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Nullpunkt

von

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Alleinsein kann es erst geben, wenn die Einsamkeit aufgehört hat.

“Es ist wichtig, dass du kontrollierst, ob sie ihre Tabletten immer nimmt.” Doktor Berens schaute mich mit einen ernsten, eindringlichen Blick an. Ich schaute auf das Rezept, dass mir der Arzt gegeben hatte und mochte das Gefühl von Verantwortung nicht, das auf mir lastete. Sollte sich nicht irgend jemand anderes um sowas kümmern? Ich war doch viel zu jung dafür. Meine Oma saß mit einem etwas abwesenden Blick auf dem Patientenstuhl neben mir. Ich wusste nicht mal, ob ihr klar war, dass wir gerade über sie sprachen. In den letzten Wochen ist es immer schlimmer geworden.

Doktor Berens schien bemerkt zu haben, dass mir die Situation ziemlich zusetzte. Er lächelte mich mit einem schwermütigen Blick an. Das war das Lächeln eines Mannes, der wusste, was zu viel Verantwortung bedeutete.

“Kann ich sonst noch was für dich tun?”, fragte er und ich wünschte, er könnte mir die ganze Last einfach abnehmen. Aber auch ein Arzt hatte Grenzen und die hatten wir bei meiner Großmutter schon längst erreicht. Das wusste er, das wusste ich.

“Nein, danke.” Ich erhob mich und meine Oma schaute kurz verwirrt zu mir. Ich verabschiedete mich noch knapp von unserem Hausarzt und half ihr vom Stuhl, um mit ihr nach hause zu gehen. Vielleicht war es peinlich in meinem Alter mit einer alten Dame an der Hand gesehen zu werden, aber ganz ehrlich. Das war mir so schnuppe. Coolsein, immer das Gesicht wahren, sowas wollten doch nur Leute, die sowieso keine Ahnung vom Leben hatten. Ich war schon froh, dass ich mit Oma noch diesen Weg gehen konnte.

Es wurde aber immer anstrengender. Das nächste Mal müsste wohl Doktor Berens einen Hausbesuch machen. Meine Hand, mit der ich nicht meine Großmutter stützte, hatte ich fest um die Tablettenverpackung geschlossen. Mein Magen schmerzte etwas und ich wünschte, ich könnte irgend jemand anders einfach alles aufbürden. Es war kein netter Gedanke, immerhin klang es so, als würde ich meine Großmutter los werden wollen. So war das nicht, ich wollte ihr helfen. Aber ich wusste nicht, ob ich es allein schaffte. Doktor Berens hatte mit mir über ein Altersheim gesprochen. Wäre das Verrat?

Der Druck um meine Hand wurde stärker und ich schaute verwundert zu Oma, die mich leicht anlächelte.

“Heute ist doch ein schöner Tag. Findest du nicht auch, Spatz?”, fragte sie mich. Ihre Stimme klang dünn und unsicher, als müsste sie sich an die Wörter erinnern. Ich erwiderte ihren Händedruck und versuchte mich in einem Lächeln. Heute war kein schöner Tag, aber das konnte ich ihr nicht sagen.

“Ach, Spätzchen, ich bin so froh, dass ich dich habe.” Sie seufzte und schien sich etwas mehr auf mich zu stützen. Ich schaute auf sie herab, auf ihre kleinen, weißen Hände. Ihre Adern leuchteten blau durch die dünne Haut. Ihr Griff war stärker, als man es ihr zutrauen würde. Aber ohne mich würde sie fallen.

Es wäre Verrat, sie brauchte mich und ich brauchte sie.

Zuhause brachte ich sie ins Bett, da sie von dem Arztbesuch müde war und legte mich selbst hin, während ich zu dem Säuseln des Fernsehers einschlief. Nicht die Tabletten vergessen! Kontrolliere, dass sie die Tabletten einnahm!
 

Ich schlug die Augen auf und schaute mich orientierungslos um. Mein Körper fühlte sich unangenehm kühl und steif an. Kein Wunder, ich lag auf dem Boden meines Zimmers. Wie war ich dahin gekommen? Egal, nicht so wichtig. Hatte ich heute schon nach meiner Großmutter gesehen? Ich wusste es gar nicht. Was wenn sie die Tabletten schon wieder unter ihrem Kissen versteckt hatte? Es war wichtig, dass sie sie immer zu sich nahm. Ich sprang auf, musste mich aber kurz an der Wand abstützen. Irgendwie war ich nicht so fit. Brühtete ich eine Erkältung aus? Ich fasste an meine Stirn und spürte, dass sie unangenehm heiß war.

Ich schüttelte den Kopf, darum würde ich mich kümmern, wenn ich nach Oma gesehen hatte. Einen kurzen Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich sowieso schon spät dran war mit der Kontrolle. Meine Großmutter musste dreimal täglich ihre verschiedenen Tabletten nehmen, morgens, mittags und abends. Ich war wirklich spät dran für ihre Abend-Medizin, es war schon nach sieben.

Hoffentlich schlief sie noch nicht.

Ich schwankte in den Flur und schaute in das Wohnzimmer, wo sie immer tagsüber saß und aus dem Fenster blickte. Das Zimmer war kahl und leer, es lag nur eine Matratze am Boden. Ich hatte die Einrichtung demoliert, ich erinnerte mich wieder. Dann war Oma sicher schon in ihrem Bett. Ich musste ihr jetzt trotzdem ihre Tabletten geben und auch wirklich darauf achten, dass sie all genommen hatte. Nur so konnte es ihr wieder besser gehen.

Ich ging zielstrebig auf ihr Schlafzimmer zu, öffnete vorsichtig die Tür und linste hinein. Der Raum war von dem typischen, grauen Licht der Dämmerung erfüllt und ließ alles irgendwie trist aussehen. Ich betrat das Zimmer ganz und ging zu dem Bett. Es war leer, genauer gesagt, fehlte sogar einer der Matratzen des Ehebetts. Hier war niemand.

Natürlich nicht. Konnte man so blöd sein?

Ich stand vor der leeren Hälfte des Bettgestells. Auf dieser Seite hatte immer meine Oma geschlafen. Hier waren keine Tabletten unter dem Kissen versteckt. Von wem auch? Ich kletterte ungelenkt über den Lattenrost auf die andere Seite des Bettes, um mich dort auf der übrig gebliebenen Matratze zusammen zu rollen.

In diesem Raum hier roch noch alles nach meinen Großeltern. Ich musste nur die Augen schließen, dann konnte ich mir vorstellen, dass alles wieder in Ordnung war. Es gelang allerdings nicht, sobald ich die Augen geschlossen hatte, schlug die geballte Einsamkeit auf mich ein. Die Erkenntnis, dass ich so einsam war, wie ein Mensch nur sein konnte. Und ich war selbst Schuld.

Ich wachte von dem Schmerz in meinem Arm auf. Ich hatte immer noch nichts gegen die Entzündung gemacht und mittlerweile war es wirklich lästig geworden. Ob mir wohl mein Arm einfach abfaulen würde? Ich schaute auf die Wunde und hatte nicht das Gefühl, als würde es mich irgendwas angehen. Auch wenn ich das Puckern in meinem Arm spürte, drang es irgendwie nicht richtig zu mir durch. Vielleicht faulte er wirklich einfach ab. Naja, war nur der linke Arm. Der war nicht wichtig, damit zeichnete man nicht.

Ich schüttelte den Kopf. Okay, das war idiotisch. Ich wollte definitiv keinen Arm einfach wegen so einer Lapalie verlieren. Ich schälte mich aus dem Bett und ging ins Bad. Im Badezimmerschränkchen müsste schon irgendeine Salbe gegen dieses Wehwehchen liegen. Ich durchwühlte den Schrank, musste aber feststellen, dass ich hier weder eine Wundsalbe da hatte, noch irgendein Pflaster, das groß genug für die Wunde war. Die Verletzung war nicht tief, aber großflächig, ähnlich wie bei einer Verbrennung. Hm, vielleicht konnte ich auch einfach Fenistil auf die Wunde machen, zumindest das hatte ich da. Nahm man doch auch bei Sonnenbrand und das kühlte ja angeblich.

Naja, war bestimmt besser wie nichts.

Ich schmierte mir großzügig etwas von dem Zeug auf die Wunde und tatsächlich fühlte es sich angenehm kühl auf der Haut an. Aber nur solange bis es anfing zu brennen und ich mir die durchsichtige Pampe hastig von dem Arm waschen musste. Verdammt. Nichts wäre definitiv besser gewesen, als die Salbe.

Ich setzte mich auf den Klodeckel und hielt mir den Arm. Gott, wenn ich gewusst hätte, dass es so lästig werden würde, wenn man sich nur ein bisschen den Arm aufkratzte, hätte ich mir meine Fingernägel noch viel gründlicher abgekaut. Scheiß Dreck.

Aber hey, wen wundert´s? Passte doch. Egal was ich tat, es war zum Scheitern verurteilt. Ich starrte auf die häßliche Wunde und fragte mich, ob eine Narbe zurück bleiben würde. Standen Mädchen nicht auf Kerle mit Narben?

Das letzte worüber ich mir eigentlich noch Gedanken machen sollte, waren Mädchen. Aber mit denen war es immer einfach gewesen. Man gab ein bisschen vor ihnen an, gaukelte ihnen etwas über sich vor, verbrachte eine paar schöne Stunden und dann war alles besser.

Ich schaute in den Spiegel und ich hatte große Zweifel, das mich in meinem Zustand irgendjemand anrühren würde. Selbst Nico, der auf seine verschrobene Art und Weise auf Elend abfuhr, würde nichts von mir wollen. Wollte er sowieso nicht mehr. Gott, ich hatte es mir selbst mit ihm verdorben. Ich hatte doch noch nicht mal gewusst, dass wir etwas gehabt haben, das man ruinieren konnte.

Ha, ich war wirklich einer dieser Volldeppen, die sich nicht mit dem begnügen wollten, was sie haben konnten. Sie brauchten immer das, was sie nicht kriegen durften. Hatte ich wirklich Eddy Nico vorgezogen? Natürlich hatte ich das. Ich kannte Eddy schon mein Leben lang. Er war mein Held gewesen, mein Retter, mein Beschützer in schwerer Zeit und jetzt war er einfach weg. Hatte ich einfach zu viel erwartet? War es einfach zu vermessen gewesen, zu denken, er würde mich irgendeinem Mädchen vorziehen? Hatte ich mir einfach zu viel auf unsere ewige Freundschaft eingebildet? Es war doch nicht nur Freundschaft gewesen.

Wahrscheinlich lag es daran.

Nico hatte Recht gehabt. Ich wollte Eddy, nicht unschuldig, sondern mit Haut und Haar. Dafür war es zu spät. Nein, eigentlich hatte es dafür nie eine Zeit gegeben. Eddy war die unglückliche Liebe meines Lebens. Warum musste mir das erst jetzt in meinem schmuddeligen Badezimmer, während ich auf dem Klodeckel saß und meinen eitrigen Arm betrachtete, klar werden?

Warum zur Hölle musste Nico Recht haben und zwar in allem? Und wieso war er nicht hier, um das alles auszubaden, um sich seiner Wahrheit und ihrer Konsequenz zu stellen? Ich konnte das alleine nicht. Ich konnte nichts alleine. Auch das hatte Nico gewusst. Besserwisserisches Arschloch!

Ich verließ das Bad und ging spontan in die Küche, wo sich noch einige Kochutensilien von Nico befanden. Er hatte sie nicht mitgenommen, waren sie ihm auch so egal, wie ich?

Erst jetzt wo ich in der Küche stand, wurde mir klar, dass ich die letzten Tage so gut wie nichts gegessen hatte und das ich keine Lust hatte, daran etwas zu ändern. Der Kühlschrank war sowieso leer und Kochen war einfach zu anstrengend. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich mich nicht solange auf den Beinen halten konnte, um mir einen Topf Nudeln zu machen. Schwach.

Gott, ich war wirklich erbärmlich.

Würde ich es können, ich hätte jetzt über mich gelacht. Dieses fiese Nelson-Lachen, bei dem man mit dem Finger auf jemand zeigte und „Ha Ha!“ rief. Genau so. Was anderes hätte ich für dieses selbstmitleidige Verhalten nicht verdient. Eine Schande war das. Hätte ich die Küchenuhr nicht in all ihr kleinen Bestandteile zertrümmert, sie hätte zustimmend getickt. Selbst sie vermisste ich irgendwie.

Wurde Zeit, dass ich wieder in mein Zimmer ging und die Küche verließ, die sowieso nie mein Reich gewesen war. Ich schlief zu den Simpsons ein und wachte wieder zu Scrubs im Vormittagsprogramm auf.

Ich hatte nicht mal den Versuch gestartet heute doch in die Schule zu gehen. Wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht mal, was für eine Klausur wir heute schrieben. Hätte mich Robert gestern nicht angerufen, hätte ich nicht mal gewusst, dass es sowas wie Schule noch gab. Allerdings müsste ich mir nun wirklich ein Attest besorgen, wenn ich mir mein Leben nicht völlig ruinieren wollte.

Okay, vielleicht war gerade alles Scheiße und ich hatte wirklich große Zweifel daran, ob sich der Aufwand das Haus zu verlassen und zum Arzt zu gehen überhaupt lohnen würde, nur damit ich eventuell nicht von der Schule flog. Aber irgendwann musste ich einfach wieder raus, raus aus diesem Teufelskreis aus Selbsthass und Selbstmitleid. Es gab nun mal eine Zeit, da musste man sich wieder aufrappeln und irgendwie versuchen, den Schaden zu dezimieren, den man seinem Leben schon zugefügt hatte.

Aber noch nicht jetzt.

Immerhin wusste ich, dass ich heute oder morgen das Haus verlassen würde, weil ich mein Maximum an Elend erreicht hatte. Ab da ging es nur wieder aufwärts, es musste einfach, weil es nicht mehr weiter runter ging. Das war doch erbauend, oder?

Als es wieder klingelte, war mir auch gleich klar, dass es das Telefon war. Ich wusste sogar, bevor ich abhob, wer am anderen Ende der Leitung sein würde. Das ganze Gespräch, das ich gleich führen würde, konnte ich schon in meinem Kopf sehen und ich fragte mich, ob ich überhaupt abheben sollte. Aber immerhin war ich schon aufgestanden und stand vor dem Gerät, starrte es wohl mit einem stumpfen Blick an. Irgendwie fasziniert beobachtete ich meine Hand, wie sie nach dem Hörer griff und abhob. Wusste gar nicht, dass sie das sollte.

„Hallo, Ennoah?“, hörte ich die helle, klare Stimme von Frau Lindner.

„Hallo“, antwortete mein Mund, wie mechanisch. Meine Stimme klang noch so angeschlagen wie gestern. Von was hätte sie auch besser werden sollen?

„Oh, du klingst ja gar nicht gut.“ War Frau Lindner wirklich besorgt? Vielleicht. Keine Ahnung.

„Magenschmerzen.“

„Hm, ja, das hat man mir gesagt. Das kommt in letzter Zeit öfter vor, oder?“ Oh, wie sensibel sie nachfragte. Ich wusste, dass Frau Lindner nur deswegen bei mir zuhause anrief, damit man der Schule keinen Vorwurf machen konnte, falls mich tatsächlich ein tragischer... Unfall ereilte. Man musste doch auf den Jungen ohne Familie ein Auge haben, nicht? Ich war doch sonst ganz allein. War ich wirklich. Der Anruf von ihr war trotzdem nicht tröstlich.

„Möglich.“

„Ennoah...“ Sie schwieg kurz, schien nach den richtigen Worten zu suchen. Kurz erinnerte die Frau mich an meine Mutter und ihre Telefonate. Ob ich ihr das mal sagen sollte? „Der Direktor hat heute mit mir gesprochen. Falls du Montag nicht zur Schule kommst und kein Attest hast, könnte es ziemlich problematisch mit der Zulassung zum Abitur werden.“

„Ich hab ein Attest.“ Das wollte sie hören. Dann war doch alles im Lot.

„Und du kommst am Montag wieder?“, versicherte sie sich. Frau Lindner schien mit meiner Antwort nicht so ganz zufrieden zu sein.

„Ja.“ Alles was Madam befahl. Hauptsache das Gespräch war bald vorbei.

„Weißt du, wenn du willst, kannst du mal mit unseren Schulpsychologen sprechen.“

„Warum?“ Ein Seelenklempner würde mir auch nichts gegen die Einsamkeit bringen und das war das einzige, was mich fast um den Verstand brachte.

„Er könnte dir helfen.“ Das glaubte sie doch selber nicht, oder? Was wollte unser unfähiger Schulpsychologe schon ausrichten? Ich hatte schon mal mit ihm geredet. Wir waren alle sehr höflich zu einander gewesen und darüber eingekommen, dass uns das alles nicht weiter brachte.

„Ich habe nur Magenschmerzen“, betonte ich nochmals. Das war nicht mal gelogen, die letzten Tage war es so schlimm wie lange nicht mehr. Anscheinend war gar nichts essen, ähnlich strapazierend wie das falsche essen.

„Okay, gut.“ Sie glaubte mir kein Wort. Aber das war ihre Sache. „Ich hoffe, wir sehen uns dann Montag.“

„Ja. Bis dann.“

„Bis dann, Ennoah.“ Sie betonte meinen Namen nochmal extra. Keine Ahnung warum sie das machte. Ich legte auf und ich sollte mir jetzt definitiv einen Termin bei Doktor Berens machen, wenn ich noch irgendwas geregelt bekommen wollte. So ein Dreck.

Ich ging kurz in mein Schlafzimmer, um dort nach der Uhrzeit zu sehen. Okay, es war halb elf. Sollte um die Uhrzeit ein Lehrer nicht beim Arbeiten sein? Tz... Naja, egal. Die Sprechstunde meines Hausarztes ging noch bis zwölf. Es sollte also noch für eine Dusche reichen, die wirklich dringend nötig war. So widerlich hatte ich mir lange nicht gefüllt und die Verletzung an meinem Arm trug nicht unerheblich dazu bei.

Ich schälte mich aus meinen Klamotten, die alle irgendwie muffig rochen und stieg unter die Dusche. Das Wasser stellte ich eine Spur kälter als sonst, in der Hoffnung, das es so etwas Leben aus mir rauskitzelte. Nicht wirklich, mir wurde nur noch schwindeliger davon.

Ich beeilte mich mit dem Duschen. Das Letzte was ich wollte, war in der Dusche wegkippen. Das war mir mal passiert, als ich wegen meinen krassen Wachstumsschüben immer wieder mal umgekippt war. Ich hatte mir mein Schultergelenk ausgekugelt, hatte verdammt weh getan. Groß werden, war definitiv schmerzhaft, nicht nur im übertragenen Sinne.

Beim Einseifen spürte ich meine Rippen unter meinen Händen. Ich musste aussehen wie der lange, wandelnde Tod oder Dirk Nowitzki. Vielleicht hätte ich ja Basketballspieler werden soll, für irgendwas sollte doch diese irrsinnige Größe gut sein. Jetzt fehlte mir nur noch Sportlichkeit und das Talent dafür.

Ich trocknete mich ab und ging nur mit einem Handtuch um die Hüfte in mein Schlafzimmer. Irgendwo mussten noch saubere Klamotten sein. Nico und ich hatten erst letzte Woche Wäsche gewaschen. Kam mir vor, als wäre das schon ewig her. Tatsächlich fand ich frische T-Shirts in der Kommode, auf der auch mein Fernseher stand. Naja, erstmal waren da nur Kleidungsstücke von Nico, die mir nicht in tausend Jahren passen würden. Kleiner Gnom.

Ich wühlte noch etwas in der Schublade und fand dann endlich etwas von mir. Das T-Shirt war ausgewaschen, zerknittert und fühlte sich steif an. Wir hatten immer noch nicht rausgefunden, wie meine Oma und seine Mutter die Wäsche so lenor-weich gekriegt haben. Na gut, vielleicht sogar mit Lenor, dafür hatten wir aber kein Geld. Aber eventuell war es auch ein großes Frauengeheimnis.

Ich zog das T-Shirt trotz all seiner Defizite über, fand noch eine Jeans auf dem Boden, die nicht total dreckig war und machte mich schließlich auf den Weg zu meinen Hausarzt.

Auf dem Weg dahin, versuchte ich immer auf jeden fünften Pflasterstein zu treten. Es war angenehm, sich abzulenken und über nichts nachzudenken, als irgendeinen Unsinn. Weiche Wäsche, Basketballspieler, Pflastersteine. Alles bestens. Alles bestens.

Im Wartezimmer saßen nur noch zwei ältere Damen, die wahrscheinlich nur zum Arzt gingen, damit sich überhaupt wer um sie kümmerte. Eine schaute mich mit einen abschätzenden Blick an. Pah, die wusste gar nicht, wie ich noch vor einer Stunde ausgesehen hatte. Aber vielleicht hätte ich mich doch noch rasieren sollen. Das war mir allerdings doch zu viel gewesen, bloß für ein Attest.

Ich ignorierte den Blick der Frau, tippte dafür aber unablässig auf den Boden und zwar hauptsächlich, um sie damit zu nerven. Die kleinen Gemeinheiten des Alltags.

Ich hörte aber mit dem Tappen nicht auf, als sie von der Arzthelferin aufgerufen wurde und mit schwerfälligen Schritten den Raum verließ. Kein Wunder, dass ich solange warten musste, so lahm wie sich dieses alternde Ungetüm bewegte. Egal, ich brauchte das Attest, wenn ich mir meine Zukunft nicht komplett versauen wollte. Ich wusste nicht, ob es wirklich etwas änderte. Aber besser als nichts, oder?

Als die Arzthelferin meinen Namen rief, war ich trotzdem froh, endlich aus diesem stickigen Raum zu kommen. Für Doktor Berens hatte ich mir schon meinen Text zurechtgelegt, den ich ihm vorjammern würde. Schreckliche Magenschmerzen, Übelkeit, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, was nicht mal gelogen war, aber die hatten mich sonst auch nicht vom Schulbesuch abgehalten. Es lag ausschließlich an mir, tat es immer. Oh, und ich hatte natürlich noch die eiternde Wunde. Sollte ich ihm die auch zeigen? Ich linste noch kurz zu meinem Arm, bevor ich das Behandlungszimmer betrat. Wenn ich schon mal hier war. Die Wunde tat nämlich wirklich etwas weh und es wäre ganz nett, etwas dagegen zu bekommen.

Der Arzt musterte mich besorgt, als ich ihm meine Leiden schilderte, kurz die Wunde zeigte und behauptete, dass ich keine Ahnung hatte, woher sie stammte. Er registrierte meine tiefen Augenringe, meinen krassen Gewichtsverlust, mein ungepflegtes Erscheinungsbild und wusste das ich log, auch was die Verletzung anging. Er sah einfach alles und deswegen hatte er mir ein Attest geben und mir eine entzündungshemmende Salbe zugeschoben. Immerhin musste jemand etwas tun, um mir zu helfen. Und wer sollte das sein, wenn nicht mein Hausarzt?!

„Ich will ehrlich mit dir sein, Ennoah.“ Doktor Berens lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und sah mich mit einem kritischen Blick an. Der Sessel knarzte unangemessen laut für seinen Preis. Ich wartete, dass der Arzt weiter sprach. Es kam immerhin nicht oft vor, echter Ehrlichkeit zu begegnen.

„Ich mache mir Sorgen um dich. Drogen haben schon ganz andere Männer zu Grunde gerichtet.“ Er hatte seine Hände vor seiner Brust gefaltet und diese Gestik irritierte mich ähnlich wie das Gesagte. Mir wurde gerade Drogenkonsum unterstellt, von meinem langjährigen Hausarzt? Einfach so. Ich wusste nichts, was ich auf diesen Vorwurf erwidern sollte, so absurd kam er mir vor. Gott, als hätte ich nicht schon genug Probleme. Ich schüttelte etwas fassungslos den Kopf.

„Ennoah, ich meine es gut mit dir. Ich weiß, was du alles durchgemacht hast.“ Ha, auf die verständnisvolle Tour. Fick dich ins Knie. Er saß hier in seinem Arztkittel, in seinem Designerstuhl, einen Kuli vor sich liegen, der mir für einen Monat die Nebenkosten zahlen könnte und wollte mir ernsthaft erzählen, dass er mich verstand? In welchem Universum konnte er nur ernsthaft eine Ahnung von meinem Leben haben? Ich schnaubte verächtlich. Das bedurfte keinen weiteren Kommentar. Doktor Berens seufzte, setzte dazu an, etwas zu sagen. Etwas was ich heute nicht noch einmal hören wollte. Geh zum Psychologen, lass dich beraten. Du bekommst dein Leben nicht alleine hin. Die hatten doch keine Ahnung. Ich erhob mich hastig von meinem Stuhl, bevor mein Hausarzt tatsächlich zu Wort kam und verließ den Raum ohne Verabschiedung. Hätte ich den Mund aufgemacht, ich wäre nur unflätig geworden. Mir sonst was für beschissene Anschuldigungen an den Kopf werfen und mir dann mit bekloppten Ratschlägen kommen. Die konnten mich alle kreuzweise.

Wenigstens hatte ich das Attest bekommen, das sicher in der Gesäßtasche meiner ausgewaschenen Jeans deponiert war. Mit hastigen, verärgerten Schritten ging ich nach hause. Unten checkte ich noch meinen Briefkasten, der mit Werbung und Mitteilungsblätter voll gestopft war. Eigentlich erwartete ich Post von meiner Mutter, fand allerdings nichts von ihr. Es war Mitte des Monats, normalerweise schickte sie das Geld immer am Anfang. War denen nicht klar, dass ich das zum Leben brauchte? Vor allem jetzt, wo Nico weg war, dessen Geld definitiv hilfreich gewesen war, gerade was die laufenden Betriebskosten der Dreckswohnung anging.

Vielleicht sollte ich die nächsten Tage neben Essen auch auf Strom verzichten. Einfach weil ich keine Ahnung hatte, womit ich den Scheiß bezahlen sollte. Mit übler Laune stiefelte ich die Treppen nach oben und hätte dabei beinahe eines der Kinder von Frau Kammerer niedergestreckt, das mir entgegen gerannt kam. Ich verzog genervt das Gesicht. Mistkröte. Es murmelte eine Entschuldigung und hüpfte dann munter die restlichen Treppen nach unten. Oben hörte ich seine Mutter die Wohnungstüre verschließen und ich seufzte.

Gleich würde sie mir entgegen kommen, dann müsste ich lächeln und höflich sein und so tun, als wäre mein Leben nicht einfach nur zum Kotzen. Als sie mich sah und freundlich grüßte, bekam ich noch ein müdes Grinsen hin, mehr hatte ich hier heute definitiv nicht zu bieten. Smalltalk war einfach zu viel. Ich drängelte mich eilig an ihr vorbei und hoffte, dass mein Mundwinkelverziehen reichte, um sie mir vom Hals zu halten.

„Ennoah, warte mal!“, rief sie mir nach und ich verdrehte die Augen, bevor ich mich ihr zu wandte.

„Ja?“, würgte ich hoch.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“ Ich hatte wohl irgendwelche mütterlichen Gefühle bei ihr geweckt. Anders konnte ich mir ihre Frage nicht erklären. Sonst interessierte sie sich einen Scheißdreck für mich. Warum gerade jetzt?!

„Klar.“ Leugnen war die Devise. Niemand wollte die Wahrheit hören. Nicht mal ich, besonders nicht ich. Ich versuchte die Wunde auf meinem Arm unauffällig zu überdenken. Man konnte sie ziemlich deutlich sehen, da ich nur dieses dumme, kurzärmlige T-Shirt anhatte.

„Dann ist ja gut.“ Sie lächelte falsch, ich lächelte falsch, sie ignorierte meine Verletzung und ich ignorierte, dass sie es bemerkt hatte. Damit war dieses unangenehme Gespräch beendet. Mein Leben ging sie nichts an, bloß weil sie ein Stockwerk unter mir lebte. Als ich endlich wieder in meiner Wohnung war, fühlte ich mich unglaublich ausgelaugt. Das alles hatte mir mehr Kräfte geraubt, als erwartet.

Ich steckte das Attest noch in meinen Schulrucksack, der verwaist im Gang lag und schmiss mich dann in mein Bett. Mein Arm pochte mittlerweile wirklich unangenehm, deswegen kramte ich noch die Salbe aus meiner Hosentasche hervor. Na, hoffentlich half sie etwas. Sie roch aufdringlich nach Gesundheit und Kräuter und würde mir häßliche Fettflecken auf mein Laken machen. Einen Verband hatte ich nicht da, um dagegen etwas zu unternehmen. Was soll´s. Ich wollte nur noch schlafen, am besten für immer.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Mado-chan
2011-10-27T16:54:41+00:00 27.10.2011 18:54
So endlich schreibe ich dir auch einen Kommentar.
Ich habe gerade Rotz und Wasser geheult wegen des Anfangs, weil ich mich so sehr in Enno hineinversetzen kann und es auch gemacht habe.
Er tut mir so leid und ich verstehe ihn irgendwo, auch wenn er irgendwo dumm ist. Aber ich glaube, wenn man einmal in so einer Lethargie drin ist kommt man schwer heraus.
Ich lese weiter und ich liebe deine FF´s, besonders weil ich zu all deinen Hauptcharakteren eine Hass-Liebe habe. Sie gehen mir so oft auf den Keks, aber dafür liebe ich sie wieder.
Mal abgesehen davon, dass es MÄNNER sind und keine milchbubis *-*
LG
Mado
Von:  snowwhitedoll
2010-02-20T17:28:58+00:00 20.02.2010 18:28
Einsamkeit kann auch eine Droge sein.
Aber ich hoffe, dass es so weit bei Enno nicht kommt!
Von:  Razielim
2010-02-20T17:00:59+00:00 20.02.2010 18:00
Man wird wirklich beim lesen selbst ein bisschen deprimiert. Das zeigt mal, dass du echt gut schreiben kannst. Kompliment ^^
Ich hoffe auch, dass alles gut wird.
Von:  ReiRei-chan
2010-02-20T16:00:46+00:00 20.02.2010 17:00
Uh, depri... das macht mich gerade fertig und vestärkt meinen Entschluss schlafen zu gehen, bevor ich wieder zur Arbeit muss.
Na ja, ich hoffe einfach auf ein Happy End... zumindest das Nico wiederkommt und Enno unterstützt und die beiden das zusammen regeln...


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