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The Longest Journey - Beyond the Veil

Das Ende einer langen Reise steht bevor
von

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2.2: Spuren im Nichts

Einige Zeit später im Polizeirevier von Newport:

Eine Reihe von Leuten drängt sich um Ronald Summers’ Computer und versucht, einen Blick auf das Bildfenster zu erhaschen.

Neben Summers’ Chief-Inspektor Henrik Farlan und dem Polizeipräsidenten, Commissioner Green, sind das auch zwei seltsame Herren mittleren Alters. Sie haben einheitliche blaugraue Trenchcoats an, und darunter schwarz-grüne Kampfanzüge. An der Seite tragen sie Schusswaffen.

Gerade beugt sich der Zweite von ihnen über den Schreibtisch zum Monitor hin und schließt einen Data Cube an, während der andere mehrere Codenummern in seinen Messenger eintippt.

„Sie haben gute Arbeit geleistet, Herrschaften“, sagt er zu seinen Gastgebern. „Wir hatten schon nicht mehr damit gerechnet, das Mädchen wiederzufinden.“

„Wer hat die schon nach zehn Jahren?,“ wirft Farlan grob lachend in die Runde. „Meiner Meinung nach war es ja reines Glück!“

Glück?“, blafft Summers seinen Vorgesetzten an. „Wenn man bedenkt, dass sie nicht einmal einen gültigen Bürgerstatus oder eine CID-Nummer im Netz besitzt, gehört dazu schon ein bisschen mehr als bloß Glück.“ Er wendet sich an den Commissioner. „Mal nebenbei – ich war schon immer dafür, dass wir diese ganzen Vogelparks unter Beobachtung stellen sollten. Wenn sich da mal einer von den richtig harten Jungs hinverirrt, bekomm’n wir ihn so leicht nich’ wieder raus.“

„Was versuchen Sie damit anzudeuten?“, fragt Green in einem höflichen, aber recht distanzierten Ton.

„Nicht viel“, antwortet Summers. „Starkstrombarrieren, Geoscanner, Bären-Abschreckungs-Systeme… Denken Sie drüber nach, wenn ihnen mal wieder’n Massenmörder davonläuft!“

Einer der Trenchcoat-Träger unterbricht ihn, noch bevor Green seinen Arbeitnehmer für diese infame Unterstellung zurechtweisen kann: „Unter welcher Frequenz haben Sie Mrs. Ryans Telefonat aufgespürt?“

„Oh, das war 127.14.18.0/8, Telefonnetzwerk“, antwortet Summers wie aus der Pistole geschossen. „Kaum zu glauben, dass die immer noch über’s Festnetz anrufen. Komische Landeier.“ Er grinst überheblich zu Farlan hinüber. „Zuletzt wollten Sie diesen Suchkanal sogar ganz dicht machen. Aber ich hab mir gesagt: ‚Irgendwann kommt es doch noch, die kann nicht ewig von ihrer Familie fernbleiben!’ Und… wie soll ich’s sagen: ich hatte Recht!

Farlan und Green werfen ihrem Kollegen tödliche Blicke zu, aber die zwei Männer nicken bloß. „Wir werden Ihre Tatkraft in unseren Berichten erwähnen“, meint der Agent, der am Computer beschäftigt ist. „Das Syndikat wird Ihrem Präsidium gewiss eine großzügige Spende zukommen lassen – natürlich über die üblichen Kanäle.“

Damit zieht er seinen Data Cube aus der Schnittstelle und steckt ihn in seine Tasche.

Summers beobachtet dies, und ein kleiner Riss zeigt sich in seinem Panzer der Selbstzufriedenheit. „Sind Sie sicher, dass Sie das Ding nicht hier lassen wollen?“, fragt er den Agenten. „Ihr Fräulein Ryan ist immer noch beim Röntgen. Ich könnte die Kamera mitlaufen lassen, falls sich noch was Interessantes ergibt.“

„Wir haben alles, was wir brauchen“, bekräftigt der Agent mit einer Spur Endgültigkeit in der Stimme. „Wenn Sie dennoch etwas Bemerkenswertes erfahren sollten, zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren!“ Er legt eine Visitenkarte auf den Tisch, nimmt die Akte von April Ryan an sich und geht gemeinsam mit seinem Kollegen zum Ausgang. „Und ich meine etwas Bemerkenswerteres als die Brüste einer nackten Frau“, fügt er hinzu.

Die automatischen Schiebetüren schließen sich hinter ihren Rücken.

Es vergehen einige Minuten, in denen die versammelten Polizeibeamten nur ihren eigenen Gedanken nachhängen. Sie stellen sich vor, wie die Schritte ihrer Gäste in der Ferne verhallen, und lauschen dem Summen Dutzender von Rechenmaschinen nur mit halbem Ohr.

Nach einer Weile, die, wie er denkt, lang genug gedauert hat, springt Commissioner Green auf und tritt an den Computer. „Okay, Summers“, befiehlt er. „Folgen Sie den beiden!“

Der Fahndungstechniker schaut ihn mit großen Augen an. „Folgen? Einfach so?“

Er will erneut an seiner Zigarette ziehen, doch der Commissioner knickt ihm den Klimmstengel dicht unter der Nase ab und drückt ihn nah bei seiner aufgestützten Hand in die Rückenlehne.

„Jawohl, folgen!“, faucht der Commissioner. „Mit den Kameras, falls Sie es immer noch nicht begriffen haben!“

„Was meinen Sie denn, was Sie von denen noch erfahren können, Chief?“, wirft Inspektor Farlan zögernd ein. „Der Fall hat sich erledigt und wir bekommen unser Geld! Warum sich also noch einmischen?“

„Weil das hier mein Revier ist!“, antwortet Green, während Summers seinem Befehl folgend auf eine Kamera im Foyerbereich des Gebäudes umschaltet. „Und weil der Fall nach über zehn Jahren und mehreren Amtswechseln merkwürdigerweise immer noch nicht als ‚Verjährt’ eingestuft worden ist. Nennen Sie es einfach persönliches Interesse!“

„Ihr persönliches Interesse kann uns vielleicht den Kopf kosten“, prophezeit Farlan, doch dann tritt er ebenfalls an den Bildschirm und blickt neugierig in das kleine blinkende Rechteck, das nun eine Luftbildaufnahme des großen Eingangsportals zeigt. Dicht unter der blauen Leuchtreklame im vorderen Bereich parkt ein grauer Liefercontainer mit dem Logo der MTI-Corporation, einem Konzern, der, wie Green sich noch zu erinnern meint, einmal zu den Hauptaktionären des Police Departments gehört hat, seit dem Kollaps jedoch in der Bedeutungslosigkeit versunken ist.

Aus diesem Grund vermutet Green hinter dem Container auch eher ein geschicktes Tarnmanöver: seine Besucher können unmöglich von dieser kleinen Firma stammen.

„Zoomen Sie noch dichter ran!“, befiehlt er, an Summers gewandt.

Die Vergrößerung offenbart jedoch nur, dass die beiden Agenten am hinteren Ende des Lieferwagens stehen und sich wortlos eine Ladung Amathin spritzen.

Summers grinst dreckig, und sein übersteigertes Selbstwertgefühl kehrt augenblicklich zu seiner früheren Stärke zurück. „Nicht gerade das, was Sie erwartet haben, oder, Chief?“

„In der Tat, nein!“, antwortet Green kühl. „Aber vielleicht wird es das ja, wenn Sie jetzt so freundlich wären, mir das Wageninnere auf den Bildschirm zu holen! Wäre das für Sie möglich, Mr. Noch-Abteilungsleiter?“

„Schon gut, schon gut, aber dafür wird eine Sonderprämie fällig, klar?“

Mit einem lauten Brummen kommt das NFA-Suchgerät neben Summers’ Monitor in Gang und tastet die nähere Umgebung nach Netzfrequenzen ab. Auf dem Bildschirm erscheint eine Liste mit mehreren Kurzwellenempfängern, die nach der Reihenfolge ihrer Entfernung zum Sendegerät angeordnet sind. Ein Lokalisierprogramm rechnet jeweils ihren genauen Standort aus, der dann auf einer Geländekarte im Computer angezeigt wird.

Und tatsächlich erscheint im Bereich des Lieferwagens eine außerordentlich starke Frequenzquelle, die es Summers gestattet, einen genauen Bauplan des Containers mitsamt seiner Ausstattungen erstellen zu lassen.

Doch etwas an dem Ergebnis macht ihn stutzig. „Merkwürdig!“

„Was ist damit?“, drängt der Commissioner. „Können Sie darauf zugreifen oder nicht?“

„’Türlich kann ich das! Das ist es ja grade: die Frequenzquelle ist ein NFA-Modell des neuesten Standards, ähnlich wie unsere hier, aber ohne die üblichen Firewalls. Da frag’ ich mich doch glatt: Warum tun sie das? Können die sich das leisten, ihre Computer ohne Hackerschutz zu lassen?“

„Was geht uns das an? Haben die Zwei einen Rechner dort drin stehen?“

Summers nickt unschlüssig.

„Gut“, bekundet Green, „dann nehmen Sie sich den vor!“

Dem Fahndungstechniker fällt vor Entsetzen der letzte Rest seiner Zigarette aus dem Mund. „Ich soll was– nein, nein, keine Chance, Mann! Wenn Sie unbedingt mitverfolgen wollen, was diese Typen mit dem Frequenzgerät alles aufspüren – meinetwegen! Dazu reicht diese Verbindung hier vollkommen aus. Aber auf den Hauptrechner werde ich ganz bestimmt nicht zugreifen! Wer weiß, was der für Sicherheitschecks hat!“

„Sie werden zugreifen“, entgegnet Green, „oder Sie können Ihren guten Job hier an den Nagel hängen und in die Finanzbuchhaltung gehen. Ich habe es satt, mir von einem Möchtegernsicherheitsdienst wie dem EYE Vorschriften machen zu lassen. Wenn diese Leute so weitermachen wie bisher, wird es bald keine offene Polizeiarbeit mehr geben, und wir alle werden nur noch die Aufpasser bei irgendwelchen Studentenprotesten spielen dürfen. Ich will den gesamten Datenverkehr dieser beiden Herren auf diesem Bildschirm angezeigt bekommen, und zwar pronto! Wenn Sie also für den Moment ihre eigene Feigheit vergessen und weiterarbeiten können, dann werde ich dafür sorgen, dass niemand Sie dafür zur Verantwortung zieht! Sie werden die besten Sicherheitsvorkehrungen bekommen, die unser Revier zu bieten hat!“

Summers lacht höhnisch. „Oh sicher!“, säuselt er. „Das allmächtige NPD gegen den größsten außerstaatlichen Geheimdienst, den die Welt je gesehen hat! Für wie blöd halten Sie mich eigentlich?“

„Für ziemlich blöd, nebenbei bemerkt. Aber etwas Verstand müssten selbst Sie haben. Sie haben schätzungsweise noch zwei Minuten, dann sind die beiden Herren wieder in ihrem Lieferwagen. Wenn Sie sich bis dahin nicht entschieden haben… nun, ich glaube kaum, dass so ein Hackvorgang unbemerkt bleibt.“

Summers schaut seinen Chef lange und eindringlich an. Dabei lässt er die Knöchel knacken wie ein Schläger, der seinen Trumpf noch nicht ausspielen konnte.

Nach fünfzehn Sekunden an reiflicher Überlegung dreht er sich wieder dem Bildschirm zu… und bemerkt ein kurzes Datenflackern in der Frequenzliste.

„…Scheiße…“

Ein flüchtiger Blick auf das Kamerabild bestätigt seinen Verdacht: die zwei Agenten sind weg, und die Aktivitäten in der Frequenzliste bestätigen, dass ihr eigenes Netzwellensuchgerät dabei ist, hochzufahren.

Weswegen Summers’ kleiner Eingriff schon bald kein Geheimnis mehr sein wird…

Der Systemtechniker zögert einen Moment … dann rollt er den Drehstuhl hastig zur Tastatur zurück und beendet auf der Stelle die Verbindung zum Lieferwagen. Auf seiner schmierigen Stirn sind mit einem Mal Schweißperlen aufgetreten.

„Sind Sie jetzt zufrieden?“, schreit er Green an, haltlos vor Panik. „Ich hoffe, dass Sie sich die letzte Frequenznummer aufgeschrieben haben, denn das war das Letzte, was Sie von mir bekommen werden! Ich brauch’ mich nicht für Sie zur Zielscheibe machen, sie Scheißkerl! Und noch was: die Prämie kriege ich doppelt und dreifach zurü-“
 

Das Toben des Systemtechnikers bricht ebenso plötzlich ab wie es gekommen ist, als er von Angst gebannt auf seinen Bildschirm starrt, wo eine kleine Meldung aufgetaucht ist:
 

Ihrem Wunsch nach Datenübertragung wird stattgegeben. Beginne mit Upload…
 

Ein beunruhigendes Funkeln tritt in Summers Augen.

Er hatte die Verbindung doch gerade beendet…

Sein Finger regt sich bereits nach oben, um den Vorgang abzubrechen, wird jedoch von irgendetwas Übermächtigem, dass er selbst nicht zu beschreiben vermag, zurückgehalten.

Er schaut fahrig zuckend über die Schulter zu seinen Vorgesetzten, doch diese meiden seinen Blick wie schuldbewusste Hunde und treten bereits, langsam aber sicher, den Rückzug an.

Erst jetzt bemerkt Summers ein schwaches, rot blinkendes Licht unterhalb seiner Schreibtischplatte, und mit einer kindlichen Neugier, wie sie ihm sonst eigentlich fremd ist, schiebt er die Hand darunter.

Er spürt, wie etwas Leichtes, Metallenes auf seiner Handfläche landet.

Er zieht sie unter dem Tisch hervor… und sieht darauf einen kleinen, vierbeinigen Roboter stehen, der im Aussehen an eine sehr massive Spinne erinnert. Mit seinem einzelnen roten Glasauge, das in der Mitte seines runden Kopfes sitzt, sieht er zuerst den Bildschirm, dann das NFA und zuletzt Summers an, der das kleine Objekt naiv kichernd betrachtet.

Im selben Moment kommt das System zum Ende seines Uploads, und ein kurzer, schriller Signalton schallt vom Computer ausgehend durch den ganzen Raum. Summers nimmt ihn nur ungenügend zur Kenntnis, würde er aber aufschauen, so sähe er etwas Schreckliches:

Aus jedem Winkel, von jeder Ecke her kommen Roboter angekrabbelt, alle in derselben Größe und Ausführung wie der kleine in Summers Hand, und alle mit der Zielstrebigkeit von Kakerlaken, die über eine Obstkiste herfallen. Wie hungrige Raubtiere setzen sie sich an seinem Drehstuhl fest, klettern auf die Tischplatte neben seinem Computer und machen sogar vor seinen Cordhosen nicht Halt.

Schon bald sieht sich der Systemtechniker von einem Heer aus kleinen schwarzen Roboterbestien umringt, die ihn mit blutroten Augen ausdruckslos anstarren.

Endlich erwidert Summers diesen Blick, aber er zeigt ein seltsames Lächeln, als würde ihn dieser Anblick nicht im Mindesten beunruhigen. Er streichelt den kleinen Roboter auf seiner Handfläche noch einmal über das Köpfchen… um es dann zu umgreifen, auf den Boden zu schleudern und genüsslich zu zertrampeln.

Farlan und Green betrachten das Geschehen bereits von außen. Im Gegensatz zu ihrem Kollegen haben sie das Blinken schon vorher gesehen und richtig gedeutet.

Nun pressen sie ihre Hände verzweifelt und müde gegen das Türglas und kämpfen gegen den Drang, nach oben durch das Fenster zu schauen.

Beide denken sie wohl den gleichen, tröstlichen Grundgedanken:

Gott sei dank lassen die Sicherheitstüren nicht jene Schreie durch, die den Computerpool in diesem Augenblick in ein Meer aus Schmerzen verwandeln.

Summers aus Wahnsinn geborene Attacke kommt ihn teuer zu stehen.

Sehr, sehr teuer…
 

Im Lieferwagen beobachtet man das Geschehen ebenfalls, aber nicht mit dem Abscheu, den die Police Officer verspüren.

„Sind sie fertig?“, fragte der eine Agent, dessen in den Kampfanzug eingravierte Dienstnummer ihn als Commander Knight auszeichnet.

„Positiv“, antwortet der andere, dessen Name Bishop lautet.

Er lässt den Blick eines der Spinnen-Bots über den Boden des IT-Raums schweifen.

Die rauchende Hülle des Systemtechnikers liegt schmerzhaft zusammengekrümmt auf den Rollfüßen seines Drehstuhls. Ein paar der Roboter, die ihm die Kehle gebraten haben, quellen ihm noch aus dem Schlund.

Einer davon kollert zu Boden, als sich der Drehstuhl nach hinten bewegt.

Inspektor Farlan scheint einen Blick auf seinen toten Mitarbeiter werfen zu wollen. Hinter ihm nähern sich zögernd die schwarzen Halbschuhe von Commissioner Green.

Der Augenblick ist günstig: Bishop schaltet die Sprachausgabe ein und bewegt seinen Mund dem Transmitter zu.

„Lassen Sie sich das eine Warnung sein, Herrschaften! Unsere Arbeit ist streng vertraulich und duldet keine Einmischung von zweitklassigen Ermittlungsbehörden wie Ihrer. Sie werden kein Wort mehr über diese Sache verlieren, zu niemandem! Sollten Sie es doch tun, werden wir von den in unseren Statuten festgelegten Rechten Gebrauch machen und Sie der EYE - Werksspionage anklagen! Ich brauche Ihnen hoffentlich nicht zu erklären, was das heißt?“

Über die Fernsteuerung bewegt er das Sichtgerät des Robots aufwärts, den Gesichtern der Officer entgegen.

Greens Gesicht bleibt, ob dieser Drohung, verhältnismäßig regungslos. Um seine Warnung zu unterstreichen, steuert Bishop seinen Roboter am Hosenbein des Commissioners hinauf, der ihn angeekelt abschüttelt und dann, nach einem weiteren Blick auf die Leiche, kleinlaute seine Zustimmung bekannt gibt.

„Gut!“, verkündet Bishop, insgeheim lächelnd. „Melden Sie sich bis heute Nachmittag um halb vier im Syndikatsgebäude in der Grendel Avenue, und berichten Sie alles, was Mr. Summers uns gesagt hat. Seien Sie pünktlich, und kontaktieren Sie in der Zwischenzeit niemanden außer uns! Kommando Shepherd – Ende!“

Mit diesen Worten schaltet er die Sprachausgabe aus und lehnt sich zurück. Im Befehlston spricht er zu seinem Kollegen: „Schick eine Memo an die Zentrale! Gib ihnen alle Daten durch, die wir bekommen haben! Das Verfahrensprotokoll werde ich gleich noch fertig machen. Sag ihnen, sie sollen uns einen Einsatztrupp zusammenstellen, möglichst ein paar von den japanischen Kollegen und die Veteranen aus der MT-7.“

Er wirft einen Blick auf die Akten in seinen Händen. Ohne genauer zu lesen weiß er, dass sie enorme Lücken enthalten – Lücken, die aus Geheimhaltung und Vergessen entstanden sind.

Heute noch wird er die Lücken füllen… wenn nötig mit Kugeln.
 

Die Person, die diese Akten betreffen, befindet sich zur gleichen Zeit in einem Zugabteil, gemeinsam mit der Frau, die behauptet, ihre Mutter zu sein.

Ihr ist ein wenig mulmig zumute, was durchaus nichts Schlimmes zu sein braucht, wenn man bedenkt, dass sie gerade nach mehrwöchigem Koma aus dem Krankenhaus entlassen worden ist.

Aber gerade die Geschwindigkeit dieser Entlassung macht April Ryan stutzig. Obwohl sie sich nicht mehr an besonders viele Dinge erinnern kann, so ist sie doch sicher, dass ein derartiger Akt normalerweise wesentlich mehr Papierkram mit sich bringt.

Einer der Gründe dafür liegt wahrscheinlich in der Röntgenuntersuchung, die sie gerade eben über sich ergehen lassen musste: sie hat ergeben, dass alle ihre Knochen und Organe ordentlich verheilt worden sind und dass sogar ihr Bindegewebe sich regeneriert. Nach und nach werden die Frostbeulen in ihrer Haut sich von innen heraus wieder aufbauen, bis zuletzt kaum eine Spur von ihnen bleiben wird.

Tatsächlich sind diese Stellen jetzt – eine Stunde nach Abschluss der Analysen – zu dünnen Flecken geworden, die man (so meinte zumindest June) nur noch beim nächsten Schaumbad abzuschrubben brauchte.

Ein höchst seltsamer Fall also, in dem sie sich befindet; ein Ereignis, wie es selbst in sehr schlechten Arztromanen nur höchst selten vorkommt.

Doch noch ein anderer Grund hat ihre Entlassung bewirkt, soviel weiß April, und diesen einen Grund hat Dr. Nordhoff ihrer ‚Mutter’ zuvor ins Ohr geflüstert, womöglich in der Meinung, dass es so ein Geheimnis bleiben würde.

„Sie meint, du würdest an retrograder Amnesie leiden“, verkündet Jennifer Ryan in gerade diesem Moment.

„An Gedächtnisschwund?“, wundert April sich.

Jennifer Ryan nickt. „Das hat sie am meisten erschreckt, glaube ich. Sie konnte Psychologie noch nie richtig ausstehen. Und Angewandte Chirurgie hätte sie nicht studiert, um sich hinterher mit, mit Phallus-Symbolen oder sowas zu beschäftigen.“

Aus irgendeinem Grund muss April lachen. Es ist offenkundig, dass diese Frau gar nicht weiß, was zur Hölle ein Phallus sein soll, auch wenn sie in ihrem Leben ganz bestimmt schon einen gesehen hat.

Sie wird jedoch gleich wieder ernst, als sie zum ursprünglichen Thema des Gesprächs zurückkehrt. „Aber… wenn ich angeblich an Amnesie leide, warum schickt sie mich dann nicht in die Psychiatrie? Ich meine, ich könnte ja auch eine ehemalige Kettensägenmörderin sein, die ausflippt, wenn sie Frauen mit gelben Schuhen sieht. So genau wissen kann man das ja nie!“

Ihre vorgebliche Mutter lächelt. Auch wenn Aprils Menschenkenntnis nicht sonderlich ausgeprägt ist, spürt sie dennoch, wie die Frau in diesen Worten ihre leibhaftige Tochter erkennt, ganz so, wie man sich an die Redeweise der Großeltern gewöhnt oder die Spracheigenheiten der heimatlichen Umwelt in sich aufnimmt.

Nur April selber fühlt leider nichts dergleichen. Die sterilen, kalten Wände des Zuges, so stilvoll designt sie auch sein mögen, erfüllen sie mit Unbehagen, und die schüchterne, duckmäuserische Art der Frau lässt sie einander auch nicht warm werden. Die meisten Fragen beantwortet sie nur ausweichend, und ihr unerschütterlicher Glaube, ihre leibliche Tochter vor sich zu haben, rührt April zwar… aber er macht ihr auch Angst.

Es ist möglich, dass sich dies mit dem Eintreffen in ihrem Heimatort ändern wird, aber noch kann April dazu nicht das Geringste sagen.

„Du wirst schon sehen“, antwortet die Frau ruhig, beinahe entspannt. „Es hat sich nicht viel verändert. Du wirst schon sehen“, wiederholt sie noch einmal, als sie, zum Fenster hinausschauend, die von Schnee bedeckten Heideflächen des Willamette Valley erblickt.

Auch im 23. Jh. gehört diese Region immer noch zu den fruchtbarsten der Erde. Die vielen landwirtschaftlichen Betriebe, die sich hier angesiedelt haben, mögen zum Teil industrialisiert worden sein, und sicher ist bei dem ein oder anderen immer noch diese Massentierhaltung gang und gäbe.

Aber andererseits ist gerade diese rückständige Region nach dem Kollaps regelrecht aufgeblüht.

Denn als sich mit dem Zusammenbruch des Hyperspace auch die Sehnsucht der Menschen nach einem Leben mit der Natur manifestierte, stieg die Nachfrage nach Bioprodukten und der Entwicklung umweltfreundlicher Anbaumethoden rapide an. Da die Landwirtschaft von den Entwicklungen der Raumfahrttechnik nicht in so hohem Maße abhängig war wie der Rest der Welt, konnte sie auch in den Schwarzen Tagen weiter bestehen, ohne viele bleibende Schäden davon zu tragen.

Darüber hinaus schafften sich die agrarwissenschaftlichen Institute eine starke Lobby in der Politik, und so ist es zum Teil zu erklären, dass Familien wie die der Ryans seit Jahrzehnten immer noch in diesem Geschäft tätig sein konnten.

Während der ganzen Fahrt spricht Jennifer Ryan von ihrem kleinen Bauernhof, berichtet von Fehlernten und Krankheitsfällen im Rinderstall, all diesen kleinen Ereignissen eben, die für Menschen wie sie wichtig und erwähnenswert sind. Dabei erwähnt sie auch immer wieder die Rolle ihres Mannes, Aprils ‚Vater’, der hart dafür arbeiten musste, dass alles so werden konnte, wie es jetzt ist.

April allerdings hat erhebliche Zweifel an der Richtigkeit dieser Erzählungen. Außer ein paar höflichen Ermutigungen steuert sie zu diesem Teil des Gespräches nichts weiter bei.

Dann endlich fährt der Zug in den Bahnhof eines kleinen Dorfes ein, das still inmitten vieler Weizen- und Gemüsefelder liegt. Hier müssen die beiden aussteigen.

Jennifer Ryan wartet einen Moment, bevor sie den Bahnsteig verlässt, und blickt ihre Tochter, die noch in der Waggontür steht, fragend an. Ob sie diesen Ort wieder erkennt?

Nein, dem ist nicht so! Sie schaut sich kurz um, ahnt sogar, dass es sich bei diesem so genannten Bahnhof um nicht mehr als einen überdachten Schienenabschnitt handelt, wie es ihn in der Provinz zu tausenden gibt, aber im Grunde weiß sie mit den grauen Häusern um sich herum nichts anzufangen… und das ist für ein Landmädchen, dass nach zehn Jahren Abwesenheit in seinen Heimatort zurückkommt, schlicht und einfach unnormal.

Denn in einer Beziehung hat Jennifer Ryan Recht: in solch kleinen Dörfern ändern sich die Dinge nur langsam, und jeder, der dort aufwächst, kann meist die Straßen und Wege, die Häuser und die Geschichten ihrer Bewohner in- und auswendig hersagen, wenn er nur tief genug gräbt.

Aprils Verschwinden vor zehn Jahren gehört zu jenen Geschichten, und entsprechend verwundert ist man über ihr Wiedererscheinen. So kurz nach der Mittagsruhe und bei dem vergleichsweise kalten Wetter sind nur wenige Leute auf den Straßen, aber so gut wie jeder spricht die beiden Frauen im Vorbeigehen an, stellt Fragen, erkundigt sich nach dem werten Befinden oder gibt seiner Freude Ausdruck, dass April nach so langer Zeit endlich wieder hergefunden hat. Vor allem ein alter Bauer mit grauem Schnauzbart, der die Ryans gut zu kennen scheint, kann seine Genugtuung darüber kaum zurückhalten.

„…denn siehst du, es geht ja nicht mehr so einfach wie vor’n paar Jahren, und deine arme Mutter musste sich ganz schön abschuften mit eurem Hof und so, und dann ist ja auch noch der alte Harold – Gott hab ihn selig – und das alles. Natürlich, will nichts gegen Daniel sagen, er macht sich ja ganz gut, jetzt, wo er sich eingearbeitet hat, aber ’s is’ halt nich dasselbe, und das merkt man…“

Der Alte zieht gelassen an seiner Pfeife, und diesen Moment nutzt Jennifer Ryan aus.

„Wir müssen jetzt ernsthaft los, Rick“, sagt sie und zieht April weiter. „Owen ist schon nach Hause gefahren, und Pater Marduk wollte zum Tee kommen. Wir müssen los.“

Der Alte nickt beifällig und gibt dem Mädchen noch ein unaufgefordertes Schulterklopfen mit auf den Weg, was dieser mehr als übel aufstößt.

Ihr Weg führt sie weiter durch das verschneite Dorf. Nach etwa zweihundert Metern geht eine kleine Gasse vom Hauptweg ab und bringt sie eine halb Meile weit in die Gemüsefelder hinein, bis schließlich hinter einer Wegbiegung die Farm der Ryans in Sicht kommt: ein großes, klotziges Lagergebäude, das zusammen mit den Hauptgebäuden und den Stallkomplexen ein Rund um einen fünfeckigen Innenhof bildet, und etwas abseits davon der Wasserturm aus Plastik, an dessen Dach meterlange Eiszapfen hängen.

‚Nun, das ist es also’, denkt April. ‚Home, Sweet Home! So sweet, dass man es am liebsten auf eine Postkarte verbannen möchte.’ Ihre Augen folgen der ‚Mutter’, die kurz auf einen Feldweg tritt, um einige Messinstrumente, die aus dem Schnee ragen, zu überprüfen.

„Denn du weißt ja, die Winter sind wieder kälter geworden!“, fügt sie zur Erklärung hinzu.

„Nein, weiß ich nicht“, antwortet April leise, aber scharf. Ihr geht dieses ganze Getue um ihre Person allmählich gewaltig auf die Nerven. Wenn es nach ihr gegangen wäre, läge sie jetzt immer noch in ihrem Krankenbett, bewusstlos, aber glücklich, und bräuchte sich um nichts weiter Sorgen zu machen als um die seltsamen Träume, die sie verfolgen.

Falsch – sie müsste sich überhaupt keine Sorgen machen! Zum Sorgen machen braucht man so etwas ein Bewusstsein, und diese Träume waren das Bewusstsein.

Denn soviel weiß sie noch: Träume verarbeiten Erinnerungen. Demzufolge müssten auch die Träume, die April hat, eine verzerrte Spur des in ihrem Gedächtnis abgespeicherten Protokolls darstellen, eine Art Back Up-Liste ihres Gehirns.

Und theoretisch – nur theoretisch – müsste sie die dazugehörigen Erinnerungen irgendwo abrufen können.

Wenn sie nur wüsste wo…

In diesem Moment tritt Jennifer Ryan wieder auf die Straße hinaus und bedeutet ihr, mit zur Hinterseite des Hauptgebäudes zu kommen.

Dort ist das Wohnhaus der Ryans angebaut, rechterhand der breiten Einfahrt zum Hof.

Äußerlich ist es von den Einfamilienhäusern im Ort nicht zu unterscheiden: zwei Stockwerke hoch, rechteckige Vorderfront, ein Spitzdach, mit rotem Schiefer gedeckt. Es gibt Millionen solcher Häuser in der Welt.

Warum sollte April gerade in diesem aufgewachsen sein?

„Wir haben es neu streichen lassen“, erklärt Mrs. Ryan, und ein Anflug von Stolz klingt aus ihrer Stimme, wenn auch nur kurz. „Nach dem Kollaps sah es hier einfach fürchterlich aus, vor allem oben im Dorf. Es hat nur zwei Wochen gedauert, aber ich glaube, keiner von uns wird das jemals vergessen können.“

April bleibt schlagartig stehen. Ihr Überdruss hat gesiegt. Sie schafft es gerade so, die Zunge im Zaum zu halten, aber selbst die anderen Worte klingen noch wie hinter den Zähnen hervorgepresst.

„Was genau ist denn passiert?“ faucht sie. „Können Sie mir das nicht einfach sagen?“

Eine peinlich berührte Pause entsteht, die Jennifer Ryan einschüchtert und April tief durchatmen lässt.

„Hören Sie!“, fügt sie schließlich hinzu. „Ich will wirklich nicht undankbar erscheinen. Sie haben mich einfach so mitgenommen, ohne vorher nach Bedenkzeit zu fragen. Das ist zwar absoluter Wahnsinn, aber okay! Angeblich bin ich ja Ihre Tochter, und wenn Sie sich komplett sicher damit sind, werd’ ich wohl mitspielen müssen.

Aber meinen Sie nicht, dass sie mir trotzdem von Zeit zu Zeit etwas erklären könnten? Ich bin nach zehn Jahren aus dem Koma erwacht und habe meine gesamte Vergangenheit verloren. Ich kenne Sie nicht, ich kenne das Dorf nicht, ich weiß nicht, was ich mit all diesen Andeutungen anfangen soll. Ich weiß nicht einmal, ob sich das jemals ändern wird. Da wäre es doch einfacher, wir lassen diese ganze Vertrautheitsnummer und reden offen miteinander, oder?“

Schwer atmend schlägt Jennifer Ryan die Hände vor den Mund, und auch April kann das hektische Pochen ihres Herzens kaum unter Kontrolle halten. Es fühlt sich an, als würde sich eine kalte Eisenplatte auf ihre Eingeweide legen, die gleichzeitig zu rebellieren schein.

Doch seltsamerweise (und zu ihrem eigenen Erstaunen) lässt Jennifer Ryan die Finger schon wieder von ihrem Gesicht gleiten.

Sie sieht April in die Augen und lächelt tapfer. „Du hast Recht“, murmelt sie. „Dir muss das alles wie ein schlechter Witz vorkommen. Aber du... du wirkst immer noch so… so…“

Da ist er wieder - dieser Blick. Ängstlich, aber doch in dem festen, unabänderlichen Glauben, ein Stück Wahrheit entdeckt zu haben. „Also, was möchtest du zuerst wissen?“

„…Wie? Oh, ja… ähm… Moment…“

Die eine Hand zum Zeichen der Unterbrechung erhoben schaut sich April gedankenverloren im Hof um.

Zu ihrer Linken steht ein Scheunentor offen, aus dem ein Duft von Ammoniak und Haferstroh dringt. Rechts von sich hört sie das Wummern einer Maschine und das Knirschen von Kuhzähnen, das kurze Zeit später einem tiefen Brüllen Platz macht.

Nun, da sie den Zug und das sterile Krankenhaus hinter sich gelassen hat und mit ihren Augen und Ohren, ihrer Nase und ihrem Gaumen diesen Ort bewusst auskostet; nun, da sie die Angst einen Moment hinter das Erleben zurückgedrängt hat; nun, da diese Sinnesreize gleichzeitig auf sie einströmen, fühlt sie sich ein Stück weit wieder als Teil dieser Welt, und ihren Belangen verpflichtet.

Sie reckt die Nase in den Wind, und ihre Lungen füllen sich mit dem Geruch und der Kälte dieses Wintertages.

Dann tritt sie einen Schritt vor… und fühlt etwas Weiches unter dem Schuh.

Sie erbleicht. „Pfui Spinne… ist das…“

„Ja, mein Kind, das ist es.“

April fährt er herum – der Satz kam nicht von ihrer Mutter, sondern aus der Richtung des Hauses.

Dort, in einer schattigen Ecke der Veranda, steht, auf einen Gehstock aus Eiche gestützt, ein sehr athletisch wirkender, älterer Herr im schwarzen Anzug und mit einem breiten Schal aus violetter Wolle um den Hals.

Langsam tritt er aus den Schatten und schreitet die drei Stufen zum Hof hinab, direkt auf die beiden Frauen zu.

Obwohl er lächelt und seine dunklen Augen mit ihren Lachfältchen unerschöpfliche Geduld und Lebensfreude ausstrahlen, kann April nicht umhin, bei seinem Anblick zu erschauern.

Dieses Gesicht… und die schwarzen Haare… erinnern sie an jemanden…

Doch bevor sie etwas sagen kann, fällt ihre Mutter ihr ins Wort.

„Hochwürden! Sie sind schon da?“

Der Mann, der bis jetzt nur Augen für April hatte, wendet sich ab.

„Der Segen des Herrn sei mit Ihnen, Jennifer“, entgegnet er mit einer leichten Verbeugung. „Ich bin Owen zufällig auf der Hauptstraße über den Weg gelaufen, und - Gottes Gnade sei dank - hatte er die Freundlichkeit, zu bremsen.“

„Ich muss wirklich ein ernstes Wörtchen mit ihm reden. Er kann nicht dauernd mit neunzig durch die Ortschaft rasen. Und gerade vor Ihrer Haustür, Pater…“

„Schon gut. Hauptsache, ihm ist nichts passiert.“ Der Pater formt die Hand zu einer segnenden Geste und wendet sich dann wieder April zu. „Ich weiß, dass es sich in dieser Form eigentlich nicht gehört, aber – ich bin Pater Benjamin Marduk!“ Er reicht seinem Gegenüber lächelnd die Hand. „Erfreut Sie kennen zu lernen.“

April ist ein wenig erstaunt. „E-ebenso“, sagt sie und erwidert den Handschlag, der unerwartet fest ist.

Der Pfarrer erkennt den Ausdruck auf ihrem Gesicht, und sein Lachen weicht einem Anflug von Ernst. „Natürlich hat mir Owen alles über die seltsamen Umstände erzählt. Ich verstehe, dass Sie ihre Schwierigkeiten damit haben, dies alles zu akzeptieren.“

„Das kann man wohl sagen“, murmelt April, bevor ihr einfällt, dass ihre Mutter noch neben ihr steht. Doch Jennifer Ryan ist unerwartet ruhig geblieben, was April darin bestärkt, weiter zu reden: „Verzeihen Sie mir, falls ich Sie kennen sollte, aber…“

„Oh nein“, erwidert der Pfarrer lächelnd, „Sie können mich gar nicht kennen: ich bin erst vor knapp neun Jahren dieser Gemeinde zugeteilt worden, kurz nach dem…“

Das Wort liegt ihm sichtlich auf der Zunge, aber anders als Jennifer Ryan wagt er nicht einmal, es auch nur lautlich zu streifen.

„Vielleicht sollten wir lieber ins Haus gehen“, meint Aprils Mutter diplomatisch.

„Ja…“, bestätigt Pater Marduk sichtlich erregt. „Das ist kein Thema, über das man in dieser Kälte sprechen sollte. Kommen Sie, mein Kind!“

Während die beiden auf die Tür hinter der Veranda zustreben, wirft April noch einen letzten Blick auf die Umgebung, die von nun an ihr Zuhause sein wird:

Dunkles Holz und Wellblech, Schieferziegel und Metall, von einer leichten Schneeschicht bedeckt. Stroh auf dem Boden und kühle Feuchtigkeit in der Luft. Die Präsenz von Tieren und der Hauch von täglicher Plackerei.

Eigentlich sollte es nicht das sein, was sie anstrebt, doch nun, da sie einmal hier ist, kann sie sich diesem Ort nicht mehr entziehen.

Sie putzt ihren Schuh in einer Schneewehe, bevor sie zögerlich den älteren Leuten in die Küche folgt.



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