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Der Malar

Die Jagd nach der Kreatur der Untiefen
von

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Querkenfäuler - Tag 11

Als Vilthon aufwachte und gähnend aus dem Zelt schlurfte, hatten Mirlien und ich schon die trockene Kleidung von der Leine genommen, im kalten, klaren Wasser des Waldsees gebadet und warteten an den züngelnden Flammen des Lagerfeuers auf unseren alwischen Freund.

„Guten Morgen, Vilthon!“ begrüßte ich ihn munter. „Der Kessel und das Geschirr sind sauber, machst du uns jetzt Nolmengrieß zum Frühstück? Ich habe ein paar wilde Himbeeren dazu gepflückt!“

Vilthon grinste und räkelte sich genüsslich. „Eigentlich sollte man ja von einer jungen Dame erwarten dürfen, dass sie selbst dazu in der Lage ist, eine solch ordinäre Mahlzeit zuzubereiten.“ neckte er mich.

„Aber lass mal gut sein. Ich wasche mich eben und dann fange ich an, zu kochen.“

„Gut. Wir bauen solange das Zelt ab.“ schlug Mirlien gut gelaunt vor.

Eine Stunde später brachen wir drei auf, und setzten unseren Weg entlang des Waldsees fort.
 

Die frische Morgenluft belebte unsere Geister, die Vögel zwitscherten melodisch in den Wipfeln, und wir plauderten amüsiert über die Ereignisse des vergangenen Tages.

Gegen Mittag gelangten wir an die Fälle, an denen die Wassermassen des Waldflusses hinab in den See stürzten.

Im Schatten einer Querke verspeisten wir kalten Nolmengrieß vom Frühstück, den ich mit einer Hand voll Minze gewürzt hatte.

Trotzdem hielt sich das Geschmackserlebnis in Grenzen.

Anschließend kämpften wir uns mühsam den steilen Hang hinauf und wanderten stromaufwärts den Fluss entlang.

Deutlich spürte man die erbarmungslose Steigung des Geländes in seinen krampfenden Waden.

Schwerer als je zuvor drückte die Last der Rucksäcke auf den Schultern, weshalb sich auch niemand außer Mirlien recht an dem lebhaften Plätschern der reißenden Strömung erfreuen konnte, welches uns zum ständigen Begleiter wurde.
 

Außer einem kleinen Rudel Stachelbeutler, die sich beim Fischen am Flussufer gestört fühlten und lautstark nach uns Eindringlingen bellten, begegneten uns heute keine angriffslustigen Tiere, die eine Bedrohung für uns darstellen konnten.

Ich brach gelegentlich die Monotonie ihres Marsches, indem ich von Zeit zu Zeit meine beiden Gefährten in mehr oder weniger sinnvolle Gespräche verwickelte.
 

„Ich finde es schön, dass du immer noch bei uns bist, Mirlien. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass du uns immer noch begleitest, und dann auch noch in diese Wildnis, in der wir sicher niemandem begegnen werden, der uns etwas über deine Vergangenheit erzählen könnte.“

„Ihr seid meine Freunde. Ihr habt euch um mich gekümmert, als ihr mich verloren im Fluss am Blumendorf gefunden habt.“ antwortete Mirlien lächelnd. „Und ich habe versprochen, euch bei eurer Suche zur Seite zu stehen. Die gemeinsame Zeit mit euch genieße ich sehr, und ich verliebe mich jeden Tag aufs Neue in eure Heimat, die immer mehr auch zu meiner wird.“

„Bis jetzt haben meine Eltern aber keine Nachricht von irgendeinem Insulaner erhalten, der dich gekannt hätte. Wahrscheinlich werden wir tatsächlich erst auf dem Kontinent Hinweise auf deine Identität finden. Und dorthin werden wir allem Anschein nach schneller gelangen, als erwartet.“ meinte ich. „Wenn Thyllos die Wahrheit gesprochen hat, wird es auch meinen Malar früher oder später zu den Menschen verschlagen. Wenn wir übermorgen bei Greyan angekommen sind, und mit ihm geredet haben, werden wir wohl oder übel nach Thyllos suchen, und auch ihn um Hilfe bitten. Darauf freue ich mich ja schon ganz besonders. Ich habe so sehr gehofft, ihm nie wieder begegnen zu müssen.“

„Thyllos kann uns eine große Hilfe werden, wenn wir tatsächlich auf dem Kontinent nach dem Malar suchen müssen.“ warf Vilthon dazwischen. „ Der Kontinent ist riesig, und Thyllos ist erfahren im Umgang mit Menschen und vielleicht auch mit seinem malarischen Vater. Dein Malar hat übrigens schon lange nicht mehr von sich reden gemacht, Tilya. Ob er überhaupt noch auf der Insel herumstreunt?“

Ich zuckte mit den Achseln. „Ich hatte bisher fast schon den Verdacht gehegt, dass er von uns gefunden werden will, und deshalb immer in unserer Nähe geblieben ist. Er schien uns geradezu herausfordern zu wollen, hatte ich den Eindruck. Ich verstehe nur nicht, was er sich davon verspricht.“

Vilthon schüttelte ratlos das Haupt. „Ich hoffe nur, dass Thyllos dir deine Eskapaden verzeiht, Tilya, und sein Angebot, uns zu helfen noch steht.“

Ich senkte den Kopf und brummelte schuldbewusst.

Vilthon runzelte nachdenklich die Stirn. „Auf dem Kontinent sind wir auf jede Unterstützung angewiesen. Wir müssen in Kontakt mit den Menschen treten. Auch, um die Leute auf Mirlien aufmerksam zu machen. Wenn seine Herkunft tatsächlich etwas mit dem Kontinent zu tun hat, müssen wir die Menschen mit ihm konfrontieren.“
 

Mir war es, als stecke mir plötzlich ein Kloß im Hals, als ich die Stimme erhob.

„Ganz egal, was geschieht, Mirlien, irgendwie habe ich Angst davor, dass du dich irgendwann an alles erinnerst, und dass diese Erinnerungen furchtbare Dinge zu Tage bringen, die dich unglücklich machen, oder dich verändern.“

„Das ist natürlich nicht auszuschließen Tilya.“ räumte Mirlien nachdenklich ein. „Aber selbst, wenn dem so wäre, würde ich es wissen wollen. Die Idee, dass mir vielleicht irgendwo da draußen dringende Aufgaben und Pflichten auferlegt wurden, denen ich augenblicklich nicht nachkommen kann, beschäftigt mich sehr. Besonders erschreckend empfinde ich allerdings die Möglichkeit, vielleicht selbst für furchtbare Vorkommnisse verantwortlich zu sein, und nun einfach nur die Erinnerung daran verloren zu haben.“

Vilthon lachte. „Mirlien, ich denke, zumindest an deine zuletzt geäußerte Befürchtung brauchst du keinen Gedanken zu verschwenden!“

Freundschaftlich fuhr er seinem Gefährten durchs Haar. „Egal, was deine Vergangenheit offenbart, wir stehen zu dir. Meine einzige Sorge ist die, dass wir dich dann einmal nicht mehr bei uns haben, mein Lieber.“

Mirliens Blick füllte sich mit Wärme und Stolz, als er uns mit seinem unwiderstehlichen Lächeln für unser Vertrauen und unsere Treue dankte.
 

Als die Nacht den blassen Abendhimmel in ein düsteres Blau tauchte, ließen wir uns nahe am Flussufer nieder und spannten gemeinsam unsere Zeltplanen zwischen einigen schlanken Roonen auf.

Das Schlegelsandfeuer wurde auf einem Kieselsteinhaufen entfacht, und Vilthon wollte gerade einen Beutel Nolmengrieß aus dem Rucksack fischen, als ich schaurig aufheulte.

„Nicht schon wieder Nolmen, Vilthon! Das Zeug hängt mir langsam zum Hals raus!“

„Hast du einen besseren Vorschlag?“ fragte der Alwe etwas pikiert.

Ich ließ meinen verliekischen Blick einige Augenblicke durch die finstere Gegend schweifen, dann hellte sich meine Miene auf. „Wie wäre es mit gerösteten Querkenstammpilzen?“ rief ich beschwingt.

Vilthons Braue zuckte in die Höhe. „Und wer soll deiner Meinung nach um diese Tageszeit noch einen Querkenstammpilz von einem Querkenfäuler unterscheiden können?“ fragte er mich matt.

Ich krabbelte zu ihm auf die Xeraatmatte und kam Vilthon mit meinem Gesicht so nahe, dass sich unsere Nasenspitzen berührten. „Jemand Nachtsichtiges, zum Beispiel.“ grinste ich spitzbübisch und blitzte ihn frech aus ihren meeresblauen Augen an, von denen ich wusste, dass sie im Schein des Feuers nach verliekischer Art glühten.

Vilthon verzog wenig überzeugt seine Mundwinkel.

„Das kann ja heiter werden. Ich schwöre dir, Kleines, wenn sich nachher einer von uns die ganze Nacht über vor Lachen auf dem Boden kugelt, sein Abendessen frühzeitig verliert oder rote Querkenkneifer sieht, dann…“

„Was dann?“ lachte ich keck.

„Überlege ich mir noch.“ drohte Vilthon unheilvoll. „Und das du ja auf die violetten Lamellen an der Unterseite des Querkenstammpilzes achtest! Die Querkenfäuler haben…“

„Ja, ja! Die haben blaue Lamellen, ich weiß! Zweites Lehrjahr, Meister Vilthon…“ nölte ich entnervt.

„Ich verlasse mich auf dich.“ betonte Vilthon noch einmal und entließ mich, seine ehemalige Schülerin, mit gemischten Gefühlen.
 

Kurze Zeit später kam ich mit einem Kessel voller Pilze aus dem Wald zurück, die wir drei im Flusswasser wuschen, auf Zweige spießten und über den tanzenden Flammen unseres Lagerfeuers garten.

Die saftigen Gewächse boten eine willkommene Abwechslung zu dem faden Grieß, und wir ließen es uns schmecken.

Nur ich hatte wieder einmal Pech und erwischte einen leicht verdorben schmeckenden Querkenstammpilz, den ich sofort ins prasselnde Feuer spuckte.

„Sehr appetitlich, Tilya!“ meckerte Vilthon. „Sag jetzt bitte nicht, der Pilz hätte bitter geschmeckt.“

„Wie eine Caybabohne. War wohl ein älteres Exemplar.“ antwortete ich knapp und spülte rasch den üblen Geschmack mit einer halben Feldflasche Wasser hinunter.

„Wollen wir es hoffen.“ murmelte der Alwe misstrauisch. „Oder soll ich dir vorsichtshalber einen Becher Saponsissaft geben, damit du versuchen kannst zu spucken?“

„Blödsinn!“ brüskierte ich mich. „Das war kein Querkenfäuler! Ich bin doch nicht farbenblind!“

Vilthon und Mirlien tauschten vielsagende Blicke aus.
 

Als wir drei es uns schließlich auf unseren Matten bequem machten, dauerte es nicht lange, bis Mirlien auffiel, dass etwas mit mir nicht stimmen konnte.

Mit wachsender Besorgnis registrierte er meine zitternden Hände, mit denen ich mich in den weichen Stoff meiner Decke krallte, meine Lippen, die lautlos wirre Worte formten und meinen starren, glasigen Blick zur Zeltplane.

„Vilthon!“ flüsterte er beunruhigt dem Alwen zu, der uns beiden schon längst ermattet den Rücken zugedreht hatte. „Ich fürchte, Tilya hat es erwischt.“

Stöhnend wälzte sich der Alwe auf die andere Seite und erkannte erschrocken im Schein des knisternden Lagerfeuers, dass meine Augen kaum mehr als verliekisch erkenntlich waren, denn die typischen schmalen Pupillen hatten sich so sehr geweitet, dass sie geradezu rund schienen.

„Ich habe es doch geahnt!“ jammerte er verzweifelt. „Querkenfäulervergiftung. Das kann ja heiter werden, diese Nacht!“

Ich, die ich zwischen meinen beiden Freunden lag, blickte immer noch in starrem Entsetzen wie gebannt an die vom Feuer beleuchtete Plane, auf der sich die Schatten der sanft im Nachtwind wiegenden Glühbeersträucher abzeichneten.

„M…Malar! Da, da!“ stotterte ich mit erstickter Stimme und deutete mit wilden Gesten auf den Zelteingang.

„Kleines, du fantasierst.“ erklärte Vilthon nüchtern und strich mir über die Federn. „Da musst du jetzt durch, wir können jetzt nichts weiter für dich tun, als dir reichlich zu trinken zu geben. Morgen sieht die Welt wieder ganz harmlos aus, das verspreche ich dir!“

„Du hast so wunderschöne Ohren, Vilthon!“ hauchte ich errötend und lächelte verklärt.

Der Alwe schielte hilfesuchend zu Mirlien hinüber. „Ich glaube, Tilya braucht etwas Wasser.“

„Ich gehe mit ihr an das Flussufer.“ beschloss Mirlien kurzerhand, zog mich behutsam an den Armen hoch und führte mich vorsichtig, aber bestimmt aus dem Zelt hinaus.
 

„Durst! Es ist so heiß!“ plärrte ich erbarmungswürdig und wollte mich gegen Mirliens unbequemes Vorhaben sträuben.

„Wir sind gleich am Ufer.“ beschwichtigte mich mein Freund, der seine kalte Hand fürsorglich um mein Genick gelegt hatte, und mich sanft vor sich her schob.

„Aber der Malar ist hier in der Nähe. Ich kann ihn spüren. Was machen wir, wenn er uns in die reißende Strömung schubst?“ stammelte ich ängstlich. Mirlien lächelte milde.

„Tilya, vielleicht lässt dich das Gift des Querkenfäulers heute Nacht Dinge wahrnehmen, die nur in deiner Einbildung existent sind. Deshalb musst du dich jetzt ganz auf Vilthon und mich verlassen. Wir bleiben wachsam, und du versuchst, dich zu erholen, in Ordnung?“

Gehorsam nickte ich und kniete mich in die Böschung, um mit beiden Händen das klare Nass aus dem breiten Fluss zu schöpfen und es mir gierig in den trockenen Mund zu schütten.

Kurz hielt ich inne, als sich in einer Hand voll Wasser das helle Licht des Mondes wie ein tanzender Blitz spiegelte.
 


 

„Mirlien.“ flüsterte ich tief bewegt und richtete mich wankend auf. Als ich ihm in die Augen sah, war mein Blick sternenklar. Mein Freund legte mir stützend den Arm um die Taille, als wir uns langsam zurück zum Zelt begaben. „Als wir dich damals im Fluss am Blumendorf fanden, da ist etwas Merkwürdiges geschehen. Eine seltsame Kraft, von der ich zuerst glaubte, sie käme von dir, hat sich zwischen uns entladen und dich erwachen lassen. Später auf dem Schiff zur Steppenwüste habe ich Thyllos mit derselben Energie von mir gestoßen, als er mir eine Todesangst eingejagt hatte. Und als damals der Malar mein Totem fraß, konnte ich ebenfalls diese Macht um mich herum spüren. Kann es sein, dass mein Talent niemals wirklich mit meinem Totem gestorben ist?“

Mirlien überlegte.

Dann fuhr er mit seinen langen Fingern sanft über mein gefiedertes Haar, über die feinen, echsenhäutigen Stellen meiner Arme. „Ich habe nicht den vollen Einblick in die Geheimnisse eurer Völker, Tilya.“ sprach er mit rauer Stimme. „Aber nur weil deine Vogelschlange nicht mehr in deinen Träumen lebt, heißt das nicht, dass es sie nicht mehr gibt. Auch dein Malar hat deine Träume verlassen, und ihn hindert dies nicht daran, zu wirken. Kann es nicht vielleicht sein, dass du die Vogelschlange nicht mehr als solche erkennen kannst, weil sie dir nicht in vertrauter Form erscheint?“

Ich blickte verträumt lächelnd zu den Sternen am Himmel.

Der Gedanke gefiel mir.

Doch noch bevor ich etwas Vernünftiges antworten konnte, erfasste mich ein neuerlicher Schub des Querkenfäulerirrsinns und meine Augen schienen sicherlich so schwarz und glänzend wie die eines Schnabelgeckos, als ich aufgeregt um Mirlien herumwirbelte und hektisch an seinem Hemdrücken zupfte.

„Seit wann wachsen denn graue Federn in deinen Flügeln, Mirlien?“ fragte ich meinen Gefährten fassungslos. „Ich glaube, du wirst langsam alt.“
 

Es war seltsam.

Irgendwie war mir schon klar, dass ich spinnen musste, aber es drang dennoch nicht wirklich in die letzten Winkel meines entrückten Verstandes.

Aus dem Hintergrund hörte man Vilthon aufseufzen. „Brauchst du Hilfe, alter Freund?“ tönte es mitleidig aus dem Zelt.

Mirlien verneinte lächelnd und schob galant die Plane beiseite, damit ich ungehindert zum gemeinsamen Schlafplatz gelangen konnte.

Doch jetzt dachte ich gar nicht daran, mich wieder hinzulegen. „Ich kann doch nicht schlafen, wenn der Malar hier vor dem Zelt herum strolcht!“ widersetzte ich mich entrüstet Mirliens zaghaften Versuchen, mich in das Lager zu befördern, wandte mich energisch wie ein Rothörnchen aus seinem vorsichtigen Griff und wuselte orientierungslos über die Lichtung.

Dicht vor dem knisternden Lagerfeuer blieb ich schließlich atemlos stehen.

„Er ist hier, Mirlien. Genau hier. Ich fühle seine Nähe.“ flüsterte ich abwesend, und starrte in die lodernde Glut.

Mein Freund kam langsam näher, legte mir die Hände um die Schultern und zog mich vorsorglich etwas weiter von den heißen Flammen weg, die mit einer eigenartigen Lebendigkeit in meine Richtung züngelten, dem heftigen Wehen des Windes entgegen, unter dem sich bereits die schlanken Stämme junger Roonen bogen.
 

Ich wusste warum er es tat.

Auch, wenn ich an diesem Abend gewiss nicht wirklich zurechnungsfähig sein konnte.

Dennoch war ich mir in meinem Gefühl ganz sicher.

Und mir war bewusst, dass auch Mirlien ihn spüren konnte.

„Er hat uns schon beobachtet als wir beim Fluss waren.“ raunte ich meinem Gefährten zu, der sich nun wie in plötzlicher Erkenntnis schützend vor mich stellte, und seinen durchdringenden Blick starr auf das Feuer richtete, dessen eigenwilliger Tanz jeden physikalischen Gesetzen zu trotzen schien.

„Vilthon!“ rief er mit fester Stimme. „Da ist etwas im Feuer!“

Schnaufend kam der Alwe aus dem Zelt geschossen. „Oh nein, nicht du auch noch, Mirlien!“ begann er verzagt, aber als er den roten Qualm aus den Flammen stieben sah, der sich neben dem Feuer zu einer scheußlichen, gebeugten Gestalt verdichtete, begriff er mit Schrecken den Ernst der Lage, da er doch stark bezweifeln mochte, dass wir mittlerweile alle drei unter einer Pilzvergiftung litten.

Mein Malar richtete sich hinter der Flammenwand des Lagerfeuers zu seiner vollen Größe auf.
 

Niemals zuvor hatte er sich mir so mager und ausgezehrt gezeigt.

Seine roten Augen reflektierten die Glut in einer schaurigen Weise, und als er sprach, dröhnte seine blecherne, tiefe Stimme in meinem Kopf wie das ferne Brüllen eines Kronennebeldrachen.

„Ein Jammer, dass ich dich nie alleine erwische, mein Drachenmädchen.“ donnerte das Ungeheuer. „Ich hätte mich so gern ungestört von dir verabschiedet, bevor sich unsere Wege vielleicht für immer trennen werden. Aber es ist leider eine Sache der Unmöglichkeit, dich ohne einen deiner Freunde anzutreffen.“

Vilthon fasste mich, die ich hinter Mirlien kauerte, fest um mein Handgelenk.

„Du willst zum Kontinent, nicht wahr?“ fragte ich das Monster mit brüchiger Stimme.

„Ich sehe, man hat dich ausgezeichnet informiert.“ grinste der Malar. „Der Kontinent ist groß, zu groß, um mich dort zu jagen, nicht wahr? Und er ist reich an leichter, lohnender Beute für mich, den minderbemittelten Menschen, die weder ein Totem noch ein Talent vor mir bewahren könnte.“

Genüsslich leckte sich das Wesen mit der langen Zunge über die langen, säbelartigen Zähne.

„Bleib hier!“ flehte ich demütig. „Komm zu mir zurück, bitte! Wir brauchen einander!“

Vilthon schlang vorsichtshalber seine Arme um mich.

Der Malar gab einen bellenden Laut von sich. „Was ich nicht lache! Du willst mich doch nur zurück, um dein Gewissen zu beruhigen, Kind! Dir ist es doch gleichgültig, ob wir beide daran zugrunde gingen, denn du sorgst dich nur um diese einfältigen Menschen. Kümmere dich erst einmal um dich selbst, denn du bist längst noch nicht soweit, um einen Malaren zu nähren!" spuckte das imposante Wesen verächtlich aus.

„Was muss ich tun, damit ich es kann?“ begehrte ich zu erfahren.

„Das musst du selbst herausfinden, Drachenmädchen.“

Der Malar durchbohrte mich mit seinen glühenden Blicken und schritt schwerfällig mitten durch die sterbenden Flammen hindurch auf uns zu.

Vilthon lockerte seinen Griff um mich, richtete seine Handflächen auf den Malaren und war bereit, sein Talent gegen ihn einzusetzen, wenn dieser es wagen sollte, noch näher an uns heranzutreten.
 

In dem Augenblick duckte ich mich unter Vilthons Armen hinweg, schob mich an Mirlien vorbei und stand nun unmittelbar vor dem Malar, der mich mindestens um zwei Köpfe überragte.

Der Alwe rief schockiert meinen Namen und war im Begriff, blindlings zu mir hin zu stürzen, wurde jedoch von Mirlien umsichtig, aber kraftvoll zurückgehalten.

„Warte, Vilthon! Der Malar hat nicht die Absicht, Tilya zu verletzen, sonst hätte er es schon längst getan!“ hörte ich den fahlgesichtigen Mann gegen das Brausen des Windes auf ihn einreden und wurde gewahr, wie er seinem aufgelösten, verständnislosen alwischen Freund nach einem langen, bedeutungsvollen Blick zum Himmel gebot, einen gewissen Abstand zu meinem Malaren und mir einzuhalten.

Inzwischen wütete ein regelrechter Sturm über den Wäldern, der tosend und heulend schwarze, regenschwangere Wolkengeschwader über den Himmel trieb und an den bedrohlich knarrenden Ästen der Bäume zerrte.
 

Der Malar stand mir gegenüber, und jeder von uns beiden ertrug auf seine Weise gepeinigt den Blick des Anderen.

Roter Staub flirrte um den hageren, im Sturm bebenden Körper des Untiers, und ich stand Todesängste aus, in ständiger, unerträglicher Erwartung eines heimtückischen Angriffes.

Die Narben an meinem Hals, die mich stets an seinem Biss erinnerten, kribbelten, sie brannten wie Feuer.

Und dennoch fühlte ich mich magisch zu dem Monster hingezogen, wünschte mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als für immer in seiner Nähe zu bleiben.

Wie hypnotisiert taumelte ich erschöpft und beinahe vollkommen willenlos auf den Malaren zu.

Dann geschah alles ganz schnell.
 

Aus dem dichten, gesträubten Nackenfell des knurrend zurückweichenden Malaren stob eine gewaltige rote Rauchschwade in die Höhe, deren Partikel einen Augenblick lang schwerelos in der Luft tanzten, erstarrten, und sich dann unheilvoll über mir formatierten, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie auf mich herabregnen oder sich zu einer bedrohlichen Schattenkreatur materialisieren wollten.

Ich streckte die Hände nach der scharlachfarbigen, pulsierenden Wolke aus, worauf ein Donnerschlag vom Himmel dröhnte und ein Blitz die schwarzen Wolken über mir bersten ließ.

Gleichzeitig begannen winzige Lichtpunkte über meinen Fingerspitzen zu tanzen, immer schneller, bis sich ein gleißendes, spinnwebfeines Netz zwischen ihnen spann, das schließlich zu einem einzigen, sich um sich selbst windenden Strahl reinen Lichtes schmolz.

Den Bruchteil einer Sekunde lang schlängelte sich der leuchtende Faden über meinen empor gestreckten Fingern gleich einer schillernden Reflexion strahlenden Sonnenlichtes auf dem klaren Grund eines ruhigen Seeufers.
 

Dann raste das blendende Gebilde mit irrsinniger Geschwindigkeit himmelwärts, einen glühenden Schweif violetten Lichtes hinter sich herziehend, um sich in einem spektakulären Funkenschlag mit dem heran züngelnden Blitz inmitten der scharlachroten Wolke des Malarenstaubes zu verbinden.

Der Malar brüllte überrascht auf, als ihn das Licht traf und sein wertvoller roter Nebel sich in glimmendem Puder niederschlug, und in Form unzähliger verschmorter Körnchen die Erde bedeckte, während Vilthon sich wie paralysiert an Mirlien klammerte, der mit glänzenden Augen dem faszinierenden Schauspiel aus Licht und Schatten folgte.
 

Der Sturm legte sich so rasch, wie er gekommen war und hinterließ eine tödliche Stille, die nur von dem rasselnden Keuchen des Malars und dem unerschütterlichen Rauschen des Flusses unterbrochen wurde.

Das Lagerfeuer war erloschen, der Klang des Donners verhallte in weiter Ferne.

Meine Knie gaben kraftlos unter mir nach und schürften sich auf den harten Kieseln wund, bevor der vor Wut rasende Malar sich in einer Wolke blutroten Staubes verflüchtigte, sich in dem fließenden Gewässer verteilte und von der Strömung hinfort reißen ließ.

„Suche mich! Erkenne mich! Überwinde mich! Und dann banne mich, wenn du stark genug für mich bist, kleine Vogelschlange!“ flüsterte es gehässig aus dem Fluss.

„Das werde ich, Malar.“ versprach ich mit entrücktem Lächeln auf dem Lippen.
 

Es begann zu regnen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2009-08-19T13:38:21+00:00 19.08.2009 15:38
mensch, das war ja mal ein gigantisches kapitel!
erst der sprudelnde witz der ersten hälfte, angefangen beim ekligen nolmengrieß bis hin zu tilyas delirium- mann, was für einen müll redet das schnucki denn nur die ganze zeit! wahnsinnig komisch,-auch, wie ihre beiden freunde mit der situation umgehen, mirlien und vilthon sind einfach zum knutschen!
für den teil mit dem malaren-fehlen mir einfach die worte.
das hatte irgendwie wahnsinnigen tiefgang, und hat mich total...geflasht
XD-passt ja optimal zum bild.
HEFTIG!!!!!
ich habe vor lauter neugier und gespannt-sein diese stelle mit offenem mund weitestgehend überflogen, und muss mir jetzt jeden satz noch einmal auf der zunge zergehen lassen, denn es ist wirklich ganz toll geschrieben!!!
Von: abgemeldet
2009-08-19T12:51:26+00:00 19.08.2009 14:51
*LOL*
war das genial, als tilya nach der pilzvergiftungg zu spinnen angefangen hat! wie peinlich ihr das am nächsten morgen wohl sein wird?
aber das wird wohl niemandem wichtig sein, nach diesen ereignissen!
dachte erst, der malar wäre ein hirngespinst, aber er wars tatsächlich!
und schon hat er sich wieder aus dem staub gemacht, im wahrsten sinne des wortes..aber wie! voll gruselig! total genial geschrieben.
hat tilya ihr talent denn dieses mal bewusst eingesetzt? ist sie vielleicht selbst ihr totem geworden, als sie damals vom malar getötet wurde, in ihrem letzten traum mit ihm? oder sind tilya und totem miteinander verschmolzen, als sich das bündnis mit dem malar auf diese ungesunde weise schloss? rätselhaft! spannend! ich bin so neugierig! wie es wohl weitergeht! im nächsten kapitel - überhaupt!
Von: abgemeldet
2009-08-17T17:03:50+00:00 17.08.2009 19:03
boah
*gänsehaut*
hammerkapitel!
die stelle fand ich witzig, wo tilya der nolmengrieß zum hals raushängt, und sie vor vilthon mit ihrer nachtsichtigkeit kokkettiert.
und ich wusste, dass sie einen querkenfäuler erwischt hat, als die den bitteren pilz ausgespuckt hat...typisch, hm? die zieht das pech ja magisch an!
<<<„Du hast so wunderschöne Ohren, Vilthon!“ hauchte ich errötend und lächelte verklärt.>>>
*brüll* wie geil!!
und mirlien... der sagt immer dinge, die man auf viele weisen deuten kann, ziemlich faszinierend find ich dieses geheimnisvolle,- ich denk manchmal, er wüsste schon viel mehr, als es den anschein hat. aber er ist ein gutes wesen, nicht? auch wenn er kaum der suche weiterhilft...sehr spannender chara, dieser mirlien!
die folgende szene mit dem malar fand ich sprachlich unglaublich ansprechend, sehr bildlich und intensiv atmosphärisch beschrieben, ich hab ne richtige gänsehaut bekommen!! hab jetzt viel nährstoff für meine interpretation des malars bekommen, und die beziehung zwischen ihm und tilya.
die szene, wo tilyas talent sich gegen ihn richtet, hast du unglaublich ergreifend und beeindruckend geschildert...
Von: abgemeldet
2009-08-16T21:03:03+00:00 16.08.2009 23:03
Oh Mann, was für ein Kapitel! Dass da wirklich der Malar war... wer hätte das gedacht?

Tilya hat Mirlien mit Flügeln gesehen? Hmm... Also doch ein Engel (zumindest in ihrer Vorstellung) ^^


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