Zum Inhalt der Seite

Götterwelten

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Amor und Petrus

-Teil I: Searching-
 

„Amor!“

Der Gott der Liebe blickte auf. Die Stimme desjenigen, der da gerufen hatte, sagte ihm nichts und das Gesicht half ihm auch nicht wesentlich weiter. Eine blasse Erinnerung keimte in ihm auf. Aber es dauerte eine Weile bis er tatsächlich zu wissen glaubte, wen er da vor sich hatte. Die griechischen Götter hatten einfach zu viele ihrer Helden in den Götterstand erhoben. Wenn er sich nicht irrte musste der, der da auf ihn zugelaufen kam, Theseus sein. Das war ungewöhnlich. Soweit Amor sich erinnerte waren sie einander nur höchst selten begegnet und miteinander gesprochen hatten sie – abgesehen von gelegentlichem respektvollen Grüßen – eigentlich auch nicht. Was also mochte er, was also konnte er jetzt von ihm wollen? Als er schließlich vor ihm stand, holte er erst ein paar Mal tief Luft – er war ganz offensichtlich außer Atem. „Endlich habe ich dich gefunden!“

Es schien wichtig zu sein. „Sag, hast du Petrus irgendwo gesehen?“

Tiefschlag. Glücklicher Weise hatte er lange genug Zeit gehabt, um mit sich und der Situation zumindest einigermaßen ins Reine zu kommen. Es störte ihn nicht, oder vielmehr nicht mehr, darauf angesprochen zu werden. Allerdings verstand er mit jedem Mal besser, weshalb der Wetterpatron die anderen Götter mied. Ihre Unsensibilität konnte einen wirklich in den Wahnsinn treiben. In jedem Fall aber verursachte sie unnötiges Leid. „Nein, tut mir leid“, antwortete er ehrlich und schien den Anderen damit ebenso ehrlich zu entmutigen. Und offenbar noch mehr als das zu schockieren. „Warum fragst du?“, erkundigte sich der junge Gott und beinahe augenblicklich fand der Held seine Sprache wieder. „Petrus ist fort. Wir haben ihn schon überall gesucht, aber er ist wie vom Erdboden verschluckt.“

Amor war ehrlich verblüfft. Er und der Wetterpatron hatten schon seit Wochen nicht mehr miteinander gesprochen, aber von seinem Verschwinden hatte er nichts gewusst. „Wie lange ist er denn schon fort?“

„Etwa eine Woche. Zumindest hat ihn seitdem niemand mehr gesehen. Du bist sonst immer mit ihm zusammen, daher hatten wir gehofft...“

Wir. Damit war dann wohl die ganze Sippschaft der Götter gemeint. Dass sie sich an ihn gewandt hatten, machte ihn ein klein wenig glücklich. Ließ Wärme in ihm aufsteigen, wie sie es immer tat, wenn das Gespräch auf die Beziehung zwischen Petrus und ihm kam. Doch zugleich drohte es ihn in einen schier bodenlosen Abgrund zu stürzen. Denn nichts hätte ihre Distanz deutlicher machen, sie trefflicher anzeigen können als die Tatsache, dass er nicht wusste, wo sich der Wetterpatron aufhielt. Hilflosigkeit und Trauer drohten erneut seine Seele zu überwältigen und mit ihnen kamen Trotz und Wut. Was wollten diese Egomanen denn nun schon wieder von dem Witterungsbeauftragten? „Gibt es denn irgendein Problem?“, erkundigte er sich höflich, während er den Zorn in seinem Inneren zu besänftigen suchte. Theseus zögerte, als müsse er über die Antwort erst nachdenken, dann schüttelte er den Kopf. „Soweit ich weiß nicht.“

Amor lächelte und zog mit einem Ausdruck zwischen Mitleid und Zweifel eine Braue hoch. „Dann wollen sie ihn also wiederhaben, weil sie sich langweilen?“

Der Held wusste offensichtlich worauf er hinauswollte, war aber viel zu sehr damit beschäftigt rot zu werden. Innerlich seufzte der Liebesgott. Es war ja durchaus schmeichelhaft, eine solche Wirkung auf andere ausüben zu können und er war froh diese Fähigkeit noch immer zu besitzen. Nur hätte er sich gewünscht, dass sie, vor allen anderen, auch bei Petrus eine ähnliche Reaktion ausgelöst hätte. So schön es war, dass sie – zumindest verhältnismäßig – unbefangen miteinander umgehen konnten, so war es doch kein Ersatz für das, was der junge Gott sich wirklich wünschte. „Nun ja“, Theseus war offensichtlich bemüht die Sache aufzuklären beziehungsweise richtig zu stellen. „Es gibt zwar noch eine ganze Reihe anderer Geister und Götter der Naturgewalten, aber wie du weißt sind sie nicht gerade...zuverlässig.“

Amor schwankte zwischen einem Kichern und einem wissenden Seufzen. In jedem Falle musste er den Anderen beglückwünschen. Er hatte das noch sehr freundlich ausgedrückt. Im Gegensatz zu den meisten Himmelsbewohnern schien er tatsächlich zumindest einen Anflug dessen zu besitzen, was man als diplomatisches Geschick hätte beschreiben können. Allerdings schien er ihn damit in Erklärungsnöte, zumindest aber in Verlegenheit gebracht zu haben. Und das hatte er wirklich nicht gewollt. „Noch verhalten sie sich ruhig und solange Hermes andere Interessen verfolgt und sich die nordischen Götter gegen ein Kräftemessen entscheiden, besteht auch keine unmittelbare Gefahr, aber...“

„Aber sie wollen ihn trotzdem zurückhaben.“

Der Held nickte. Amor seufzte. Sie wussten es also. Wussten, dass die anderen Götter Petrus nicht zu ersetzen vermochten, genauso wie sie wussten, dass sie ihn andauernd bei seiner Arbeit störten. Und trotz alledem lag ihnen nichts ferner als ihm zu helfen. Wirklich, in solchen Momenten schämte er sich direkt einer von ihnen zu sein. Sie waren wirklich ein ganz reizendes Völkchen! Wenn er sich richtig erinnerte nannten die Menschen so etwas Kotzbrocken. Ein wirklich faszinierender Zweig der Evolution. Ein bisschen vulgär vielleicht, in manchen Dingen einfach unbelehrbar und mit eindeutig zerstörerischen, auch selbstzerstörerischen Tendenzen, aber im Allgemeinen ganz hübsch anzusehen. Er konnte nicht leugnen, dass er eine gewisse Schwäche für die Sterblichen hatte. Aber darum ging es jetzt nicht. „Ich weiß wirklich nicht wo er ist, aber wenn ihr den Himmel bereits abgesucht habt, dann gibt es nicht mehr so viele Möglichkeiten wo er sich aufhalten kann und ich bezweifle, dass es ihn in die Unterwelt verschlagen hat. Er ist kein Gott wie du weißt und davon einmal abgesehen, schien er mir nie übermäßiges Interesse an ihren Bewohnern gehabt zu haben.“

Wie auch an mir, dachte er niedergeschlagen, vermied jedoch es auszusprechen. Tatsächlich konnte man nicht wirklich sicher sein. Anders als den meisten der Himmelsbewohner fehlte Petrus das, was man – Amor war der Begriff stets aufs neue peinlich – eine göttliche Aura nannte. Sie ermöglichte es, sofern sie nicht absichtlich unterdrückt wurde, jeden einzelnen Gott, wo auch immer er sich gerade aufhalten mochte, ausfindig zu machen. Da dies bei Petrus nicht der Fall war, fiel es bei ihm deutlich schwerer. Das war auch einer der Gründe dafür, warum er des Öfteren übersehen wurde. Sie diente für gewöhnlich als Orientierung und da er sie nicht besaß, ging diese Funktion bei ihm unweigerlich verloren. Übersetzt hieß das: Um ihn zu finden, musste man ihn schon finden wollen. Ein halbherziger Versuch brachte einen nur unwesentlich weiter. „Du meinst also, er ist auf der Erde?“

Amor schenkte ihm, fast gewohnheitsmäßig, ein umwerfendes Lächeln. „Ich kann mir nicht vorstellen wo er sonst sein könnte.“

Trotz dieser eigentlich positiven Nachricht schien Theseus nicht wirklich glücklich zu sein. Irgendetwas beschäftigte ihn. „Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?“, fragte der Liebesgott freundlich, ahnte er doch schon, was nun folgen würde. Doch der Held tat sich schwer damit es auszusprechen. Er zögerte und es kostete ihn sichtlich Überwindung ihm die Sache näher zu erläutern. „Sag, Amor, könntest du nicht... würdest du vielleicht...“

Er war der Gott der Liebe. Wie hätte er also die Qualen eines Anderen übersehen können? „Ich soll auf der Erde nach ihm suchen, nicht wahr?, fragte er sanft und nach einem kurzen Moment der Überraschung nickte Theseus. Amor seufzte. Sie hätten es genauso gut selbst tun können. Aber wozu, wenn man seine Leute, wenn man Laufburschen zu seiner Verfügung hatte. „Ist in Ordnung. Ich werde mich darum kümmern.“
 

Während er durch die menschenüberfüllten Straßen ging, erinnerte er sich an das Gespräch mit Theseus. Das war jetzt eine knappe Woche her und in dieser Zeit hatte er feststellen müssen, dass es reine Glückssache war, ob er Petrus nun fand oder nicht. Europa. Das war sein Anhaltspunkt. In Relation zu Himmels-, Erden- und Totenreich war das durchaus nicht schlecht, aber genau betrachtet war Europa eben doch recht umfangreich. Besonders wenn man jemanden suchte, der offensichtlich nicht gefunden werden wollte. Ein paar Mal hatte er seine Präsenz gespürt, war das, woran er ihn erkannte, wie ein Nebelhauch an ihm vorübergezogen und in der Menge verschwunden. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen wo er sich befand. Und wenn er es schon von sich selbst nicht sagen konnte, wie wollte er dann einen Verschollenen finden? Aber so war es nun einmal. Mochten die Menschen auch noch so stolz auf ihre Ländervereinigungspolitik sein, genauer betrachtet war es eine Katastrophe. Von oben, von sehr weit oben betrachtet, waren die Kontinente noch immer hoffnungslos zerstückelt. Es war direkt brutal. Und schrecklich unübersichtlich. Denn leider waren, anders als auf den modellhaften Globen, eben keine Namen aufgedruckt und wenn man in Eile darüber hinweg flog und Kollisionen mit Flugzeugen und zudem das ständige mit sich Tragen einer Karte vermeiden wollte, dann konnte es schon mal vorkommen, dass man das eine oder andere Ortsschild übersah. Wenn er raten sollte: Er befand sich wohl irgendwo zwischen Deutschland und Russland. Jedenfalls war es kalt und regnerisch. Als Gott spürte er die Kälte kaum, zog aber instinktiv den schwarzen Mantel mit dem weichen Fellbesatz enger um sich. Er fiel unweigerlich auf. Aber anders als Zeus konnte er nicht beliebig die Gestalt wechseln. Eine Friedenstaube wäre wohl, zumindest theoretisch möglich gewesen, aber das wäre wohl nur eine unwesentliche Verbesserung gewesen. Es war Ende November, nein eher schon Dezember, doch die Weihnachtsstimmung der Menschen wurde durch den düsteren, wolkenverhangenen Himmel ganz unverkennbar getrübt. So wie das Grollen des Himmels war auch das Sprechen der Menschen nur als unterschwelliges Gemurmel zu vernehmen. Viele waren in Cafés und Kaufhäuser ausgewichen, dennoch waren die Gehwege reich bevölkert. Man sah einander kaum an. Die Köpfe gesenkt, die Schultern hochgezogen, eilten, drängelten und schubsten sie die Straße entlang, verschwanden in Häusereingängen und traten wenig später wieder hervor. Er fiel auf und nicht alle Blicke waren freundlicher Natur. Er kannte sie gut, diese Blicke. Er verabscheute sie nicht, wie hätte er, aber sie schmerzten ihn. Blicke die nur das sahen, was sie sehen wollten. Einen, ihren eigenen Gedanken, wenigstens aber denen ihrer Vorfahren entsprungenen, vollendeten Körper. Ein Blick der so oberflächlich war, dass er auch einer Hure hätte gewidmet sein können. Und so fühlte er sich auch, wenn sie ihn so ansahen. Ein anderes Gefühl schlich sich ganz plötzlich in sein Bewusstsein. Seine Füße stellten das Laufen ein, noch bevor sein Geist begriff weshalb das so war und noch bevor seine Augen ihm sagten, was sie da sahen. Petrus. Kaum fünf Meter von ihm entfernt, die gebeugte Menge in seiner aufrechten Haltung um fast einen Kopf überragend. Es schien, als teile sich die Menge vor ihm und gab so den Blick auf ihn frei. Und jetzt, inmitten dieser Menschen, Menschen, die ihm so ähnlich waren, denen er so ähnlich war, wurde sie unweigerlich sichtbar. Gerade weil er sich in nichts von ihnen zu unterscheiden schien, wurde sie nur umso deutlicher. Seine Aura. Keiner der lächerlichen Menschen die ihn umgaben besaß auch nur annähernd etwas Vergleichbares. Ein sanftes Leuchten, das unweigerlich das Herz desjenigen rührte, der seiner gewahr wurde. Amor spürte ein unglaubliches Glücksgefühl in sich aufsteigen. Doch sein Lächeln blieb unerwidert. Der Wetterpatron lächelte nicht. Noch bevor er ausdruckslos wirkte war sein Blick von Unwillen, möglicher Weise sogar Wut gezeichnet. Ein Blick der nicht nur sein Äußeres, die Oberfläche seiner selbst bedachte. Ein Blick, als wolle er seine Seele erdolchen. Kaum, dass der Glanz des Wiedererkennens in seine Augen trat. Er wusste es wohl, doch schien es ihn nicht zu berühren. Genausogut hätte er ein lästiges Insekt vor sich haben können. Doch noch setzten Schmerz und Trauer ob dieser Degradierung nicht ein. Noch war es nicht wichtig, war nur eine Sache entscheidend: Er hatte Petrus gefunden.
 

- Teil II: Streit -
 

Er hätte ihn wiedererkannt. Ganz gleich was er trug, ganz gleich wie er sein Äußeres verändert hatte. Das Schwarz seiner Haare war feurigem Rot gewichen, das ursprüngliche Blau seiner Augen hatte sich in sprühendes Gold verwandelt. Und ganz gleich wie er sich fühlte, welcher Stimmung er war und wie sehr er ihm auch zürnen mochte. Sein Verstand mochte es leugnen, sein Körper konnte und wollte es nicht tun. Er war unüberhörbar, der Takt seines Herzens, sein kräftiger Klang, als es ihm, dem jungen Gott, entgegen schlug. Er hätte es sich herausreißen mögen, doch fürchtete er er täte es nur, um es ihm ganz und gar zu überlassen. Er mochte sich dagegen wehren so viel er wollte, es gehörte nicht mehr nur ihm selbst. Es lag nicht länger in seiner Macht es zu verschenken. Denn längst schon war es ihm gestohlen worden. Doch blieb die Frage, was der unwissende kleine Götterknabe damit anzufangen gedachte.

Mit jeder Sekunde die sie einander ansahen, sich länger gegenüber standen, sank Amors Mut und wich das Lächeln von seinem Gesicht. Nicht ein Anflug von Freude fand sich auf den Zügen des Wetterpatrons – im Gegenteil. Es hatte zu regnen begonnen. Langsam ließ der junge Gott zuerst den Blick und schließlich den Kopf sinken. Er hatte sie durchaus bemerkt, die Frau an seiner Seite. Blicke wie den ihren kannte er gut – nur allzu gut. Das Herz wurde ihm schwer. War Petrus deshalb fortgegangen? Ein Mann mittleren Alters prallte gegen ihn und Amor strauchelte. Plötzlich stand ein Mensch vor ihm, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Als Gott besaß er sowohl die Fähigkeit alle Sprachen zu verstehen, wie auch sie zu sprechen. Dennoch war nicht ganz eindeutig, was der Unbekannte von ihm wollte. Modell, Schauspieler, Karriere. Ein Filmemacher? Ein Produzent? Der Blick des Liebesgottes huschte auf der Suche nach dem Wetterpatron über die Menge. Offenbar hatte er den eifrig auf ihn einredenden Mann damit verletzt, denn dieser packte ihn plötzlich grob bei den Schultern und versuchte seine Blicke durch den seinen zu fesseln. Für einen Moment hob der Fremde den Kopf – und erstarrte. Gerade wollte er sich nach dem Anlass dafür umsehen, als er grob am Arm gepackt und zurückgezogen wurde. Als er aufblickte, sah er in die flammenden Augen des Witterungsbeauftragten. Der seltsame Mann nahm, sobald er wieder bewegungsfähig war, schleunigst reißaus. Doch Amor hatte keine Zeit sich über die Hilfe des Anderen zu wundern oder gar dafür zu bedanken. Ganz offensichtlich wütend zerrte er ihn hinter sich her. „Was zum Teufel tust du hier?“, herrschte er ihn an, jedoch ohne sich die Mühe zu machen sich ihm zuzuwenden. Er musste die Tränen zurückhalten. Es tat ihm weh, ER tat ihm weh. Was hatte er denn getan? Was glaubte er denn wer er war? Er legte ja sonst keinen Wert darauf, aber immerhin war er ein Gott! Und das war etwas, was Petrus beim besten Willen nicht von sich behaupten konnte. Er war so wütend. „Du tust mir weh!“, schrie er ihn an und riss sich im selben Moment los. Zornig blitzte er ihn an und für einen Moment schien der Wetterpatron tatsächlich überrascht. Doch sein Temperament ließ eine solche Niederlage nicht zu. Sein Gesicht verdüsterte sich zusehends und ein fast schon höhnischer Ausdruck legte sich auf seine Züge. „Die Götter haben dich hierher geschickt, was? Das ist so typisch für euch. Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass sie so schnell Sehnsucht nach mir haben würden.“
 

Amor erkannte ihn nicht wieder. Was war nur los mit ihm? Was war mit ihm geschehen? Es konnte hier doch unmöglich noch um die Sache mit Dionysos gehen! Nicht in diesem Ausmaße! Er wusste es nicht, aber eines stand fest. Friedfertig oder nicht, Gott der Liebe oder nicht, DAS musste er sich von einem einfachen Naturgeist nicht bieten lassen. Das musste er sich von niemandem bieten lassen. Weder wollte er auf diese Weise mit den anderen Göttern verglichen werden, noch dass Petrus sich, ob nun absichtlich oder nicht, über die tiefe Sehnsucht in seinem Herzen lustig machte. Er hatte nicht schlecht Lust dazu, diesem nimmermüden Eisklotz einmal ein wenig Feuer unterm Hintern zu machen und ihn ein wenig des Schmerzes fühlen zu lassen, den er zu ertragen hatte. Wütend funkelte er ihn an. „Ja, das haben sie. Oder glaubst du im Ernst, ich würde mich freiwillig auf die Suche nach jemandem begeben, der mich immerzu ignoriert? Mach dich nicht lächerlich!“
 

Er hatte ihn verärgert. Jetzt war er wütend. Natürlich war er das und selbst ein Blinder hätte das nicht übersehen können. Seine Worte schmerzten, aber er selbst war wunderschön. Ganz gleich wem er begegnet war und wem er noch begegnen würde, er war das schönste Wesen, das er jemals erblickt hatte. Er würde auf ewig das Maß aller Dinge bleiben. Woran dachte er jetzt? Dionysos? Ach ja, die Sache mit Dionysos. Ein kindischer kleiner Streit, den er weitergeführt und aus einer Laune heraus bis zur Unerträglichkeit ausgeweitet hatte. Warum eigentlich? Er mochte ihn und er hatte gewusst, dass es ihn verletzen würde. Und er hatte es in Kauf genommen. Sich sogar, wenn er ehrlich war, in gewisser Weise daran erfreut. An der Art wie er ihm nachlief. An der Art wie er unermüdlich versuchte ihm nahe zu kommen. Er, der von jedem geliebt wurde, der sein strahlendes Antlitz erblickte. Er, der jeden hätte haben können. Er, der sich für ein einfaches, gewöhnliches, profanes Wesen entschieden zu haben meinte. Sich für IHN entschieden hatte. Denn so war es doch. So blind, so ignorant war selbst er nicht, dass er es nicht bemerkte. Dass er es schwerlich glauben konnte stand auf einem anderen Blatt. Er wusste es. Also warum tat er das? Warum quälte er ihn auf diese Weise? Denn eine Qual war es – ohne Zweifel. Also warum? Warum diese vehemente Zurückweisung, die er, in umgekehrter Weise durch ihn erfahren, wohl niemals ertragen hätte. War es, weil er sie nicht wollte? Diese Gefühle nicht wollte, die immerzu in ihm aufkamen, wenn der Andere nur irgendwo in seiner Nähe auftauchte? Es stimmte, er wollte sie nicht, aber mit welchem Recht, welchem himmlischen, irdischen oder dämonischen Recht ließ er den jungen Gott dafür büßen? Gerade jetzt wurde es wieder stärker. Das Gefühl, das Verlangen. Seine Skrupel mochten andere sein als die der Menschen, aber er hatte sie. Und er hatte geglaubt, dass sie ewig bleiben würden, um ihn vor unbedachtem Handeln zu bewahren. Aber so war es nicht. Sie wurden schwächer, mit jeder Sekunde die sie miteinander verbrachten, mit jedem Moment den sie miteinander teilten, schwanden sie mehr und mehr dahin. Und davor fürchtete er sich. Davor, die Kontrolle zu verlieren und Dinge zu tun, die er nie zuvor getan hatte und die er im Nachhinein sicher bereuen würde. Denn er würde sie doch bereuen? Er war nicht sicher – und das machte es nur noch schlimmer. Dionysos war doch bloß ein Vorwand. Er wusste es selbst. Ein unvorhergesehenes Ereignis, das er für seine Zwecke hatte nutzen können. Aber das konnte Amor natürlich nicht wissen und deshalb auch nicht verstehen. Natürlich war seine Reaktion übertrieben, natürlich war sie ganz und gar unangemessen, aber genau darum ging es ja! Hätte er es erkannt, es wäre vollkommen nutzlos gewesen. All die schmerzhaften Augenblicke hätten ihr Ziel verfehlt, ihren Sinn verloren. Amor war ein kluges Kerlchen, aber auch er konnte unmöglich alles durchschauen. Weil er so gemacht worden war. Die meisten Götter hatten beinahe so viele Intrigen und Affären wie Jahre auf dem Buckel und sahen keinerlei Veranlassung dazu, sich deshalb in irgendeiner Weise schlecht zu fühlen. Im Gegenteil. Der Liebesgott war ganz anders geartet. Nicht, dass er nicht grundsätzlich dazu in der Lage gewesen wäre intrigant und verführend tätig zu werden, aber es entsprach einfach nicht seinem Naturell. So gesehen war er – um die Bezeichnung in den Gesetzbüchern der Menschen zu bemühen – kein eigen- sondern ein fremdnütziger Gott. Natürlich bedeutete Fremdnutzen immer auch Eigennutz, war er doch mit ihm verbunden, doch war der junge Mann zu rein, zu unschuldig in seiner Art, als dass man das hätte glauben können. Rein, unschuldig und von großer Sanftheit. Aber jetzt war er wütend. Jetzt funkelten seine sonst so freundlichen Augen ihn zornig an. Er hätte nicht herkommen sollen. Er hätte es einfach dabei belassen, es auf sich beruhen lassen sollen. Es wäre wieder besser geworden, er hätte sich wieder unter Kontrolle bekommen und alles wäre gut geworden Aber nun war er hier. Stand hier vor ihm und funkelte ihn zornig an. Theoretisch hätte er alles tun, auf vielerlei Arten reagieren können. In Wahrheit vermochte er sich kaum zwischen den zwei einfachsten Optionen zu entscheiden: Fight or Flight. Und obwohl der Gedanke schmerzte, schon allein die Tatsache, dass er ihn überhaupt erst traurig gemacht hatte, wünschte er sich, sie wären sich gar nicht begegnet. Nicht hier, nicht jetzt. Vielleicht wäre es sogar besser gewesen, sie wären sich nie begegnet. Aber das wollte er nicht glauben. Und es war, schon angesichts ihrer gemeinsamen Lebenswelt, auch völlig undenkbar. Aber das war nicht der Punkt, der jetzt von Belang war. Jetzt ging es um sehr viel weltlichere Aspekte.
 

Sein Gesicht blieb vollkommen unbewegt. Unmöglich zu sagen was er dachte. Aber als er wieder sprach war seine Stimme genauso ausdruckslos wie zuvor. „Steig ein.“

Er deutete auf den schwarzen Mittelklassewagen neben ihnen. Ein schönes Auto und sicherlich weitaus angenehmer als hier im Regen zu stehen, doch Amor war nicht in der Stimmung für derlei Dinge. „Nein“, erwiderte er klar und deutlich und alles andere als sanft oder gar freundlich. Er sah tatsächlich nicht den geringsten Anlass, der Aufforderung des Andere Folge zu leisten. Wieder zeichnete sich auf dem Gesicht des Wetterpatrons eine milde Überraschung ab, diesmal jedoch weitaus schwächer als das erste Mal. Willkommen in Krabbenhausen. Bitte ziehen sie sich jetzt in Schale, ihren Panzer oder was sie sonst so mit sich tragen zurück. Herzlichen Dank. Wir freuen uns darauf, sie im nächsten Frühjahr wieder begrüßen zu dürfen. Er brach den Gedanken ab bevor er gänzlich idiotisch wurde und begnügte sich damit, sein Gegenüber feindselig anzufunkeln. Er hatte es so satt. Petrus erweckte auch nicht gerade den Eindruck, als fände er das Ganze amüsant, aber Amor sah nicht ein, weshalb immer er derjenige sein sollte, der die Harmonie zwischen ihnen wieder herstellte. Jetzt nicht mehr. Wenn der Andere diesen idiotischen Zickenterror haben wollte, dann sollte er ihn haben. Amor, Gott der Liebe, stets zu Diensten. Auch wenn man es ihm nicht ansah und er es für gewöhnlich nach Kräften vermied – er beherrschte dieses Spiel genauso gut. Hätte man nach einem Vergleich für die Veränderung auf dem Gesicht des Wetterpatrons gesucht – und für solch einen Vergleich lag angesichts seiner Aufgabe immer der Himmel nahe – so hätte man sagen können, es zogen dunkle Wolken auf. Interessanter Weise taten sie das in der Realität auch. Der Regen wurde stärker. „Weißt du, was das gerade war?“

Er vermutete es. Was genau meinst du, lag ihm auf der Zunge, doch er schluckte es hinunter. Die Wassertropfen verfingen sich in den Strähnen seines roten Haares und allmählich drang die Feuchtigkeit durch seine Kleider. Unbedeutend. Von so etwas wurden Götter nicht krank und es brauchte nicht mehr als einen Gedanken um sie, falls der ungewöhnliche Fall wider Erwarten und wider besseren Wissens doch einmal eintrat, wieder davon zu befreien. Was das anging, waren er und Petrus gleichberechtigt. Zwar bestand bei ihm als Nicht-Gott zumindest theoretisch die Möglichkeit dazu, aber wenn, dann lag es ganz sicher nicht am Wetter. Er beherrschte es, nicht umgekehrt. Götter wurden nicht krank. Sie zogen es vor einander zu vergiften. ...Im günstigsten Fall. „Ein Produzent?“, fragte er und zuckte die Schultern. Er glaubte es selbst nicht, aber der Andere würde es ihm ohnehin gleich sagen. „Das war ein Zuhälter.“

Das überraschte Amor nun doch ein wenig. Äußerlich dokumentierte er es durch erstauntes Heben der Augenbrauen. Petrus dagegen sah aus, als würde er gleich explodieren. Interessanter Anblick. „Hast du eine Ahnung, was das hier für eine Gegend ist? Was zum Teufel tust du hier?!“

Der Götterknabe zeigte sich unbeeindruckt – eher verärgert. „Und selbst? Was genau, mein lieber Petrus, verschlägt DICH denn in eine solche Gegend?“

Einen Moment lang starrte er ihn an, begriff dann offensichtlich und das Zucken seiner Finger zeigte überdeutlich an, dass er tatsächlich mit dem Gedanken spielte Hand an ihn zu legen. Er rang sichtlich mit sich. Menschenmassen strömten an ihnen vorbei. Man schenkte ihnen bereits eine gewisse Aufmerksamkeit, was dem Wetterpatron offenbar missfiel. Amor war es gleichgültig. Was kümmerten ihn die Blicke anderer, wenn ER vor ihm stand. Das unterschied sie. Ganz gleich wie sehr er auch das Gegenteil beteuern mochte, zog es der Wetterpatron doch vor, die Dinge im Verborgenen zu klären. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit sozusagen. Jetzt zeigte er wieder diesen herablassenden Blick, der so verletzend wirkte. Wie konnte er es wagen, wie konnte er es wagen eine Gott so anzusehen?! „Nachdem das geklärt wäre, würdest du jetzt die Freundlichkeit besitzen einzusteigen?“

Geklärt? Geklärt?! Was hatten sie denn geklärt? Nichts! Rein gar nichts! Außer vielleicht, dass sie einander gerade am liebsten gelyncht hätten. Und auf die Herausstellung dieses Aspekts hätte er wahrlich mit Freude verzichtet.
 

Er rührte sich nicht. Sein Gesicht, seine Körperhaltung, einfach alles an ihm drückte Ablehnung aus. Das war es nicht, was er gewollt hatte. Wirklich nicht. All die Jahre, all die Jahrhunderte die sie sich kannten, hatten sie nie eine Auseinandersetzung gehabt, waren nie von Wut oder Enttäuschung geleitete klärende Gespräche vonnöten gewesen. Warum jetzt? Warum entwickelte sich eine unangenehme, weil peinliche Kleinigkeit, auf eine solche Weise zu einem Streit? Es war so lächerlich, so kindisch! Amor mochte der Ursprung, der Auslöser des Ganzen gewesen sein, aber das Problem, der eigentlich Schuldige war er selbst. Er hatte damit begonnen. Er hatte dieses traurige Spiel inszeniert – ob nun willentlich oder nicht – und er hatte es übertrieben, war schon jetzt viel zu weit gegangen. Und wie sollte Amor, der junge, strahlend schöne Gott, verstehen, wovon er selbst sich einen Begriff zu machen nicht in der Lage war. Warum er so wütend war? Die Götter hatten ihn geschickt! Ach wäre er doch um seiner selbst willen hierher gekommen! Von ihnen wollte er nichts wissen! Sie sollten ihn einfach zufrieden lassen. Aber er... Und dann hierher zu kommen. Es war keine gefährliche Gegend. Tendenzen zu Merkwürdigkeiten und Perversion gab es überall auf der Welt, aber er war einfach zu schön. Eine Augenweide, ein Antlitz, dessen strahlender Glanz vom menschlichen Verstand kaum erfasst zu werden vermochte. Wahrlich, ein Gott unter den Göttern, hätten sie gesagt. Doch wenn sie ihm auch ähnlicher waren als die Götter, wenn sie ihn auch amüsierten, ärgerten und er sie mochte und schätzte, IHN würde er nicht mit ihnen teilen. Deshalb sollte er fort von hier. Nur deshalb sollte er in den Wagen steigen. Er wollte ihn wegbringen. Fort von hier. Fort von den gierigen Blicken der Menschen. Besonders jenen, in denen schon jetzt das Verlangen glomm, das er selbst so sehr zu verbergen, so sehr zu unterdrücken suchte. Er liebte ihn. Er wollte ihn nicht teilen. Er wollte ihn schützen. Vor allem was ihn beflecken, ihm gefährlich werden konnte. Und das bedeutete auch, ihn vor ihm, Petrus, zu schützen. Wie aber sollte, wie konnte er es ihm begreiflich machen? Welche Sprache musste er sprechen, damit er es verstand?
 

Amor erschrak über die plötzliche Änderung im Verhalten des Wetterpatrons, deren Heftigkeit ihm jegliche Möglichkeit zur Gegenwehr nahm. Eben noch kalt und wütend, zeigten seine Gesichtszüge mit einem Mal eine solche Verzweiflung und solchen Schmerz, dass sich dieser Eindruck wie ein Dolch in sein Herz bohrte. Flüchtig, nur einen Moment, dann tat Petrus etwas, das er in all der Zeit die sie einander kannten nie getan hatte. Er umarmte ihn. Nie. Niemals zuvor hatte er etwas derartiges getan. Und Amor? Er fühlte ein solches vermeintlich trügerisches Glücksgefühl in sich aufsteigen, dass es ihm Angst machte. Die Stimme, mit der er ihn noch einmal um diese simple Sache, das bloße Einsteigen in den Wagen, bat, klang so verzweifelt, als hinge ihr beider Leben davon ab. Wie hätte er ablehnen können? Wie hätte er die flehentliche Bitte des Geliebten zurückweisen können? Hätte der Jüngere seine Arme nicht mitsamt seinem Leib umfangen, er hätte ihm geantwortet – ihn ebenso umarmt. Doch ob nun absichtlich herbeigeführt oder nicht, ließ es die Situation, ließ die Haltung des Anderen eine solche zärtliche Erwiderung nicht zu. Wäre er konsequent gewesen, er hätte ihn zurückweisen müssen. Ihm ganz deutlich sagen müssen, dass er derlei Aufdringlichkeit nicht wünsche und dass es doch ganz offensichtlich andere Dinge gab, die zu bereden weitaus höhere Priorität hatte. Aber wie hätte er das tun können? Seinen innersten Wunsch, sein ganzes übermächtiges Gefühl für ihn verleugnen? Das hatte er nie getan, auch nie gewollt und nun, da sich ihm die Möglichkeit bot diesen dummen Streit zu beenden, sollte er die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen?
 

- Teil III: Gedanken -
 

Petrus hatte ihm galant die Autotür geöffnet, es jedoch vermieden ihm beim Einsteigen behilflich zu sein. Er hatte seinen durchnässten Mantel auf den Rücksitz geworfen und dann ebenfalls in dem Wagen Platz genommen. Er war angespannt, das war nicht zu übersehen. Doch obwohl er sich so abweisend verhielt und seine eigene Wut keineswegs verflogen war, konnte Amor nicht umhin festzustellen, dass dem Wetterpatron das Jackett unglaublich gut stand. Seriös und attraktiv. Das Herz des jungen Gottes schlug ein wenig schneller, doch als ihm der Gedanke kam, dass andere, vor allem die Menschen, auch so empfinden könnten, war es der Schmerz, der ihm die Brust zusammenschnürte. Sie sollten ihn nicht so ansehen. Niemals. Nicht sie. Nicht jene, die ihn immerzu verfluchten, nicht mehr als ungehaltene Beschwerden für ihn übrig hatten. Nicht sie. Und wenn er ehrlich war auch niemand anderes. Er wusste, dass das dumm war. Dumm und egoistisch. Natürlich wusste er es, aber er konnte einfach nicht anders. Und er wollte es auch nicht. So vielen Menschen hatte er über die Jahrhunderte hinweg die Liebe geschenkt, ihre Herzen geöffnet, sie die Freuden der Zweisamkeit und so vieles mehr gelehrt und erfahren lassen. Durfte er da nicht, dieses eine Mal nur, ein klein wenig egoistisch sein? Er liebte ihn. So sehr, dass es über seinen Verstand ging, er sich töricht und kindisch benahm. Nie zuvor hatte er so empfunden. Eine kleine, gelegentlich auch mittelschwere Verliebtheit vielleicht – Psyche war das beste Beispiel dafür –, aber niemals so intensiv. Es war so furchtbar, so unsagbar quälend von ihm getrennt zu sein. Das allein vermochte er schon kaum zu ertragen. Wie sollte er es also aushalten können, dass er ihn mied, ihn tadelte, ihn gar hasste?! Natürlich, alles war besser als von jenem, dem er mit Leib und Seele und von ganzem Herzen zugetan war, vollkommen ignoriert zu werden. Aber Hass? Betrog er sich nicht selbst, wenn er vorgab es sei ihm gleichgültig, solange er ihm nur das Gefühl gab wahrgenommen zu werden? Langsam quälte sich der Wagen durch die Straßen der Innenstadt. Gott hin oder her, aus dem Würgegriff des Feierabendverkehrs gab es kein Entkommen. Unablässig klopfte der Regen an die Fensterscheiben, während das Gefährt im Schneckentempo dahinkroch. Tief in Gedanken versunken betrachtete Amor die verschwommenen Silhouetten der Passanten. Von Nahem wirkten sie ganz und gar nicht wie Ameisen. Eher wie eine Ansammlung lebendiger, Fleisch gewordener Einbahnstraßen. Jeder für sich, jeder allein. Keine Geste, nicht einmal ein Blick den sie füreinander übrig hatten. Ob er sie zu lange vernachlässigt hatte? Weihnachten stand vor der Tür und gerade jetzt wäre es vielmehr Zeit für ein paar Überstunden im Bogenschießen gewesen. Aber ihm war nicht danach. Ganz und gar nicht. Warum? Warum war es nur so schwierig? Warum musste er sich so abmühen, während die Menschen, wenn auch durch seine tatkräftige Unterstützung, mit Leichtigkeit zueinander fanden? Fast beneidete er sie. Für sie wurde es, vorausgesetzt sie wehrten sich nicht im Vorfeld schon heftig dagegen, erst nach Ablauf der Lebenszeit der Liebespfeile schwierig. Ihre Wirkung ließ im Laufe der Zeit nach und verschwand, je nach Person und Qualität, meist nach drei oder sieben Jahren. Danach entschieden sie tatsächlich selbst. Offenbar brauchten die Menschen diese Anlaufphase. In Anbetracht ihrer Lebenszeit ziemlich lange, überlegte er und die Tendenz sie zu beneiden schwand merklich. Aber letztlich hatten sie das Glück doch auf ihrer Seite. Denn sie hatten jemanden, der das unabdingbare Moment des sich Verliebens für sie übernahm. Verliebtheit, Höhenflüge, Glücksgefühle. All das gab er ihnen mit, setzte ihnen die rosarote Brille auf und ließ sie oft die glücklichste Zeit ihres Lebens genießen. Selbstverständlich war ihre Reaktion nicht immer eine Dankeshymne, schon gar nicht, wenn die Wirkung der Pfeile allmählich nachließ, aber... Für einen Moment schloss der junge Gott die Augen, dann richtete er seinen Blick auf Petrus. Nein es hatte keinen Zweck. Er hätte tausende Pfeile in sein Herz jagen können, es hätte doch nichts genutzt. Zu wissen, dass es nur ein Trugbild, nicht mehr als ein Zauber war, das allein hätte genügt denselben zunichte zu machen. Es wäre nichts anderes gewesen, hätte er ihm ein Messer an die Kehle gehalten und ihm befohlen ihn zu lieben. Nein, er konnte ihn nicht zwingen. Unmöglich. Entweder er liebte ihn von sich aus oder er tat es nicht. Er konnte sich nicht erinnern wann er es zuletzt gehabt hatte, das Gefühl weinen zu müssen. Niemand, der sich seinem Zauber zu widersetzen, sich der Kraft seiner Pfeile zu entziehen vermochte. Nicht ein einziger Mensch, ja nicht einmal ein Gott. Und ausgerechnet er, den er am meisten liebte, der ihm alles bedeutete, dessen Anwesenheit mehr und mehr zum Mittelpunkt seines Lebens geworden war, entzog sich ihm. Und ausgerechnet bei ihm, nur bei ihm, half ihm seine Fähigkeit, halfen ihm seine Kräfte nicht weiter, verlor die Macht seiner Pfeile jegliche Bedeutung. Wie traurig. Und wie erbärmlich, dass ein Gott sich gezwungen sah, von der Ironie des Schicksals zu sprechen. Nie zuvor hatte er sein Talent so sehr gebraucht und nie zuvor war es ihm derart nutzlos erschienen. Was aber sollte er, was konnte er denn tun, um das Herz des Naturgeistes zu erreichen? Ja, es war eine Lüge, nichts als Selbsttäuschung wenn er vorgab, dass alles besser sei, als von dem Witterungsbeauftragten ignoriert zu werden. Objektiv betrachtet mochte das vielleicht zutreffen, emotional jedoch war ihm das eine wie das andere unerträglich. Er liebte ihn. Nie war er sich dessen so sicher gewesen, doch je mehr sich diese Erkenntnis in seinem Bewusstsein festsetzte, umso mehr brannte sie sich in sein Herz und seine Seele. Und genauso fühlte es sich an. Er wollte ihn. Mehr als alles andere auf der Welt. Und er wollte von ihm geliebt werden. Und das machte es ihm schier unerträglich mit anzusehen, dass er ihn so gar nicht brauchte. „Wer war die Frau?“

Er musste an etwas anderes denken, sich ablenken. Irgendwie von diesen mehr und mehr in eine Teufelsspirale mündenden Gedanken loskommen. Dass er es tat indem er ausgerechnet diese Frage stellte, überraschte ihn selbst. Eigentlich hatte er gar nicht mehr an sie gedacht. Wie einfältig. Natürlich hatte er es nicht vergessen. Das Bild, die Szene die sich ihm bot und die seinen Liebsten mit einer Frau zeigte. Wie hätte es ihn unberührt lassen können? Wie sehr es ihn allerdings beschäftigt hatte, wurde ihm erst jetzt, da er die Frage tatsächlich gestellt hatte, wirklich bewusst. Petrus hatte es offenbar nicht eilig mit der Antwort. „Meine Sekretärin“, sagte er schließlich und schaltete bedächtig in den dritten Gang. Es ging jetzt schneller voran. Amor sah ihn einen Moment lang an – er saß da als habe er einen Besen verschluckt – dann wandte er den Blick und starrte zur Frontscheibe hinaus. Nicht, dass es dort etwas Besonderes gegeben hätte, aber er musste es einfach tun – irgendwohin starren. Eine Sekretärin. Nun gut, das musste nicht heißen, dass Petrus ihretwegen auf die Erde gekommen war, aber es bedeutete zumindest, dass er hier eine Stellung innehatte, die es ihm gestattete eine Sekretärin zu haben. Das wiederum bedeutete, dass er nicht ganz unbedeutend sein konnte, was gezwungener Maßen eine gewisse Auseinandersetzung mit der Materie nötig machte. Er hatte sich hier also eine Existenz aufgebaut, die gänzlich unabhängig von der Götterwelt war und zu der er nur deshalb Zutritt erhalten hatte, weil er sich ihm aufgedrängt hatte. Eine ganze Flut solcher und ähnlicher Gedanken überspülte sein Bewusstsein und schien jede andere geistige Regung lähmen zu wollen. Eine Sekretärin. SEINE Sekretärin. Er senkte den Blick, wodurch sein Starren, nun auf einen sehr viel näheren Punkt gerichtet, nur noch intensiver wurde. Ein Mensch hätte diesem Blick nicht lange stand gehalten. Vielleicht hätte er all seine Schandtaten gestanden, vielleicht wäre er gleich weinend zusammengebrochen. Aber da war kein Mensch. Nur ein Handschuhfach. Und es lag in der Natur der Sache, dass es nicht geständig war und keine emotionalen Ausbrüche hatte. Erst als der Wetterpatron neben ihm seufzte, kam Amor wieder zu sich. „Ich habe keine Ahnung wer sie war. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen. Sie hat sich nach dem Weg erkundigt.“

Der Liebesgott brauchte einen Moment bis er begriff und als er es tat, wusste er nicht ob er lachen oder weinen sollten. Er vermochte die Erleichterung die er empfand kaum in Worte zu fassen. Und gleichzeitig wurde ihm bewusst wie erbärmlich er war. Wenn es ihn so sehr traf, warum sagte er es ihm dann nicht einfach? Warum brachte er es nicht über sich es auszusprechen? Die Angst vor Zurückweisung. Ausgerechnet er, dem es nie an Selbstvertrauen gemangelt hatte, fürchtete sich. Ausgerechnet er, der Liebesgott höchstpersönlich, vermochte es nicht seine Gefühle auszudrücken. Über die Ironie des Ganzen hätte er lachen mögen, aber ihm war nicht danach. Viel eher war ihm nach Weinen zumute und sei es nur aus Erleichterung. Aber das verbot sich natürlich von selbst. Nicht vor Petrus. Vor jedem anderen, aber ganz sicher nicht vor ihm. Mittlerweile war der Verkehr vollständig zum Erliegen gekommen. Lange, quälende Minuten des Schweigens vergingen, dann sprach der Ältere das aus, was ihm schon von Beginn dieser Fahrt an auf der Seele gebrannt hatte. „Es tut mir leid.“

Er sagte es leise, aber klar und deutlich. Und zum ersten Mal seit er in dieses Auto gestiegen war, schenkte ihm Petrus wenigstens einen flüchtigen Seitenblick. „Was tut dir leid?“

Es klang nicht wirklich abweisend, aber es lag eine Kälte darin, die Amor schaudern ließ. „Das...was ich da vorhin gesagt habe.“

Für einen Moment schien es, als wolle sich der Witterungsbeauftragte danach erkundigen was er meinte, tat es dann aber doch nicht. Allmählich setzte sich die Autokolonne wieder in Bewegung. „Du musst dich nicht entschuldigen. Vielmehr wäre es an mir, dich um Verzeihung zu bitten.“

Ein wenig überrascht sah der Ältere auf, doch der Wetterpatron hatte seine Aufmerksamkeit bereits wieder der Straße zugewandt. Es war ein Anfang. Sie sprachen miteinander. Endlich sprachen sie wieder miteinander. Und es war kein Streitgespräch. Doch Amor wagte es nicht, sich an die leise Hoffnung, die sich vor ihm auftat, zu klammern. Allzu sachlich war die Art wie er gesprochen hatte. Als würde von ihm erwartet, dass er es sagte, als habe er es auswendig gelernt. Er hatte im Konjunktiv gesprochen. Oder vielleicht war es auch nicht der Konjunktiv sondern irgendetwas anderes, jedenfalls hatte er lediglich gesagt, dass es an ihm wäre sich zu entschuldigen. Aber das war nichts als eine Feststellung. Selbst wenn er es tatsächlich so meinte, hatte es keinerlei Bedeutung. Denn es war nur eine Feststellung. Eine ganz gewöhnliche Aussage. Es war alles – nur keine Entschuldigung. Die nächste Ampel zeigte Rot und Petrus stoppte den Wagen. Sein Blick blieb stur geradeaus gerichtet. „Und du kannst wirklich...richtig Auto fahren?“

Als Amor bemerkte, dass die Worte die er gewählt hatte weder sein Erstaunen noch seine Bewunderung ausdrückten, war es schon zu spät. Betont langsam legte Petrus den ersten Gang ein, setzte den Blinker und bog, unter aufmerksamer Beobachtung des Gegenverkehrs nach links ab. Der Gott der Liebe schrumpfte in seinem Sitz zusammen. Wirklich, er hätte es kaum schlimmer machen können indem er gesagt hätte er wolle aussteigen. Dabei war das ganz und gar nicht seine Absicht gewesen. Eher war das Gegenteil der Fall. Er hatte schon den Mund geöffnet um das Missverständnis aufzuklären, als der Jüngere sich vorbeugte und das Radio einschaltete. Ein gänzlich unbegabter Sänger jodelte etwas ins Mikrophon. Der nächste Sender. Irgendein Moderator berichtete theatralisch über die Schwangerschaft irgendeiner Popikone. Beinahe fühlte Amor sich angesprochen. Bei Schwangerschaften trug er schließlich immer eine gewisse Mitschuld. Ein weiterer Senderwechsel. Irgendein belangloses Gedudel. Nichtssagend, aber durchaus annehmbar. Dabei blieb es dann. Niedergeschlagen schloss der Rothaarige den Mund und wandte seine Aufmerksamkeit dem Seitenfenster zu. Deutlicher hätte er es kaum zeigen können. Welchen Sinn hatte es, wenn nicht den ihm zu zeigen, dass der Wetterpatron im Augenblick nicht das geringste Interesse an einer Unterhaltung mit ihm hatte. Wenn man es freundlich ausdrückte. Auch wenn er sich dagegen sträubte, es verletzte ihn. Dass dem Naturgeist der leidlich gute Gesang eines Menschen lieber war, als eine Unterredung mit dem Gott der Liebe verletzte ihn tief. Eine einzelne Träne glitt über seine Wange und verschmolz wenig später mit seiner Kleidung. Was hatte er getan? Was hatte er denn nur getan, dass er mit solch brutaler Abweisung gestraft wurde.
 

Petrus hielt den Schalthebel umklammert, als hinge ihr beider Überleben davon ab. Stur blickte er geradeaus, obwohl er nur zu gut wusste, dass die Straße die sie befuhren selbst unter diesen Bedingungen nur eines Bruchteils der Aufmerksamkeit bedurft hätte, die er ihr tatsächlich zuteil werden ließ. Am liebsten hätte er ins Lenkrad gebissen, nur um sich ein wenig abzureagieren. Als ob es nicht Folter genug gewesen wäre, dass dieses Wesen, dieser junge Gott, dessen Schönheit und Anmut alles andere in den Schatten stellte, ja jeglicher Beschreibung sich entzog, neben ihm saß, den Blick wieder und wieder auf ihn gerichtet. Das allein war im Grunde schon mehr als er ertragen konnte und jetzt saß er neben ihm und weinte stumm – tränenlos. Herrgott noch mal, was wollte er als nächstes tun? Sich nackt auf dem Rücksitz räkeln?! Tat er das absichtlich?! Nein, sicher nicht. Er konnte einfach nicht anders und wollte es wohl auch nicht. Es lag einfach in seiner Natur. Er dachte sich nichts dabei, er war einfach nur ehrlich. Auf regennasser Fahrbahn erhöhte er die Geschwindigkeit kurzzeitig um 10 km/h, nur um dem Drang zu widerstehen den Älteren an sich zu ziehen und ihn zu küssen. Gott bewahre, das konnte und das würde er nicht tun. Denn er wusste, er wäre dann nicht mehr in der Lage von ihm abzulassen. Undenkbar. Blieb die Frage, weshalb er ihn dann überhaupt mitnahm. Sicher, er hätte ihn unter keinen Umständen dort lassen wollen, aber jetzt, da sie sich auf dem Weg zu jenem Ort befanden, was wollte er da mit ihm anstellen? Was hatte er denn geglaubt mit ihm vorzuhaben? Er schob den Gedanken beiseite. Er hätte ihn gleich rausschmeißen sollen. Das hätte Amor eine Menge des Leides, das er nun in sich trug, erspart. Aber es war ihm nicht gelungen. Er hatte ihn nicht gehen lassen können. Er hatte GEWOLLT, dass er bei ihm war, bei ihm blieb. Ja, er selbst hatte sich diese Misere eingebrockt, dieses Unglück heraufbeschworen und den jungen Gott dabei auf eine Art und Weise gekränkt und verletzt, für die er in seinen Augen mehr als nur den Tod verdient hätte. Und Götter waren bei so etwas nicht zimperlich – im Gegenteil. Meist genügten schon weitaus geringere Vergehen – die ob ihrer Bedeutungslosigkeit häufig nicht einmal die Bezeichnung verdienten – um Strafen zu bewirken, die nicht selten jenseits aller vorstellbaren Grausamkeit lagen. Amor jedoch tat gar nichts. Es wäre sein gutes Recht gewesen, ihn für seine Dreistigkeit zu bestrafen und niemand, nicht einmal er selbst hätte daran Anstoß genommen. Nicht den Geringsten. Aber er tat es nicht. Er bestrafte ihn nicht, entschuldigte sich gar für die Worte, die, im Zorn gesprochen, seinem Verhalten doch mehr als angemessen gewesen waren. Was ging nur in ihm vor? Woran dachte er jetzt? Daran was er falsch gemacht, welchen Fehler er begangen hatte? Wie süß, aber das sah ihm ähnlich. Und obwohl er es natürlich nicht wissen konnte, war er sich fast sicher, dass ihn in diesem Moment genau das beschäftigte. Und er selbst? Wie hatte er, ein einfacher Naturgeist und alles andere als ein Gott, es nur geschafft, das wohl sanfteste und fröhlichste Wesen aller drei Welten so zuzurichten? Wie hatte er sich erdreisten können so etwas zu tun, eine solches Chaos, solche Zerstörung anzurichten? Ja, es war seine Schuld. Er richtete den jungen Gott zugrunde. Es hatte längst aufgehört ein Spiel zu sein. Jetzt, da der Schmerz den sie empfanden bis in die Tiefen ihrer Seelen vordrang, war es längst kein Spiel mehr. Ob er sich schämte? Nicht wirklich, er hätte wohl lügen müssen, hätte er es behaupten wollen. Ob es ihm Freude bereitete? Nicht im Geringsten. Auch dieser Punkt war längst überschritten. Er konnte nur einfach nicht aufhören. Das war das Problem. Er hatte das Gefühl, dass es zu spät war, dass er nicht mehr zurückkonnte. Zu tief waren ihrer beider Wunden, zu viel Kraft und Tränen hatte dieser kindische Wettstreit schon gekostet. Aber sollte es denn so weiter gehen? Sollte dieser dumme Streit denn bis in alle Ewigkeit andauern? War es nicht besser es ihm zu sagen? Ihm zu sagen, was wirklich hinter all dem steckte? Dass die vermeintlich ausschlaggebende Sache mit Dionysos nicht mehr als ein willkommener Vorwand gewesen war? Dass allein das Gefühl bei ihm zu erwachen, den Kopf auf seinen Schoß gebettet, die niemals existente Schuld bereits hundertfach getilgt hatte? Aber er brachte es nicht über sich. Er hatte Angst. Mehr als alles andere hatte er Angst vor der Reaktion des Liebesgottes – und dem, was er selbst dann womöglich tun würde. Das machte ihm Angst. Lähmte ihn, sobald nur der Name des Älteren fiel. Aber war es denn so besser? War er denn wirklich glücklich, so wie es jetzt war? Nein, er war nicht glücklich. Und Amor auch nicht. Aber es musste besser sein. Es musste einfach, für sie beide! Wie sonst sollte er es ertragen, dieses wunderbare Wesen, dieses strahlend schöne Geschöpf, das er so sehr liebte, verletzt zu haben?
 

Mit Einsetzen der Dämmerung färbte sich der wolkenverhangene Himmel mit beängstigender Schnelligkeit schwarz. Mittlerweile war der Regen von Schneeflocken durchsetzt. Der Wind war stärker geworden, die Scheibenwischer arbeiteten unermüdlich, ohne jedoch viel ausrichten zu können. Längst schon hatten sie die Stadt und wie es schien auch jede andere nennenswerte menschliche Siedlung hinter sich gelassen. Die Straße war gesäumt von Bäumen, die, wann immer sie der Lichtkegel der Scheinwerfer streifte, gespenstisch aufleuchteten. Jeglicher Farbe beraubt wirkten sie weiß, nur noch Schatten ihrer selbst. Wie Geister. Wesen die man vergessen hatte und die, anders als bei Tag, einer anderen Welt anzugehören schienen. Unbehaglich, ja furchtsam sank Amor tiefer in seinen Sitz. Die Musik war längst verstummt und langsam begann er es zu bedauern. Im Wagen herrschte Totenstille. In jedem Fall aber bedrückendes Schweigen. Ein kurzer Blick auf das Armaturenbrett sagte ihm, dass sie bereits seit über zwei Stunden unterwegs waren und allmählich mehrten sich in ihm die Zweifel, dass diese Fahrt sie überhaupt irgendwo hinführen würde. Der Rothaarige blickte durch das Seitenfenster in die Dunkelheit hinaus und schauderte. Hilfesuchend wandte er sich an Petrus. „Könntest du das Wetter nicht ein wenig ändern?“
 

Wie schüchtern er klang, wie verunsichert. Und dann dieser Blick. Er musste ihn nicht sehen, es genügte dass er ihn fühlte. Am liebsten hätte er ihn umarmt. Ihn an sich gezogen und nicht eher wieder fortgelassen, als bis alle Furcht von ihm abgefallen war. Dass es tatsächlich etwas gab, wovor ein Gott sich fürchtete... Aber vermutlich lag es vielmehr an der besonderen Situation. Nicht die Dunkelheit war es, die ihn ängstigte, sondern die Kälte die von ihm ausging. Gemeinsam mit einem Mann, dessen Ziele er nicht kannte, in einem Auto, das er nicht zu verlassen wagte, in einer Umgebung die ihm fremd war. Es war nur allzu verständlich, dass es ihm Angst machte. Denn ganz gleich wie viele Jahrhunderte er auch durchlebt haben mochte, blieb er doch ein Kind. Nun ja, ein Jugendlicher vielleicht, aber in seinem innersten Wesen und seiner emotionalen Art doch immer ein Kind. Man sah es ihm nicht an, aber der Ältere war jemand, der gern die Fäden in der Hand behielt. Sein ach so berühmtes Selbstvertrauen, mit dem er alles und jeden zu verführen vermochte, beruhte einzig und allein darauf, dass stets er es war, der die Sache begann. Er war es, der führte. Und nicht selten jemanden an der Nase herum. Jetzt aber war er ganz und gar machtlos. Das war selbstverständlich nicht mehr als eine Illusion, aber vermutlich empfand er es so. Er wartete. Wartete auf etwas völlig Unbekanntes und harrte der Dinge die da kamen. So etwas rief immer Angst hervor. Unweigerlich. Für Menschen war es ein unglaublich zermürbendes Gefühl, das nur schwer zu ertragen war. Und für Götter? Sie schienen sich von Erdenbewohnern lediglich darin zu unterscheiden, dass sie länger damit zu leben vermochten. Angst... Petrus drosselte die Geschwindigkeit, obwohl dazu eigentlich keine Notwendigkeit bestand. Selbst wenn sich die regennasse Fahrbahn als tückisch erweisen sollte. Götter starben typischer Weise nicht durch einen Autounfall. Ob er das Wetter ändern konnte? Selbstverständlich, nichts leichter als das. Dafür war er geschaffen worden, es war seine Aufgabe. Er konnte es sogar punktuell verändern, sodass beispielsweise eine einzelne Person von einem Regenschauer verschont blieb. Ein einfacher Trick, der einen Schirm entbehrlich machte. Aber er tat es nicht gern und Amor wusste das. Er hatte ihm davon erzählt. Nicht umsonst hatten die Menschen aus dem Wetter eine Wissenschaft gemacht. Es gab zwar weitaus weniger Zufälle als sie gemeinhin glaubten, aber etwas anderes spielte eine recht bedeutende Rolle. Nebenwirkungen. Da verhielt es sich mit dem Wetter so ähnlich wie mit der Medizin. Man konnte nicht erwarten eine ganz bestimmte Änderung an einem ganz bestimmten Punkt zu erreichen, ohne dabei zu bedenken, dass auch andere Regionen, in schlichter Weise den Naturgesetzen folgend, davon beeinflusst wurden. Ein Gott hätte es vielleicht gekonnt, nicht aber ein profanes Wesen wie er. Petrus korrigierte ihre Fahrlinie ein wenig, er mochte es nicht auf der Mitte der Straße zu fahren, und starrte unverwandt in den Schneeregen hinaus. Er hätte es problemlos tun können. Das Unwetter war großflächig, die besagten Nebenwirkungen also ohne Weiteres abschätzbar. Die Gefahr der Unkontrollierbarkeit war schlicht nicht vorhanden. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, ihnen die Sicht auf einen herrlich klaren Sternenhimmel zu ermöglichen und damit auch ihre Fahrbedingungen erheblich zu verbessern. Aber er tat es nicht. Nicht, dass er es nicht gekonnt hätte, er hatte nur keine Lust dazu. Das Wetter entsprach seiner Stimmung geradezu aufs Vortrefflichste und ließ ganz nebenbei das warme Innere des Autos sehr viel gemütlicher erscheinen. Er mochte das, aber ein kurzer Seitenblick auf Amor genügte um zu wissen, dass der junge Gott sich im Moment alles andere als wohl fühlte. Der Wetterpatron richtete den Blick wieder nach vorn. „Wir sind bald da“, sagte er in die bedrückende Stille des Wageninneren hinein und spürte, wie der Andere sich ein wenig entspannte. Eine halbe Stunde später erreichten sie das Haus.
 

- Teil IV: Gefühle -
 

Selbstverständlich wäre Amor, hätte er ihn nicht aufgehalten, sofort heldenhaft und – angesichts der inzwischen herrschenden Witterungsbedingungen – todesmutig in den Regen hinausgestürzt. Vielleicht hätte er es netter formulieren sollen, aber gewirkt hatte es. Bleib wo du bist. Nein, er war nicht nett gewesen. Selbst seinem eigenen Empfinden nach hatte es schroff und aggressiv geklungen. Wie musste es dann erst auf das arme, mittlerweile völlig verschüchterte Götterkind gewirkt haben? Der Ältere wagte es nicht einmal mehr ihn anzusehen, geschweige denn zu berühren. Weder beim Aussteigen, noch auf dem gemeinsamen Weg ins Haus. Ein Schirm schützte sie notdürftig vor dem heftige Gewitter, während sie dem Eingang des kleinen Holzhäuschens zustrebten. Seite an Seite gingen sie den aufgeweichten Pfad entlang. Seite an Seite und doch waren sie einander so fern wie nie zuvor. Petrus hatte erwartet, dass das Schloss klemmen würde – aus reiner Boshaftigkeit sozusagen. Das tat es manchmal und mit Vorliebe in Situationen, in denen es absolut unpassend war. Tatsächlich geschah nichts dergleichen. Mühelos glitt der Schlüssel hinein und nur einen Moment später öffnete sich die Tür mit einer Leichtigkeit, als habe sie nie etwas anderes getan. Petrus indes war dankbar für die Dunkelheit die sie umgab. Amor mochte keine Gedanken lesen können, aber die Szenen, die dem Witterungsbeauftragten in diesem Augenblick in den Sinn kamen, waren, zumindest seinem Empfinden nach, derart obszön, dass er fürchten musste, dass man sie ihm, und sei es wegen der Röte auf seinen Wangen, schon an der Nasenspitze ansah. Und als Gott der Liebe war der hübsche, kleine Amor für so etwas natürlich prädestiniert. Wenn er es nicht konnte, wer dann? Und nichts wäre dem Witterungsbeauftragten peinlicher gewesen, als ausgerechnet von ihm dabei ertappt zu werden...wie er sich gewisse Dinge vorstellte. Dabei hatte er das gar nicht vor! ...Glaubte oder vielmehr hoffte er zumindest. Der Ältere zog beim Eintreten die Schultern hoch und Petrus musste zugeben, dass er allen Grund dazu hatte – es war wirklich kalt. Noch bevor er die Tür hinter ihnen schloss, schaltete er das Licht ein, damit der Kleinere in der Dunkelheit nicht über den erstbesten Gegenstand stolperte. „Entschuldige, ich hatte keine Zeit aufzuräumen“, bemerkte er überflüssiger Weise und hing ihre Mäntel zum Trocknen auf. Während Petrus damit beschäftigt war im Kamin ein Feuer zu entfachen, das er viel lieber anderswo entzündet hätte, sah Amor sich aufmerksam um. Ob er noch immer nach der nicht vorhandenen Unordnung suchte wusste der Wetterpatron nicht, jedenfalls musterte er die neue Umgebung sehr aufmerksam. Offenbar interessierte es ihn wirklich. „Hast du es so eingerichtet?“, fragte der Ältere und sah zu ihm herüber. Zwischen den mit Papier dekorierten Holzscheiten züngelten vielversprechend ein paar Flammen empor und wenig später begann ein ansehnliches Feuer den Raum mit wohliger Wärme zu erfüllen. Zufrieden erhob sich der Wetterpatron. Er fing den Blick des Rothaarigen auf, der auf das Bärenfell vor dem Kamin gerichtet war und wandte den Kopf so unauffällig wie eben möglich ab. Er wollte sich gar nicht vorstellen, womit der Andere dieses auf diversen Fotos recht beliebte Utensil in Verbindung brachte, schaffte es aber irgendwie, bei dem Gedanken daran nicht rot zu werden. „Der Besitzer war so freundlich, mir bei der Raumgestaltung weitestgehend freie Hand zu lassen. Darauf“, er deutete mit einer Kopfbewegung wie beiläufig in Richtung des Bärenfells, „hat er allerdings bestanden. Eine Art Jagdtrophäe nehme ich an.“

Amor verzog das Gesicht. Offenbar hatte die Vorstellung, dass dieser etwas unförmige Teppich einmal ein Tier gewesen war, für ihn nicht viel anheimelndes. Verständlich. Eine Zeit lang blieb es still. Einzig das Ticken der großen Standuhr und das Knacken des Feuers erfüllten den Raum. Teilnahmslos und obwohl er wusste, dass der Blick des Älteren auf ihm ruhte, sah er nach draußen. Es war behaglich, hier am Feuer, während der Regen gegen die Fensterscheiben schlug. Schließlich wandte sich der Jüngere vom Fenster ab und widmete seine Aufmerksamkeit stattdessen dem Wasserkocher. Amor rührte sich nicht. Er stand einfach nur da und sah ihn an. „Möchtest du etwas trinken?“, fragte der Wetterpatron und gab den Blick auf zwei mit dampfendem Tee gefüllte Tassen frei. „Nein“, erwiderte der Ältere, ohne dass sich an seiner Haltung auch nur das Geringste geändert hätte. Nun wandte sich Petrus zu ihm um. Ein undeutbarer, keinesfalls aber freundlicher Blick. Abwartend vielleicht, als versuche er die Situation einzuschätzen, zu ergründen, was der junge Gott als nächstes sagen, welche Frage er an ihn richten würde. Wie demonstrativ nahm er eine der Tassen während er den Älteren musterte und hob sie an die Lippen. Einen langen Moment verharrte er so, dann ließ er das Gefäß wieder sinken. Es hatte keinen Zweck. Der Tee war schlichtweg zu heiß. Draußen zuckten Blitze über den Himmel, gefolgt von ohrenbetäubendem Donner. Und bei jedem Grollen zuckte der Ältere kaum merklich zusammen, zitterte er ein wenig mehr. Also gab es noch etwas, wovor er Angst hatte. Aber das war nicht sonderlich überraschend. Die meisten Kreaturen zogen sich bei Gewitter zurück und nicht wenige fürchteten es. Für Amor war es einfach etwas Neues. Die Teile der Götterwelt, in denen er sich für gewöhnlich aufhielt, lagen oberhalb der Wolken und damit jenseits dessen, was die Menschen gemeinhin als Wetter bezeichneten. Sonne und gelegentlich ein lauer Wind waren alles, was es dort an Witterungen gab. Nicht gerade üppig, aber überaus angenehm. Amor war, im Vergleich zu den meisten anderen Himmelsbewohnern, ein äußerst aufgeschlossener Gott und da er auch ein gewisses Interesse für sein Zuständigkeitsgebiet – die Erde und ihre Bewohner – aufbrachte, hatte er gewiss schon weitaus mehr gesehen und dementsprechende Sympathien und – was bei ihm schwer vorstellbar war – Antipathien entwickelt. Und Gewitter waren, wenn nicht schon früher dann spätestens jetzt, in die zweite Kategorie abgeglitten. Der Rothaarige zitterte vor Kälte und jeder Donnerschlag jagte ihm einen neuerlichen Schauer über den Rücken. Petrus umfasste den Henkel seiner Tasse ein wenig kräftiger. Der Drang seinen Gegenüber in die Arme zu schließen wurde schier übermächtig. Aber er beherrschte sich. „Können wir reden?“, fragte der Ältere schließlich und seine kindliche Furcht strafte die Ernsthaftigkeit mit der er ihn ansah lügen. Er war völlig verstört. Der Wetterpatron zeigte sich unbeeindruckt. „Deshalb habe ich dich hergebracht.“

Ach ja? War das so? Das war ihm neu. Nun, es war in jedem Fall interessant zu hören. Er hatte Amor also hierher gebracht, damit sie reden konnten. Reizend. Ihm war nie aufgefallen, was für ein ausgezeichneter und über alle Maßen glaubhafter Lügner er war. Nun, der Ältere mochte es glauben oder nicht, jedenfalls schien er sich diese Chance nicht entgehen lassen zu wollen. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck tiefster Verzweiflung, dem seine Stimme kaum gerecht zu werden vermochte. Dabei hatte er eine so schöne Stimme. „Warum hasst du mich? Warum bist du nur so wütend?“

Petrus spürte wie der Trotz in ihm aufflammte. Einzig übertönt durch den innigen Wunsch dieses strahlend schöne Geschöpf, das in diesem Moment nur ihm gehörte, in die Arme zu schließen und zu küssen. Doch nichts von alledem drang nach außen. Sein Gesicht blieb vollkommen reglos, ja nicht einmal der Klang seiner Stimme veränderte sich. Nicht ausdruckslos, aber von einer Ruhe, die schon an Langeweile, wenn nicht an Gleichgültigkeit grenzte. Welch ein Schauspieler er doch war. „Ich bin nicht wütend auf dich und nichts läge mir ferner als dich zu hassen. Ich will dich nur im Moment nicht in meiner Nähe haben.“

Verständnislos sah der Andere ihn an und mehr denn je mischte sich Verzweiflung in seinen Blick. Er schüttelte den Kopf, als könne er es nicht glauben. Es war nur natürlich. Bisher hatten sie es nie ausgesprochen, hatte es lediglich wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen gehangen. Sie hatten es beide gewusst. Natürlich hatten sie es, wo bliebe sonst der Sinn? Doch jetzt hatte er den Schritt getan, den keiner von ihnen zu gehen bereit gewesen war. Er hatte es ausgesprochen. Den seidenen Faden gekappt und das Schwert herabstürzen lassen. Doch es hatte dem Älteren nicht das Haupt von den Schultern geschlagen. Nein, es war viel schlimmer. Es war herabgestürzt und hatte sein Herz durchbohrt. Aufgespießt, wie ein Insekt in einer Vitrine. Einfach so. Ohne Mitleid. Als ob man einen Käfer aufspießte. Wie weit, fragte sich Petrus, wie weit wollte er noch gehen? War es nicht seine Schwäche? War es nicht vielmehr so, dass er es war, der diese Worte verdient hatte? Sie an ihn hätten gerichtet sein sollen? Er testete ihn. Testete seine Gefühle für ihn bis zur Unerträglichkeit und schreckte nicht davor zurück, dieselben wieder und wieder zu verletzen. Was dachte er sich dabei? Was wollte er sich und dem Anderen beweisen? Warum forderte er das, was er insgeheim doch fürchtete, auf diese Weise ein ums andere Mal heraus? Was glaubte er wer er war? Einem Wesen wie Amor so etwas anzutun, ihn so zu behandeln, ihn so zu verletzen. Was berechtigte ihn dazu? Jetzt, da er nicht einmal mehr Gefallen daran fand. Jetzt, da es sich jenseits eines Scherzes, eines Spiels bewegte. Jetzt, da er, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, dabei war, einen Gott, den Gott der Liebe, mit allem was er war zu vernichten. Was bildete er sich ein? Was glaubte er wer er war? Ein Gott? „Das ist doch das Gleiche“, gab der Ältere zurück und schüttelte verzweifelt den Kopf, als könne er sich dadurch der Gedanken und vielmehr noch der Gefühle die ihn beherrschen mussten erwehren. Als könne er sich allein dadurch aus diesem Alptraum retten. Als wolle er das absurde dieser Szene nur umso deutlicher hervorheben. Das wenigstens tat er. Petrus sah ihn an. Anders konnte man es nicht nennen. Nichts hätte die Unberührtheit die er nach außen hin zeigte besser beschreiben können. Er setzte die Tasse an die Lippen und probierte einen Schluck Tee. Gut, aber zu heiß. Er hatte sich verbrannt. Er stellte das Gefäß beiseite und sah den jungen Gott an. „Nein, ganz und gar nicht“, erwiderte er ruhig und Amor sah wieder zu ihm auf. Verwirrung spiegelte sich auf seinen Zügen, während er mit tränenverschleierten Augen zu ihm aufsah. Petrus hatte schon davon gehört, Amor selbst hatte ihm davon berichtet. Dass es Momente im Leben der Menschen gab, in denen es in ihrem Kopf einfach ›Klick‹ machte. So, als sei ein unsichtbarer Schalter umgelegt worden, der sie, ganz unerwartet und wie aus dem Nichts, zu Dingen befähigte, die sie andernfalls nie hätten vollbringen können. Doch der Wetterpatron war kein Mensch. Und er empfand sich auch nicht als das klassische Beispiel für ein solches Erlebnis. Er verlor nicht den Kopf, schon gar nicht im wörtlichen Sinne, und geriet auch sonst in keiner Weise außer sich. Es war auch nicht so, dass seine Zweifel weggewischt worden wären. Er büßte auch nicht seine überaus stark ausgeprägte Selbstbeherrschung ein oder veränderte ganz plötzlich seinen Charakter. Nein, so menschlich war er nicht. Er hätte nur zu gern behauptet, dass es der Moment war, in dem ihm die Augen geöffnet wurden. Tatsächlich war es vielmehr so, dass in ihm etwas zerstört wurde. Etwas, das er, als überaus rationaler und pragmatischer Naturgeist, als die moralische Schranke bezeichnete. Ohne ein weiteres Wort ging er auf ihn zu, legte die Arme um den schlanken Körper des Älteren und zog ihn an sich. So fest, dass seinem Gegenüber für einen Moment die Luft wegblieb. Dann sah er ihn wieder an. Verlor sich in den Tiefen der goldenen Augen, schob, obwohl es nicht nötig war, wo doch der Blick des Geliebten allein ihm galt, eine Hand unter sein Kinn. Den anderen Arm an seiner Hüfte, bereit ihn noch näher an sich zu ziehen, als es ohnehin schon der Fall war. Bereits jetzt berührten sich ihre Körper an weit mehr als nur diesen Stellen. Er sah ihn an. Ein absolut makelloses Geschöpf. Sollten die Götter ihn doch geschickt haben. Was konnte ein Naturgeist wie er an einem göttlichen Gesandten schon auszusetzen haben. Er war hier, und jetzt, in diesem Moment, war er nur für ihn da. Und genau das war es, was er gewollt hatte. Ihn, hier und ganz und gar für sich. Er wollte ihn. „Ich hasse dich nicht“, sagte er noch einmal, dann beugte er sich zu dem Älteren herab und versiegelte die Lippen des Geliebten mit den seinen. Ein kurzer Moment des Widerstands, Trotz vielleicht, Verständnislosigkeit, vielleicht der Wunsch nach Antworten auf all die Fragen die er hatte. Erklärungen für all das, was er nicht verstand. Nur einen Moment, dann gab er auf. Nur ein Moment und nichts von alldem war mehr von Belang. Nur ein Moment und es interessierte ihn nicht mehr. Er hob die Hände, legte sie erst scheu auf die Brust des Anderen, dann auf seine Schultern und schließlich auf seine Wangen. Und das war der Moment in dem er sich an ihn schmiegte, die Anspannung – einem Fluch gleich – von ihm genommen wurde und sein Körper unter den fordernden Händen des Wetterpatrons weich wurde. Petrus spürte es und konnte nicht verhindern, dass sein Körper darauf reagierte. Wovor? Wovor hatte er nur solche Angst gehabt? Dass Amor, der größte Verführer seit Anbeginn der Zeit, es nicht ernst mit ihm meinen könnte? Dass er, Petrus, sich die Zuneigung des jungen Gottes nur einbildete? Dass der Ältere nur spielte? Dass er selbst, in solchen Dingen völlig unerfahren, nicht gut genug für ihn sein könnte? Dass der Geliebte, wenn der entscheidende Moment gekommen war, ihn abweisen würde? Dass er, der Naturgeist, ihm in seiner jungfräulichen Art nicht gerecht werden würde? Dass Amor es bald leid sein könnte? Er war der Gott der Liebe! Der wievielte Partner mochte er sein? Der hundertste, der tausendste gar? Amor war nicht unschuldig. Egal von welchem Standpunkt aus man es betrachtete. Einzig vielleicht in der Echtheit seiner Gefühle. Seine Gefühle, die so rein waren, dass sich nichts Vergleichbares in allen drei Welten fand. Seine absolut aufrichtigen Gefühle. Und war sie das nicht, die Antwort? Hatte er sie nicht schon all die Zeit in sich getragen? Hatte sie nicht letztlich schon vor der Frage existiert, die so quälend an ihm genagt hatte? Hatte er es deshalb getan? Weil er eben jene Reinheit auf die Probe stellen, sie mit eigenen Augen hatte sehen wollen? War es nicht die Angst vor dem Irrtum gewesen? Die Angst, dass er selbst es war, der ihnen diese Aufrichtigkeit angedichtet hatte? Weil er fand, dass es zu ihm passte? Was hatte er ihm angetan? Wie schmutzig, wie hässlich waren dagegen seine eigenen Gedanken gewesen. Doch das war jetzt nicht mehr wichtig. Als ob seine Reinheit all das Schlechte aus ihm heraussöge. Als ob sein heiliges Licht die Schatten aus seinem Herzen vertrieb. Wie kitschig, dachte er. Ein verkappter Romantiker. Dabei war die Antwort so einfach. Er liebte ihn. Er liebte ihn mehr als alles andere, ganz gleich von welcher Welt sie sprachen. Und jetzt, in diesem Moment, wollte er ihn. Nicht nur für sich, nicht nur so oberflächlich. Natürlich für sich und einzig und allein für sich, aber nicht so einfach. Er wollte ihn ganz, mit allem was zu ihm gehörte. Mit Haut und Haar, mit Leib und Seele. Sein großes Herz, in das er jeden gerne schloss, das jedem offen zu stehen schien, sollte nur noch ihn kennen. Ihn allein. Und nie wieder sollte sich sein Körper an einen anderen schmiegen, sich seine Arme einem anderen entgegenstrecken. Er würde sein Partner sein. Der Zeitpunkt ihres Todes war ungewiss. Es lag bei den Menschen, ob sie das was und so blieben wie sie waren und niemand konnte sagen, wer von ihnen den anderen überleben, wie alt sie letztlich werden würden. Sie selbst vermochten darüber weder zu bestimmen noch ernstlich Einfluss darauf zu nehmen. Da ging es ihnen ähnlich wie den Menschen. Sie wussten es nicht, aber es spielte auch keine Rolle. Mochte er es nun ausgesprochen haben oder nicht, er hatte ihn angefleht bei ihm zu bleiben. Wider besseren Wissens war er bei ihm geblieben, hatte ihn beobachtet, sich ihm wieder und wieder genähert – auch gegen seinen Willen. Nun würde er die Verantwortung dafür übernehmen, mit den Konsequenzen leben müssen. Und das hieß, er würde mit ihm leben müssen. Götter mochten flatterhaft sein, Petrus war es nicht. Und er duldete es auch nicht. Natürlich würden sie sich nicht wie ein Ehepaar aufspielen, dafür waren sie schon charakterlich nicht geschaffen – weder Amor noch er selbst. Also würde es das sein, worauf es bei Göttern, schon angesichts ihrer Lebensspanne, immer hinauslief – eine Affäre. Und er würde es Amor nicht leicht machen. Er war ein anspruchsvoller Liebhaber und in hohem Maße besitzergreifend. Keine Eifersuchtsdramen, so einfach war er nicht gestrickt und es fiel ohnehin eher in das Metier des Älteren. Er war der Emotionale von ihnen beiden. Wieder musste er sich bremsen. Ging das nicht etwas zu weit? Worüber wollte er als nächstes philosophieren? Ihre Hochzeit? Der Schöne und das Biest? Die widerspenstige Zähmung? Und da war es passiert. Ein Moment der Unachtsamkeit und schon hatte der Ältere die Führung übernommen. Aber so nicht. Sauerstoff, dachte er plötzlich und ihm wurde schlagartig klar, woher diese unmöglichen Gedanken kamen. Er dirigierte die fremde Zunge dahin wo sie hergekommen war und seiner Meinung nach auch hingehörte. Atemlos trennten sie sich voneinander. „Du trägst das Parfüm gar nicht“, sagte der Jüngere schließlich und nur einen Lidschlag später küsste er ihn ein zweites Mal. Stürmisch, ungeschickt, verlangend. „Ich dachte es macht dich wütend“, gab der Rothaarige zurück und sofort war sein Blick wieder voller Sorge. Er zweifelte noch immer. „Ich bin nicht wütend“, erwiderte er leise und gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. Er musste sich beherrschen. Nichts übereilen, sie hatten Zeit. Er gewann nichts, wenn er zu stürmisch vorging. Und wenn er ihn verschreckte... Vorsichtig neigte er den Kopf ein wenig tiefer, schob den lästigen Hemdkragen beiseite und begann zärtlich am Hals des Anderen zu knabbern. Er hatte gar nicht gewusst, dass er es konnte – zärtlich sein. Wie sehr man es auch beschönigen mochte, blieb er doch ein rauer Geselle. Unstet und launisch wie das Wetter das er beherrschte. Plötzlich berührte etwas kaltes seine Lippen und der Witterungsbeauftragte öffnete die Augen. In einer langsamen Geste, begleitet von einem geradezu vorwurfsvollen Blick, zog er die Kette mitsamt dem daran befindlichen Anhänger hervor. „Also hatte Venus Recht, du trägst dieses alberne Ding tatsächlich mit dir herum.“

In Wahrheit hätte er vor lauter Glück beinahe etwas sehr Unüberlegtes getan. Amor nahm ihm den kleinen Flacon aus der Hand und drückte ihn an seine Brust. „Es ist nicht albern“, sagte er sanft, doch mit einer Ernsthaftigkeit, über die sich Petrus nur wundern konnte. „Mein Liebster hat es mir geschenkt.“

Das war zu viel. Während der Wetterpatron noch völlig perplex dastand, vollführte sein Herz bereits einen wahren Freudentanz. Zumindest fühlte es sich so an. Und natürlich vorausgesetzt, er litt nicht unter Herzrhythmusstörungen. Aber so etwas taten ja nur Menschen. Und noch immer konnte er sich nicht rühren. Obwohl er es wollte. So sehr wollte. Er konnte es nicht. Er stand einfach nur da und starrte ihn mit offenem Munde an. Und er erinnerte sich schon intelligenter ausgesehen zu haben. Doch der Ältere lächelte nur, öffnete das winzige kristallene Fläschchen und trug ein wenig der fein duftenden Flüssigkeit auf. War das normal? War es normal, dass jemanden eine so kleine, unscheinbare Geste dermaßen, wie sollte er es ausdrücken, anmachte? Wie in Trance sah er zu wie der Rothaarige den Flacon wieder verschloss, er selbst sich aus seiner Starre löste, auf ihn zuging und ihm das kleine Silberkettchen abnahm. „Das wirst du nicht brauchen“, flüsterte er ihm zu und legte seine Hände auf die kindlich weichen Wangen des jungen Gottes. Und jeder hielt den Blick des anderen mit dem seinen gefangen. „Wobei?“, hauchte der Rothaarige, doch der Ausdruck in seinen Augen war unmissverständlich. Ihr Leuchten brannte sich tief in sein Gedächtnis, seinen Geist, seine Seele. Und er wusste, er würde sie nie vergessen. Diese Augen, die voller Verlangen, voller Begehren waren. Augen, die nur ihn sahen. Er hatte nicht gewusst, dass sie einen solchen Ausdruck annehmen konnten und niemals hätte er zu hoffen gewagt, dass er es sein würde, den sie auf diese Weise ansahen. Er zog den Älteren an sich und küsste ihn, als wolle er ihn verschlingen. Amor hatte keine Angst. Er hätte es gespürt wenn es so gewesen wäre, aber da war nichts. Nicht einmal Zweifel. Nur Sehnsucht und tiefes, unerschütterliches Vertrauen. Gemeinsam sanken sie zu Boden, wie Pflanzen ineinander verschlungen. Nicht ein einziges Mal wandte Petrus den Blick von ihm ab. Wie unschuldig er wirkte, jetzt, da er unter ihm lag und liebevoll zu ihm aufsah, während seine schweren roten Locken sich über das dunkle Braun des Bärenfells ergossen. Der Ältere hob die Arme, doch der Wetterpatron war nicht bereit das Entkleiden ihm zu überlassen und so kam er ihm kurzerhand zuvor. Achtlos warf er Hemd und Krawatte beiseite. Und schon war der Blick des Gottes nicht mehr so unschuldig. Es war offensichtlich, dass ihm gefiel was er sah. Er schnurrte wie eine Katze und räkelte sich genießerisch unter ihm. Miststück, lag es Petrus auf der Zunge, aber diese war bereits dabei die andere zu einem Spiel aufzufordern. Und sie hatte Erfolg. „Bett?“, fragte er schließlich, nachdem er sich nur äußerst widerwillig von ihm getrennt hatte und Amor antwortete ihm auf seine unnachahmliche und ebenso unmissverständliche Art. Und es war ein klares Nein. Ihn von seinem rüschenbesetzten Hemd zu befreien, stellte sich allerdings als ein etwas aufwendigeres Unterfangen heraus. Zumal er offensichtlich Spaß daran hatte, es dem Jüngeren nicht leichter zu machen. Und obwohl Petrus nicht gerade dafür bekannt war, bewies er in diesem Fall und angesichts der besonderen Umstände geradezu eine Engelsgeduld. Allerdings nahm er sich diesmal nicht die Zeit den Anderen, nachdem er einmal von dem zwar dekorativen, aber momentan eher störenden Kleidungsstück befreit war, noch länger zu betrachten. Stattdessen ging er noch im selben Atemzug dazu über, jeden Zentimeter des makellosen Körpers zu erkunden. Zunächst mit den Händen, dann folgten ihnen Lippen und Zunge. Und Amor genoss es. Schon jetzt erfüllte sein Seufzen den Raum, auch wenn es gegen den drohenden Klang des Gewitters nicht ankam. „Sag mal“, fragte er plötzlich, „liege ich gerade wirklich auf einem toten Tier?“

Petrus hob den Kopf und sah ihn völlig verblüfft an. Dann verfinsterte sich sein Blick, als habe der Andere seinem Ego gerade einen herben Schlag versetzt. Tatsächlich stand der Wetterpatron über solchen Dingen, aber die Absurdheit dieser Frage, besonders angesichts dessen was sie gerade im Begriff waren zu tun, konnte er schlichtweg nicht fassen. „Du wirst gleich unter einem Tier liegen wenn du so weiter machst. Und zwar einem sehr lebendigen.“

Nun war es an dem jungen Gott verblüfft dreinzuschauen. Dann traf den Witterungsbeauftragten ein über alle Maßen anzügliches Lächeln. „Ich glaube damit kann ich leben“, gab der Ältere zurück, legte die Arme um den Hals des Wetterpatrons, zog ihn zu sich herab und gab ihm einen absolut atemberaubenden Kuss. Und kaum dass sie sich getrennt hatten, neigte er sich zu ihm und flüsterte ihm mit dieser aufreizenden Stimme ins Ohr. „Oh und könntest du bitte aufhören zu denken? Sonst bringst du mich noch endgültig um mein Selbstvertrauen.“

Denken? Hatte er das nicht schon vor geraumer Zeit eingestellt? Gerade jetzt, da er ihn daran erinnerte, geriet er in Versuchung darüber nachzudenken. Amor und mangelndes Selbstvertrauen? In einer Situation wie dieser? Undenkbar. Mit seinem Blick hätte er ohne weiteres Eis zum schmelzen bringen können. Und überhaupt, woran sollte man nach so einem Kuss schon denken? Woran sollte man denn überhaupt noch denken können?! „Ich sage doch du sollst damit aufhören“, sagte der teuflische kleine Verführer und schob seine Hand mit gewinnender Sicherheit unter den Stoff der Hose, die der Andere noch immer trug. Petrus biss sich auf die Lippe, um einen sehr bezeichnenden Laut des Wohlgefallens zu unterdrücken, doch sein Gesicht sprach Bände. Ein langer, unverhohlen begieriger Kuss, dann setzte er seine Expedition fort. Amor hatte eine wunderschöne Stimme und wo immer die Hände des Jüngeren eine empfindliche Stelle fanden, ließ er sie ihn hören. Und der Wetterpatron genoss es. Der junge Gott war nicht nur emotional sensibel, sein Körper stand dem in nichts nach. Wie gern hätte der Naturgeist sich noch mehr Zeit gelassen, die süße Qual der Erwartung noch länger ausgekostet. Aber es ging nicht. Vielmehr noch als der erfahrene Liebesgott war er es, der nicht länger warten konnte. Doch er wollte sich nicht die Blöße geben, seinen Höhepunkt noch vor dem Anderen zu erreichen. Längst schon war inmitten des leidenschaftlichen Spiels die Kleidung von ihren Körpern verschwunden und so war es ihm ein Leichtes, sich dem wohl empfindlichsten Körperteil seines Geliebten zuzuwenden. Er hatte keine Erfahrung was diese Dinge anbelangte, aber die Art wie er Lippen und Zunge einsetzte, schien dem Rothaarigen zu gefallen. Er mochte gelegentliche Seufzer von ihm kennen, aber das tiefe Stöhnen, das nun aus seiner Kehle drang, war damit nicht zu vergleichen. Das allein schon wäre Grund genug gewesen um zu kommen und Petrus hatte alle Mühe sich zu beherrschen. Obwohl er ihn seines Wissens nach nicht quälte, wand sich der Ältere unter ihm. Die Augen geschlossen, die Hand im Haar des Wetterpatrons vergraben. Man merkte dass er geübt war. Nicht an der Art wie er reagierte, sondern vielmehr an der Zeit, die er die Liebkosungen des Geliebten hinzunehmen vermochte, ohne die Schwelle zu überschreiten. Doch schließlich hielt auch er es nicht mehr aus. Ein unterdrückter Schrei, dann entspannte sich sein Körper. Sein Atem ging rasch und regelmäßig. Ob der ungewohnten Situation ein wenig zögernd schluckte der Jüngere, nur um erleichtert festzustellen, dass er auch diesen neuen Geschmack des Anderen liebte. Wie alles an ihm. Vorsichtig rutschte er nach oben, bis ihre Gesichter wieder auf einer Höhe waren und küsste ihn. Ein sanfter Kuss, der aber, je länger er andauerte, nur umso heftiger nach mehr verlangte. Nur war Petrus nicht sicher, ob er ihm das geben konnte. Nicht, dass er nicht grundsätzlich die Fähigkeit dazu gehabt hätte – wenn auch kein Gott war er doch zumindest ein götterähnliches Wesen –, aber das hier war nicht geplant gewesen und da er zu den wenigen Himmlischen gehörte, die den Voyeurismus nicht zu ihrem Hobby gemacht hatten, hatte er nur eine vage Vorstellung davon, wie es jetzt weitergehen sollte. Im Grunde wusste er es, aber er misstraute diesem Wissen zutiefst und wollte keinen Fehler begehen. Und am allerwenigsten wollte er den Anderen verletzen. „Ich fürchte, jetzt musst du mir helfen“, gestand er und sah den Liebesgott hilfesuchend an. Erst jetzt öffnete der Ältere die Augen und sah ihn mit lustverhangenem Blick an. Sein Atem war jetzt ruhiger, seine Wangen von einer zarten Röte überzogen. Einige quälende Sekunden lang sah er ihn an, dann nahm er die Hand des Wetterpatrons vorsichtig in die seine, hob sie zu seinem Mund und ließ zwei der schlanken Finger darin verschwinden. Das Gesicht des Jüngeren nahm einen deutlichen Rotton an, als er spürte wie die Zunge des Anderen sanft seine Finger umspielte. Er ertrug es kaum, doch wagte er es auch nicht sie ihm zu entziehen. Als der Liebesgott sie schließlich wieder freigab, forderte er sogleich einen Ersatz dafür und so trafen sich ihre Lippen erneut zu einem gefühlvollen Kuss. Behutsam lenkte der junge Gott die unerfahrene Hand, wies ihr den Weg und bedeutete ihr sanft, was ihre Aufgabe sein würde. Der Jüngere begriff – und scheute sich sich davor. Er hatte so etwas noch nie zuvor getan, doch war er sich sicher, dass es ihm wehtun würde, dass er ihm wehtun würde. Was, wenn er sich ungeschickt anstellte? Was, wenn er seine Erwartungen oder viel schlimmer, sein Vertrauen enttäuschte? Das tiefe Vertrauen, das ihm aus diesen wunderschönen goldenen Augen entgegensprach. Gewaltsam schob er die Zweifel beiseite, konzentrierte sich einzig und allein auf seine Finger. Amor bemerkte sein Zögern und rieb zärtlich seine Wange an der seinen. Seine Hand ruhte auf dem Unterarm des Naturgeistes, bereit ihn zu ermutigen, ihn zu führen wenn es nötig war. Als seine Finger in das Innere des jungen Gottes vordrangen, bäumte sich der schlanke Körper auf. Erschrocken hielt Petrus inne und es vergingen bange Sekunden der Angst bis er begriff, dass es nicht Schmerz sondern Lust war, die ihn erfasst hatte. Langsam, vorsichtig wagte er sich weiter, versenkte seine Finger immer tiefer in ihm. Jetzt lag der Rothaarige wieder flach auf dem weichen Untergrund, das Gesicht von Schmerzen gezeichnet. Die Augen hatte er geschlossen. Sorgenvoll beugte sich Petrus über ihn und strich ihm mit der freien Hand über Stirn und Haar. Zögernd begann er die Finger zu bewegen und schnell schwand der leidende Ausdruck vom Gesicht des Geliebten, machte dem höchsten Genusses platz. Und wann immer er von den weichen Lippen des Andere abließ, kündeten sie ihm von der Herrlichkeit dessen, was er empfand. Ein leidenschaftliches, aber nicht weniger sinnliches Wesen. Er konnte einfach nicht genug von ihm bekommen. Längst schon hatte der junge Gott ihn die Schwelle überschreiten lassen, doch war er bereit für ein weiteres Mal. Und der Ältere schien keinerlei Einwände zu haben, dass es sich diesmal in seinem Körper ereignete. Wie sonst sollte er diese bedingungslose Hingabe deuten? Zu den beiden Fingern, die bereits das Innere des Geliebten erkundeten, gesellte sich noch ein dritter. Mehr wagte er nicht, obwohl die Stimme des Gottes durchaus dazu reizte. Aber wenn Petrus auch sonst zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war, besaß er doch noch genug Verstand, um nach Möglichkeit alles zu vermeiden, was dem Anderen unnötige Schmerzen bereitete. Schließlich zog er seine Hand zurück, jedoch nur um ihn ein weiteres Mal zu erobern, wenn auch auf andere Weise. Er wusste, dass er nicht der Erste war. Wahrscheinlich nicht einmal sein erster Mann, aber das war nichts worüber er jetzt nachdenken wollte. Wie gut, dass er ihn vorbereitet hatte. Wie gut, dass Amor, statt seine Unerfahrenheit zu belächeln, ihm geholfen, ihn geführt hatte. Er war nicht der Erste, schoss es ihm wieder durch den Kopf. Er wollte diesen Gedanken nicht haben. Es war so eng in ihm. Er musste sich zusammennehmen, gelangte unversehens an die Grenze seiner Selbstbeherrschung. Für ihn selbst war es schön, ein herrliches, nein im Grunde unbeschreibliches Gefühl. Zaghaft begann er sich zu bewegen. Er wusste, dass er ihm wehtat. Obwohl er es langsam anging, obwohl er so vorsichtig war. Er wusste, dass es ihm wehtat. Er musste sein Gesicht nicht sehen, den nur mühsam unterdrückten Aufschrei nicht hören um es zu wissen. Er spürte es. So deutlich, dass er meinte er müsse ihn ebenso fühlen können. Aber es war nicht sein Schmerz. Er konnte ihn gar nicht fühlen. Nicht so, wie Amor ihn fühlte. Er bewegte sich weiter. Langsam, vorsichtig, einem unbekannten Rhythmus folgend. Der selbe Gesichtsausdruck wie zuvor. Er hätte verzweifeln mögen. Wieder beugte er sich zu ihm, doch die geschlossenen Lider des Älteren versagten ihm jeden Blick in seine Seelenspiegel. „Amor“, flüsterte er leise, flehentlich. „Amor.“

Der Rothaarige öffnete die Augen und Petrus glaubte, sein Herz müsse ihm zerspringen. So viel Liebe lag in seinem Blick und doch glänzten die Tränen in ihnen. Er musste sich zwingen aufzuhören. Es ging nicht. Hier war die Grenze. Er gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn, doch kaum, dass er in der Bewegung innehielt, erschien ein neuer Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Gottes und in einer fast schon verzweifelten Geste legte er die Arme um den Hals des Wetterpatrons und klammerte sich an ihn. „Nein“, keuchte er und zum ersten Mal klang es nicht mehr als habe er Schmerzen. „Hör nicht auf! Bitte! Hör...bitte nicht auf...Bitte.“

Der heiße Atem an seinem Ohr war schlimmste Folter und seine Worte ließen sie nur noch exquisiter erscheinen. „Hör nicht auf, hörst du? Ich bin so glücklich, dass du...Ich will, dass du...“

Mit einem Kuss brachte Petrus ihn zum Schweigen. Er wollte nichts mehr hören. Was sollte ihn jetzt, da er seine Erlaubnis, sein Einverständnis hatte, noch aufhalten? Behutsam begann er sich wieder in ihm zu bewegen und diesmal hörte er nicht auf. Und kaum dass er den Entschluss dazu gefasst, kaum dass er erneut begonnen hatte, schon entspannten sich die Züge des Anderen und schon bald entlockte er ihm Seufzer, die tatsächlich nicht von dieser Welt schienen. Amor war gut, besser wohl als er es je sein würde. Und er war erfahren. Und so hatte er keinerlei Schwierigkeiten damit sich ihm anzupassen. Ihre Stimmen, wenn sie auch nicht miteinander konkurrierten, schienen sich doch immer wieder gegenseitig anstacheln zu wollen. Die Stimme des Engels, des Gottes, die seinen Namen rief, den klanglosen Namen eines einfachen Naturgeistes. Nie hätte er es sich träumen lassen und wäre es so gewesen, er hätte sich seiner geschämt. Nicht seines Geliebten, seiner selbst. Die Welt um sie herum verschwamm, löste sich auf und ließ nur sie beide zurück. Erst einmal begonnen war es einfach. Ganz und gar von der Liebe zueinander erfüllt, bewegten sie sich im gleichen Takt, zur selben lautlosen Melodie. Und sie selbst schufen Rhythmus und Musik. Nicht zügellos, aber voller Leidenschaft. Petrus wusste nicht ob er gut war – er hoffte es und wenn er dem, was Amor ihm zeigte und zurückgab Glauben schenken durfte, dann genoss er es ebenso sehr wie er selbst. Diesmal war es der Wetterpatron, der als erster das Feuerwerk, das Hochgefühl und die Gnade der Erlösung erfahren durfte. Und nur ein paar Sekunden später folgte Amor seinem Beispiel.
 

Sie redeten. Blieben einfach liegen, nackt wie sie waren und redeten. Redeten über alles mögliche. Nicht gerade über Gott, aber über die Welt, über das Wetter und alles, was ihnen sonst noch so in den Sinn kam. Ganz gleich was es war, wie bedeutungslos es auch zu sein schien. Es ging nicht darum was es war, sondern einzig darum dass sie redeten. Dass sie endlich wieder redeten. Und das taten sie. Inzwischen war es aufgeklart, die Wolken hatten sich verzogen und die Sicht auf einen sternenübersäten Himmel freigegeben. Petrus hatte sich nicht wirklich darum gekümmert, aber es spielte auch keine Rolle. Er war glücklich. Als habe seine aufgewühlte Seele endlich Frieden gefunden. Nach so langer Zeit. Er war glücklich. Und endlich, endlich sprachen sie dieselbe Sprache. Amor sah ihn an und lächelte. Dann rollte er sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und seufzte theatralisch. „Mannomann, da haben wir ja eine wirklich erstklassige Seifenoper hingelegt, oder?“

Dem Wetterpatron klappte die Kinnlade herunter und er schnappte nach Luft. Das war doch...! Ja durfte das denn wahr sein?! Er war sichtlich empört. „Und ich dachte immer ich wäre unromantisch“, grummelte er und sah den Älteren schmollend an. Der Rothaarige hatte sich aufgerichtet, sah ihn einen Moment lang perplex an und verfiel in schallendes Gelächter. Ein glockenklarer, absolut reiner Klang. Für jeden Musikfreund ein wahrer Genuss. Und ein gewinnendes, ja ansteckendes Lachen. Petrus stimmte zwar nicht ein, Lachen lag ihm nicht besonders, aber er konnte ihm auch nicht länger böse sein. Keine Chance. Er war wohl wirklich hoffnungslos verliebt. Wann hatte er den Anderen zuletzt so offenherzig, so frei lachen hören? Er konnte sich nicht daran erinnern. Also genoss er das seltene Vergnügen und sah dem Rothaarigen in seiner offensichtlichen Ausgelassenheit zu. Und freute sich mit ihm. Ein gutes Gefühl. Und in den goldenen Augen des jungen Gottes leuchtete die gleiche Verliebtheit, die gleiche sehnsüchtige Zärtlichkeit wie in den seinen. Und von jetzt an würde es immer so sein. Besser, intensiver, lebendiger als jemals zuvor. Nie wieder. Nie wieder wollte er ihn so verletzen. Amor sah ihn an, sein Blick war voller Zärtlichkeit. Seine weichen Lippen formten ein unendlich sanftes, glückliches Lächeln. Petrus erwiderte den Blick, neigte sich zu ihm und küsste den Älteren. Ja, von jetzt an würde es besser sein. Wir werden glücklich sein, dachte er, bevor sie gemeinsam einschliefen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Eispfote
2011-02-06T23:51:01+00:00 07.02.2011 00:51
Oh Gott! Das ist ja SO süß! <33
Hach *seufz*
Ich würde ja sinnvolleres schreiben aber mir fehlen die Worte. Mal davon abgesehen, dass ich müde bin, weil es viel zu spät ist. Aber ich konnte nicht aufhören zu lesen.
Ehrlich ich LIEBE diese Geschichte!
Am Anfang habe ich mich so kaputt gelacht und dann war es so süß und traurig und hach...

liebe verträume Grüße
Kusoka


Zurück