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Das Tagebuch der Nellie Lovett

von

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Die unverzeihliche Lüge

Schritt für Schritt näherte sich Sweeney der Frau. Ein roter Schleier des Zorns hatte sich über seinen Blick gelegt. Alles fühlte sich so unwirklich an. Er konnte nicht mehr klar denken, wusste nur noch, dass er einer Lüge zum Opfer gefallen war. Einer unverzeihlichen Lüge, die nie hätte erzählt werden dürfen! Und diese Lüge war ihm von der Person erzählt worden, der er ein kleines Bisschen seines Vertrauens geschenkt hatte, ein ganz kleines Bisschen und doch war es schon zu viel gewesen. Sie hatte ihn ausgenutzt, keinen Gedanken an ihn verschwendet, sondern es selbstsüchtig für ihre eigenen Zwecke benutzt!

„Ich tat es doch nur zu Ihrem Besten! Bitte, glauben Sie mir, Mr Todd.“

Die Antwort, die sie ihm schuldig gewesen war, drang nur dumpf und verzerrt an sein Ohr. Mehr musste er aber nicht hören. Sie bestätigten nur seine Gedanken. Die Verzweiflung, welche in den Worten mitschwang, die Worte selbst – das alles war geheuchelt. Jedoch hätte ihre Antwort ohnehin nichts mehr genützt. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als sich Sweeney endlich der Wahrheit bewusst geworden war, war ihr Urteil gefällt – ihr Todesurteil. Nichts sollte dem mehr im Wege stehen. Keins ihrer Worte, würde seine Entscheidung mehr rückgängig machen können.
 

Er hatte Mrs Lovett erreicht, befand sich ihr dicht gegenüber, konnte die Todesangst, die ihr ins Gesicht geschrieben stand, beinahe schmecken und weidete sich daran. Ja, sie wusste, welch Schicksal sie ereilen würde, wie so vielen anderen auch, die ihm über den Weg liefen.

Entfernt wurde ihm bewusst, dass er seine Rasiermesser nicht dabei hatte, sie noch gut verwahrt in der Kiste, oben in seinem Barbiersalon lagen. Doch das war egal, spielte in diesem Augenblick keine Rolle, da es schließlich auch andere Möglichkeiten gab, einem Menschen das Leben zu nehmen.

Bei dem Gedanken flackerte ein unmenschliches Lächeln über Sweeneys Gesicht, verzerrte seine Züge zu einer dämonischen Fratze. In seinen schwarzen Augen loderte der Hass und ein Anflug von Wahnsinn gesellte sich dazu.
 

Eine Gänsehaut kroch Mrs Lovett den Rücken hinauf, als sie diesem Blick begegnete und ein eisiger Schauer schüttelte sie, während sich die kalten Hände des Barbiers um ihren Hals legten.

So hätte es nicht enden sollen! Nie, nie hatte das, was gerade geschah in ihrer Absicht gelegen! Tränen füllten ihre Augen, rannen ihr übers Gesicht und tropften auf die Finger ihres Mörders.

„Nie…“, hauchte sie mit erstickter Stimme, „nie hätte es … so geschehen sollen… es tut mir so Leid!“

Er hörte sie nicht, fühlte ihre Tränen, die seine Hand hinabliefen nicht. Es war wie ein Rausch, ein Rausch, der ihm das Gefühl der Genugtuung gab, endlich selbst so etwas wie Gerechtigkeit zu erfahren, sie ausüben zu können.

„Bitte, verschonen Sie mich. Kommen Sie zur Vernunft, ohne mich…“, brachte Mrs Lovett mühsam hervor. Die Gefahr, in der sie sich befand, gab ihr die nötige Kraft, ihrer Stimme einen durchdringenden Unterton zu verleihen – wenn er auch nur schwach war.

Sie drangen zu ihm durch. Jedes einzelne Wort hallte klar in Sweeneys Kopf wider und stärkte bloß seinen Hass. „Verdammte Lügnerin!“, brüllte er dieses Mal, ließ seiner Wut freien lauf und durchbrach die erdrückende Stille, welche in der Küche hing. Dann fügte er beherrschter hinzu: „Sie haben es auch nicht besser verdient, als all der andere Abschaum zu sterben!“

Er drückte zu, beobachtete wie die Augen der Frau hervortraten und sie verzweifelt versuchte, sich seinem Griff zu entwinden. Es war ein aussichtsloser Kampf für sie, der schon längst entschieden war.

„N-…Lucy…!“

Mrs Lovett war bereits viel zu schwach, um einen verständlichen Satz hätte hervorbringen zu können. Doch allein dieser geröchelte Laut genügte.

Sweeney erkannte sofort, welchen Namen die Frau in ihren letzten Sekunden geröchelt hatte. Lucy. Er erstarrte.

Mehr brauchte es nicht. Sein Wahn war mit einem Mal zerschlagen, zerbrach in tausend Splitter und stürzte in sich zusammen, eine schreckliche, glasklare Leere, zurücklassend.

Schnell ließ er den Hals der Frau los, als habe er sich verbrannt und hörte einen seltsamen Laut in ihrem Versuch, gierig nach Luft zu schnappen. Dann brach sie zusammen.
 

Die Wirklichkeit stürzte mitleidlos auf ihn ein. Ihm war plötzlich bewusst, dass er voreilig gehandelt hatte, dass er nicht wusste, wie er Lucy finden, wie er sie erkennen sollte… Seine Wut hatte wieder einmal die Überhand ergriffen und ihn jeglichen klaren Gedankens beraubt. Er war blind gewesen. Und nun, nun war es vielleicht zu spät, war sein Handeln nicht mehr rückgängig zu machen. Denn auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, so brauchte er Mrs Lovett vielleicht noch.

Langsam beinahe behutsam ging Sweeney in die Hocke und näherte sich dem regungslosen Körper. Es war ein schrecklicher Moment für ihn. Die ganze Realität drang mit voller Härte auf ihn ein, verdrängte jeden seiner überflüssigen Gedanken und dennoch nahm er in diesem Augenblick jedes noch so unwichtige Detail wahr wie die fleckige Tapete, eine Küchenschabe, die hektisch nach einem sicheren Versteck suchte oder den derben Fluch eines Kutschers draußen auf der Straße. Vergeblich wünschte der Barbier sich seinen Hass wieder herbei, der ihm die Verantwortung nahm und alles vergessen ließ.
 

Sweeneys Hand berührte die warme Schulter der Frau, jedoch konnte er keine Regung spüren. Ein Anflug von Beunruhigung durchlief ihn. Wenn er sie nun umgebracht hatte? Sie, die einzige Person, die wusste, wer Lucy war!

Schmerz stieg in ihm auf, als er vergeblich versuchte, sich das Antlitz seiner Frau in Erinnerung zu rufen. Und so etwas wie Angst bemächtigte sich seiner. Er konnte sich schon lange nicht mehr an das engelhafte Gesicht seiner geliebten Lucy erinnern. Wie sollte er sie ohne Hilfe finden? Er war bereit, jeden einzelnen Londoner umzubringen, wenn es sein musste, jede Gasse nach seiner Frau abzusuchen, sei sie auch noch so finster, schließlich war er selbst schon längst ein Teil der Londoner Unterwelt geworden, aber was nützte es ihm, wenn er vielleicht gar nicht wusste, wie das Gesuchte aussah?

Während ihm all diese Gedanken durch den Kopf gingen, beugte er sich über Mrs Lovett und legte sein Ohr dicht über ihren Mund und hoffte. Hoffte einen Atemstoß zu spüren, zu hören, möge er auch noch so schwach sein! Er brauchte ein Lebenszeichen!

Nichts.

Da war nichts!

Sweeneys Kopf war wie leergefegt, als diese Erkenntnis ihn traf. Beinahe mit Unglauben starrte er auf die Frau und war sich mit einem Mal bewusst, dass ein kleiner Teil die ganze Zeit über fest davon überzeugt gewesen war, sie nicht umgebracht zu haben. Aber nun war auch diese Überzeugung zerstört.

Was hatte er getan?

Allmählich dämmerte ihm das ganze Ausmaß seiner Tat. Zu voreilig – er hatte viel zu voreilig gehandelt! Er hätte mit dem Töten warten können, doch nun, nun war es zu spät…



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