Prolog
Ungeduldig sah Alisha auf die Uhr. Eine Minute noch. Der Raum schien zu kochen und nicht einmal die offenen Fenster konnten die Hitze, die sich aufgestaut hatte, ausgleichen. Alisha schloss die Augen und lehnte sich gegen die kühle Mauer. Das, was sie jetzt verpasste, würde sie ohne Probleme nachholen können, das wusste sie. Keiner aus der Klasse war noch wirklich wach, nur die wenigsten versuchten überhaupt noch aufzupassen. Der Stoff würde so oder so wiederholt werden müssen.
Das Ticken der Uhr war unerträglich laut geworden. Zu laut. Irritiert öffnete Alisha die Augen. Grinsende Blicke begegneten ihr.
"Da Sie nun ebenfalls wach sind, Alisha, können Sie mir vielleicht meine Frage beantworten."
Alisha war ratlos. Sie hatte schon seit dem letzten Klingelzeichen nicht mehr zugehört, wie sollte sie jetzt auch noch wissen, was die Frage war?
"Don", rief der Lehrer schließlich den Nächsten auf.
"Vierundsiebzig. Aber bei der-"
Es klingelte.
"Du bist heute auch nicht gerade auf der Höhe, stimmt's?", zwinkerte Melissa Alisha zu. "Mach dir nichts draus, ich hätt's auch nicht gewusst. Sie warf sich ihren Ranzen über die Schulter. "Bis morgen!"
Alisha grinste, schnappte sich ebenfalls ihre Tasche und machte, dass sie weg kam. Das Letzte was sie jetzt noch brauchen konnte war eine Diskussion mit dem Lehrer.
Die Bushaltestellen vor der Schule waren wie immer komplett überfüllt. Während Alisha sich mühsam durch die Massen von wimmelnden und wuselnden Fünftklässlern kämpfte, schweiften ihre Gedanken ab. Sie hatte viel zu tun heute Mittag, Hausaufgaben ohne Ende, ihr Zimmer musste aufgeräumt werden, der Artikel für die Schülerzeitung war noch lange nicht fertig... ihre gedankliche To-Do-Liste wurde länger und länger. Und die nächsten Tage würden nicht besser werden.
Müde lief sie die Abkürzung durch den Stadtpark, umlief einige spielende Kinder und bog schließlich in die Straße ein, in der sie wohnte. Schon von Weitem hörte sie den Bass aus der neuen Anlage ihres Bruders. Sie grinste während sie die Haustür aufschloss und ließ schließlich ihre Tasche im Flur auf den Boden fallen.
Endlich zu Hause.
"Bin wieder da!", rief sie überflüssiger Weise in die Richtung, aus der die Musik kam. Sie ging in die Küche, zog eine Instantsuppe aus dem Schrank und kochte Wasser auf. Im Kalender stand für den heutigen Tag nichts. Seufzend ließ sie sich auf einen der Küchenstühle fallen.
"Hey, bist du schon lang hier?"
Alisha zuckte zusammen und drehte sich um. Hinter ihr im Türrahmen stand Karsten, ihr Bruder, und sah sie amüsiert an.
"Erschrocken?", fragte er gespielt überrascht.
"Nein, ich doch nicht", gab Alisha ebenso gespielt zurück. "Wie kommst du darauf?"
Schmunzelnd ließ sich Karsten auf den Stuhl gegenüber von Alisha fallen. "Nur so", antwortete er wenig überzeugend. "Ich hätte schwören können dass du zusammengezuckt wärst. Krieg ich was von deiner Suppe ab?"
Abwesend nickte Alisha. "Sag mal", fragte sie plötzlich, "könntest du mir helfen? Ich hab noch ziemlich viel zu tun, aber ich komme sicherlich nicht dazu, alles selbst zu erledigen, wenn ich nicht die Nacht durchmachen will."
"Kommt drauf an." Ihr Bruder zuckte mit den Schultern. "Was musst du denn alles erledigen?"
"Ich muss in die Stadt, noch einige Kleinigkeiten für Englisch holen, Jenny das Material mitbringen, das sie nächste Woche für die Arbeit braucht, ihr bei der Gelegenheit dann auch gleich Mathe erklären, dann muss mein Zimmer aufgeräumt werden, mein Abfalleimer ist mal wieder übervoll, Hausaufgaben, das Bad muss geputzt werden, lernen, den Artikel für die Schülerzeitung schreiben, den Bericht für die Homepage vom "Jazzclub seven-three-two" verbessern und on stellen..." Alisha zuckte mit den Schultern. "Und am Besten alles schon gestern."
Karsten nickte. "Ich bring deinen Abfall runter und mach das Bad. Und in der Zwischenzeit machst du ne Liste und ich hake ab was ich geschafft habe, während du in der Stadt deine Besorgungen machst."
"Danke." Sie fuhr ihm mit den Fingern durch das halblange, schwarze Haar, was er überhaupt nicht leiden konnte. Er verzog das Gesicht in gespieltem Ekel.
"Wenn du so weitermachst überleg ichs mir nochmal gut."
Alisha lachte. "Du glaubst nicht wie aufgeschmissen ich ohne dich wäre."
Er zog die Mundwinkel zu dem für ihn so typischen spöttisch-amüsierten Ausdruck, den er vor allem in der Gegenwart seiner Schwester nur zu gern benutzte. "Ich weiß. Und glaub mir, früher oder später werde ich es voll und ganz auskosten, dich hilflos zu sehen, während ich die Bedingungen stelle. Ich werde mich für jedes Mal Hausarbeiten gründlich revanchieren."
Eine halbe Stunde später stand Alisha in einem Schreibwarenladen vor einer unübersehbaren Menge verschiedenster Blöcke, Blätter, Stifte und Mappen. Unschlüssig sah sie vom Einen zum Nächsten. "Lineatur 27", murmelte sie leise zu sich selbst.
"Hinter Ihnen", kam ein freundlicher Kommentar von der Seite. "Lineatur 27 und 28 werden am häufigsten gebraucht, deswegen haben sie einen besonders gut sichtbaren Platz, der sich momentan genau hinter Ihnen befindet." Der Verkäufer sah sie mit schelmisch glitzernden Augen an. "Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen?"
Alisha drehte sich um. Tatsächlich war das gesuchte Heft genau hinter ihr gewesen, und sie hatte trotz der ungewöhnlichen Größe das gesamte Regal einfach übersehen. Verlegen lächelte sie. "Danke, aber das war alles. Den Rest habe ich schon." Mit dem Heft in der Hand ging sie zur Kasse und bezahlte.
"Machen Sie sich nichts draus", tröstete sie der Verkäufer. "Das geht einigen so, der Laden hier müsste für die vielen Waren viel größer sein. So aber..." Er zuckte mit den Schultern. "Da kann man nichts machen, es gehen zu viele Menschen in die Supermärkte um die Ecke als dass wir wirklich noch genug Umsatz machen würden um uns ein größeres Geschäft mieten zu können."
Alisha beschlich ein leises Schuldgefühl und sie verließ zügig das Geschäft. Sie gehörte zu der Art Menschen, die sich zwar immer wieder vornahmen, etwas zu ändern, aber am Ende doch nicht daran dachten, diese Idee umzusetzen. Demotiviert ging sie wieder nach Hause. Jenny war nicht bei ihren Eltern gewesen, es schien ihr wieder schlechter zu gehen. Was Jenny genau hatte, wusste Alisha nicht, aber da Jenny wegen ihren vielen Fehltagen und ihrem kränklichen Aussehen nur wenige Freunde hatte, die alle nicht in der Gegend wohnten, hatte sich Alisha gemeldet um ihr die Hausaufgaben vorbeizubringen. Obwohl sie sie nicht wirklich kannte und mit ihr nie mehr als ein, zwei Worte gewechselt hatte. An Tagen wie diesem jedoch verfluchte sich Alisha für ihre Bereitwilligkeit.
Ein spitzer Schrei holte sie in die Gegenwart zurück. In der Nebengasse, an der sie gerade dabei gewesen war vorbeizulaufen, saßen drei Jugendliche um ein dunkelhäutiges, vielleicht vierjähriges Mädchen herum, das voller panischer Angst die ihr entgegen gehaltenen Messer anstarrte.
Ohne weiter zu überlegen verfiel Alisha in einen leichtfüßigen, leisen Gang, steigerte ihr Tempo immer weiter, ließ wenige Meter vor den Jungen die Tüten fallen und warf sich mit einem lauten Schrei auf sie. Ein wütendes Gefecht entbrannte, bei dem sie nur knapp als Sieger hervorging. Als sie die Jugendlichen in die Flucht geschlagen hatte, drehte sie sich betont langsam und vorsichtig um, um das Mädchen nicht zu verschrecken. "Verstehst du mich?", fragte sie leise.
Das Mädchen nickte mit großen Augen.
"Hör zu, du musst jetzt tun was ich sage. Wohnst du weit weg von hier?"
Die Kleine schüttelte den Kopf und zeigte auf eine verdreckte, im Schatten liegende Metalltür.
"Das ist gut." Alisha war erleichtert. "Dann geh so schnell du kannst nach Hause. Ich will nicht, dass dir doch noch was passiert."
Kaum hatte sie ausgeredet, drehte sich das Mädchen auf dem Absatz um und rannte los. Alisha vergewisserte sich noch, dass sie wirklich durch die Tür ging, dann, als die Tür zufiel, ließ sie sich erschöpft und mit schmerzverzerrtem Gesicht an der Wand hinuntergleiten. Sie spürte, wie ihr auf der rechten Seite eine warme Flüssigkeit das Bein hinunterlief.
Mit zitternden Händen drückte Alisha an ihrer Uhr einen kleinen Knopf, der ein winziges Fach an der Seite des Gehäuses aufspringen ließ. Erst war Stille und nichts passierte, dann meldete sich eine leicht schnarrende, verzerrte männliche Stimme.
"Du hast dich auch schon lange nicht mehr gemeldet."
"Halt die Fresse und schick mir jemanden, ich brauch Hilfe", gab Alisha unwirsch zurück.
Die männliche Stimme lachte leise, dann war es wieder still. Alisha fühlte sich unglaublich müde. Sie wusste genau, wenn die Hilfe nicht bald kam, hätte sie ein Problem.
Das Letzte, was sie sah, bevor sie ohnmächtig wurde, war die sich schnell vergrößernde Lache Blut, die sich neben ihr ausbreitete und sich ihren Weg durch den Rinnstein suchte.