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The Longest Journey - Beyond the Veil

Das Ende einer langen Reise steht bevor
von

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2.1: Aufblende

Zwei Wochen nach diesen Ereignissen

Greenvale im Bundesstaat Oregon

Stark – unsere Welt im Winter des Jahres 2219…
 

Obwohl sich in den letzten zweihundert Jahren einiges an den USA verändert haben mag – einsame Landstraßen durch dreckiggrüne Graslandschaften gibt es dort nach wie vor.

Und Motorräder gibt es auch, obwohl sie inzwischen als veraltet und unrentabel gehandelt werden.

Es stimmt zwar: seit der Realisierung neuer Massentransportmittel wie dem Vactrax oder dem Hovercraft sind Einzelpersonen im Straßenverkehr eine Seltenheit, sogar ein Sicherheitsrisiko geworden, aber es gibt immer noch genügend Enthusiasten – man bezeichnet sie allgemein hin als ‚Spinner’ -, die ihrer Leidenschaft frönen und auf zweirädrigen Kraftmaschinen durch die Gegend rasen.

Sie haben kein Anrecht auf Krankenversicherung, falls ihnen etwas zustößt, und es werden zu ihrem Gedenken keine Holzkreuze am Straßenrand aufgestellt, aber sie machen dennoch weiter…

So auch jener junge Mann, der gerade mit einem Gravycycle der neuesten Generation auf der Bundesstraße nach Salem unterwegs ist.

Um zu seiner Sorte Mensch zu gehören, muss man unter achtzehn Jahre alt, sehr risikofreudig sowie einzelgängerisch veranlagt sein. Nur unter diesen Voraussetzungen kann man sich würdig als ‚einsamen Ritter der Straße’ bezeichnen.

Obwohl der junge Mann dem Ideal in sonst jeder Hinsicht gerecht wird, hat er einen Passagier auf seinem Sozius sitzen, der sich ungeachtet der Gurte um seinen Leib an den Schultern des Fahrers festklammert und bedenklich auf und nieder schaukelt.

Die Höchstgeschwindigkeit auf einer Autobahn dieser Tage beträgt 220 km/h, und dieser Verkehrsteilnehmer unterschreitet sie nur knapp. Ab und zu klatscht ein verirrter Vogel gegen die Fahrtscheibe und hinterlässt dort blutige Spuren, aber das mindert die waghalsig schlingernde Fahrweise des jungen Mannes nicht im Geringsten.

Nun jedoch bekommt er von hinten einen Schlag auf die rechte Schulter, was ihn so aus der Fassung bringt, dass er kurzzeitig über den Mittelstreifen fährt und dabei fast in ein Auto kracht, das gerade zum Überholen ansetzt.

Wenige Sekunden lang kreischt und pfeift es in seinen Ohren, dann schwenkt er nach rechts und ist wieder auf seiner Seite der Fahrbahn – in Sicherheit.

Die Ausfahrt nach Greenvale hat er dennoch verpasst, und für die nächsten zwölf Kilometer steht keine weitere in Aussicht.

Doch er wäre kein Ritter der Straße, wenn er sich immer an die Fahrbahnbegrenzungen halten würde.

Nachdem er mehrere hundert Meter in mäßiger Geschwindigkeitsstufe gefahren ist (so etwa 180 km/h), betätigt er einen Gravitationsregler an der rechten Seite des Tankes, beschleunigt jäh auf 290 Sachen, schlängelt sich an verschiedenen Gütertransportern vorbei, und als er endlich freie Fahrbahn hat, reißt er das Gravycycle in einer halsbrecherischen Bewegung weit nach links.

Wie geplant hebt das Rad vom Boden ab, trudelt, getrieben von der Fliehkraft, mit Schwindel erregender Schnelligkeit durch die Luft und über die mittlere Leitplanke hinaus in die andere Spur der Autobahn.

Während seine Beifahrerin sich voller Angst in seinen Rücken krallt, achtet der junge Mann peinlich genau auf den sich nähernden Asphalt. Es kommt jetzt darauf an, in der richtigen Richtung aufzusetzen, denn das Gravycycle dreht sich immer langsamer … die äußere Leitplanke ist schon bedenklich nahe...

Langsam und gefasst greift seine Hand nach dem Gravitationsregler… dreht ihn vorsichtig zurück… das Heck hängt ein wenig zu tief, gütiger Gott, sie muss sich doch nach vorne lehnen… verdammt, er kommt nicht mehr herum, das Vorderrad zeigt in die falsche Richtung…

Doch da! Das Hinterrad greift! Schnell reißt er die Finger vom Regler weg und wirft das Rad herum, so dass es sich noch um einen halben Kreisumfang weiterdreht, bevor es in annähender Fahrtrichtung auf dem Asphalt aufkommt und vorwärts schießt.

Unter der dicken Hülle seines Schutzhelms laufen dem jungen Fahrer dutzende Schweißperlen die Schläfen entlang. Beinahe wäre sein Manöver schief gelaufen…

Eines ist sicher – in Zukunft wird er sich konzentrieren und lange vor der Ausfahrt abbremsen müssen.

Und ganz bestimmt wird er das nächste Mal keinen Passagier dabei haben!

Ohne weitere Schwierigkeiten erreichen die zwei Motorradpassagiere die Ausfahrt nach Greenvale. Von dort aus sind es nur noch zwei Kreuzungen und eine Strecke von zwei Kilometern zu ihrem eigentlichen Bestimmungsort: dem Hamilton – Hospital in der Mount-Jefferson-Road.
 

Vor dem Besuchereingang erwartet sie bereits eine junge Krankenschwester, die mit belustigter Miene die Parkversuche des jungen Mannes verfolgt, die im Gegensatz zu seinem Fahrstil nicht unbedingt von Eleganz geprägt sind.

Doch schließlich, nachdem er die Bodenhaftung über den Gravy-Regler so weit hoch gedreht hat, dass man das Rad nicht einmal mehr mit einem LKW vom Fleck bewegen könnte, kommt das Vehikel endlich zum Stehen, und die zwei Passagiere können absteigen – wenn auch, im Falle der Beifahrerin, nur unter Aufbietung all ihrer Kräfte.

Sie vermag es kaum, den Helm abzunehmen, so sehr zittern ihre Hände, doch endlich zieht sie ihn mit einem Ruck vom Kopf und offenbart das müde Gesicht einer Frau jenseits der vierzig, deren dünne, rotblonde Haare bereits die Zeichen des Alters tragen.

Kaum hat sie einen tiefen Zug von der frischen Landluft genommen, fällt sie auch schon keuchend in sich zusammen und fasst sich ans Herz. Es dauert mehrere Minuten, bis sie endlich in der Lage ist zu sprechen.

„Um Gottes Willen… Owen…“ sagt sie schwer atmend. „Bitte…! Mach… so etwas nie wieder! Ich… wäre fast gestorben vor Angst!“

Der Angesprochene hat schon lange den Helm abgenommen und ist nun darum bemüht, sein schwarzes Haar mit einem Kamm möglichst gleichmäßig über den Kopf zu verteilen. Hin und wieder wirft er dabei einen Blick zu der Pflegerin, die zwar um einiges älter ist als er, aber auch noch lange nicht zu alt, um attraktiv auf ihn zu wirken.

„Hey, gib nicht mir die Schuld, Mom!“ sagt er dabei. „Du wolltest so schnell wie möglich hier sein, also bin ich auch so schnell wie möglich gefahren. Davon wirst du schon nicht sterben!“

„Sprich nicht… so mit deiner Mutter! Du weißt doch…, dass mein Herz… das nicht mehr mitmacht!“

„Ach, du machst dich wieder einmal älter als du bist. Du könntest mir immer noch den Hintern versohlen, wie du es früher getan hast – nur leider hast du es niemals getan.“

Diese leicht enttäuschte Feststellung wird von der lauten Stimme der Schwester übertönt, die inzwischen auf die beiden Gäste zugeeilt ist.

Mit einem herzlichen Händeschütteln begrüßt sie jeden von ihnen, während sie sie gleichzeitig schon ungeduldig in Richtung des Hauptgebäudes zieht. „Guten Tag, Ms. Ryan! Hi, Owen! Sie haben Glück – Doktor Nordhoff hat gerade für eine halbe Stunde Dienst in der Viszeralchirugie. Sofern sie nicht mit der Kalibrierung der Versorgungseinheiten beschäftigt ist, können Sie sie sofort sprechen.“

„Danke, June!“ flüstert die Frau dankbar, doch zögernd fügt sie hinzu: „Du… du hast am Telefon etwas gesagt von…“ Sie schluckt heiser, wird aber von Owen unterbrochen, der kurz vor den elektronischen Glastüren stehen geblieben ist.

„Du hast gesagt, dass sie es ist,“ sagt er grimmig, „aber du musst dich geirrt haben.“

Schockiert wenden sich die beiden Frauen zu ihm um. Seine Mutter, mit Vornamen übrigens Jennifer, betrachtet ihn mit einer Mischung aus Tadel und Trotz im Blick, June hingegen lächelt ihn milde an.

„Ach, komm schon, Owen! Was redest du denn da?“

„Sie ist tot, ganz einfach!“ protestiert der Jugendliche. „Egal, wo sie dort draußen unterwegs war - den Kollaps hat sie ganz bestimmt nicht überlebt… wenn nicht einmal-“

„Genug, Owen!“ weist ihn seine Mutter zurecht. „Willst du etwa behaupten-“

Sie ist tot, kapier’s doch endlich, Mom! Sie wird nich’ unsterblich, nur weil du's dir so dringend wünscht! Sinnlos, sich da was vorzumachen! Sowas wie Wunder gibt’s nun mal nicht, egal, was Pater Marduc dazu sagt!“

Mit diesen Worten stellt er sich breitbeinig hin und verschränkt die Arme vor der Brust.

Zusammen mit seiner rotschwarzen Lederjacke sieht das ziemlich männlich aus – allerdings nur solange, bis die knapp einen Kopf größere June hinter ihn tritt und ihm lachend den Kopf tätschelt.

Der junge Bursche verzieht das Gesicht. „Hey, was soll’n das jetzt?“

„Ach, ich muss bloß daran denken, was für ein süßer kleiner Fratz du einmal warst! Ich weiß noch, wie niedlich du damals aussahst, als du noch auf Aprils Unterhosen herumgekaut hast-“

Die Wangen des Jungen verfärben sich ferkelrosa. „Bitte, June – nicht vor Mutter!

„-und dann war da noch dein fünfter Geburtstag,“ fährt die Schwester unbeeindruckt fort, „als du April und mir unbedingt zeigen wolltest, was man mit dem Euter einer Kuh anstellen kann – Dori hätte dich fast gegen das Gatter getreten-“

Schon gut, ich komme mit!

Lächelnd nimmt June ihre Hand von seinem Kopf und gibt ihm einen kurzen Kuss auf die Wange, dann nimmt sie ihn bei der Hand und führt ihn, seiner Mutter voraus, den Gang hinunter.
 

Krankenhäuser wie das ‚Hamilton’ gibt es im 23. Jhd. beinahe überall in der nördlichen Hemisphäre: sie haben weder überdurchschnittliche Todesraten, noch können sie sich über fachlich inkompetentes Personal beklagen, doch trotzdem müssen sie gegenüber den hoch technisierten Privatkliniken Afrikas und Asiens langsam aber sicher das Feld räumen.

Nach dem großen Kollaps, der vor zehn Jahren die ganze moderne Welt heimgesucht hatte, waren es diese beiden Kontinente, die die Gunst der Stunde nutzten und sich zu den technischen Hochburgen eines neuen Zeitalters aufschwangen.

‚Biotechnik’ war der Schlüssel dazu.

Die vielen Tierreservate und Naturschutzgebiete, die man über zweihundert Jahre mühevoll am Leben erhalten hatte, machten sich nun zum ersten Mal wirklich bezahlt. Im Auftrag gewaltiger Konzerne konnten die dort ansässigen Forscher ihr Fachwissen endlich in die Praxis umsetzen und Entwicklungen starten, die das Bild der Wissenschaft als .

Viele technische Errungenschaften der Informatik basierten zum Beispiel auf der Kommunikation und Interaktion in Termitenbauten; die Anatomie eines Geparden brachte neue Erkenntnisse über das Zusammenspiel von Muskeln und Knochen, die der Robotik nützlich waren; und in den wenigen verbliebenen Urwäldern Costa Ricas kamen uralte und unbekannte Pflanzenarten zum Vorschein, deren hochkomplexe Verteidigungsmechanismen Botenstoffe enthielten, die die Funktionsweise von Biocomputern grundlegend veränderten.

Der Anbruch eines neuen, freundlicheren Zeitalters schien zum Greifen nah zu sein.

Doch aus derartigen Forschungen ging auch das System des allgegenwärtigen Netzes hervor: ein Datennetzwerk, das via Biotronik jede Art von elektrischem Gerät lückenlos miteinander verband – ganz gleich, ob es sich um Computer, Roboter, um Bildschirme oder technische Kampfanzüge handelte.

Es revolutionierte die Welt der Technik auf eine Weise, wie es seit dem Internet nie mehr geschehen war. Kostenlose Upgrades und Serverdienste waren nicht mehr nur auf Computer beschränkt, und das Prinzip der absoluten Informationsfreiheit rückte näher als jemals zuvor.

Leider bemerkten die Leute viel zu spät, dass dies in erster Linie unabhängigen Strafverfolgungseinheiten wie dem EYE zugute kam - geriet man mit dem Gesetz in Konflikt, konnte man seinen derzeitigen Aufenthaltsort nicht mehr sehr lange geheim halten.

Heute haben sich die meisten Leute mit dem plötzlichen Minus in ihrer Privatsphäre mehr oder weniger abgefunden. Wer keinen Ärger sucht und für sich lebt, hat mit dem ‚EYE in the Sky’ die meiste Zeit seines Lebens über nichts zu tun.

Doch es gibt auch Menschen, die lieber auf sehr seltene, sehr teure, und dafür vom Netz unabhängige Geräte umgestiegen sind, um dem Gefühl der ständigen Beobachtung zu entgehen.

Gerade diese Beispiele an Eigensinn und Freigeist sind es, die den Behörden immer wieder Schwierigkeiten machen…
 

An diesem einen Tag im Winter betrifft jenes Problem auch die Kommunikationsofficer des Newport Police Departments, und im besonderen Maße Ronald Summers, den neuen Chefinformatiker der Netzfahndungsabteilung.

Er sitzt vor seinem neuen Fiesta 4 Future, eine Zigarette im Mundwinkel und eine Maxidose ‚Bingo!’ Cola neben seinem Stuhl lagernd. Die von Nikotin verfärbten Finger seiner linken Hand liegen nervös zuckend auf der Armlehne, während er mit dem Zeigefinger der rechten den Touchscreen berührt und immer wieder neu ausrichtet.

Seine Augenlider flattern, jedes in einem anderen Rhythmus, als er von einem Videobild zum anderen wechselt. Er ist es nicht gewohnt, so lange auf eine einzelne Datei zu starren.

Dass er es nun doch tut, liegt in einer Akte begründet, die neben ihm auf dem Tisch liegt.

Es handelt sich um einen Fall, der bereits zwölf Jahre zuvor an das NPD herangetragen worden war, nach dem Kollaps jedoch fallen gelassen wurde.

Das Eye hatte den Auftrag schon kurz nach seiner Gründung wieder reaktiviert und an die Netzfahndung übertragen. Seitdem hatten mehrere Generationen von Informatikern ihr Glück daran versucht – jede mit ihren eigenen Spezialistenteams, jede mit der neuesten Spitzentechnologie im Computerbereich.

Und alle waren sie gescheitert.

Vor gerade einmal 23 Tagen hatte Summers Mentor und direkter Vorgesetzter, der steinalte Officer Sveen, das Feld räumen müssen – „sinnlose Budgetüberschreitungen“ wurden ihm vorgeworfen, und „eklatante Mängel in der Arbeitsweise“.

In Wirklichkeit hatte Sveen lediglich die gleichen Fehler gemacht wie seine Vorgänger: er hatte mit viel Energie und noch mehr Sachverstand eine umfassende Netzfahndung eingeleitet, dafür ein volles Jahresbudget ausgegeben… und nichts gefunden.

Was Summers eigenen Karriereplänen sehr entgegenkommt.

Er weiß sehr wohl, dass er Sveen eine Menge zu verdanken hat, und dass es eigentlich unfair ist, sich über seinen vorzeitigen Ruhestand mit 95 zu freuen. Dennoch – das eigene Fortkommen ist es, was zählt, und wenn man es in der heutigen Gesellschaft zu etwas bringen will, darf man sich nicht durch unangebrachte Sentimentalität davon abhalten lassen.

Und so etwas wie Fairness sollte man erst recht vergessen.

Dieses Prinzip wendet er auch in seiner Funktion als Abteilungsleiter an. Sollen die Leute doch ruhig 16 Stunden am Tag schuften – solange sie Ergebnisse vorweisen können, fragt niemand danach.

Und tatsächlich hatte einer von seinen Leuten heute Morgen einen Treffer erzielt – woraufhin ihn Summers in seiner Geistesgegenwart auf der Stelle gefeuert hatte.

Natürlich war der Treffer reiner Zufall gewesen, es hatte weder besonders viel Raffinesse noch einer Rechengeschwindigkeit von 40 GHz dazu bedurft, ihn zu machen, aber letztendlich sollte es trotzdem Summers Verdienst sein – und nicht etwa der eines kleinen, unbedeutenden Fahndungstechnikers, wie er es mal gewesen war.

Aus dem gleichen Grund hatte er auch dem gesamten Team sofort eine zweitägige Sonderpause eingeräumt: nichts und niemand sollte es möglich sein, ihm den Ruhm streitig zu machen.

Es war zwar ein einsames Spiel - aber es lohnte sich.
 

Noch einmal wischt sich Summers den Schlaf aus den Augen, nimmt einen Schluck Cola und reckt den Hals seinem Flachbildschirm entgegen, auf dem in einem leider nicht sehr gut aufgelösten Fenster Bilder aus dem internen Sicherheitsnetzwerk des Hamilton-Hospitals angezeigt werden.

Nach dem kurzen Intermezzo im Eingangsbereich geht es für ihn nun in die Viszeralchirurgie, was ihm zwar überhaupt nichts sagt, sich aber immerhin grob in den Fachbereich der ‚Chirurgischen Klinik’ einordnen lässt.

Summers wechselt zu einem Lageplan des Gebäudes, über den er sich bequem in die einzelnen Kameras einklinken kann.

Er überprüft zunächst die Korridore im Erdgeschoss, die er parallel schaltet und beobachtet. Nach etwa drei Minuten des Wartens findet er seine Zielpersonen wieder und folgt ihnen durch einen kleinen Garten in den Haupttrakt des Gebäudes. Wiederum geht es lange Flure entlang, unzählige Wartesäle müssen durchquert werden, nur damit die Besucher schließlich, von einem Krankentransport aufgehalten, einen Umweg gehen müssen…

All diese Ärgernisse zusammengenommen machen Summers ein klein wenig ungeduldig. Er nimmt die Zigarette aus dem Mund und bläst einige Rauchringe zur Decke empor. Schon springt er weiter auf die Intensivstation, in dem Glauben, dass dort der Weg seiner Zielpersonen enden müsse.

Dann aber stellt er fest, dass die Gruppe bereits einige Türen vorher beim Büro von Dr. Nordhoff stehen geblieben ist.

Der Chefinformatiker flucht leise vor sich hin, wenn auch nicht heftig.

Egal, wo man hinkommt: der hippokratische Eid gilt nach wie vor, und die Untersuchungsräume enthalten weder Kameras, noch sind ihre Computer an das Netz angeschlossen. Vielmehr müsste Summers sich, um dort Daten abrufen zu können, direkt in das Intranet des Krankenhauses hinein hacken, was selbst bei dem relativ niedrigen technischen Niveau der Klinik keinesfalls unentdeckt bliebe.

Es hilft nichts – er muss warten, bis die Konsultation beendet ist.

Und von seinen letzten Arztbesuchen vor dreißig Jahren weiß er, dass das eine Ewigkeit dauern kann.
 

Die Diagnose, die Dr.Nordhoff für ihre Patientin bekannt gibt, ist knapp und eindeutig.

„Wasserleiche.“

Miss Ryan schnappt nach Luft. „Wasserleiche?!“

„Beziehungsweise ‚mutmaßliche’ Wasserleiche. Wir sind uns inzwischen ziemlich sicher, dass sie nicht tot ist.“

„Warum?“ fragt Owen anstelle seiner Mutter. Er klingt immer noch ziemlich kritisch, was den Grund seiner Anwesenheit betrifft.

Doktor Nordhoff bedenkt ihn mit einem kurzen, scharfen Blick über die Ränder ihrer Bügelbrille, dann greift sie nach einem Aktenordner auf ihrem Tisch, ohne weiter auf seine Frage einzugehen.

„Die fragliche Person ist eine junge Dame knapp um die dreißig… etwa 1,78 m groß, dunkelhaarig, mitteleuropäischer Typ. Eine Gruppe Pilger fand sie im Baskett Slough Wildreservat, am Gleithang eines Wasserlaufs, mit dem Gesicht nach unten in einem Schwemmbecken treibend. Als man sie hier einlieferte, hatte sie an äußeren Verletzungen eine Stichwunde unterhalb des Brustkorbs, Erfrierungen zweiten Grades an den Fingerknöcheln, den Lippen und an der Ohrmuschel sowie eine Reihe von Bisswunden-“

Jennifer Ryans Gesicht verfärbt sich weiß. „Bisswunden?

Dr. Nordhoff nickt knapp und blättert um. „Ja, im Gesicht und an den Handgelenken. Darüber hinaus mehrere Bissversuche an der Kleidung, allerdings recht schnell wieder aufgegeben. Die Form der Wundränder und die Art der Zerfleischung sind charakteristisch für Piranha-Überfälle, allerdings waren die Zähne in diesem Fall deutlich läng-“

Wieder runzelt Owen die Stirn. Wie eine Dampfwalze schießt sein Kopf vor und schaut über den Rand der Mappe auf das Infoblatt. „Piranhas?“ höhnt er. „In Baskett Slough? Sie spinnen ja wohl, Wir waren dort sogar schonmal baden, da gibt’s keine Piranhas! Wie soll’n die überhaupt hinein gekommen sein?“

„Nun, vielleicht durch einen Dumme-Jungen-Streich!“ entgegnet die Doktorin verärgert und zieht ihm die Mappe vor der Nase weg, wobei sie ihm die Plastikhülle ganz bewusst um die Ohren schlägt. Ihre Stimme wird eine Oktave höher. „Straßenkinder kaufen oder stehlen sie sich aus der Tierhandlung, und sobald der erste Finger fehlt, werden die Fische in der nächsten Kanalisation ‚entsorgt’. Oder sie benutzen sie für eine Mutprobe, Sie wissen schon – irgendetwas Dummes und Verantwortungsloses, das möglichst vielen anderen Leuten schadet! Das ist jedoch nicht das Problem!“ erklärt sie energisch und tritt, noch immer in ihre Mappe vertieft, an den Bildschirm, „Tatsächlich scheint die Patientin ihre Verletzungen nicht direkt am Fundort erhalten zu haben. Eine Untersuchung der Pflanzenreste in ihrer Kleidung und der Bluttemperatur sprechen dafür, dass sie zuvor bereits längere Zeit in einem anderen Gewässer verbracht haben muss, wo ihr mutmaßlich jene Bisswunden zugefügt wurden, von denen wir eben sprachen. Was uns jedoch immer noch Rätsel aufgibt“ - sie zieht einen kleinen CCD-Sensor aus einer Seitentasche des Ordners hervor - „ist das hier!“

Sie schiebt den Sensor in eine Schnittstelle rechts neben dem Bildschirm. Circa eine Minute später hat sich eine Röntgenaufnahme aufgebaut, die Hals und Unterkiefer einer Frau zeigt. Deutlich sind die Halswirbel und der Kehlkopf zu erkennen, dazu das winzige Zungenbein unter dem Kiefer und die zwei klar getrennten Bereiche von Speiseröhre und Luftröhre.

Dann aber verschiebt Dr. Nordhoff das Bild nach unten und ein Fremdkörper erscheint – ein Schemen, so leuchtend hell und scharf abgegrenzt wie der eines Knochen.

Erst nach einer Abdunkelung über das Bildprogramm sind auch innerhalb des Fremdkörpers Variationen zu unterscheiden.

„Was ist das?“ fragt Miss Ryan verzweifelt, und auch ihr Sohn ist diesmal nicht imstande, eine schlaue Antwort zu geben. Beide schauen sie gebannt auf den Bildschirm.

„Ist das so was wie’ne Krabbe?“ bringt Owen schließlich zögernd vor.

„Voraussichtlich nicht!“ entgegnet Dr. Nordhoff zögernd. „Laut einer zoologischen Expertise ist es organisch und ähnelt im Körperbau sowohl einer Koralle als auch einem Polypen. Aber was es wirklich ist, vermögen wir nicht zu sagen! Bei einer ersten Röntgenuntersuchung, die wir kurz nach der Einlieferung durchführten, war dieser Teil des Halses fast bis zum Rand voll mit Wasser. Allerdings – und das ist es, was unerklärlich bleibt - schien das ihrem Organismus gar nichts auszumachen - sie atmete einfach weiter.“

Die Doktorin schweigt einen Augenblick, kramt gedankenverloren in ihren Unterlagen.

Diesen Moment nutzt Owen, eine vorsichtige Vermutung loszuwerden: „Meinen Sie… dieses Ding ist vielleicht der Grund dafür, oder?“

Ein zerknirschtes Nicken ist die Antwort. „Wir konnten bis heute nicht feststellen, wie das möglich ist. Nun, wie Sie hier sehen können,“ fährt Dr. Nordhoff mit Blick auf den Bildschirm fort, „ist der Fremdkörper bereits vollständig mit dem umgebenden Gewebe verbunden. Und nachdem sich erwiesen hatte, dass dieses Ding wohl keinen bleibenden Schaden hinterlassen würde, hielten wir es für unnötig gefährlich, einen Luftröhrenschnitt anzusetzen.

Soweit also zu den äußeren Verletzungen. Die inneren betreffen vor allen Dingen die Nachwirkungen der Stichwunde: beschädigt wurden unter anderem ein Abschnitt des Zwölffingerdarms, der Boden der Gallenblase und ein großer Teil der Leber, ferner auch Teile der Bauchspeicheldrüse und ein Stück des Dickdarms – eigentlich ein Wunder, dass wir das alles wieder heil gekriegt haben. Es war auf jeden Fall nicht billig.“

Mit diesen Worten knallt Dr. Nordhoff den Ordner auf den Tisch, um ihre Besucher, deren Blick während des Vortrags recht abwesend geworden ist, zu vollster Aufmerksamkeit zu zwingen.

„Um ganz ehrlich zu sein,“ fährt sie fort, „die Kosten dieser Maßnahmen haben den amtlichen Lebensrettungsetat für einen einzelnen Patienten bereits weit überschritten, und ich würde gerne heute mit der Gewissheit zu Bett gehen, dass irgendeine Versicherung für die Behandlung dieses jungen Fräuleins zahlt. Das ist der einzige Grund, weshalb wir Sie angerufen haben. Miss Fellea hier“, sie deutet auf June, „ behauptet, dass Sie beide mit der fraglichen Patientin verwandt seien, und um ehrlich zu sein, bin ich noch nicht geneigt, ihr das zu glauben. Darum muss ich Sie in Rücksicht auf die ärztliche Schweigepflicht bitten, diese Informationen für sich zu behalten, gesetzt den Fall, dass es sich bei dem Fräulein nicht um Ihre verschollene Tochter handeln sollte. Sind Sie damit einverstanden?“

Dieser Ansage folgt ein langes Schweigen, das von nicht viel mehr durchbrochen wird als dem nervösen Haarekämmen Owens und dem Händeringen seiner Mutter.

Ungeduldig holt Dr. Nordhoff ein Formular und einen Stift aus ihrem Schreibtisch und legt es ihnen vor die Augen. Dann schickt sie June mit einer schroffen Geste hinaus und wartet.

Als sich nach zwei Minuten des Überlegens immer noch keine Entscheidung auf den Gesichtern der Besucher abzeichnet, schaltet die Doktorin ihren Bildschirm ab, packt den Sensor zurück in seine Mappe und stellt diese mit einem lauten Knall zurück an ihren Platz im Regal.

Die Endgültigkeit dieser Handlung zeigt Wirkung: endlich nimmt Jennifer Ryan den Kugelschreiber in die Hand, wartet noch einen Moment… und unterschreibt dann mit fest zusammengepressten Lippen.

Sie reicht den Stift erleichtert an ihren Sohn weiter, der sich eigentlich ein anderes Ergebnis erhofft hat und finster vor sich hinbrütet.

Doch nach einigem Zögern unterschreibt auch er.
 

Summers hat in der Zwischenzeit genug Zeit gefunden, seine schal gewordene Cola weg zu schütten und sich stattdessen lieber einen Kaffee zu holen.

Die Brühe schmeckt zwar wie aufgewärmtes Abwaschwasser, aber immerhin hält sie die Sinne wach und klebt die Zunge nicht so am Gaumen fest.

Als sich Summers wieder auf seinen Computerstuhl fallen lässt, verlassen seine Zielobjekte auf dem Bildschirm gerade den Sichtbereich der Kamera, und er kann ihrem Weg gerade noch folgen.

Mit einer Anspannung in den Fingern, wie er sie seit den Tagen seiner Eignungsprüfung nicht mehr hatte, klickt er nacheinander die Bildschirme weg, bis er die Gruppe endlich auf Überwachungsstation J2 wieder findet.

Als Erste durchschreitet Dr. Nordhoff die Schwingtür, während Ms. Ryan zuerst tief Luft holen muss, bevor sie sich von ihrem Sohn in den Saal führen lässt.

Auch Summers atmet noch einmal keuchend aus und bläst dabei eine Wolke aus Nikotin und Oregano in die Luft. Dann schaltet er ungeduldig auf die Aufnahmegeräte im Stationsinneren um und aktiviert die Bildschirmkamera, die das weitere Geschehen mitschneiden wird.

Zeitgleich öffnen sich vier Fenster: zwei zeigen leere Betten, eines das Gesicht eines großen, blass aussehenden Mannes mit gewelltem Haar… und das Vierte eine junge Frau, die im gleichen Alter wie June sein müsste.

Ihre Augen sind geschlossen, aber ihr mit rosa Salben eingestrichener Mund steht immer noch offen, wie an dem Tag, an dem sie gefunden wurde. Das ganze kühle, sanfte Gesicht ist mit großen Flecken übersät, die teils die Farbe von Veilchen angenommen haben, und die Aorta an ihrem Hals schlägt nur minimal.

Die Ähnlichkeit mit dem Foto in seinen Akten ist unbestreitbar, nur die Haare sind ein wenig länger.

Allerdings dürfte die bloße Ähnlichkeit wohl nicht ausreichen, um Summers Chief-Inspektor zufrieden zu stellen, zumal das Bild - trotz der höchstmöglichen Auflösung - nicht besonders scharf ist.

Was zum Teufel nützen auch moderne Rechner, wenn die Krankenhauskameras veraltet sind?

Dann jedoch kommt Summers ein anderer Gedanke. Er schließt eines der Fenster und öffnet ein anderes: eine Hilfskamera im Bettkasten, die normalerweise die Bewegungen der Schwestern überwacht.

Damit hat er einen guten Blick auf die Miene der älteren Dame, die gerade von June lächelnd neben das Krankenbett gewunken wird.
 

„Treten Sie nur näher, Ms. Ryan!“

Es ist sichtlich schwierig für die Angesprochene, dieser Aufforderung nachzukommen. Obwohl sie folgsam einen Fuß vor den anderen setzt und schließlich sogar vor dem Bett stehen bleibt, kann sie sich nicht dazu durchringen, ihrer Tochter ins Gesicht zu schauen. Hilfe suchend blickt sie sich nach ihrem Sohn um.

Doch dieser hat sich dem Bett in der Zwischenzeit von der anderen Seite genähert. Sein trotziges Antlitz ist genauso ohne Regung wie das der Patientin.

„Das ist sie also.“

Mehr sagt er nicht. Es klingt schroff und trocken und erinnert sehr an seinen Vater.

Der Gedanke an ihren Mann verstört Jennifer Ryan zutiefst.

Aber schlussendlich bewegt gerade das sie dazu, doch noch den Blick zu senken und auf das missgestaltete Äußere des Mädchens zu blicken.

Mit einem Schluchzer der Erlösung streckt sie die Hand nach dem dunklen Haaransatz ihrer Tochter aus: „…April… Liebling…“

Ihre Finger berühren die Stirn.

Ihr Handteller schiebt sich über die Augenbrauen.

Und in dem Augenblick, da sie glaubt, alles, was sie die letzten zehn Jahre an Sorgen ausbaden musste, überstanden zu haben, beginnt der Alptraum von neuem.

Auf einmal geht ein Ruck durch den Hals der jungen Frau.

Die Umstehenden weichen zurück.

Eine Schrecksekunde vergeht, dann wiederholt sich das Zucken noch einmal. Es beschränkt sich jedoch nicht mehr nur auf den Hals, sondern erfasst den ganzen Oberkörper in einem epileptisch anmutenden Anfall.

Der Hinterkopf des Mädchens wird tief in die Kissen gedrückt, während ihre Halsschlagader sich der Decke entgegenreckt, so scharf hervorgehoben, als wäre sie aus massivem Stein gemeißelt.

Unmenschliche Laute dringen aus ihrer Kehle, einmal schrill und krächzend wie Vogelkreischen, ein andres Mal dunkel und tief, gleich dem Gesang des legendären Buckelwals. Dazu kommen noch die durchdringenden Pfeiftöne der EKG-Geräte, die plötzlich beginnen, verrückt zu spielen.

Währenddessen eilen die anwesenden Schwestern in Alarmbereitschaft durchs Zimmer, vorbei an den Ryans und einer seltsam gefassten Dr. Nordhoff, die im Vertrauen auf ihre Gehilfinnen die Patientin beobachtet und nur knappe Anweisungen gibt.

June greift nach einer der Beruhigungsspritzen in den Notfallschubladen, während ihre Kollegin Sylia Kalenko verwirrt die Kurven des Kardiogramms begutachtet.

„Doktor, die… die Herz-Kreislauf-Funktionen… da kann doch irgendwas nicht richtig sein.“

Die Ärztin tritt mit sachlichem Schritt neben sie und gibt Schwester Fallea, die neben ihr bereits den Arm fixiert und die Nadel angesetzt hat, ein beiläufiges Zeichen, damit noch zu warten.

„Interessant,“ flüstert sie dann, den Blick fest auf das EKG gerichtet.

Für einige Minuten schweigt sie, ignoriert sogar das tierische Geschrei ihrer Patientin, das ungehindert weitergeht und die gutmütige Jennifer Ryan in Angst und Schrecken versetzt.

In Gedanken sagt sie immer wieder den Sermon auf, den man ihr als Kind beigebracht hat: „Der Onkel Doktor weiß, was er tut! Der Onkel Doktor weiß, was er tut!“

Aber die leeren Worte schaffen es nicht, ihre Furcht zu lindern – eher schüren sie sie noch. Immer wieder sieht sie ihre kranke Tochter im Delirium kämpfen. Immer wieder spürt sie die Hilflosigkeit der Träumenden und vollzieht sie nach. Und immer wieder sieht sie ihr eigenes Mitleid im Nichtstun versanden. Selbst ihr Sohn, der ihr in der Zwischenzeit wieder pflichtschuldig zur Seite geeilt ist, spendet mit seiner Umarmung keinen dauerhaften Trost.

Letztendlich passiert es wohl eher durch Zufall als durch feste Absicht:

in einem Anfall absoluter Disziplinlosigkeit, wie sie ihn bis jetzt noch nie an sich erlebt hat, stößt sie sich ab, trudelt für einen Moment in der grausamen, lärmenden Wirklichkeit… und schafft es dann, sich auf den Hocker neben dem Bett zu setzen und die wild zuckende Hand ihrer Tochter zu ergreifen.

Mehrere Male entwindet sich diese ihrem tastenden Griff, doch schließlich bekommt die ältere Frau sie zu fassen und drückt sie in die weichen Laken zurück.

Die widerstrebende Gliedmaße erstarrt augenblicklich unter der Berührung, und auch der Rest des Körpers folgt diesem Beispiel.

Eine Sekunde lang liegt alles in der Schwebe... dann entspannt sich die Patientin.

Schon bald ertönen die Lebenszeichen wieder in ihrem alten, regelmäßigen Rhythmus, und der Mund des Mädchens schließt sich mit einem kaum vernehmbaren Seufzer.

Erleichtert und eingeschüchtert zugleich sinkt Jennifer Ryan auf dem Krankenhocker in sich zusammen. Ihre Wangen sind im Vergleich zu vorher noch ein wenig eingefallener, trotzdem geht es ihr in mancher Hinsicht besser als jemals zuvor.

„Ist… ist sie in Ordnung, Doktor?“ fragt sie zögernd.

Die Angesprochene reagiert nicht.

„Man hat Ihnen eine Frage gestellt!“ hakt Owen nach, den die sture Eigenbrötlerei der Ärztin allmählich wirklich zur Weißglut treibt.

Trotz des zynischen Untertones in seiner Stimme lässt sich die Doktorin noch ein wenig Bedenkzeit. Dann sagt sie, an die Pflegerinnen gewandt: „Miss Kalenko, bereiten Sie alles für eine weitere Röntgenuntersuchung vor! Miss Fallea, ich brauche ein Notfallprotokoll, Nummer 07973-A. Und geben Sie im Sekretariat Bescheid, dass ich alle Konsultationen für heute absage!“ Sie wirft einen kurzen, unergründlichen Blick auf ihre Gäste. „Und bringen Sie bei der Gelegenheit drei Tassen Kaffee mit!“

„Oh ja, Kaffee…“

Dieser Satz, an sich ganz unschuldig, kommt nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, von Owen. Auch nicht von June oder von Schwester Kalenko, die den Raum sowieso bereits verlassen hat.

Er kommt von einer ganz anderen Quelle, getragen von einer klangvollen, emotionalen Stimme, die momentan noch von den Nachwirkungen eines Komas gezeichnet ist.

Vier Augenpaare schauen auf das Bett Nummer Vier und beobachten, wie eine mit Erfrierungen und Blasen gespickte Frau sich in ihrem Bett aufsetzt und die Arme nach oben streckt, um sie dann mit einem tadellosen Kreisen ihrer Schultern wieder zu senken – alles so vollkommen flink und geschmeidig, als wäre sie nach einem kurzen Nickerchen aufgewacht.

Noch etwas schlaftrunken öffnet sie die Augen, blinzelt versuchsweise die Person an, die ihr gerade gegenübersteht, was in diesem Fall Owen ist.

Der scheint sich in diesem Augenblick nicht ganz sicher zu sein, ob er lachen oder schreien soll.

Um genau zu sein, ringt sein Gesicht darum, überhaupt noch irgendeine Form von Gefühlen auszudrücken.

„A-april,“ stottert er und wirkt dabei wieder wie das kleine Kind, das beim Kauen von Unterwäsche erwischt wird.

Eigentlich hat er keinen Grund dazu, denn der Blick, den ihm seine Schwester zuwirft, ist selbst bei großzügigster Auslegung nicht wiedererkennend. Lebendig zwar, und interessiert wohl auch, aber nicht wiedererkennend.

„Was soll das heißen? Warte - ist es grade April? Meinst du das damit?“

Verwirrung auf beiden Seiten.

„Was ist?“ fragt April ungeduldig weiter. „Ich bin aus dem Koma aufgewacht und frage nach dem Monat. Was ist daran so außergewöhnlich? Ich hätte auch gleich nach dem Jahr fragen können, aber so lange muss es ja nun auch nicht gedauert haben! Wir haben doch noch 2209, oder?“

Diese Frage erschüttert selbst die erfahrene Doktor Nordhoff, die nun zum ersten Mal einen Anflug von Unsicherheit erkennen lässt. „Sie befinden sich im Jahr 2219,“ erklärt sie langsam, ihre Worte mit übertriebenen Gesten unterbreitend. „Wir haben Sie erst vor zwei Wochen gefunden, Sie waren schwer verletzt. Ihre Mutter und ihr Bruder sind hier, um Sie zu identifizieren, sehen Sie?“

Das junge Mädchen blinzelt nur und zieht eine Augenbraue hoch. Ganz offensichtlich hält sie die ältere Dame vor sich für ein wenig bescheuert.

Dr. Nordhoff beginnt in der Tat ein bisschen die Nerven zu verlieren. „Wer wurde 2198 Präsident? Der Vereinigten Staaten, meine ich!“

‚Ganz klar, ich bin in der Klapse gelandet,’ mag sich April denken. Laut sagt sie: „Moment! Das war… Sam Folkhorn! Die erste Frau, die jemals ins Weiße Haus kam, ohne First Lady zu sein. Aber das machte nichts, weil sie lesbisch war. Sechs Monate später wurde sie von Auftragskillern nach einer Friedenskonferenz ermordet. Aber was sollen diese Fragen eigentlich?“

Darauf erwidert die Doktorin nichts mehr. Seufzend zieht sie die Stirn kraus und schreitet laut „…bitte nicht, bitte nicht…“ murmelnd zur Tür hinaus.

June, Owen und seine Mutter bleiben dagegen wie versteinert stehen. Auch sie werden von April mit diesem seltsamen, vernichtenden Blick bedacht.

„Also, was ist jetzt mit Kaffee? Ich nehme auch Bingo! Cola, wenn das das Einzige ist, was man auf diesem gottverdammten Planeten noch zu trinken bekommt.“
 

Quellen:

http://de.wikipedia.org/wiki/Baskett_Slough_National_Wildlife_Refuge

http://www.uni-bielefeld.de/psychologie/ae/AE14/ALLGEMEINES/Aktuelles.htm



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