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Tearsong

von

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Blut/Opfer

Satan hatte den Geruch des ihnen so vertrauten Blutes als erster wahrgenommen. Er preschte voller Zorn voran und ließ dabei seine beiden Gefährten ein gutes Stück hinter sich. Auf der Höhe des kleinen Erdwalls, der das Menschendorf umgab und es vom umliegenden Wald trennte, hielt er jedoch an und kauerte sich nieder.
 

**Sie haben ihn**, sendete er zu seinen Gefährten. **Wie konnten sie ihn nur gefangennehmen?**
 

Die Wut seiner Gedanken übertrug sich auf Silber, den sonst so besonnenen seiner beiden noch bei ihm verbliebenen Gefährten. Zusammen wären sie wohl in das Menschendorf hinuntergeprescht, um dem Spuk dort auf ihre Weise ein jähes Ende zu bereiten. Aber Stormsong erreichte Satan vor Silber und kniete neben ihrem wolfsgestaltigem dunklen Freund nieder.
 

**Nein**, sendete sie ihm beschwörend zu **Wir wollen ihn nicht durch überstürztes Handeln in Gefahr bringen.**
 

Grübelnd strich sie ihren beiden Wolfsgefährten über das Fell, wobei sie sich des leichten Buckels auf Satans Rücken erneut bewußt wurde. Angestrengt spähte sie in das Lager der Menschen, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Kerr gebunden zu sehen, überraschte sie, denn eigentlich dürften ihm solche Fesseln keinerlei Probleme bereiten. Er mußte doch mehr an seiner Krankheit leiden, als er bisher hatte zugeben wollen. Aber ihn dermaßen geschlagen vorzufinden, daß sein kostbares Blut ihm über Gesicht und Körper lief, erfüllte sie mit heißem Zorn. Und noch etwas anderes nahm sie wahr: In Kerrs Nähe, allerdings nicht wie er einfach gefesselt, sondern an einen mit Totenschädeln geschmückten Felsen gebunden, entdeckten ihre Augen eine weitere, kleinere Gestalt, ebenso mißhandelt wie ihr Gefährte, wenn nicht sogar noch schlimmer. Sie zog die Lippen zurück und stieß an ihren Fangzähnen vorbei ein wütendes Knurren aus.

**Beim Blut der Mutter! Diese Ungeheuer foltern ihre eigenen Kinder!**
 

Trommeln erfüllten die Dunkelheit, die das Licht der Sonne vertrieben hatte, und die Menschen, die diese Dunkelheit zu fürchten schienen, hatten ein Feuer in der Mitte ihres Lagers entzündet, ein großes Feuer, das trotzdem nicht in der Lage war, die Furcht aus den Herzen der Menschen zu vertreiben. Denn wieder hatten sie eines der Dämonenkinder gefangengenommen, um es in dieser Nacht Gotara als Opfer darzubringen. Nicht dieses Dämonenkind fürchteten sie, denn sie hatten schon viele seiner Art getötet und sich damit Gotaras Wohlwollen verdient. Nein, was diese Menschen fürchteten, war der größere Dämon, den die Jäger nur unter großen Verlusten hatten fangen und binden können. Von beinahe menschlicher Gestalt, hätte er sie wohl täuschen können, wären seine Haut und sein Haar nicht so hell gewesen. Noch nie hatten diese dunkelhäutigen Menschen einen solchen Dämon gesehen, schön wie ein junger Morgen, mit Haaren, die wie die Strahlen der aufgehenden Sonne glänzten und auch hell und golden wie solche waren. Aber all diese Schönheit war geschwunden, als er sich gegen die Jäger mit furchtbaren Fangzähnen zur Wehr gesetzt hatte, um drei von ihnen zu töten, noch ehe die anderen wußten, wie ihnen geschah. Der alte Schamane blickte nachdenklich ins Feuer. Wollte Gotara sie prüfen, indem er einen ausgewachsenen Dämon sandte, der versuchte, die Dämonenkinder zu verteidigen?
 

Stormsong kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. Was auch immer sie unternehmen wollten, es mußte schnell gehen, das spürte sie, denn die Zeit wurde knapp. Diese Menschen hatten sich bestimmt nicht alle versammelt, um Kerr und das Kind in ihren Dorf willkommen zu heißen. Aber sie alle waren hungrig, denn seit Menve von dem Blut, das sie getrunken hatte, plötzlich krank geworden und kurz darauf gestorben war, hatten sie sich kaum genährt. Ihre scharfen Augen entdeckten einen jungen Krieger, der etwas abseits vom Geschehen stand, wahrscheinlich um dort Wache zu halten. Satan und Silber konnten das Vorhaben erkennen, das im Geist ihrer Gefährtin Gestalt annahm.

**Niemals!**, knurrte Satan. **Das ist zu gefährlich für dich!**

Stormsong lächelte süß zu ihm herab, aber die Härte in ihren Augen ließ sowohl ihn als auch Silber zurückweichen.

**Kerr ist mein Gefährte.** Damit war es entschieden. Sie würde gehen. Plötzlich wurde ihr Lächeln beinahe amüsiert.

**Außerdem, mein dunkler Freund, ich bezweifle, daß du meinen Plan ausführen könntest.**

Leise lachend verschwand sie in der Dunkelheit. Satan war nicht nach lachen zumute. Aber wenn Stormsong sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, setzte sie das auch in die Tat um. Außerdem war ihr Plan nicht ganz schlecht; sie alle brauchten Nahrung. Also ließ er sich neben Silber, der stumm weiter das Geschehen im Menschendorf beobachtetet, nieder. Wenn Stormsong rief, würden sie bereit sein.
 

Orke war wütend, daß er in einer Nacht wie dieser Wache halten mußte. Eifersucht erfüllte sein Herz, daß sein Bruder Ark dazu auserwählt worden war, das Opfer darzubringen, und nicht er, Orke, stärkster Sohn seines Vaters. Irgendetwas ließ ihn den Kopf heben, eine Art innerer Zwang ergriff ihn, sich ein Stück weiter vom Dorf zu entfernen. Irgendetwas zog ihn an, zog an seinem Geist, füllte ihn mit Versprechen von Freude und Ruhm. Die Trommeln im Dorf konnten nicht lauter schlagen als sein Herz, als er erblickte, was ihn so gelockt hatte. Diese Frau mußte eine Tochter Gotaras sein, groß wie ein Krieger und geschmeidig wie eine Wildkatze. Und sie war zu ihm, zu Orke, gekommen, weil sie wußte, daß er ein starker Krieger war, der gesunde Söhne zeugen konnte. Und diese Frau würde ihm einen Sohn gebären, der ihm Ruhm und Ansehen bringen würde, einen Sohn, der ihrer beider Stärke vereinte und später über alle herrschen würde. Er ließ seine Waffen zu Boden fallen, als sie ihre Arme ausstreckte, um ihn zu empfangen. Er erschauerte, als sie ihn an sich zog und sich mit ihm auf den Waldboden gleiten ließ. Er keuchte auf, als kühle Finger über seine Brust und seinen muskulösen Bauch hinabstrichen, während sich kühle Lippen auf seinen Hals legten. Sein Keuchen wurde allerdings schmerzerfüllt, als sich beinahe zärtlich Zähne in seinen Hals bohrten. Aber er konnte nicht kämpfen, er war völlig gelähmt vor Angst und Verzückung.
 

Stormsong konnte sich nicht völlig sättigen, denn bevor der Junge starb, mußte er noch Satan und Silber nähren. Während sie nach ihren Gefährten rief und sie erwartete, bettete sie den Kopf des jungen Kriegers in ihren Schoß und strich ihm beruhigend über den Kopf. Seine Augen waren vor Entsetzen geweitet, aber sie hatte ihn in eine Trance versetzt, die verhindern würde, daß er schrie oder sich zur Wehr setzte. Sie bedauerte beinahe die Notwendigkeit seines Todes. Was sie in seinem Geist gelesen hatte, als sie von ihm trank, hatte sie erschreckt. Soviel Haß; soviel Angst. Soviel Unverständnis. Satan und Silber traten zu ihr, und sie überließ ihnen den schreckerfüllten Jüngling. Sein Blut pulste warm durch ihre Adern, und seine Kraft würde ihr helfen, Kerr und dem Kind beizustehen. Satan und Silber folgten ihr durch die Nacht. Der junge Krieger war tot.
 

Kerr schüttelte vorsichtig den Kopf, um seine Gedanken zu klären. Blut lief aus einer Kopfwunde über sein Gesicht. Soviel zu dem Thema, auf die Gastfreundschaft dieser Menschen zu hoffen. Das Fieber der Krankheit brannte in seinem Körper. Wäre er ein Mensch, wäre er schon lange tot. Aber auch so würde er bald endgültig tot sein. Menve war auch daran gestorben. Er hatte nicht erwartet, daß diese Menschen ihn mit offenen Armen empfangen und pflegen würden. Er hatte aber auch nicht erwartet, gefangengenommen und gefoltert zu werden. Sie waren als Forscher hierhergekommen, nicht als Krieger. Vielleicht hätte er sich nicht einmischen sollen, als sie das kleinere Wesen einfangen wollten. Aber für solche Überlegungen war es wohl zu spät. Heute nacht würden sie beide sterben.
 

Sie mußten schnell sein. Anscheinend hatten die Menschen sich entschlossen, daß die Zeit für ein Opfer günstig wäre. Ein junger Krieger näherte sich in unzweifelhafter Absicht dem kleineren Gefangenen. Arke, schoss es Stormsong durch den Kopf. Eifersucht, die sie mit dem Blut Orkes getrunken hatte, durchschoss ihren Geist. Sie blieb kurz stehen, um ein paar tiefe Atemzüge zu tun. Lasse niemals anderes Blut als dein eigenes deinen Geist beherrschen! Eine der Regeln, die sie sonst immer befolgt hatte, aber es war so lange her gewesen... Sie leckte sich über die Lippen, in der Hoffnung, einen bisher vergessenen Blutstropfen zu finden. Sie fand keinen, lächelte aber trotzdem. Gleich würde sie wieder Blut schmecken.
 

Satan blickte fragend zu seinen Gefährten herüber. Muskeln spannten sich, und ein scheinbar längst vergessenes Gefühl der Erregung im Hinblick auf die bevorstehende Jagd ergriff ihn. Auch Silber und Stormsong schien es nicht anders zu ergehen, denn beide hatten sie ihre Fangzähne freigelegt, so daß diese im Mondlicht zu blitzen schienen, während das Feuer im Menschendorf grausige Schatten auf ihren Gesichtern tanzen ließ. Jede Bewegung mußte jetzt stimmen, wie in einem Tanz jeder Schritt auf den Rhythmus abgestimmt sein mußte. Denn das Blut des jungen Kriegers würde ihnen nicht lange die von ihren Feinden so gefürchtete Eigenschaft geben, würde sie nicht lange "unsichtbar" machen. Satan grinste, genau wie seine beiden Gefährten, als sie seinen Gedanken folgten. Unsichtbar waren sie nie gewesen, aber sie konnten sich mit einer Schnelligkeit bewegen, daß die Augen von Lebewesen keine dieser Bewegungen wahrnahm. Nur deswegen schienen sie sich unsichtbar und mit unglaublicher Geschwindigkeit von einem Ort zum anderen bewegen. Aber diese Eigenschaft hatte ihren Preis: sie zehrte stark an den Kräften; verbrauchte viel des aufgenommenen Blutes.
 

Stormsong atmete noch einmal tief durch. Jetzt oder nie. Sie gab das Zeichen zum Angriff.
 

Auch der alte Schamane gab in diesem Moment ein Zeichen. Das Zeichen, das Opfer darzubringen. Voller Genugtuung sah er, wie sich das Dämonenkind verzweifelt gegen seine Fesseln stemmte. Auch der andere Dämon hatte wütend aufbegehrt, saß jetzt jedoch merkwürdig still, den Blick in die Ferne gerichtet. Der Schamane lächelte zufrieden. Anscheinend hatte dieser Dämon akzeptiert, daß sein Tod und der seines Kindes der Wille Gotaras waren. Der alte Schamane stimmte das uralte Lied der Opferzeremonie an, während der auserwählte Krieger, Ark, das Dämonenkind bei den Haaren packte und seinen Kopf weit in den Nacken zurückzog, um der Klinge des Opfermessers eine bessere Angriffsfläche zu bieten. Der kleine Dämon bot noch immer all seine Kräfte in diesem sinnlosen Kampf auf, Muskeln spannten sich, und frisches Blut lief über seine Handgelenke, wo sich die Fesseln tief ins Fleisch eingegraben hatten. Kein Entkommen.

"JETZT!" Der Befehl schien doppelt über den Platz widerzuhallen. Erstaunt über seine eigene Stimmgewalt, wollte der alte Schamane doch keinen Moment der Opferzeremonie versäumen. Aber als er nach nur einem kurzen Lidschlag die Augen wieder auf das Geschehen richtete, zweifelte er zum ersten mal in seinem Leben an Gotaras göttlichem Lenken.

Denn nicht mehr der Kopf des Dämonenkindes war in den Nacken gebogen, sondern der Arks. Beinahe sah es so aus, als umarme die so beunruhigend plötzlich aufgetauchte Frau den jungen Krieger zärtlich, als habe sie die Finger nur in sein Haar gegraben und seinen Kopf zurückgezogen, um den so freigelegten Hals zärtlich zu küssen. Aber die Illusion diese friedlichen Bildes zerfloß nur allzu schnell, floß hinfort, um eisigem Grausen Platz zu machen. Floß wie das Blut, das aus Arks zerfetzter Kehle sprudelte. Wie ein Raubtier schien sich der weibliche Dämon in Arks Hals verbissen zu haben, um gierig sein Blut zu trinken. Erst als sie ihr Opfer achtlos zu Boden fallen ließ und sich dem Dämonenkind zuwandte, überwanden die anwesenden Krieger ihre Erstarrung und griffen an.

Ein tödlicher Fehler.
 

So schnell wie das Blut Orkes verbraucht gewesen war, brachte das Arks Stormsong ihre vollen Kräfte zurück. Aber sie widerstand dem Drang, sich den angreifenden Menschen entgegenzustellen, denn auch Satan und Silber waren hungrig. Widerstrebend mußte sie diese Menschen bewundern, denn obwohl die beiden Wölfe die ersten Angreifer in der Dauer eines Lidschlages getötet hatten, wichen sie nicht zurück, sondern griffen nur noch wütender an. Ein kurzer Blick in den Geist eines der angreifenden Menschen ließ sie verstehen. Sie hatten Angst. Stormsong schüttelte verblüfft den Kopf. Aber sie hatte keine Zeit, sich über diese Menschen zu wundern, die sich so von den Menschen in ihrer Heimat unterschieden. Solange Satan und Silber unter den Menschen wüteten und sie so ablenkten, mußte sie die Zeit nutzen, um das Kind und Kerr zu befreien. Während sie noch dabei war, die Stricke, die das Kind banden, zu zerschneiden, traf ihr Blick den des kleinen Gefangenen. Für einen Moment erstarrte sie. Denn es waren nicht die Augen eines Kindes, in die sie blickte. Sie war so verblüfft, daß der kleine Körper beinahe zu Boden gesunken wäre, als keine Stricke ihn mehr hielten. Schnell überwand Stormsong ihre Verblüffung und hob das seltsame Geschöpf wie ein Kind, für das sie es gehalten hatte, auf die Arme, da es offenbar nicht in der Lage war, aus eigener Kraft zu stehen. Als sie jedoch in Kerrs Richtung sah, erschrak sie. Einer der Krieger hatte sich vom Kampfgeschehen zurückgezogen, offenbar in der Absicht, wenigstens eines der Opfer nicht entkommen zu lassen. Kerrs geschwächter Zustand schien es ihm zu erschweren, sich den Angreifer vom Leib zu halten. Tränen traten in Stormsongs Augen. Sie hatte nie ernsthaft geglaubt, daß er durch seine Krankheit so sehr geschwächt war. Nie hatte sie glauben wollen, daß er ernsthaft in Gefahr schwebte. Silber fing ihre Gedanken auf, um von seiner momentanen Beute abzulassen und Kerr zur Hilfe zu eilen. Schnell tötete er den Krieger, der so dumm gewesen war, in dem hilflosen Kerr ein einfaches Opfer zu sehen. Beruhigt wollte Stormsong zu ihnen gehen - und sah sich plötzlich dem ausgestreckten Speer eines Menschen gegenüber. Mit einem wütenden Knurren wich sie dem ersten Stoß zwar mühelos aus, wurde jedoch von der nun bewußtlosen Last in ihren Armen an einem Angriff gehindert. Auch der Krieger schien dies erkannt zu haben, denn mit einem boshaften Lächeln gab er einem anderen ein Zeichen, woraufhin dieser sie von der anderen Seite aus angriff. Sie schrie den beiden ihren Zorn entgegen, denn genau wie die Krieger wußte sie, daß sie nicht lange beiden ausweichen könnte, nicht mit dem Körper in ihren Armen, den sie noch zusätzlich schützen mußte. Gerade als dem vor ihr stehenden Krieger ausweichen wollte, stieß ihr der andere seinen Speer in die Seite. Schmerzerfüllt ging sie kurz in die Knie und wurde in die Richtung des hinter ihr Stehenden gerissen, als dieser seinen Speer aus ihrem Körper zurückzog. Sie wußte nicht, was sie dazu brachte den kleineren Körper mit ihrem eigenen zu schützen. Vielleicht die Erinnerung, die sein schwarzes Haar in ihr wachrief. Sie schloß die Augen und spannte ihren Körper in Erwartung weiterer Speerstöße. Satt dessen jedoch erscholl nur ein angsterfüllter Schrei, der in einem feuchten Gurgeln endete, als dem Krieger die Kehle herausgerissen wurde. Dem anderen brach Satan mit einem wütenden Schlag seiner starken Flügel das Genick, während er Stormsong auf die Beine half. In seiner ursprünglichen Gestalt sprang er nun zu Kerr und Silber, um den Ring aus angreifenden Kriegern zu zerschlagen. Dann hob er den geschwächten Kerr auf, als hätte er keinerlei Gewicht.

**Kommt**, sendete er seinen Gefährten, **Laßt uns gehen, ehe wir Spaß daran finden, Blut so sinnlos zu vergeuden, daß es im Boden versickern muß**

Gestärkt durch das aufgenommen Blut verließen die Gefährten das Menschendorf so schnell, wie sie gekommen waren. Nur die hinterlassene Zerstörung und das Verschwinden der Gefangenen zeigte den zurückgebliebenen Menschen, daß der Angriff nicht nur ein grausamer Traum gewesen war.

Am Rande des Dorfes langsamer geworden, um ihre Kräfte zu schonen, konnten Stormsong und ihre Gefährten hören, wie die ersten Totenklagen sich in den Nachthimmel erhoben.

**Hoffentlich verfolgen sie uns nicht.** Silber blieb kurz stehen, um eine Wunde an seiner Flanke verheilen zu lassen. Als er wieder zu seinen Gefährten aufgeschlossen hatte, legte Stormsong den noch immer bewußtlosen Jungen über seinen Rücken, um ihre ihre Speerwunde ebenfalls zu heilen. Dann nahm sie ihre reglose Last wieder auf. Das Blut, das sie während des Angriffs getrunken hatten, hatte sie zwar gestärkt, aber für wie lange?

Bereits kurze Zeit später hatten sie ihr Versteck erreicht. Stormsong teilte Silbers Sorge über eine mögliche Verfolgung nicht, denn selbst in für sie normalem Tempo waren sie noch immer wesentlich schneller als die Menschen. Als Versteck hatten sie eine der alten Höhlen gewählt, die sie beim Durchqueren des verbrannten Waldes entdeckt hatten. Diese Höhlen rochen zwar ein wenig nach Troll, hatten sich aber als sicher erwiesen. Stormsong erinnerte sich an Silbers Trauer, als er entdeckt hatte, daß der Wald absichtlich abgebrannt worden war. Sein Volk war den Wäldern immer nahe verbunden gewesen.

**Das Schlimmste ist**, hatte er gesagt, **daß dieser Wald zu retten gewesen wäre, wenn diese rückständige Zivilisation auch nur ein paar Wachdrachen hätte** Stormsong hatte den Arm um ihn gelegt, wie um ihn zu schützen. Aber so, wie sie die Lieder des Windes aufnahm, war Silber dem Rufen der Wälder ausgeliefert.

In ihrer Höhle angelangt waren, kümmerten sich Satan und Silber um Kerr. Stormsong hätte die beiden am liebsten zerfleischt dafür, daß sie sie nicht einmal in die Nähe ihres Gefährten lassen wollten. Aber nach einem kurzen Streit hatte sie einsehen müssen, daß Silber wohl besser in der Lage war, Kerr zu heilen, auch ohne durch ihre Sorge um ihren Gefährten abgelenkt zu werden. Falls er ihn noch heilen kann, dachte sie betrübt. Außerdem mußte sie sich um ihr neues "Haustier", wie Satan belustigt gemeint hatte, kümmern. Zum ersten Mal nahm sie sich die Zeit, den Jungen genauer zu betrachten.

Wie hatte sie nur denken können... Aber es waren die schwarzen Haare gewesen, die sie verwirrt hatten. Und die Tatsache, daß ihr Kleines jetzt im gleichen Alter sein müßte. Aber ihr Kleines war ein Mädchen gewesen, und seine Haut war Milchweiß gewesen, nicht dunkel wie die des jungen Elfen. Daß der Junge ein Elf sein mußte, wurde ihr nun bewußt. Vier Finger, spitze Ohren. Genau wie ihre Tochter. Wegen seiner dunklen Haut hatte sie den Jungen zuerst für ein Menschenkind gehalten. Sie hatte nicht gewußt, daß es auch dunkelhäutige Elfen gab, sie kannte nur die weißhäutigen Zwielichtsänger. Und während ihrer Zeit bei ihnen hatte nie jemand erwähnt, daß es noch andere Elfenstämme gäbe.

Siebzehn Jahre war der Junge alt, das konnte sie an seinem Blut hören. Trotzdem waren seine Augen älter gewesen, als sie hineingesehen hatte. Nicht die Augen eines Kindes, nicht einmal die eines menschlichen Wesens, trotzdem merkwürdig vertraut. Sie hatte kaum Weißes gesehen in diesen Augen, nur zu geweitete, katzenhaft wirkende Pupillen in einer bernsteinfarbenen Iris. Wie Katzenaugen. Oder wie Drachenaugen.

Es fiel ihr nicht schwer, seine Verletzungen zu heilen. Zumindest nicht, was seinen Körper betraf. Aber seine Seele würde noch lange brauchen, um sich von den Mißhandlungen zu erholen, das spürte sie. Selbst während sie ihn heilte, hatte der Junge sich von ihr zurückgezogen und in den Tiefen seines Bewußtseins versteckt, wohin sie ihm nicht folgen wollte, weil sie dort ein unerwünschter Eindringling gewesen wäre. Aber seinen Rufnamen hatte er ihr zögernd verraten. Raven.

Silber schlief. Der Versuch, Kerr zu helfen, hatte ihn viel Kraft gekostet. Kerr war bewußtlos, und Satan war auf die Jagd gegangen, um vielleicht etwas Wild oder einen unvorsichtigen Menschen zu erwischen, dessen Blut die Gefährten und dessen Fleisch das Elfenkind nähren konnten. Auch Stormsong ruhte, aber sie schlief nicht. Sie schlief fast nie, denn in ihren Adern floß das Blut der Mutter. Ravens Kopf auf ihren Knien gebettet, ruhte sie, indem sie ihren Geist mit dem Wind reisen ließ.
 

Der Wind wehte durch die Wüste, nahm Sandkörnchen auf, um ihre Geschichte zu hören und sie dann wieder fallen zu lassen. Stormsong reiste mit dem Wind, dem kleinen Bruder ihres Namensgebers. Sie hörte das unendliche Lied der Wüste und kam sich mit einem Mal klein und unbedeutend vor. Und frei. Aber plötzlich hörte sie im Wind von Spuren, und neugierig folgte sie diesen. Das Lied machte sie traurig, denn es sang von Verzweiflung, von Hoffnungslosigkeit. Aber auch von Stärke, von unbeugsamem Willen. Und von Rettung. Aber auch von Tod. Drei Menschen und ein Pony, noch nicht lange gestorben, aber schon fast vom Wüstensand verschlungen. Sie folgte lieber dem Lied der Rettung, aber auch dieses führte sie zum Tod. Ein alter Mensch, länger tot. Aber der Wind sah keine Wunden an seinem ausgemergelten Körper. Der Wind wehte weiter, über den Felsen hinweg, vor dem der Tote lag, und Stormsong reiste mit ihm. Aber hinter den Felsen bestätigte sich das Lied der Rettung, denn hier war ein hübschen kleines Dorf angesiedelt. Neugierig ließ sich Stormsong nicht länger einfach vom Wind tragen, sondern lenkte ihn dorthin, wo sie hören und lesen konnte. Lesen in den Träumen der hier Wohnenden. Ebenfalls Elfen, wie sie verblüfft feststellte. Vielleicht konnte sie Raven später zu ihnen bringen. Aber erst wollte sie ein wenig mehr erfahren.

Der Wind wehte um die Hütten, und Stormsong reiste mit ihm. Außerhalb des Dorfes hatte sie Elfen und Wölfe in der Nacht jagen sehen. Aber in Geist eines wachen Lebewesens einzudringen barg immer die Gefahr einer Entdeckung. Also wartete sie, bis in den Streifen der Morgendämmerung auch die letzten Jäger sich zur Ruhe begaben. Dann wehte der Wind ins Dorf und dort in die Hütten, fand Schlafende, die friedlich ruhten, fand Liebende in zärtlicher Umarmung. Und fand einen Schläfer, der sich von Alpträumen geplagt neben seiner Gefährtin umherwarf. Das rote Haar des Träumenden war durch seine unruhigen Bewegungen schon völlig zerzaust. Auch seine Gefährtin schien von seiner Unruhe ergriffen, denn auf dem schönen, von lockigem Haar umrahmten Gesicht lag ein Ausdruck der Sorge. Neugierig näherte der Wind sich den Schlafenden, und Stormsong reiste mit ihm. In den Geist schlafender Wesen konnte sie leicht eindringen, und so tat sie es, unbewußt dem Kodex der Erkunder folgend, sich nicht einzumischen, sondern nur zu beobachten. Aber was sie in den Träumen und Erinnerungen des rothaarigen Schläfers sah, machte sie traurig. Dieser kannte Ravens Schmerz, hatte ihn in ähnlicher Form selbst erlebt. Und war von irgendetwas daran erinnert worden. Stormsong drang nicht weiter vor, sondern löste vorsichtig die Klammern der Angst, die die Seele das Schlafenden umfingen. Dann tauchte sie kurz in den Geist seiner Gefährtin und suchte schöne Erinnerungen, die den beiden gemeinsam waren, um damit die sorgenvollen Träume zu ersetzen. Es war keine Einmischung im eigentlichen Sinne.
 

Vielleicht würden die beiden Schläfer sich später an eine sanfte Melodie erinnern, die ihre Alpträume und Sorgen zumindest für ein paar Stunden vertrieben hatte. Nicht an eine Einmischung im eigentlichen Sinne. Stormsong spürte ein Lächeln auf ihren Lippen, als sie in ihren Körper zurückkehrte. Sie hielt sich immer an den Kodex der Erkunder. Aber Regeln konnte man beugen, ohne sie zu brechen.



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