Nur ein...
Lost Angel
Kapitel 34 – Nur ein...
Jemil’s PoV
Noch nie hatte ich mit irgendjemanden auch nur im Ansatz über meine Mutter
geredet. Vielleicht einfach nur, weil ich selbst so gut wie nichts mehr von ihr
wusste. Nur dieses Lied war in meinem Gedächtnis zurückgeblieben. Nicht mal an
ihr Gesicht konnte ich mich erinnern.
Ich spürte, wie Jesko seine Arme um meine Taille legte. Seinen Kopf drückte er
an meine Schulter.
„Ich kann mir vorstellen, dass du nicht darüber reden willst“, hauchte er mir
ins Ohr, „wenn du aber trotzdem willst, dann höre ich gerne zu.“ Ich hörte
regelrecht, wie er sanft lächelte.
Zaghaft drehte ich mich zu dem Werwolf herum. Passte nur auf, dass Felix immer
schön unter der Decke blieb.
Die leichte Wärme, die Jesko abgab, heizte mich schon genügend auf und trotzdem
kuschelte ich mich an ihn.
In jedem Moment in dem ich länger in seinen Armen lag, wurde ich müder. Nur bei
ihm konnte mir das passieren. Sonst fand ich einfach bei niemanden richtig Ruhe.
Einmal atmete ich tief durch. „Eigentlich weiß ich nichts mehr von damals.
Selbst ihr Gesicht hab ich vergessen. Aber ... ich kann mich noch an den Tag
erinnern, an dem sich meine Vampirfähigkeiten das erste Mal gezeigt haben. Das
war eigentlich der letzte an dem ich bei ihr war.“ - Für einen Moment setzte ich
aus. Schloss die Augen um mich noch einmal in diesen Augenblick hineinversetzen
zu können. - „Damals war ich schon kurz vor Sonnenaufgang draußen. War durch das
kleine Dorf in dem ich mit meiner Mutter lebte marschiert. Ich sollte für sie
ein paar Semmeln holen. Weil sie die ganze frischen wohl am liebsten moche.“ -
Ein weiteres Mal hielt ich inne. - „Als ich aus der Bäckerei wieder rausgegangen
bin, war die Sonne schon aufgegangen und das Licht viel auf meine Haut. Im
ersten Moment hatte ich es gar nicht richtig wahrgenommen. Doch es begann
plötzlich zu brennen. Wäre ich wohl nicht schnellstmöglich wieder in den
Schatten gekommen, dann wäre ich verbrannt. Einfach zu Asche zerfallen.“
Ich schluckte. Dass das alles schon so lange her war. Mit der Zeit würden die
Erinnerungen wohl verwischen. Irgendwann würde es weg sein. Und ich würde
einfach vergessen. Ob es wohl wirklich so einfach war?
„Meine Mutter hat mich gesucht, als ich nach einer halben Stunde noch nicht zu
Hause war. Verdammte Sorgen hat sie sich um mich gemacht. Aber als sie mich in
dieser Ecke sitzen sah, wusste sie wohl schon, was passiert sein musste. Es ist,
als ob ich jetzt noch ihr Schluchzen hören könnte. ... Seltsam, dass ich mich
aber sonst nicht an sie erinnern kann.“
Jesko drückte mich an sich. Noch enger. „Und dann hat dich ...“, begann er, doch
ich unterbrach ihn einfach. „Mein Vater hat mich in dieser Nacht zu sich geholt.
Damals hatte ich auch das erste Mal Pio kennengelernt. Mir wurde auch seit
diesem Tag eingeredet, dass seine Mutter auch die meinige wäre. Und ich hatte es
geglaubt, je länger es mir gesagt wurde. Erst vor einem Jahr wurde mir dann
wieder von meiner richtigen Mutter erzählt und dass sie ... ein Mensch war. ...“
Ich legte meinen Kopf an Jeskos Brust. Sein Herzschlag hielt mich regelrecht
davon ab einfach loszuheulen. Er beruhigte mich gerade zu.
Leicht biss ich mir auf die Zunge. „Und was den seltsamen Geruch angeht“,
murmelte ich, „den werde ich jetzt wohl bis so gegen Mitternacht behalten.“ Es
war so weit. Pünktlich zum neuen Tag vor ein paar Stunden hatte ich es bemerkt.
Der Vampir in mir hatte sich komplett meiner menschlichen Hälfte geschlagen
gegeben.
„Wieso?“ Die Frage kam gerade zu gerechtfertigt. Selbst hatte ich es auch erst
verstanden, als ich erfuhr, was meine richtige Mutter war bzw. wieder
erfuhr. „Weil sich einmal im Jahr der menschliche Teil im mir durchsetzt und das
ist heute.“
Ich sah langsam zu Jesko auf. Der Schrecken war ihm buchstäblich ins Gesicht
geschrieben. „Dann bist du jetzt ... dann bist du jetzt nur ein ... ... ...
ein ... Mensch?“ Ich nickte nur langsam. Es war so. Ich war nur ein sinnloser,
schwacher Mensch. Mehr nicht.
„Und das bis heute irgendwann in der Nacht?“, fragte der Werwolf da auch schon.
Ich nickte wieder. Den gesamten Tag über würde ich so bleiben.
Leicht fuhr ich mir mit der Zunge über die Zähne. Selbst meine spitzen Eckzähne
hatten sich zurückgebildet.
„Dann kannst du aber an die Sonne!“ Was lag denn da jetzt so Freudiges in Jeskos
Stimmen. Gefiel ihm die Tatsache vielleicht ein wenig, dass ich nichts mehr von
einem Vampir an mir hatte.
„Kann schon sein“, murmelte ich. Nie hatte ich das ausprobiert, ob ich an diesem
Tag ins Sonnenlicht könnte. Vor allem nicht, seit mich Pio für seine Spielchen
missbraucht hatte. In diesen einen 24 Stunden hatte ich mich aber auch meist
überhaupt nicht aus meinen Zimmer getraut.
Abrupt zog mich Jesko hoch. „Das probieren wir jetzt einfach aus“, bestimmte er
einfach und sammelte schon meine Sachen wieder ein, die er mir auch im hohen
Bogen zuwarf. Etwas irritiert stand ich erst nur da, bevor ich die Klamotten
dann auch nahm und sie mir anzog. So sicher war ich mir gar nicht, ob das jetzt
funktionieren würde.
Kurz darauf hatte mich der junge Werwolf wirklich nach draußen geschliffen. Im
ersten Moment versuchte ich mich noch etwas im Schatten zu halten. Wo mich die
Sonne überhaupt nicht erreichen konnte. Doch da packte mich Jesko schon einfach
am Arm und zog mich ins Licht.
Es brannte nicht. Tat gar nicht weh. Fühlte sich sogar richtig angenehm an. Ganz
warm. Ich hatte dieses Gefühl zwar all die Jahre nie vermisst, aber es war
einmal wieder schön. Eigentlich hatte ich es aber auch gar nicht wirklich
gekannt.
„Du genießt das ja richtig.“ Jesko hatte mir seine Arme um die Schultern gelegt
und seine Kopf auf den meinen. Er war schon ein Stück größer als ich.
„Es ist nur so schön warm“, erwiderte ich schließlich. Blickte gen Himmel.
Einige Wolken hatten sich dort gebildet. Nur kleine. Zum Schneien würde es somit
wohl nicht anfangen. Dabei gewöhnte ich mich langsam an die Kälte und an dieses
wunderbare Weiß.
„Du tust ja gerade so, als ob es Frühling wäre.“ Jesko kicherte leicht. Es
amüsierte ihn wohl sehr, dass ich diese Art von 'Warm' nicht kannte. Die Nacht
war einfach schon immer kälter gewesen, als der Tag. Und für ein Wesen der
Finsternis, wie mich, konnte es doch nur etwas besonderes sein, wenn es einmal
ins Licht durfte.
Ich drückte mich etwas zurück. Spürte ganz leicht das ewige Heben und Senken der
Brust des Werwolfes. Wieder etwas, dass mich so unglaublich entspannte.
Ich begann leicht auf meiner Zungenspitze zu kauen. Eigentlich sollte ich mich
gar nicht erst so an ihn kuscheln. Sonst würde er doch nie damit herausrücken,
was er für mich empfand. Vielleicht sollte ich ihn auf körperlichen Entzug
schicken und es dann aus ihm heraus quetschen.
Aber wäre das nicht eigentlich richtig gemein? Ich gab doch auch nichts von
meinen Gefühlen preis. Außer das ich es ihm vielleicht mit ein paar
Zärtlichkeiten zeigen wollte. Doch das verstand er nicht. Zumindest schien es
nicht so ganz.
Jesko ging einen Schritt zurück und legte seinen Kopf auf meine Schulter. Wie
lange würde es wohl dauern, bis der Wolf in ihm sich nicht beherrschen konnte
und wegen dem Menschengeruch auf mich losgehen würde? Im Grunde war ich gerade
nicht mehr, als sein eigentliches Futter, auch wenn die Werwölfe den einen
Vorteil gegenüber Vampiren hatten, dass sie auch normale Sachen essen konnten.
Mir war es als Halbvampir gerade einmal vorbehalten mich an pflanzlichen Dingen
auch satt essen zu können. Obwohl das wohl manchmal kaum möglich war. Blut war
für mich genauso lebensnotwendig, wie für jeden anderen Vampir.
Jesko seufzte. „Frierst du auch nicht?“, fragte er. Etwas sinnlos, wie ich fand.
Wie sollte mir denn bei ihm je kalt sein.
Ich schüttelte den Kopf. Da schmiegte er aber schon den seinen an meinen Hals.
Es kitzelte ganz leicht, wenn eines seiner Haare meine Haut streifte.
Er flüsterte mir etwas ins Ohr, was ich eigentlich kaum verstand. Aber trotzdem
war es laut genug. „Das sagst du doch nur so!“ Mir stiegen Tränen in die Augen.
Das Einzige, auf das ich eigentlich gewartet hatte einmal von ihm zu hören und
dann fing ich wieder an zu heulen, wenn er es endlich von sich gab.
„Das würde ich nie. ... Verdammt Jemil ... Ich kann einfach nicht anders. ...
Ich ... liebe ... dich!“
Nur drei verflucht kleine Worte. Und sie jagten mir einen solchen Schauer über
den Rücken. Das ich sie gar nicht glauben konnte, könnte man einfach einmal
hinten anstellen.
„Du hast es doch die ganze Zeit schon gespürt, sonst hättest du dich doch nie so
langsam so unglaublich nah an mich herangewagt.“ So begriffsstutzig war er dann
wohl doch nicht, wie ich gedacht hatte.
„Ich dich auch“, hauchte ich nur. Es war viel einfach, als es anders zu sagen.
Da hatte ich aber leider ganz ohne Jesko gerechnet. „Sag es richtig!“ Ich kniff
nur die Augen zusammen. Atmete tief durch. „Ich ... ich ... ...“ Weiter kam ich
einfach nicht. Konnte er es nicht verstehen, wie schwer es für mich war, dass
jemanden zu sagen.
Abrupt ließ er mich los. Stapfte mürrisch an mir vorbei. Er verstand es wohl
wirklich nicht. „Dann tuest du es wohl wirklich nicht.“
Er drehte sich leicht wieder zu mir und biss sich etwas auf die Unterlippe. Doch
es war wohl doch ein bisschen zu viel. Langsam begann das Blut zu tropfen.
Färbte den Schnee zu den Füßen des Werwolfes rot.
Zaghaft berührte ich seine Lippe. Wischte die rote Flüssigkeit von dort weg. Und
wieder widerte es mich an, dass ich es an den Fingern hatte. Dieses verfluchte
rote Zeug. Doch Jesko erlöste mich gleich davon. Leckte es mir von den Fingern.
Wie gebannt sah ich ihm dabei zu. Wie seine Zunge sich über meine Fingerspitzen
bewegte. Immer wieder warf er mir dabei einen kurzen Blick zu.
Es hatte kaum einen Minute gedauert. Da ließ er meine Hand schon wieder sinken.
Aber ich konnte einfach nicht von ihm los kommen. Legte ihm einen Arm um den
Nacken. Drückte meine Stirn gegen seine Brust.
„Ich liebe dich ... ich liebe dich ... ich liebe dich ...“, immer wieder
murmelte ich es vor mich hin, bis er seine Finger um mein Kinn legte und meinen
Kopf leicht anhob. Mein Atem war in ein Stocken übergegangen. Jedoch machte sein
Lächeln das ganz einfach wieder weg.
Doch als er mir mit seinen Lippen näher kam, raste nicht nur mein Herz. Ich ging
einfach auf den Kuss ein. Es fühlte sich sogar gut an, dass uns wohl nur ein
paar Vögel dabei zusahen. Die Werwölfe schliefen alle schon oder noch. Genauso
wie die Hybride. Einmal fühlte sich die Einsamkeit richtig gut an. Obwohl ich
gar nicht alleine war. Jesko war bei mir. Und das sollte sich nie ändern.
Ich keuchte, als sich der Werwolf wieder von mir löste. Seine braunen Augen
konnten sich wohl gar nicht von mir lösen. Mein Herz schlug auch immer noch wie
wild. Was er doch eigentlich alles in mir auslöste. Es hatte noch nie jemand
einfach so geschafft, dass ich Herzrasen hatte. Oder dieses Kribbeln in meinem
Magen. Wie wenn sich dort Tausende von Schmetterlingen tummeln würden.
Auf einmal überkam mich die Müdigkeit wie ein Schauer. Leicht sank ich zusammen.
Krallte die Finger in Jeskos Shirt, nur damit ich nicht ganz auf die Knie
rutschte.
„Wie wäre es jetzt mit ein bisschen Schlaf?“, hauchte mir der Wolf ins Ohr.
Sofort schüttelte ich den Kopf. Ich wollte noch nicht schlafen. Lieber würde ich
auf ewig neben ihm wach liegen. Egal was kommen würde. Doch da widersprach er
mir auch gleich: „Es sieht aber ziemlich so aus, als ob du dich dringend etwas
aufs Ohr legen müsstest.“
Ich konnte gar nicht mehr so schnell schauen, wie er mich auf einmal über seine
Schulter warf. Wie wild begann ich mit den Beinen zu schlagen. Hämmerte mit den
Fäusten auf seinem Rücken. „Lass mich runter!“, fauchte ich, wie eine wütende
Katze. „Entspann dich!“ Wie konnte er denn nur so vergnügt klingen. Und
entspannen würde ich mich jetzt auch ganz bestimmt nicht.
„Verdammtes Arschloch! Lass mich runter!“, brüllte ich. Würde wohl noch das
ganze Lager wieder aufwecken. Doch das war mir gerade so ziemlich egal. Sollten
sie doch merken, was er gerade mit mir machte.
Jesko schüttelte nur leicht den Kopf. Ihn störte mein Gezeter wohl überhaupt
nicht. Er drückte mich nur ganz vorsichtig an sich. „Beruhige dich doch einfach
und lass dich tragen“, meinte er. Klang dabei immer noch so belustigt.
Ich verschränkte schmollend die Arme. Dann würde ich jetzt eben eingeschnappt
sein. Vielleicht passte ihm das ja mehr.
„Plötzlich so ruhig?“, fragte er, als er mich im Zelt auf die Felldecke fallen
ließ. Felix war wohl zum Glück nicht wach geworden.
„Kann doch dir egal sein!“, schnaubte ich. Drehte mit einem wütenden Blick den
Kopf weg. Ich hörte sein überdeutliches Seufzen. Und für das, was er dann sagte,
hätte ich ihm wohl am liebsten den Hals umgedreht: „Führ dich nicht auf, wie ein
trotziges Kind! ... Oder sind das jetzt die Nebenwirkungen des Menschseins?“
Einige Minuten blieb er ruhig. Setzte sich dann neben mich. „War doch nicht so
gemeint.“ Vorsichtig legte er mir einen Arm um die Schulten. Liebkoste leicht
meinen Hals. Als ich ein erregtes Seufzen von mir gab, ließ er abrupt von mir
ab. „Was ist denn?“, fragte ich. Gerade wollte er sich wieder so an mich heran
machen, aber kaum reagierte ich auf seine sanften Küsse ging er auf Distanz.
„Wir sollten das hier nicht machen ... und auch nicht weil du gerade ... na ja,
weil du nur ein Mensch bist.“ Er sah weg.
„Was soll denn das 'nur' heißen? Ich bin immer noch Jemil. Nur weil sich gerade
das Vampirblut eindämmen hat lassen, bin ich kein anderer.“ Reumütig blickte er
wieder zu mir. „Ich weiß. Aber ... vielleicht würde ich dir - so wie du jetzt
bist - wehtun.“
War das sein einziger Grund? Wollte er mich einfach nicht verletzen?
Ich lehnte mich an ihn. Mit der Zeit fielen mir die Augen zu und an seiner
Schulter war es gerade am bequemsten.
Doch durfte ich das eigentlich fühlen, was ich fühlte? Ich war mir doch gar
nicht im Klaren, was es bedeutete jemanden zu lieben oder von jemanden geliebt
zu werden. Wer hatte das denn auch in den letzten Jahren für mich getan?
Niemand. Jesko war der Erste nach so langer Zeit, die mir vorkam, wie eine
Ewigkeit.