Lachen hilft eigentlich gegen alles
Lost Angel
Kapitel 35 – Lachen hilft eigentlich gegen alles
Jesko's PoV
Ich machte mir gerade verdammte Sorgen um Jemil. Bis Mitternacht könnte man ihm
wohl noch wirklich alles antun, was man wollte. Er war so hilflos, wie ein
kleines Kind, das man alleine in einem von wilden Tieren heimgesuchten Dorf
zurückgelassen hat.
Unter solchen 'wilden Tieren' befand sich der junge Vampir wohl gerade auch. Die
Werwölfe – und somit auch ich – waren doch nicht mehr. Wenn sie erst einmal
merken würden, dass er gerade nur ein Mensch war, dann würden sie sich auf ihn
stürzen. Der Wolf in mir wurde doch wegen seines Geruches schon ganz irre. Ich
war mir nicht so sicher, ob ich das den ganzen Tag über aushalten würde.
Meine Finger zitterten, als ich Jemil den Arm um die Schultern legten. Schon
wieder waren wir über zwei Stunden unterwegs. Dadurch, dass es so nah an der
Sonnenwende war, war auch der Tag so verdammt kurz. Somit hatte der junge Vampir
auch kaum Schlaf gefunden.
Mein Blut geriet in Wallung. Ich konnte so gut wie nicht atmen. Sein Geruch ließ
den Wolf in mir ausrasten. Er wollte fressen. Doch das würde ich nicht zulassen.
Jemil würde ich nicht einfach beißen und am Ende vielleicht auch noch umbringen.
Dafür war er nicht geschaffen. Und erst recht hatte ich ihm dafür nicht gesagt,
was ich für ihn fühlte.
„Was siehst du mich denn so an?“ Etwas verlegen blickte er zu mir auf. Das er so
überhaupt schauen konnte. Sein Gesichtsausdruck war einfach nur zu süß.
„Nichts.“ Ich kratzte mich am Hinterkopf. Verdammt. Wenn das immer so sein
würde, wenn ich einen Menschen roch, dann könnte ich mir gleich selbst die Kugel
geben. Das konnte man doch gar nicht aushalten.
„Du kannst dich wohl kaum beherrschen.“ Und obwohl er das wusste, legte er
seinen Kopf an meine Schulter. Kuschelte sich genüsslich leicht an mich.
Ich könnte ihm wohl eigentlich gar nichts antun. Nicht solange er so an mir
hing. Das wäre doch gar nicht gerächt. Er hätte mich auch schon so oft einfach
beißen können. Mich damit so leicht töten können. Und kein einziges Mal hat er
es getan.
Ich blickte von Jemil auf. Vor uns spielten einige junge Hybride und Werwölfe
fangen. Felix war auch darunter. Früher hatte der blonde Vampir auch einmal so
mit Mila gespielt. Oft hab ich ihnen dabei zugesehen. Nur selbst hatte ich nie
mitmachen dürfen. Es war weder ihnen noch mir gestattet zusammen zu spielen.
Auch sonst hatte ich nie jemanden zum Herumtollen. Die anderen Werwölfe waren
alle älter. Hatten sich nur wirklich rührend um mich gekümmert.
Irgendwann – ich war vielleicht 11 oder 12 Jahre alt – hatte das aufgehört. Er
wurde kalt. Eis war vielleicht noch etwas Warmherziges gegenüber ihm. Er hatte
einfach aus Langeweile angefangen sich immer wieder Werwölfe herauszusuchen und
sie zu schlagen und zu treten. Möglicherweise war es keine Langeweile. Es könnte
eigentlich auch sein, dass er einfach seine Wut an uns ausgelassen hatte. Seine
Wut auf sich selbst.
Ich hatte es einmal gesehen, wie er einen anderen Wolf fast zu Tode geprügelt
hatte. Er hatte dabei geweint. Biss dabei aber krampfhaft die Zähne zusammen um
es zu unterdrücken. Aber ich habe es gesehen. Wie gerne hätte ich ihn doch
damals schon in den Arm genommen. Nur hatte ich es einfach nicht gekonnt. Oder
wohl eher ... gedurft.
Jemil seufzte. „Die Kleinen sind wirklich süß“, meinte er. Sah, wie ich, den
kleinen Hybriden und Werwölfen zu. Wie sie durch den Schnee tollten. Es würde
ihm vielleicht sogar gut tun. So ein Kind. Es war doch sogar normal, dass man
Leuten, die in der Psychiatrie waren, nach ihrem Aufenthalt irgendetwas gab, um
das sie sich kümmern konnte. Auch wenn es nicht unbedingt gleich ein Kind sein
müsste.
Immer enger schmiegte sich der Vampir an mich. Und mir stieg wieder so extrem
dieser menschliche Geruch in die Nase.
„Wie lange noch?“, flüsterte ich. Kniff die Augen zusammen. „Noch ein paar
Stunden. ... Du hältst das schon durch.“ So sicher war ich mir da nicht.
Eigentlich war er doch gerade nur noch Futter für mich.
„Würdest du einfach zubeißen?“ Ich drückte seinen Kopf noch etwas weiter an
meine Schulter. Kraulte ihn leicht hinterm Ohr. So wie er es sonst immer bei mir
machte. „Würde ich wohl nicht“, erwiderte ich schließlich. Auch wenn sein Geruch
das ziemlich schnell auch ändern könnte.
„Dann ist es ja gut. Es wird immerhin jedes Jahr wieder passieren, dass ich für
diesen Tag ein Mensch sein werde.“ Gerade das jagte mir aber Angst ein. Ich
könnte einfach über ihn herfallen. Ihn zerreißen. Eigentlich würde ich das nie
wollen. Doch was wenn ich mich einfach einmal nicht unter Kontrolle hätte. Jeder
Zeit könnte ich ihm einfach etwas antun.
„Ich vertraue dir“, hauchte mir da aber schon Jemil ins Ohr. Löste sich schon in
der nächsten Sekunde von mir und stapfte etwas näher zu den Jüngeren, die sich
gerade wie wild mit Schneebällen bewarfen.
„Onkel Jemil!“ - Felix lief auf den jungen Vampir zu - „Spiel ein bisschen mit!“
Abrupt packte der Kleine ihn am Arm und zog ihn einfach mit. Etwas irritiert
blickte ich den Beiden hinterher.
Genauso schnell, wie er sich Jemils Arm gepackt hatte, ließ Felix ihn auch
wieder los. Aber auch nur um sich etwas Schnee zu krallen und ihn zu einen Ball
zu formen. Und schon im nächsten Augenblick warf er ihn nach dem Vampir. Doch
der Schnee flog nur knapp an seinem Kopf vorbei. Es kam mir im ersten Moment gar
nicht so vor, als ob Jemil darauf eingehen würde. Doch da hagelte es nur so
Schneebälle auf den kleinen Hybriden, der ihnen nur mit Mühe und Not ausweichen
konnte.
Ein fieses Grinsen bildete sich auf meinen Lippen. Das würde ich doch jetzt
nicht zulassen, dass er sich einfach so auf den Kleinen stürzen würde. Der hätte
doch nie gegen ihn eine Chance.
Langsam schlich ich mich an Jemil heran. Zuvor hatte ich mir auch etwas von dem
Schnee genommen. Als ich nur noch ein paar Meter hinter ihm war, rief ich
einfach seinen Namen. Natürlich wirbelte der Vampir sofort herum. Da landete das
kalte Weiß aber schon in seinem Gesicht. Auf Anhieb kicherte ich los. Jemils
Gesichtsausdruck war einfach zu goldig.
„Jesko!“, fauchte er da aber schon. Konnte sich aber gar nicht lange aufregen.
Da sich schon Felix wieder auf ihn stürzte. Mit Schnee um sich werfend landeten
die beiden auf dem Boden. Ganz sicher, ob das gerade alles passierte, war ich
mir auf einmal nicht mehr. Jemil lachte. Ja, er lachte richtig. Bekam sich gar
nicht mehr ein.
Da bombardierte ihn der kleine Hybride aber schon wieder mit einer ganzen Ladung
Schnee. Vielleicht sollte ich ihm einmal helfen. Sonst würde er noch unter den
weißen Massen begraben werden.
Ich packte Felix unter den Armen und zog ihn von Jemil weg. Wild schlug der
Kleine um sich, als sich der Vampir aufsetzte. Immer noch kicherte. Schon lange
waren die anderen stehen geblieben. Sahen uns etwas irritiert bei unserem Spiel
zu.
Gerade hatte sich der Blonde wieder halbwegs eingekriegt, als ich Felix wieder
auf dem Boden absetzte. Langsam wollte der Vampir aufstehen. Sank aber wieder
zurück. Kicherte erneut los. Und ich konnte es auch nicht mehr zurück halten.
Der Kleine tat Jemil wohl wirklich gut. Gerade zu, zu gut. So lachen hatte ich
ihn eigentlich noch nie gehört. Einfach so im Schnee hätte er wohl auch nicht
einfach so getobt.
Ein weiteres Mal versuchte der Vampir aufzustehen. Schaffte es auch endlich.
Erst jetzt riss sich auch Felix wieder von mir los. Lief strahlend zu Jemil und
schlang auch gleich die Arme um dessen Taille.
„Das reicht jetzt aber wieder.“ Der Blonde wuschelte dem kleinen Hybriden durchs
Haar. Der aber schon im nächsten Moment das Gesicht verzog. „Lass uns doch noch
ein bisschen spielen.“ Der Kleine schob die Unterlippe nach vorne. Doch Jemil
schüttelte den Kopf.
„Nimm mich nicht so hart ran.“ Der Vampir strich Felix über die Wange. Dann sah
er auch schon zu mir. Er hatte ein leichtes – wirklich leichtes – verschwitztes
Lächeln aufgelegt.
Sanft löste er die Umarmung des Kleinen. Nahm ihm aber auch gleich an der Hand
und kam zu mir zurück. Ihm entfuhr gerade ein kurzes Auflachen, als ich etwas
sagen wollte. „Tut mir leid, Jesko“, entschuldigte er sich. Felix sah nur
zwischen uns hin und her. Grinste dann aber schon. Eine Sekunde später hatte er
schon Jemils Hand losgelassen und war zurück zu den paar jüngeren Hybriden
gelaufen, die sich auch schon wieder eine kleine Schneeballschlacht lieferten.
„Das tut richtig gut.“ Jemil legte mir einen Arm um die Schultern. Stützte sich
scheinbar sogar etwas an mir ab. „Geht's dir gut?“, fragte ich besorgt. Es sah
fast so aus, als ob ihn das bisschen Herumgetolle schon völlig fertig gemacht
hatte.
„Klar. Das hab ich nur seit Jahren nicht mehr gemacht. Bin es wohl einfach nicht
gewohnt“, erwiderte er schnell. Kuschelte sich aber auf einmal an mich.
„Kann es sein, dass du frierst?“ Es war wohl nicht unbedingt unauffällig, dass
er auf einmal wieder so sehr meine Nähe suchte. „Etwas“, gab er zu. Ich legte
ihm einen Arm um die Taille. Wir würden wohl noch die ganze Nacht unterwegs
sein. Also würde es wohl auch noch um einiges Kälter werden.
„Denkst du, dass es Pio noch einmal versucht?“ Ich sah Jemil mit gehobener
Augenbraue an. „Was versucht?“ Sein Halbbruder hatte doch schon so viel getan,
für das ich ihn jede erdenklichen Qualen wünschen könnte.
„Mich zurück zu holen“, erwiderte der Vampir. Ich glitt über seine Finger. „Kann
schon sein. Aber ich pass auf dich auf.“
Langsam löste er sich wieder von mir. Ging ein bisschen schneller, so das er
einen guten halben Meter vor mir hermarschierte. Einmal glitt er mit den Fingern
durch sein blondes Haar. Blickte gen Himmel. Ich folgte seinem Blick. Es
strahlten die Sterne und der Mond hatte eine Sichel gebildet.
„Ich kann mir vorstellen, dass wir bis zu den Sternen müssten, bevor er uns
wirklich in Ruhe lässt.“ Ein Seufzen verlässt seine Kehle, scheinbar um das noch
zu verstärken, was er sagte.
Eigentlich wollte ich ihm noch etwas erwidern. Doch da halt schon Sotuganais
Stimme durch die Nacht. Er rief wieder eine Verschnaufpause ein. Die Jüngeren
waren aber auch zum größten Teil ganz schön außer Puste. Obwohl sie das fast
alle selbst zu verschulden hatten. Aber man konnte ihnen auch nicht einfach das
Spielen verbieten.
Zusammen mit Jemil setzte ich mich in die Nähe einiger Bäume. Wieder erstreckte
sich hinter uns ein Wald.
„Ich geh man schnell für kleine Königstiger“, hauchte er mir ins Ohr und
verschwand auch schon im nächsten Moment in dem Wirrwarr aus Ästen und Zweigen.
Ich schluckte. Eigentlich sollte ich ihn gar nicht alleine gehen lassen. Was
wenn Pio gerade das ausnützen würde. Jemil war doch gerade nur ein Mensch. Er
könnte sich nie im Leben gegen den Vampir wehren. Das konnte er schon so nicht.
Leise seufzte ich. Streckte mich schließlich auch ausgiebig.
Aber Jemil würde sich schon bemerkbar machen, wenn irgendetwas wäre. Das würde
er nicht so stillschweigend über sich ergehen lassen. Wie er brüllen konnte
hatte ich jetzt immerhin auch schon erlebt.
Was aber, wenn Pio ihn bewusstlos schlägt. So das er sich überhaupt nicht mehr
bemerkbar machen könnte. Es würde mich nicht wundern, wenn Pio das machen würde.
Nur damit ich Jemil nicht helfen könnte.
Ich bekam Panik. Ja. Anders konnte ich es gar nicht definieren. Wie lange war
Jemil denn jetzt schon weg? Eindeutig zu lange. Ich sprang auf. Versuchte
krampfhaft den Geruch des Blonden wahrzunehmen. Doch ich konnte einfach nichts
riechen. Eigentlich müsste ich ihn gerade wirklich einfach finden. Er war doch
der Einzige, der nach Mensch roch. Jedoch schnüffelte ich wirklich gar nichts.
Nicht mal im Ansatz.
Was wenn ihm wirklich etwas zugestoßen war? Dann wäre ich schuld! Das könnte ich
mir nicht verziehen. Nie im Leben.
Ich rief seinen Namen. Doch es kam nichts. Keine Antwort.
Wieder rief ich ihn. Und wieder nichts. Nur Stille. Jedoch stieg mir da auf
einmal dieser grässliche Geruch in die Nase. Der reine Vampirgeruch. Konnte das
wirklich sein? Konnte das Pio sein? Würde er ihm wieder etwas antun?
Ich stützte kopflos in das Unterholz. Folgte nur diesem Geruch. Den Hals würde
ich ihm umdrehen, wenn er ihn jetzt noch einmal anrühren würde. Nein. Ich würde
ihn gleich in Stücke reißen. Nur das hätte dieses Arschloch verdient!