl frühstens Ende des Jahres mit der Umsetzung beginnen.

Wäre gerne wissen will, wie es bei Nullpunkt weiter geht, kann mir einfach Bescheid sagen, dann schick ich eine ENS, wenn sie on ist, da die Fortsetzung seperat zu Nullpunkt hochgeladen wird.
 

Naja, dann viel Spass mit dem vorerst letzen Teil von Nullpunkt. Was schön mit euch!

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Ehrlich, ich war ein Idiot. Mir war von Anfang an klar gewesen, dass das mit Ennoah keine gute Idee war. Nein, halt – der Sex mit Ennoah war eine verdammt gute Idee gewesen, der Rest allerdings ein Komplettausfall. Ich hätte mich niemals bei ihm heimisch machen sollen, keine gemeinsamen Abende vor dem Fernsehen mit einem guten Essen, nicht die Einkäufe oder die kurzen Gespräche in der Küche und schon gar nicht die Fahrt zu seiner Mappenberatung. Gar nichts. Nur Sex, das hätte es sein sollen.

Wir hatten das doch gleich klar gestellt. Ich hatte nie mehr gewollt, er sowieso nicht. Aber ich habe es irgendwie geschafft, es total zu verkacken. Ich weiß nicht genau wann, aber an irgendeinem Punkt hätte ich meine Grenzen ziehen müssen und ich Vollidiot habe es nicht getan. Und deswegen saß ich jetzt bei Toby im Zimmer und mir war einfach zum Heulen zumute.

Stattdessen stopfte ich Chips in mich rein und sah mir mit ihm einen Actionfilm an. Anspruchsloses Fernsehen war ich ja schon durch Ennoah gewohnt. Er hatte vorhin angerufen, deswegen war mir so elend. Er hätte sich entschuldigen müssen, auch wenn ich nicht bereit war ihm zu verzeihen. Er hätte sagen müssen, dass er mich braucht. Aber das tat er nicht.

Das Problem lag allerdings wo anders. Naja, bei mir. Er war mir viel wichtiger, als er es wert war und ich war ihm scheißegal. Gott, ich war so sauer auf mich, dass ich so einem kaputten Nichtsnutz verfallen war. Wahrscheinlich lag es am Sex. Er konnte nicht viel, aber darin war er richtig gut. Allein wie er … Nicht dran denken, Nico! Das machte es nicht besser.

Leider lag es nicht nur am Sex. Ich musste irgendwie gestört sein, aber ich stand auf seine verschrobene, armselige Art. Als ich ihn so fertig gefunden habe, er mich gebraucht hat. Ich hätte in dem Moment alles für ihn getan. Gott, allein bei dem Gedanken wurde mir das Herz schwer. Wie er die Hand nach mir ausgestreckt hat und sich an mich gekrallt hat. Die Tränen, die in meinem T-Shirt versinkert sind. Ich hatte mich noch nie so geliebt gefühlt. Natürlich hatte ich mir Sorgen gemacht um ihn, er hatte echt krasses Fieber und schien nicht mehr ganz da zu sein. Aber in dem Moment war ich einfach wichtig für ihn gewesen. War es nur Mitleid, das ich ihn so mochte?

Wahrscheinlich litt ich einfach an einem Helfersyndrom. Was es nicht besser machte. Er hatte keinen Ton raus gebracht, als ich ging. Hatte mich nicht mal versucht aufzuhalten. Das wirklich traurige daran war ja eigentlich, dass ich mir das schon gedacht hatte. Ennoah hatte mir ja schon oft genug gezeigt, wie wenig ich ihm bedeutete. Allein die Sache mit der Tussi … Nicht mal eine vernünftige Entschuldigung hatte er zustande gebracht. Idiotischerweise hatte ich mich trotzdem über seinen Anruf gefreut.

Jetzt war ich deprimiert und ich wünschte mir, ich würde noch kiffen und mich besaufen. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, Toby nach Stoff zu fragen. Er hatte bestimmt was in seiner Schublade deponiert. Er hatte immer ein bisschen was zum Rauchen da. Allerdings würde ich mich dann noch schlechter fühlen, wenn ich wieder in alte Muster zurückfiel. Ich war nie Junkie gewesen oder so ein Dreck, aber ich hatte einfach keinen Bock mehr darauf, keine Kontrolle über mich und mein Leben zu haben. Und die Scheiße mit Ennoah würde mich auch nicht dazu bringen, etwas daran zu ändern.

Ich seufzte niedergeschlagen und stopfte noch mehr Chips in mich, die mir zu salzig waren. Eigentlich konnte ich Chips auch gar nicht ausstehen. Fett in dünne, überwürzte Scheiben gepresst. Angewidert von dem Gedanken schob ich die Chipstüte zu Toby, der sich eine große Hand daraus nahm. Ich beobachtete, wie er die Chips aß, ohne auch nur hinzusehen. Sein Blick war auf den Fernseher gerichtet. Ich musste an Ennoah denken.

Ich hasste dieses Gefühl, sich verlassen und untätig zu fühlen. Hätte ich einen anderen Platz zum Pennen, würde ich wohl versuchen mich an Toby ranzumachen. Einfach aus Frust. Wobei ich wahrscheinlich nicht mal Chancen hatte. Wir kannten uns zwar schon ewig, aber ihm war nicht mal klar, das ich auf Kerle stand. Sonst würde er mich wohl auch nicht in seinem Bett schlafen lassen. Ich konnte mir bei Toby richtig vorstellen, dass er ein bisschen homophob war, sowie die meisten Kerle halt. Mir war es egal. Niemand brauchte zu wissen, dass ich schwul war. Nicht das ich ein Problem mit meiner Sexualität hatte, aber man musste sich auch nicht unnötig Stress machen, oder? Mit dem Sex hatte es auch so geklappt, auch wenn ich zugeben muss, dass Ennoah der einzige war, mit dem ich wirklich … länger zusammen war. Verdammt, wir waren ja nicht mal zusammen, nur Sex und Wundenlecken. Mit Sven und Andreas war ja schon fast mehr emotionale Bindung dagewesen. Die fanden mich zumindest sympathisch.

Frustriert griff ich wieder nach der Chipstüte. Scheiß drauf.

„Sag mal, der Typ am Telefon ...“, setzte Toby plötzlich zu einem Gespräch an. Ich zuckte erschrocken zusammen. Warum wollte er jetzt gerade darüber reden?

„Ja?“, fragte ich trotzdem etwas genervt nach. Vielleicht war ich ihm ja auch so klar, dass er das Thema schnell ändern sollte.

„Das ist der, bei dem du wohnst, oder?“ Gewohnt hast, Toby. Vergangenheit. Ich würde mich nicht so sehr erniedrigen und wieder zu ihm zurückkriechen. Dafür war ich mir zu Schade oder zumindest waren mir meine Gefühle zu wichtig, um sie mir nochmal verletzten zu lassen von so einem Idiot wie Ennoah.

„Naja, ich werd mir wohl was anderes suchen.“

„Hm, okay. Ich frag nur, weil meine Mutter schon wissen wollte, wie lange du noch bleibst und so.“

Ach, verdammt. Ich hatte gewusst, dass ich nicht ewig bei Toby wohnen konnte, vor allem, weil er noch bei seinen Eltern lebte. Wahrscheinlich musste ich tatsächlich zurück zu meiner Mutter, die würde sich bestimmt freuen, dass das mit Ennoah zu ende war. Spießige Tussi.

Ich frage mich ja manchmal, wie eine Mutter wie meine, so eine krass flippige Schwester haben konnte. Okay, meine Tante war zehn Jahre jünger als sie, aber das war nicht alles. Sie war das komplette Gegenteil von meiner Mom. Sie stellte aus Müll Schmuck her, der sich sogar verkaufte, lebte mit einem Mann zusammen und hatte ein Kind, das nicht von ihm war. Ihrer Meinung nach war ein Kind lange noch kein Grund zu heiraten. Recht hatte sie. Meine Mutter hätte auch besser auf sie hören sollen, dann wäre sie jetzt auch nicht so scheiß unglücklich in ihrer beschissenen Spießerehe mit einem Ehegatten, der sie mit jeder betrog, die die Beine für ihn breit machte. Eltern waren doch Arschlöcher. Die ganze Welt bestand doch nur aus Idioten.

„Kann ich noch bis zum Wochenende bleiben?“

„Kein Ding. Von mir aus kannst du ruhig ewig hier bleiben. Ich mein nur wegen meiner Mutter und so.“ Naja, Toby war okay. Warum hatte es nicht er sein können, warum Ennoah? Es sprach sovieles gegen dieses langen Lulatsch und soviel für meinen besten Kumpel. Naja, wenn man davon absah, dass wir nie Sex haben könnten.

„Schon klar.“ Ich versuchte beruhigend zu lächeln. Er sollte bloß nicht den Eindruck bekommen, ich würde ihn für einen schlechten Freund halten. Ich wusste ihn wirklich zu schätzen, auf Toby konnte man im Notfall immer zählen. Auch wenn er manchmal etwas unbrauchbar war, wenn er mal wieder bekifft rumhing oder Stress mit seinen Freundinnen hatte. Das war aber praktischerweise fast immer zeitgleich und kam nicht super häufig vor. Freunde waren eine super Sache. Beziehungen nicht. Ich wusste, warum ich es bis dahin immer vermeiden hatte. Genau wegen so einem Mist, wie jetzt mit Ennoah. Allerdings hatten wir ja nie so etwas wie eine Beziehung gehabt und das war für mich das Problem.

Ennoah zettelte einen Streit mit mir an, wegen diesem bescheuerten Spießer, der aus mir unerfindlichen Gründen sein bester Freund war, und dann holte er sich bei nächstbester Gelegenheit eine Tussi ins Bett, nur um sich danach fast selbst umzubringen aus lauter Selbstmitleid. Und trotzdem konnte er sich rein gar nichts eingestehen, oder gab es da auch einfach nichts? Ihm wäre doch jeder Recht gewesen in diesem Moment, wahrscheinlich sogar die Nachbarin, mit den vielen Kindern. Hauptsache nicht mehr allein, nicht Ennoah? Und für den den Sex brauchte er mich offensichtlich auch nicht. Okay, mir hätte klar sein müssen, dass er nicht plötzlich schwul wird und nie wieder mit einer Frau schlafen will. Sven hatte mir immer erklärt, dass man die Finger von Typen lassen sollte, die bi sind. Da kam nie was gutes dabei raus.

Mittlerweile verstand ich ganz genau, was er damit meinte. Warum hatte es eigentlich nicht mit Sven klappen können? Gut, ich hätte vielleicht nicht mit ihm die Aktion zuhause abziehen sollen … Er war ganz schön sauer gewesen, zwar nicht so sehr wie meine Mutter, aber genug. Naja, Sven war Geschichte und mit Ennoah hatte ich definitiv besseren Sex, naja, meistens. Manchmal.

Warum zum Henker waren die Chips schon leer? Ich raschelte unglücklich mit der Verpackung und Toby schaute irritiert in meine Richtung. Sein Blick wirkte mitleidig. Wahrscheinlich dachte er, ich hätte Liebeskummer. Warte, er hatte Recht. Ich hatte scheiß verdammt nochmal Liebeskummer, das war so zum Kotzen. Gerade weil Ennoah Schuld daran war.

Ich konnte ihn ja nicht mal wirklich gut leiden. Er war mir schon immer viel zu überheblich gewesen. Gut, er konnte ein bisschen zeichnen – naja, ziemlich gut sogar. Aber das war gar kein Grund sich irgend etwas darauf einzubilden. Warum die ganzen Mädchen so auf ihn flogen, hatte ich auch nie ganz verstanden.

Was ich von ihm wollte allerdings auch nicht. Aufgefallen war er mir ja mal in der Zehnten im Religionsunterricht. Keine Ahnung mehr, was das Thema der Diskussion war, aber Ennoahs charmanter Beitrag war: „Ist doch egal, was für ein Geschlecht. Ein guter Fick, ist ein guter Fick.“

Okay, ich war mir sicher, dass er keine Ahnung hatte, von was er da sprach, aber irgendwie hatte ich ihn mir wohl doch für möglichen Sex gemerkt. Bei ihm waren die Chancen zumindest größer, als bei allen anderen in der Stufe. Sonderlich viel Interesse hatte ich an ihm trotzdem nicht. Er war immer noch arrogant, überheblich und zwar schon irgendwie scharf, aber Aussehen war nicht alles.

Warum hatte ich ihn überhaupt angesprochen? Ach genau, weil er eine eigene Wohnung hatte und ich auf Elend stand. Mein Männergeschmack war wirklich furchtbar …

Wetten das hatte ich von meiner Mutter geerbt! Immerhin war sie mit meinem Vater verheiratet. Gott, keine Frau mit normalen Verstand hätte sich so einen Kerl angelacht. Na gut, mein Vater verdiente Schweine viel Geld als Anwalt, aber ansonsten war er einfach ein Arschloch und das nicht erst seit gestern.

Meine Eltern hatten sich schon gestritten, da war ich erst im Kindergarten. Ich wusste damals zwar noch nicht, was eine frigide Sumpfkuh war oder ein ignorantes Arschloch, aber dass es nichts gutes war, war mir damals auch schon klar. Ja, wundervolle Familienidylle. Und ich musste mir vorwerfen lassen, dass ich kompliziert und anstrengend war. Kein Wunder bei den Eltern. Bei dem Gedanken wurde ich wieder richtig wütend. Ich hatte Null Bock wieder zu ihnen zu ziehen.

Kaputte, kranke Fassade.

Bei Ennoah war wenigstens alles ehrlich gewesen. Es war vielleicht nicht immer toll, aber es war zumindest nicht nur Schein. Ich vermisste ihn. Was eigentlich nicht sein sollte. Man durfte einfach niemand vermissen, für den man so wenig wert war. Das nackte Mädchen in seinem Bett. Scheiße verdammt. Er war mir an dem Morgen sowieso komisch vorgekommen. Ich dachte ja, es lag an unserem Streit. Das es sowas war, hätte ich nicht erwartet. Ich fühlte mich so betrogen, um mein Leben mit ihm. Irgendwie hatte ich mir einfach falsche Hoffnungen gemacht, dass uns mehr verband, als nur Sex. Ich weiß, ich bin momentan der einzige Mensch in Ennoahs Leben, der soviel über ihn wusste. Nicht mal sein … bester Freund wusste annährend soviel über ihn, wie ich. Dass er einfach nur einsam ist. Dass er Probleme hat, sein ganz normales Leben in den Griff zu kriegen. Dass er in Eddy so unglücklich verschossen war, wie ein Mensch nur sein konnte. Und dass er seine Mutter dafür hasste, ihn so hängen gelassen zu haben.

Das alles wusste ich über ihn, ohne das wir viel darüber gesprochen haben. Was ich für ihn war, hatte ich aber anscheinend nicht gewusst, oder es einfach nicht sehen wollen.

„Hey, das wird schon wieder.“ Toby lächelte mich an und klopfte mir kurz auf die Schulter. Ich grinste schief zurück. Vielleicht hatte er ja recht und ich sah die Sache zu verfahren. Im Endeffekt müsste ich nur meinen Stolz über Bord werfen und mich damit zufrieden geben, was mir Ennoah geben wollte. Konnte ich das?
 

Offensichtlich. Ich stand vor seiner angelehnten Wohnungstüre, hörte ungewohnt Musik durch den Gang schallen. Hatte Ennoah sich in den letzten Tagen wirklich so sehr verändert, dass er sogar schon freiwillig Musik anmachte?

Ich schob die Türe auf und war fast ein bisschen enttäuscht, als ich nur einen leeren, kahlen Flur sah. Doch nicht so anders, als erwartet? Ich spielte kurz mit den Gedanken, meine Schuhe und meine Jacke auszuziehen. Aber ich war mir nicht sicher, wie lange ich wirklich in der Wohnung bleiben würde. Es hing alles von Ennoah ab. Keine Ahnung, warum ich ihm nochmal eine Chance gab. Vielleicht war ich einfach ein bisschen gerührt davon, dass er mittlerweile wirklich versuchte sein Leben in den Griff zu kriegen. Von sich aus und ohne von anderen zu verlangen, ihn zu retten. Das konnte ich nämlich nicht, das wollte ich auch nicht.

Ich wollte ihn, zusammen mit ihm vor dem Fernseher sitzen und dabei unser selbst gemachtes Essen futtern. Vor ihm aufwachen und uns Frühstück machen. Hm … eventuell wollte ich ja gar nicht Ennoah, sondern einfach Essen? Naja, wie auch immer.

Ach, wahrscheinlich war ich nur hier, weil er mir eine Abfuhr erteilt hatte. Okay, ich war selbst ein bisschen Schuld daran, weil ich ihn mit Toby eifersüchtig machen wollte. Es ärgerte mich trotzdem irgendwie, dass es nicht funktioniert hatte. Anderseits wollte ich Ennoah, noch mehr als sonst. Wie er vor mir gestanden hatte, diese leichte Unsicherheit in seiner Stimme und dann dieses Grinsen. Trotzdem, verkackte er das hier und jetzt, war es das mit uns gewesen.

Aus dem Grund war ich auch irgendwie nervös, als ich schließlich die Türklinke zu meinem alten Zimmer ergriff und in dem ich Ennoah vermutete. Was war, wenn er es wirklich nicht schaffte mir das zu geben, was ich wollte? Konnte ich ihn wirklich aufgeben? Oder würde ich ihm auch diesmal wieder verzeihen? Wo würde ich bei Ennoah die Grenze ziehen? Wie viel ihm durchgehen lassen? Egal, nur darüber nachdenken brachte mich nicht weiter.

Ich atemte noch einmal tief durch und öffnete schließlich die Tür. Und da stand er.

Er sah so absolut hinreißend aus, voll mit Farbe beschmiert und wie er mich völlig überrumpelt anstarrte. Ich war ihm ja so dermaßen verfallen …

Epilog

Ich hatte gerade die Post von einem halben Jahr bei meiner Mutter in der Wohnung abgeholt und machte es mir damit in meinem neuem WG-Zimmer gemütlich. Seit ihrer Scheidung vor zwei Jahren hatte sich unser Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir deutlich gebessert. Vielleicht, weil ich endlich wieder Respekt vor ihr hatte. Die Scheidung war eine scheußliche Sache gewesen. Mein werter Herr Vater, der auch ein werter Herr Anwalt war, hatte alle Register gezogen, um die Sache so häßlich wie möglich zu machen. Ich war ehrlich gesagt ziemlich beeindruckt und stolz auf meine Mutter gewesen, dass sie sich da durchgebissen hatte. Natürlich mit viel Tränen, aber auch mit dem Geld für eine Eigentumswohnung und einem neuen Freund. Heinrich war ganz okay, auf jeden Fall nicht so ein Arschloch wie mein Vater, also im Grunde eine Verbesserung. Ich freute mich für sie.

Einige meiner Briefe waren bereits geöffnet, aber meine Mutter hatte auch die Erlaubnis dazu gehabt. Immerhin gab es immer auch wieder mal wichtigen Kram, den man nicht einfach ein halbes Jahr liegen lassen konnte, während man in Warschau für die deutsche Botschaft hospitierte. Ja, ich hatte mich, wie mein Vater, für ein Jurastudium entschieden. Ich hatte mittlerweile alle nötigen Voraussetzungen beisammen, um endlich mein Staatsexamen anzugehen. Aber im Moment wollte ich mir darüber keine Gedanken machen.

Im Moment interessierte mich mehr der geschlossene Brief, auf dem handschriftlich “Für Nico” stand. Aber nichts weiter. Wie hatte der Brief das überhaupt zu meiner Mutter geschafft? Ich drehte den Brief, um weitere Hinweise zu finden. Aber ein Absender stand auch nicht drauf. Kurz zuckte ich mit den Schultern und riss ihn einfach auf.

Darin befand sich nur ein dickes, weißes Stück Papier mit einer schnörkeligen Aufschrift “Elisa & Ennoah” und darunter eine Adresse und Datum von nächster Woche. Ich lächelte. Also haben sie es endlich mal gewagt!
 

... weiter geht es in "Nullpunkt - illustrierter Roman von Mo Kast", erhältlich ab November 2017 bei Memphis.



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Kommentare zu dieser Fanfic (114)
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Von:  Finkel
2019-04-12T02:38:00+00:00 12.04.2019 04:38
oh ich hab das jetzt mit ein paar Jahren Verspätung entdeckt.....
..... eine Hochzeitseinladung o.0 ??
Von:  Untier
2017-08-07T07:00:31+00:00 07.08.2017 09:00
Ich freu mich so drauf!! Jaaaaaaa! <3
Antwort von:  Memphis
07.08.2017 09:47
Aww und mich freut es, dass es dich freut! hihi
Lust darauf ein Fanart zu machen? Kann dir dafür anbieten, dass du den ganzen Epilog vorab lesen kannst, oder so. o__o
Von:  Schattenaugen
2014-10-08T09:39:14+00:00 08.10.2014 11:39
Hallo...
Bin durch Zufall über deine FF gestolpert, als ich auf der Suche nach etwas Neuem zu lesen war, das sich auch lohnt zu lesen und weil mich der Titel der FF angesprochen hat, habe ich sie mir runtergeladen und förmlich in einem Rutsch gelesen.

Ich muss sagen, dass es Stellen gab, an denen ich wirklich mit dem Kopf schütteln musste, aber auf der anderen Seite kennt man diese Szenen, in denen einfach nichts klappen will und einem manchmal nichts anderes übrig bleibt als in diesem Selbstmitleid zu baden, so wie Enni es so oft getan hat.
Es war schon erstaunlich wie lange er gebraucht hat um zu begreifen, nur weil er derart an seinem Kumpel hing und die Wahrheit vor seinen eigenen Augen nicht sehen konnte, aber auch hier nehme ich es als Parallele zum Leben, weil wir so oft die Dinge nicht sehen, die uns so klar vorm Gesicht liegen, dass man sie schon wieder übersieht.
Ich mochte es auch, dass es nicht so Knall auf Fall ging.
Klar, Sex und Beziehungen sind zwei verschiedene Dinge und Enni hat zu spät begriffen, was da im Begriff war zu geschehen, bis es fast zu spät war.

Ich muss gestehen, dass ich die drei Epilog-Kapitel nicht mehr gelesen habe, weil das Ende, so wie es stand, einfach perfekt für mich war.
Es bleibt genug um die Fantasie des Lesers anzuregen und sowas mag ich generell sehr gerne.
Was deinen Stil angeht ist er eine gute Mischung aus Ernsthaftigkeit und Humor.
Ich musste einige Male mit meinem ebook in der Hand laut loslachen und wurde schief angesehen, aber manchmal ließ es sich einfach nicht aufhalten. Besonders die kleinen, so ironischen Stellen in seinen Gedanken waren einfach nur genial und als Schlüsselszene einer solchen Sache fallen mir gerade die Pinsel ein, die Borsten-Suizid begehen, wenn man sie schief anschaut.

Alles in allem war es eine recht unterhaltsame FF, die ich gerne gelesen habe.
In deiner Beschreibung stand ja schon, dass sie nicht betagelesen wurde und von daher war ich von Vornherein auf Fehler gefasst, die aber auch alles in allem nicht so gravierend waren, dass sie einen gestört hätten.

lg
Schattenaugen
Antwort von:  Memphis
08.10.2014 18:11
Hallöchen!

Es freut mich, dass noch Leute meine Geschichte noch lesen und finden. Und natürlich umso mehr, wenn sie einem gefällt!

Der Epilog ist nicht direkt ein Epilog, man erfährt nur ein bisschen was über Nico, Eddy und Sophie zu verschiedenen Punkten in der Geschichte oder in der Vergangenheit. Die Kapitel habe ich geschrieben, da ich viele Fragen bezüglich den Charakteren gekriegt habe und so ein paar beantworten wollte. :)

In meinen Geschichten leg ich immer großen Wert darauf, dass meine Charaktere authentisch und realistisch rüberkommen. Da freut es mich natürlich besonders zu hören, dass man auch Parallelen zum echten Leben finden kann. :)

Jedenfalls Danke für deinen tollen und ausführlichen Kommentar! Er hat mich sehr gefreut. :)
Von:  EliseNightroad
2013-09-27T09:34:29+00:00 27.09.2013 11:34
So.
Ich will ganz ehrlich sein. Ich war zwischenzeitlich ganz kurz davor, einfach abzubrechen. Nicht wegen dem Stil oder so, die Story ist super von dir geschrieben. Aber Enni hat mich mit seinem Selbstmitleid und seiner Art manchmal so dermaßen aufgeregt und in den Wahnsinn getrieben!!
Dass der einfach nicht begreifen konntr, wie verliebt Nico in ihn war und wie sehr er ihn verletzt hat!
Grrrr! Zum Haare ausreißen!
Aber das Ende hat mich für alles entschädigt@
Super gemacht von dir!
Antwort von:  Memphis
27.09.2013 19:53
Ich kann es dir nicht verdenken! Ennoah ist wirklich wirklich anstrengend und bescheuert und Nico ist viel zu gut für ihn und bah ... Niemand mag Ennoah, außer vielleicht Nico. Weiß der Himmel warum.

Aber freut mich, dass dich die Charaktere emotional mitgenommen haben, du trotz allem weiter gelesen hast und dich das Ende doch noch glücklich machen konnte! :)
Von:  Januce_Mizu
2012-04-24T19:23:32+00:00 24.04.2012 21:23
Moin!

Ich liebe Animexx dafür das ich deine Geschichten schon als Ebook lesen kann *grins*

So habe mir das Ziel gesetzt all deine Geschichten zu lesen....ich mag wie du schreibst...woran man das merkt...Janu muss täglich mit der Bahn fahren und merkt meist im letzten Moment das sie aussteigen muss.

Ich habe "Nullpunkt" schon gestern begonnen in der Pause und habe auf dem Weg nach Hause weitergelesen...hätte zuhause weitergelesen wenn da nicht der Baukerl mit unserm Hausangebot gekommen wäre...naja dafür habe ich Sie heute zuende gelesen...

Ich wer bis zum letzten Kapitel echt immer am Zweifeln wenn Ennoah liebt ...obwohl ich mir Eddy nicht sympathisch ist...ich mag ihn nicht...ich finde er passt auch nicht als bester Freund zu Ennoah...

Nico hingegen war mir von anfang an sympathisch...es ist soooo toll wie er Ennoah am Anfang immer nach der Schule folgt...*grins* Sehr hartnäckig...

Achso zum Ende hin...oh ich hab gelitten...weil man spürte das Ennoah mehr für Nico empfindet als für Eddy (es war ja nicht ersichtlich ob er nicht doch was von Eddy wollte) naja...egal...oh man...das war so hart...
Ich habe wirklich gedacht das es so endet das die beiden nicht zukommen...ich war davon felsenfest überzeugt....

DANKE für das gegenteil...danke...jetzt kann ich beruhigt ins Betti gehen...

Auch die zusatz Kapitel waren super...Naja Sophie (mag ich nicht) und Eddy...naja nein nicht sympathisch...*lach* Schön das man noch erfährt wer Toby ist...obwohl nachdem Nico zu Ennoah gegangen ist...war klar das es ein Freund war...aber bestätigung ist immer besser *grins*

So ich hör auf...meine augen tun vom Iphone lesen *grins* mein Rücken schmerzt und meine Finger...frag einfach nicht....Ich glaub ich werde zu alt um so eine schöne Geschichte zu lesen...*lach*

Wünsche noch einen schönen Abend...


Von:  Mado-chan
2011-11-01T23:02:15+00:00 02.11.2011 00:02
oh man.
Ich merke jetzt erst WIE geflasht ich von dieser FF bin.
Ich habe sie grad nochmal komplett durchgelesen! Ist ja auch erst 4 Tage her, dass ich sie das erste mal beendet hab.

Und ich muss sagen, ich liebe Nico. Ich liebe ihn noch viel mehr als Enno.
Arg, das musste ich einfach nochmal loswerden.
Vor allem liebe ich es, dass die FF teilweise so deprimierend ist und mit runter zieht, aber Enno niemals richtige Selbstmordgedanken hatte!

LG
Mado
Von:  Mado-chan
2011-10-27T16:54:41+00:00 27.10.2011 18:54
So endlich schreibe ich dir auch einen Kommentar.
Ich habe gerade Rotz und Wasser geheult wegen des Anfangs, weil ich mich so sehr in Enno hineinversetzen kann und es auch gemacht habe.
Er tut mir so leid und ich verstehe ihn irgendwo, auch wenn er irgendwo dumm ist. Aber ich glaube, wenn man einmal in so einer Lethargie drin ist kommt man schwer heraus.
Ich lese weiter und ich liebe deine FF´s, besonders weil ich zu all deinen Hauptcharakteren eine Hass-Liebe habe. Sie gehen mir so oft auf den Keks, aber dafür liebe ich sie wieder.
Mal abgesehen davon, dass es MÄNNER sind und keine milchbubis *-*
LG
Mado
Von:  traumfresserchen
2011-08-18T23:00:18+00:00 19.08.2011 01:00
oha, hab ich mich gefreut, als ich das fight club zitat gelesen hab. da ich eine zeitlang fast nur chuck palahniuk gelsen hab, bin ich mittlerweile - glaube ich - einfach ein bisschen hirngeschädigt ^^
das wird auch der grund dafür sein, wieso ich das ende als ein tränenwürdiges happy end empfunden habe. haha, kann aber auch an der uhrzeit gelegen haben.
aber deine geschichte ist wirklich gut, du schaffst es, die charaktere authentisch rüberzubringen, vor allem nico mochte ich, es sind keine stereotypen, die du beschreibst. nur ennos depressive phase am ende hättest du vll noch etwas kürzen können. ich meine, nico war wahrscheinlich das beste, was ihm hätte passieren können, er kann kochen!!
xo
Von: abgemeldet
2011-07-17T13:06:33+00:00 17.07.2011 15:06
Hi^^,

ich bin durch die YUAL auf dich bzw deine Storys aufmerksam geworden, also Gurkensushi hab ich auch gelesen aber wenn ich ehrlich bin, fand ich das jetzt nicht so gut. Leute die über Liebe an sich oder über das was sie als ihre "Liebe" erachten sinnieren sind nicht so ganz mein Fall.

Egal dafür bin ich von "Nullpunkt" absolut begeistert, ich kann es kaum in Worte fassen und bin vollkommen von den Socken wie gut und vor allem wie authentisch du eine wirklich alltägliche Situation eingefangen hast.

Die Szene in der Leichenhalle, großartig. Eigentlich ist großartig das einzigste Wort das man braucht um die Story zu beschreiben.

Joa zu Ennoah muss ich leider sagen, das ich ihn oder besser gesagt so wie er ist nicht leiden kann.
Klar braucht man Freunde, sie sind wichtig geben einem Halt und dern ganzen Blah aber wenn man sich selbst nicht helfen oder in dem Fall runterbringen kann, ist es dann als Freund nicht etwas egoistisch wenn man einen anderen eine solche Aufgabe aufbürdet?
Also das sind jetzt nur meine Gedanken, kein Plan^^

Krass fand ich auch die letzte Szene, denn als ich die gelesen habe, lief beim gerade "Keep Breathing" von Ingrid Michaelson und wenn dieses Kapitel einen Song zu untermalung bekommen sollte, gibst wohl keinen bessern^^

Lg

Monkey
Von:  peggy17
2011-01-13T10:55:44+00:00 13.01.2011 11:55
Ich hab mittlerweile ein paar deiner Geschichten gelesen, und diese ist meiner Meinung nach mit Abstand die beste!!!
Ich hab mich irgendwie so gut in Ennoah hineinversetzen können, wie sehr er Eddy (ge)braucht (hat), die Einsamkeit, die ihn verrückt macht...
Aber wo er mich wirklich aufgeregt hat, war, als er mit Angelika (?) geschlafen hat und irgendwie überhaupt nicht verstanden hat, dass das Nico verletzt/gestört hat und Nico auch noch die Schuld an allem gegeben hat! (Der Epilog mit Nico war übrigens toll. Ich mag ihn sehr und hoffentlich erfahren wir in der Fortsetzung mehr über ihn.)
Ich freu mich auf eine Fortsetzung :) Bin neugierig, wie sein Leben weitergehen wird.


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