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Prolog

Kapitel 1
 

Ein schrilles Piepen riss Joèl aus seinen Träumen. Er gab ein gequältes Stöhnen von sich und tastete mit noch geschlossenen Augen nach dem kleinen Knopf seines Digitalweckers, um das nervtötende Geräusch abzustellen. Warum hatte er sich nicht schon längst einen Anderen gekauft?

Er drehte sich herum, langte neben sich und umarmte sanft... ein Kissen?!
 

Widerstrebend öffnete Joèl die Augen. Erique? Na scheinbar war er schon aufgestanden. Er schlug die warme Decke zurück und schlurfte lustlos Richtung Wohnzimmer. Eigentlich war er ja kein Langschläfer, doch in letzter Zeit bereitete ihm das Einschlafen abends Probleme. Er lag dann stets noch lange wach und betrachtete seinen Partner, mit dem er nun seit 3 Jahren zusammen lebte, während dieser friedlich schlummerte. Oft erinnerte er sich dann daran, wie er ihn damals absolut Orientierungslos aufgefunden und ihm seine Hilfe angeboten hatte.
 

Der damals wohl gerade 17/18-Jährige hatte keinerlei Erinnerungen mehr, die weiter als zwei Tage zurück reichte, also nahm Joèl ihn erst einmal mit zu sich. Die zahlreichen Behördengänge tätigte er ebenso mit ihm, doch niemand fand heraus, wer der Junge war. Niemand schien ihn zu vermissen und die Ärzte waren auch keine Hilfe. Ihren Aussagen zufolge sei mit seinem Gedächtnis alles in Ordnung, so dass selbst Joèl eine Zeit lang zu glauben begann, Erique würde nicht ganz die Wahrheit sagen.

Während die Zeit dahinflog und Erique nun auch einen Aushilfsjob in der Universität bekam, in der Joèl Kunst und Geschichte studierte, ergab es sich, dass die Beiden sich nich nur schätzen sondern sogar lieben lernten.
 

Erique stand bereits vollständig angekleidet in dem großen Wohnzimmer und betrachtete Joèls neuestes Kunstwerk. Sein blondes Haar fiel ihm in langen Locken über den Rücken. Er hatte die Angewohnheit, es fast immer offen zu tragen, während Joèl sein etwas über schulterlanges, braunes Haar meist zu einem Zopf zusammendrehte. Auch nachts trug er vorzugsweise ein Haargummi. Erique hatte ihn einmal gefragt, warum er sie sich dann denn hatte wachsen lassen, wenn er sie doch eh ständig zurück band, doch bis heute hatte ihm Joèl darauf noch keine wirkliche Antwort gegeben.

Während er vor der Malerei stand, dachte Erique verträumt daran, wie er damals diese Wohnung das erste Mal betreten hatte. Joèl malte ausschließlich realistische Bilder. Landschaften, Menschen, ab und an auch mal Tiere. Der 2 Jahre jüngere Erique hatte dieser Kunst damals nichts abgewinnen können. Er hatte eine Schwäche für Fantasiebetonte Werke, doch eines zu malen konnte man von einem Realisten, der selbst auch nur das glaubt, was er sehen und berühren kann, schlecht verlangen. Umso überraschter war er gewesen, als 6 Wochen nachdem endgültig feststand, dass er wohl wesentlich länger bei Joèl wohnen bleiben würde, ein großes Acrylbild an der Wand über dem Kopfende des Bettes hing, welches einen Engel und bei ihm einen Pegasus in wunderschöner, verträumter Umgebung zeigte.
 

Warme Arme schlossen sich um ihn und zogen ihn in eine sanfte Umarmung. „Guten Morgen Joèl. Hast du gut geschlafen?“

„Hm~m“ kam nur als Antwort, dann „Ich mach mal Frühstück.“ und die wunderbare Nähe war fort.

Erique folgte seinem Freund eilig in die Küche. Was er ihm jetzt sagen musste gefiel ihm gar nicht, wo Joèl doch immer so viel Wert auf diverse Kleinigkeiten wie eben diese legte. „Du? Wir können heute leider nicht zusammen frühstücken. Der Professor erwartet mich bereits in einer halben Stunde. Tut mir leid, bist du jetzt böse?“

Nein, böse sah er nun wirklich nicht aus, aber ein wenig enttäuscht. „Nein, schon gut. Pflicht it Pflicht. Sieh zu, dass du nicht zu spät kommt, wir essen dann heute Abend aber zusammen?“ Ein Nicken, ein strahlendes Lächeln und – so viel Zeit musste sein – ein zärtlicher Kuss und Erique brauste davon.

Joèl seufzte und schnitt lustlos sein Brötchen auf, bis er mit dem Messer er seinen Finger erwischte. „Au! Na der Tag fängt ja gut an.“
 

Am Ende der ersten Vorlesung des heutigen Morgens verfing sich Joèl beim Aufstehen in der Trageschlaufe der Tasche seines Sitznachbarn und landete lang ausgestreckt zwischen Tischen und Stühlen. //Kann es noch schlimmer werden?// jammerte er in Gedanken, als die Antwort prompt erhielt. Es konnte! Über ihm stand Alan. „Suchst du da unten was Bestimmtes?“ Zu gerne hätte ihm Joèl dieses arrogante Grinsen aus dem Gesicht geschlagen, doch er stand lediglich wortlos auf und marschierte mit mürrischem Blick an dem schwarzhaarigen vorbei.
 

Und der weitere Tagesverlauf versprach nicht besser zu werden. Immer wieder geschahen kleine Unfälle und Joèl sehnte sich nur noch nach dem gemeinsamen Abend mit Erique. Definitiv ein Tag an dem er hätte im Bett bleiben sollen.

Hoffnungsvoll betrat er ihre gemeinsame Wohnung und wurde von einem weiteren kleinen Schock erwartet. Erique hatte sich seine wunderschönen langen, blonden Locken schwarz gefärbt! Er trug sie jetzt sogar zusammengebunden.

„Ist etwas nicht in Ordnung? Gefällt es dir nicht?“ Dieser schockierte Blick konnte nun wirklich niemandem entgehen und Erique war ein wenig verletzt. Joèl schüttelte seine Starre ab und zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. Diesen Blick in Eriques tiefblauen Augen konnte er nicht ertragen. „Doch, es ist nur...äußerst ungewohnt. Das ist alles. Ich gewöhn mich dran.“ Jetzt lächelte auch der Jüngere. Ach wie einfach es doch war mit Erique. Hatte sie eigentlich je streit gehabt? Erique konnte so schnell nichts verärgern oder wirklich traurig stimmen. Eine wahre Frohnatur....
 

„Ich mach uns dann mal was nette zum Abendessen.“

Während Joèl in der Küche zauberte, deckte Erique den Tisch. Malen, ausgezeichnet kochen und obendrein noch Klavier spielen. Er fragte sich, ob es denn etwas gab, was Joèl nicht konnte. Der große Flügel im Wohnzimmer...Erique liebte es, am Kamin zu sitzen, wenn Joèl darauf spielte. Ein wütender Aufschrei und ein lautes Klappern rissen ihn au seinen Gedanken. „Mist, verdammter!“ Er stürmte sofort in die Küche. Joèl hielt seine Hand unter Wasser, auf dem Boden lag der Topfdeckel. „Verbrannt“, murrte er, als Erique den Deckel wieder aufhob. Hoffentlich ging dieser Tag schnell zu Ende....

Doch noch war er ja nicht vorbei. Nach dem Essen machte Erique wieder diesen Ich – muss – dir – was - sagen - Gesichtsausdruck. „Was ist los?“ Joèl bemühte sich ruhig, liebevoll und wirklich interessiert zu klingen, auch wenn er die Antwort fürchtete. „Ich bin noch verabredet. Alan und die andern Jungs wollen noch n bisschen raus.“ Joèl seufzte. „Ich kann dir schlecht verbieten weg zu gehen, auch wenn ich dich bei dieser Art Verabredung am liebsten einschließen würde.“ Wieder lächelte Erique. Joèl würde ihm nicht böse sein. „Du weißt doch, ich bin vorsichtig. Es passiert schon nichts!“ Er räumte noch de Tisch ab und verließ dann die Wohnung, bevor es sich Joèl eventuell doch noch anders überlegen und ihn festhalten könnte. Er hatte ja Verständnis dafür, dass Joèl sich sorgte, aber in seinen Augen war es unbegründet.
 

Der Ältere hingegen saß nun am Kamin und starrte in die Flammen. Er hatte seiner Ansicht nach sehr wohl Grund zur Sorge. Dies ist der Hauptgrund aus dem er Alan so wenig leiden konnte. Seit Erique ihn kannte hatte er diesen mit auf diese verfluchten Autorennen geschleppt. Wo sie fuhren wusste Joèl nicht und wollte es eigentlich auch gar nicht wissen. Weniger Sorgen machte er sich darum, dass die Polizei seinen Freund irgendwann erwischen könnte. Er konnte nur nicht verstehen, wie man sein Leben so leichtfertig aufs Spiel setzen konnte. War denn der Adrenalinkick so viel wert?

Die Stunden vergingen und wieder bekam Joèl kein Auge zu. Er saß noch lange in dem Atelier gleichen Wohnraum. Großzügig viel Platz. Stand man mit dem Rücken zur Wohnungstür, so befand sich rechts eine Kaminecke mit einer Couch und zwei Sesseln. Neben dem Kamin grenzte an der rechten Wand ein Schrank an, worin Fernseher und Stereoanlage verstaut waren. Links stand der Esstisch mit Stühlen für bis zu sechs Personen. Dazwischen angenehm ausreichend Platz, so dass es nicht gedrängt wirkte. Mittig durch die linke Wand befand sich ein Türbogen, der in einen kleinen Flur führte. Der Flügel stand beinahe mittig im Wohnzimmer. Der Raum war mit hellbraunem Packet ausgestattet und besaß große Fenster.

Vom Flur aus die erste Tür rechts fand man das Schlafzimmer. Ein nicht all zu großer Raum. Darin stand ein Ehebett und ein geräumiger Kleiderschrank. Zweite Tür rechts befand sich das Badezimmer. Mit Eckbadewanne, Dusche und allem was halt in ein Badezimmer gehört.
 

Weiter: erste Tür links: Die Küche. Joèl hatte hier eine ausreichend große Arbeitsplatte und einen Ceranfeld-Herd. Auch hier war alles in hellen Holztönen gehalten. Der Boden war allerdings gefliest. Der letzte Raum auf der linken Seite war einmal ein Gästezimmer, doch mittlerweile hatte Joèl es sich gestattet, aufgrund der auch hier sehr großen Fenster und der kleinen Strahler die an mehreren Stellen in der Decke angebracht waren und so ein sehr gleichmäßiges Licht im Raum verteilten, ein Atelier daraus zu machen. Hier standen nun drei Staffeleien und an den Wänden entlang standen mehrere unfertige und fertige Werke gelehnt. Alle in Leinen eingeschlagen, damit sie keinen Schaden nahmen.
 

Gegen 2 Uhr morgens war endlich das Geräusch des Schlüssels an der Wohnungstür zu hören und herein kam ein ganz schon betrunkener Erique. Erique war keiner von denen, die tierisch lustig, laut und albern wurden, wenn sie betrunken waren. Man sah es ihm einfach nur in den Augen und an seinen Bewegungen an. Das breite Grinsen, dass dem eigentlich so liebvollem Lächeln gewichen ist, war eigentlich immer das Auffälligste und das was Joèl am wenigsten gerne sah. Am liebsten hätte er ihn gleich angefahren, was ihm denn einfallen würde, doch er besann sich, dass er Erique nie zutrauen würde, betrunken ein Fahrzeug zu führen. Er hatte wohl danach erst kräftig zugelangt und im Moment war Joèl einfach nur froh, ihn heil wieder zu haben.
 

Die nächsten Tage vergingen an sich ohne besondere Zwischenfälle. Magenschmerzen bereitete Joèl allerdings, dass Eriques berühmter Gesichtsausdruck in den letzten vier Tagen immer häufiger vorkam, er aber nichts sagte. Er sei in Gedanken gewesen. Er habe nur überlegt, ob es Joèl etwas ausmachen würde, wenn er nicht aufäße ... all solche Antworten, die Joèl übel nach Ausflüchten klangen.

Erique war auch immer seltener zu Hause. Der Professor arbeite wohl gerade an neuen, äußerst interessanten Entdeckungen. Mit den Jahren hatte sich Erique vom kleinen Gehilfen fürs Wegräumen der Akten und zusammentragen der nötigen Lektüren zum Assistenten des 49-Jährigen gemausert. Professor Alexander Rendall beschäftigte sich seit jeher mit dem Mythos „Vampire“. Völlige Zeitverschwendung in Joèls Augen. Doch solange Erique Spaß daran fand, ließ er dessen Redefluss über dieses Thema stets über sich ergehen. Und Erique tat es wirklich aus Überzeugung und Freude an der Sache. Geld war ja schließlich keine Frage. Einerseits bekam Joèl regelmäßig genügend von seinen Eltern, sie ihm monatlich ein kleines Vermögen überwiesen (mit der Vorraussetzung sich ja nicht zuhause blicken zu lassen) und verdiente noch einiges mit den Bildern, die er auf den Ausstellungen der Universität verkaufen konnte. Ab und an spielte er dann auch auf kleineren Festen auf dem Klavier und bekam dadurch noch einen kleinen Bonus.

Wie der Professor seinen Freund ansah, gefiel Joèl allerdings ganz und gar nicht. Er hatte Erique des Öfteren mal abgeholt und dabei festgestellt, dass die Beiden sich recht nahe standen. Sie verbrachten ja mittlerweile auch schon mehr Zeit gemeinsam als sie beide. Tagsüber in der Uni und abends, wenn Joèl und Erique dann eigentlich endlich Zeit für sich hätten, war Joèl entweder mit seinen Bildern beschäftigt oder aber Erique war auf der Rennstrecke mit ... Alan!!
 

Eine Woche vor den Semesterferien saßen sie gemütlich beim Abendessen, als Erique nach Joèls Ansprache des gemeinsam geplanten Urlaubes in Italien wieder diesen Ausdruck in seiner Mine zeigte. Joèl legte sein Besteck bei Seite und sah ihn ernst an. //Und heute keine Ausflüchte// „Was ist los mit dir, Liebling. Und keine Ausreden mehr.“ Er sah ihn aufmunternd an und scheinbar wollte Erique diesmal auch endlich mit der Sprache rausrücken, denn seine Bedrückung wich nicht.

„Naja...unser Urlaub. Es ist so ... ich kann leider nicht.“ Joèl war schwer getroffen und während Erique seinem Teller den Grund erläuterte, aus dem Italien gestorben war bekam Joèl mehr und mehr das Gefühl, jemand habe ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. „Professor Rendall und ich werden nach Schottland reisen. Es gibt Legenden über ein altes Schloss und ... nach langer Arbeit hat er dieses Schloss tatsächlich gefunden.“ Moment ... da lief etwas falsch! Statt der Bedrückung und des üblichen schlechten Gewissens, das sich immer in solchen Momenten in Eriques Augen spiegelte, war da auf einmal dieses Glitzern. Dieses Feuer der Begeisterung, als er damit fort fuhr von dieser Reise zu sprechen. „Es existiert wirklich. Wir tappen jetzt nicht mehr in vagen Mythen herum, gebeugt über staubige Bücher mit wirren kaum glaubwürdigen Erzählungen. Wir haben etwas Handfestes und werden hinfahren!“
 

Erique begann zu strahlen, also beschloss Joèl die weiße Fahne zu schwenken und ihn gewähren zu lassen. Dann sollte er halt fahren, wenn es ihm soviel bedeutete.

Schweren Herzens nahm er dann bereits drei Tage, verdammte DREI TAGE später Abschied von seinem Liebsten. Er machte ihm keine Vorhaltungen, dass dieser es ihm erst so kurzfristig gesagt hatte. Er wusste ja, wie schwer es Erique immer fiel, ihn enttäuschen zu müssen. Aber wahrscheinliche machte gerade diese Engelsgeduld und die Fähigkeiten zur blitzschnellen Vergebung, die Beziehung der Beiden so perfekt.
 

Joèl blieb noch einige Zeit am Flughafen und sah zu, wie die Maschine sich ihrem Ziel entgegen in die Lüfte erhob.

Abends hatte er sich nach langer Zeit mal wieder einen Spaziergang im Park gegönnt. Hier hatte er Erique damals gefunden.

Als es dunkel war und die Sterne am Himmel standen, dachte Joèl noch nicht dran, nach Hause zu gehen. Ohne Erique ... was sollte er da jetzt schon? Also streifte er noch ein wenig durch das nächtliche Los Angeles, als sich der Gedanke tief in seinen Verstand brannte. So tief, dass er am nächsten Morgen tatsächlich zwischen den Vorlesungen das Büro des Professors aufsuchte, um den genauen Standort dieses Schlosses ausfindig zu machen, von dem ihm Erique einen ewig langen Vortrag gehalten hatte. Am späten Nachmittag saß er dann im Reisebüro und hatte am Abend das Flugticket in Händen.

Er würde ihm einfach nachreisen und war sich sicher, dass Erique ihm nicht böse wäre, wenn er dies täte. Ganz im Gegenteil, denn dieser hatte ihn ja immerhin gefragt, ob er nicht mitwolle, damit er ihm beweisen könne, dass man ruhig auch an Dinge glauben sollte, die man noch nicht gesehen hatte.

You'll regret it!

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Unpleasant Truth

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

The Bet

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 4 - "wind of change" part 1

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 5- "wind of change" part 2

Kapitel 5 - „wind of change“ part 2
 

Einige Zeit gingen sie schweigend nebeneinander her, bevor Joèl die Stille brach. Seine Gedanken hatten ihn vollkommen in ihrer Gewalt gehabt,erst als er jetzt stehen blieb und Shateis Blick begegnete bemerkte er, wie dieser ihn forschend und mit einem Anflug von Sorge musterte. „Was immer es für eine Bitte ist Shatei, kann es bis morgen warten? Ich bin sehr müde.“ Ein Mundwinkel zog sich zu einem Grinsen nach oben. „Müde? Ach wirklich? Wo hast du dich herumgetrieben Joèl, du riechst nach Staub und irgendetwas Merkwürdigem.“ Joèl fuhr innerlich zusammen, lies sich aber nichts anmerken. Dieses Merkwürdige war natürlich der Geruch von Weihrauch. Aber welche Erklärung sollte er dafür anbringen, dass er in einer Kapelle war, ohne von Andrea zu erzählen. Wusste Shatei überhaupt von dieser Kapelle? „Ich bin ein wenig herumgelaufen und habe zugegebener Maßen irgendwann die Orientierung verloren. Also bin ich dann wieder umgekehrt.“ Shatei musterte ihn noch einen Moment, doch er ahnte nicht, dass ihm Joèl etwas verschwieg. Nichts außer dem Schmerz, dessen Shatei sich dennoch so vollkommen bewusst war. Irgendwann, wenn ein wenig mehr Zeit vergangen war, so war er sich sicher, würde Joèl sein Leben an seiner Seite akzeptieren können und auch genießen. Irgendwann würde er sein Herz für sich gewinnen, die Chancen standen doch gar nicht so schlecht, oder?
 

„Komm mit!“ Er legte dem Braunhaarigen einen Arm um die Schultern und zog ihn mit sich.

Ihr Ziel war ein kleiner Raum, der mit einer großen Couch, zwei Sesseln und einem wunderschönen Flügel vollkommen ausgefüllt war. „Eigentlich hatte ich beabsichtigt, dich zu bitten, für mich zu spielen, doch da du müde bist, drehen wir das Ganze einfach um.“ Er schob den jungen Mann zu der Couch und nahm dann selbst am Flügel platz. Joèl lies sich auf das weiche Polstermöbel sinken und zog die Beine an. Bereits als Shatei die ersten Klänge anschlug lies er sich zur Seite sinken und machte er sich mittels ein paar Kissen bequem. Er schloss kurz die Augen, um die Musik zu verinnerlichen, doch öffnete sie schneller als er es selbst wirklich bewusst registrierte wieder. Er wollte Shatei nicht nur zuhören, sondern auch zusehen.

Das schwarze schulterlange Haar hatte er zu einem Zopf im Nacken zusammengebunden, er trug eine schwarze Stoffhose, dazu ein dunkelrotes Seidenhemd. Ein schwarzes Lederband war um seinen Hals gebunden, daran ein silberner Anhänger, der schon etwas angelaufen wirkte. Seine Finger flogen über die Tasten, sein Spiel war sauber und präzise. Es war so angenehm, hier zu liegen und den Klängen zu lauschen und dabei diesen wunderschönen und imposanten Mann zu betrachten.

Doch wie sehr er diese Momente auch genießen 'wollte', Erique drängte sich immer wieder in seine Gedanken. Warum waren die Beiden in letzter Zeit so oft beisammen? Was war mit Rendall? So oft wie Shatei sich Joèl immer wieder aufgedrängt hatte, war es irgendwie auffällig, wie leicht er ihm in den letzten Nächten aus dem Weg gehen konnte. „Dass du mich so verhasst musterst liegt an Erique, nicht wahr?“ Joèl stutzte. Er hatte nicht bemerkt, dass Shatei seine Augen,die er während des bisherigen Spiels geschlossen hielt, geöffnet, geschweigedenn ihn angesehen hatte. Er saß da und spielte, wie schon die ganze Zeit.

Der Student spürte Röte in seine Wangen steigen. Warum schämte er sich dafür, Shatei einen hasserfüllten Blick zugeworfen zu haben? Aus einem ihm unerfindlichen Grund tat es ihm weh, dabei erwischt worden zu sein. „Du musst nicht antworten. Ich weiß auch so, dass es wegen ihm ist.“ Warum? Warum nur klang er bei diesen Worten so.... verletzt? Und warum wurde Joèl bei diesem Klang so unangenehm heiß? „Du liebst ihn noch, das kann ich hinnehmen. Ich kann verstehen, wenn du mich dafür hasst, dass ich euch hier festhalte, für diese Wette, die du unmöglich gewinnen kannst, dafür, dass ich die mir zur Verfügung stehenden Mittel einsetze, um dich zu verführen und in meinen Bann zu ziehen, aber das du mich so anschaust, weil du glaubst, ich täte ihm etwas an...“,er hörte auf zu spielen, klappte langsam die Abdeckung der Tasten herunter und stand auf, um zu Joèl hinüber zu gehen. Er setzte sich zu dem 21-jährigen auf die Couch, während dieser sich ebenfalls aufsetzte und strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die kühlen Finger so sanft und zärtlich, der Blick in diesen braunen Augen ein warmes Glühen mit einem lodernden Funken darin. Schmerz? „...das tut weh, Joèl. Schätze mich nicht falsch ein. Ich bin nicht nett, sanft oder freundlich, ich bin auch nicht gerecht und selten fair, aber ich bin ehrlich. Ich werde keinen der beiden Anrühren, bis der Ausgang unserer Wette steht.“ Was war das? Warum nur wollte er ihm jetzt so gerne glauben, die Arme um ihn schlingen und ihm genau das zuflüstern? Stattdessen griff Joèl nach der Hand des Vampirs und zog sie, wenn auch sanft, so doch bestimmend, von seiner Wange fort, hielt sie aber weiter fest.

„Worüber sprecht ihr Abend für Abend? Was geht da vor Shatei? Was willst du von ihm?“

Nun lachte sein Gegenüber leise in sich hinein. Nur kurz, doch es reichte aus, um Joèl wieder Wut in die Augen zu treiben.
 

„Wirklich rein gar nichts, Joèl. Du zerbrichst dir vollkommen unnötig deinen hübschen Kopf.“ Der Student seufzte. In Ordnung. Er würde sich für heute zufrieden geben müssen. Man merkte schnell, wenn Shatei nicht bereit war, mehr als nötig zu erzählen. Die dunkelbraunen Tiefen musterten ihn eingehend. „Aber das ist nicht das Einzige, dass dich beschäftigt. Wo warst du wirklich Joèl? Ich weiß, dass ich diesen Geruch kenne.“ Na wunderbar. Zum Teufel mit dem feinen Geruchssinn eines Vampirs. Vielleicht würde eine Halbwahrheit seinen Kopf aus der Schlinge ziehen, wobei der junge Mann nicht genau wusste, warum er auf Andreas Forderung niemandem von seinem 'Leben' zu erzählen einging. „Ich sagte dir doch, dass ich mich in den Gängen verlaufen habe. Man merkt halt doch immer wieder, dass dieses Schloss zum größten Teil nur noch eine Ruine ist.“ Er bemühte sich, seine Stimme gleichgültig klingen und sich nichts von seiner Aufregung, wenn er nur an den hellhaarigen Vampir dachte, anmerken zu lassen. „Frag mich nicht, wie lange ich da herumgeirrt bin, letztendlich bin ich in einer Kapelle gelandet.“ Verflucht! Shateis Augen verengten sich zu Schlitzen. „In Ordnung Joèl, dir bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder du sagst mir jetzt die Wahrheit, oder ich sehe mich gezwungen, auf anderem Wege meine Antwort zu erhalten.“ Joèl senkte den Blick. Er rechnete schon jeden Augenblick mit dem stechenden Kopfschmerz, der das Durchbrechen seiner Barriere begleitete, doch er kam nicht. Als er wieder aufsah blickte Shatei gelassen abwartend auf ihn herab. Er gab ihm Zeit.... „Es ist schade, dass du es mir nicht selbst erzählen willst, er scheint von seiner beeinflussenden Wirkung auf Andere nichts eingebüßt zu haben. Wie geht es Andrea?“ Joèl muss wohl restlos alle Farbe aus dem Gesicht gewichen sein. Was sollte das? Was war das wieder für ein krankes Spiel, dass hier mit ihm gespielt wurde? „Ganz ruhig mein Hübscher. Natürlich weiß ich, dass Andrea sich in der alten Kapelle aufhält. Felix entstaubt dort regelmäßig alles, selbstverständlich weiß er nicht, dass ich durch diesen schon vor Jahren erfahren habe, dass er dort ist.“ „Warum? Was ist damals zwischen euch vorgefallen? Er sagte, er habe wegen dir das Schloss verlassen.“ Die Fragen sprudelten einfach so aus ihm hervor. Seit er die Kapelle verlassen hatte, hatte ihn nichts Anderes beschäftigt.

„Ein paar dumme Umstände. Fakt ist, dass wir alle froh sein können, wenn er da bleibt, wo er ist.“ War das Angst in Shateis Augen? „Und wenn nicht?“ „Vorsichtig Joèl, wie sehr ich dich auch begehre, lehn dich nicht zu weit aus dem Fenster.“ Joèl atmete noch einmal tief durch, er wusste es war riskant, aber er musste das Risiko eingehen. Er konnte einfach nicht widerstehen.

„Du hast also Scheu davor ich könnte es schaffen, ihn zur Rückkehr zu bewegen?“ Er wollte noch etwas anhängen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken.

„Ich will dir nicht drohen Shatei, vermutlich kann ich das auch gar nicht.... ich.... verdammt es macht mich nur völlig krank, was willst du von Erique? Warum sehe ich euch Nacht für Nacht zusammen?“ Shatei hatte seine Hand längst befreit und legte Joèl nun beide Hände an die Wangen, musterte ihn eindringend.

„Ich will rein gar nichts von ihm, mein Liebster. Dein kleiner Schatz ist es, der mir nachläuft. Glaube mir doch endlich, wenn ich dir sage, dass es dir hier besser gehen wird, als mit ihm. Ich habe nichteinmal vor, ihn hier festzuhalten. Lass ihn zurückkehren zu seinen Autorennen und den tollen Freunden, die du doch ohnehin nicht ausstehen kannst.“
 

Das hatte gesessen. Joèl fühlte sich, als habe man ihm den Boden unter den Füßen fortgezogen. Wiedereinmal. Er war hin- und hergerissen, Shatei einfach an sich zu ziehen und in einem Strudel von Lust und Hitze einfach für ein paar Momente alles zu verdrängen, und ihn von sich zu stoßen, anzuschreien, zu toben und wüten, bis er keine Energie mehr hatte.

„Du bist wirklich erschöpft, Joèl. Ruh dich aus, ich lasse dich bis morgen Nacht in Ruhe.“ Er hauchte ihm noch einen Kuss auf die Stirn, bevor er dem jungen Mann seine Hand entzog, aufstand und den dämmrigen Raum verlies.

Einige Sekunden lang noch starrte Joèl auf die geschlossene Tür, ohne sie wirklich zu sehen, dann krampften sich seine Hände in das Polster, doch der Schrei, der sich in seiner Kehle zusammenkrampfte, brach nicht hervor. Ja, er hatte Eriques Freunde nie gemocht....

Mit einem Seufzen lies er sich rücklings auf die Couch fallen, lag nun auf dem Rücken und starrte an die Decke als er den Erinnerungen gestattete über ihn hinweg zu rollen.
 

Es war schon kurz vorm Ende des ersten Mathematik-Semesters in dem er Alan kennen gelernt hatte. Nun, was heißt kennen gelernt. Er war ihm nicht wirklich sympathisch. Man sprach mal in der Mensa miteinander, aber mehr auch nicht. Er war einer von diesen Typen Marke Arschloch, die cool daher redeten und gewiss auf Typen wie Joèl, die nicht 'normal' waren, gleich einschlugen, vorausgesetzt sie hatten genügend Mitstreiter hinter sich stehen, damit sie nicht selbst einen über kriegten. So zumindest hatte Joèl ihn zu der Zeit eingeschätzt, und ja, er war stets ein sehr voreingenommener Mensch gewesen, der lieber allein lebte. Erique war dann später eine ungeplante Ausnahme.

Als Erique den Job bei Professor Rendall angenommen hatte, musste er Alan wohl irgendwie auf dem Uni-Gelände begegnet sein. Er begann Abends wegzugehen.... mit Freunden. Joèl stellte erst keine Fragen, er wollte seinen Freund schließlich nicht bemuttern, doch als dieser Name fiel... da wurde Joèl neugierig.

Ein- bis zweimal die Woche trafen Erique, Alan und ein paar andere Jungs sich, um mit aufgemotzten Wagen Landstraßen entlang zu heizen, die um die Uhrzeiten meist leer waren. Aber eben nur meist.... Später kam es immer wieder mal vor, dass man in der Zeitung las, wie knapp jemand einem nächtlichen Raser noch entgangen war bevor sich beide im Krankenhaus oder Mausoleum wiedergefunden hätten. Für Joèl war stets klar, dass Alan Erique irgendwie beeinflussen musste. Erique war einfach nicht der Mensch für solch riskante und vor allem dumme Dinge. Es hatte dann aber auch nicht lange gedauert, bis Alan ihn nach einer Vorlesung angesprochen hatte, ob er nicht mal mitkommen wollte.

„Um mir anzuschauen, wie ihr euch in den Straßengraben katapultiert? Vielen Dank, aber ich verzichte.“ Wie konnte Erique solch einen Quatsch mitmachen? „Komm schon Joèl. So prüde habe ich dich gar nicht eingeschätzt. Hälst du deinen Lebensgefährten für so bescheuert, dass er mitführe, wenn er es sich nicht zutrauen würde?“ Wie gerne hätte er Alan schon da seine Faust ins Gesicht gejagt. Was immer er in der Situation gesagt hätte, es hätte gegen ihn verwendet werden können.

Er hatte erneut die Einladung ausgeschlagen und wütend den Hörsaal verlassen, war aber am Abend dann doch mitgekommen.

Erique hatte nicht gerade den Eindruck gemacht, als hätte er ihn dabei haben wollen. Es war merkwürdig, wie anders er sich benahm, umgeben von diesen Möchtegern-Rennfahrern, die mit ihren Autos prahlten, die Motoren aufheulen ließen. Es gefiel Joèl ganz und gar nicht was er da sah, bis Erique dann plötzlich vor ihm stand, sich das blonde lange Haar, das ihm der Wind ins Gesicht blies, nach hinten strich und liebevoll aus seinen großen blauen Augen ansah. Wie ein Engel, sanft, unschuldig..... „Geh nach Hause, Liebster. Du fühlst dich hier nicht wohl, und mir tut es weh, wenn du mich so ansiehst. Glaube mir, ich tue nichts, was mich davon abhalten könnte, heil zu dir zurückzukommen.“ Wenn er ihn so ansah.....? Sein wütender Blick galt nie Erique. Er hatte seit jeher Alan die Schuld dafür gegeben, dass Erique die Nächte ohne Führerschein mit teils 200 Stundenkilometern am Steuer eines Sportwagens ohne Airbags verbrachte. Wahrscheinlich noch unter dem Einfluss von Alkohol, obwohl er ihm versprochen hatte, selbst nach dem kleinsten Schluck nicht mehr zu fahren. Er war ja auch desöfteren Beifahrer, nicht wahr?
 

Erique gingen soeben dieselben Gedanken durch den Kopf. Er hatte lange nicht mehr daran gedacht. Und schon gar nicht daran, dass sein Leben vor Joèl nicht anders ausgesehen hatte. Eigentlich hatte er komplett abschließen wollen. In dem Moment in dem er Joèl das erste Mal gesehen hatte, hatte er sich entschieden. Er war ihm nachgeschlichen, hatte ihn beobachtet. In diversen Szenebars hatten sie sogar schon miteinander gesprochen und auch getanzt, doch entweder war Joèl zu desinteressiert oder zu betrunken gewesen, um sich später an ihn zu erinnern, oder aber Erique war es gut genug gelungen, mit den hochgebundenen und damals auch noch dunklen Haaren anders auszusehen, als später, regenüberströmt mit gebleichtem blonden Haar, dass offen über seinen Rücken wallte. Nachdem er Jahrelang dunkle Kontaktlinsen getragen hatte, lies er nun endlich seine blauen Augen ihre Wirkung tun, und dass das mit dem plötzlichen Gedächtnisverlust nach der Masche 'ich bin eine ausgesetzte Katze, nimm mich mit nach Hause' so gut funktionieren würde, hätte er sich damals nicht zu träumen gewagt.

Doch es hatte sich gelohnt. Er hatte sich so unrettbar in den Dunkelhaarigen verliebt und jeden Tag mit ihm in vollen Zügen genossen. Warum hatte er nun wieder alles kaputt gemacht? Warum hatte es nicht so bleiben können? Und wenn Joèl nun erfahren würde, dass ihr Kennenlernen auf einer Lüge beruhte.... würde er ihm dann je wieder auch nur den Hauch einer Chance geben? Waren die wenigen Jahre für Joèl ebenfalls intensiv genug gewesen, um über alles hinweg zu sehen, nur um wieder beisammen zu sein?

Alexander schaute Erique einen Moment lang an, öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder und stand wortlos auf. Er hatte aufgegeben Erique zu stören, wenn er in Gedanken war. Dieser Junge war ihm in den wenigen Tagen so erschreckend fremd geworden. Er fühlte sich allein und orientierungslos. Alles was ihn noch ausfüllte war sein Schuldgefühl.

Er hatte den Raum verlassen und war versunken in seinen Schmerz – nein, den Schmerz der beiden jungen Männer, die er hier hineingeritten hatte – die Gänge entlanggegangen. Ein paar Bücher in den Armen, die er zur Bücherei zurückzubringen gedachte und die nun zu Boden fielen, als eine tiefe Stimme hinter ihm ihn begrüßte. Er glaubte beinahe den Atem des Anderen in seinem Nacken spüren zu können. „Warum so schreckhaft Professor? Sie sollten mittlerweile wissen, dass ich nicht beiße... zumindest nicht so ohne Weiteres und ohne Vorwarnung.“ Shatei war um ihn herumgegangen und hatte sich niedergekniet um die Bücher einzusammeln, während Alexander wie festgefroren dastand. Der Vampir richtete sich langsam auf und drückte dem Professor die Bücher in die zitternden Hände. Nach einem Räuspern schaffte dieser es dann nun auch ein heiseres „Auch Ihnen einen guten Abend.“ hervorzubringen. „Sie sehen aus, als ob Sie einen Tee vertragen könnten, Professor.“ Shatei hatte einfach keine Lust die Nacht allein oder noch schlimmer, mit einem der anderen Untoten zu verbringen. Warum auch? Der arme Alexander wurde doch gewiss vollkommen vernachlässigt, und da war noch etwas: Dieser aufrichtige Schmerz, diese Schuld die ihm aus jeder Pore strahlte, machte Shatei rasend. Warum auch immer, aber er konnte sich nicht mit ansehen, wie dieser Gelehrte an etwas zerbrach, woran er nicht zerbrechen sollte.
 

Alle Alarmglocken klingelten bei Alex, und doch folgte er dem Schlossherrn in einen kleinen gemütlichen Raum, mit einer Sitzgruppe aus einladenden dunkelgrünen Polstermöbeln. Der Tisch und ein schöner alter Schrank mit Barfach, sowie eine Kommode und ein Sekretär mit einem Stuhl davor, dessen Polsterung ebenfalls in dunklem grün gehalten war, waren aus massivem, poliertem Holz. Alexander hatte gerade die Bücher auf dem Tisch abgelegt und sich in einen der Sessel gesetzt, als Shatei ohne erkennbaren Ausschlag zur Tür ging und sie öffnete. Felix betrat den Raum und stelle ein Tablett mit einer dampfenden Kanne und einer Tasse auf dem Tisch ab, bevor er mit einer Verbeugung wortlos wieder verschwand.

„Telepathie ist meist doch mehr als praktisch.“, kommentierte der Vampir Alexanders unausgesprochene Frage, während dieser mit zitternden Händen versuchte, sich Tee ein zu schänken.

Leise kichernd schüttelte Shatei den Kopf und nahm dem 39-jährigen die Kanne ab, um das mit dem Tee für ihn zu übernehmen. Es lies Röte in seine Wangen steigen, dass er sich in Shateis Nähe, wie ein kleiner nervöser Junge benahm. Joèl und Erique konnten so ruhig bleiben, wenn er mit ihnen sprach. Warum war ausgerechnet er, der sie doch hierhergebracht hatte, ein solch elender Feigling? „Seien Sie nicht so streng mit sich, Professor.“ Mitfühlend ruhten seine braunen Augen auf dem Mann vor ihm, in dessen Haar sich schon die ersten grauen Strähnen abzeichneten. Merkwürdig, dem Blick eines Vampirs entgeht selten etwas, hatte er sie wirklich übersehen, oder stresste sein Aufenthalt hier den Uni-Lehrer so sehr, dass die grauen Haare ein Resultat seiner Zeit in diesem Schloss waren? Nun, sehr wundern würde es ihn nicht.

Behutsam nahm Alex die Tasse entgegen, vermied es aber, Shatei anzusehen. Sein Herz raste, das Blut rauschte in seine Ohren und seine Nackenhaare stellten sich auf, wann immer er den Blick des Anderen auf sich zu spüren glaubte. Shatei seufzte. „Wovor fürchten Sie sich so sehr, Professor? Doch wohl kaum davor, dass ich Sie anfallen und ihr Blut trinken könnte, oder?“ Doch eigentlich, so banal es war, hatte er damit ins Schwarze getroffen. Natürlich fürchtete er sich davor, von dem furchteinflößenden und geheimnisvollen Wesen, dass in dem Sessel ihm gegenüber saß, gebissen und getötet zu werden. Das war doch auch nur ein natürlicher Instinkt, nicht wahr? Die potenzielle Beute, deren Sinne sich in Gegenwart eines Raubtieres schärften, und für Vampire standen Menschen nun einmal an erster Stelle auf dem Speiseplan. „Geht es Ihnen besser, wenn ich Ihnen sage, dass Sie nicht mein Typ sind? Eigentlich vermeide ich solche Sätze in höflicher Konversation, aber vielleicht hilft es ja?“ Alexander hob den Blick und sah Shatei zögernd an. Er senkte den Blick direkt wieder atmete aber einmal tief durch, um sich etwas zu fassen. Es war anders, hier allein mit ihm, als in der Bücherei in der, zwar auch nur Vampire, aber dennoch andere Personen anwesend waren. „Es beruhigt mich irrationaler Weise nicht wirklich, aber es ist dennoch gut zu wissen.“ Er mühte sich zu einem schwachen Lächeln und trank vorsichtig einen Schluck von seinem Tee.
 

Shatei lies noch ein paar wenige Sekunden verstreichen, doch bevor Rendall sich wieder mehr und mehr in seiner Nervosität verlieren konnte, nahm er das Gespräch am besten gleich am Kernpunkt wieder auf. „Sie machen sich zuviele Gedanken um Ihre beiden Schützlinge, die doch eigentlich gar nicht Ihres Schutzes bedürfen. Warum?“ Nun endlich schaffte Alexander es, den Blick seines Gesprächspartners zu erwidern. Hatte er ihn allen Ernstes gefragt, warum er seine Reisegefährten schützen wollte? Abgesehen davon, ob er es konnte? „Ich...fühle mich für sie verantwortlich. Wenn ich mir nicht diese Reise in den Kopf gesetzt hätte, nicht so besessen von meinen Studien gewesen wäre, dann könnten die Beiden jetzt daheim zusammensitzen und ein normales Leben führen. Wenn ich es auch nicht rückgängig machen kann, so will ich wenigstens so viel für sie tun, wie ich zu tun vermag.“ Dieser Blick, dieser Ton in der Stimme.... diese feste Entschlossenheit, obwohl er sich der Aussichtslosigkeit dieses Wunsches bewusst war... Das alles machte einen stärkeren Eindruck auf Shatei als er wirklich zulassen wollte. Doch er musste sich wohl oder übel eingestehen, dass er eine gewisse Zuneigung zu dem Mann vor ihm entwickelte. „Was soll das bitte sein, was in Ihrer Macht steht, was Sie für sie tun könnten? Joèl wünscht keine Hilfe von Ihnen und schon gar kein Mitgefühl. Er würde Ihnen wahrscheinlich am liebsten nie wieder begegnen. Und Erique.... tja, Erique ist wohl ein komplizierter Fall für sich, aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Sie sich nur selbst verletzen werden, wenn Sie versuchen, ihm zu helfen.“ Warum fühlte es sich so merkwürdig grausam an, ihm diese Worte entgegenzuwerfen? Er entwickelte doch wohl keine Skrupel? „Wahrscheinlich haben Sie recht. Nein, Sie haben ganz sicher Recht, immerhin kennen Sie ja die Gedanken und Gefühle der Beiden, die mir verschlossen bleiben, aber dennoch kann ich nicht tatenlos zusehen. Und wenn das Einzige, was ich für die Beiden tun kann, hoffen und beten ist, oder an meinen Schuldgefühlen ersticken, das ist alles besser, als gar nichts zu tun und gefühllos und unbeteiligt zuzusehen, wie zumindest einer von ihnen zunehmend den Verstand zu verlieren scheint.“ Kopfschüttelnd stand Shatei auf und kam auf den Professor zu. Er ging langsamen Schrittes um den Sessel herum hinter ihn und lies dabei eine Hand den Oberarm seines Gastes hinauf zu dessen Schulter gleiten. Der Körper unter seiner Berührung spannte sich augenblicklich an. „Sie sind es, der hier derzeit am meisten leidet. Aus einem mir unerklärlichen Impuls heraus würde ich Sie gerne für einige Momente von diesem Leid ablenken.“ Er stand nun hinter ihm, seine Finger wanderten langsam über die glühende und pochende Haut an Alexanders Hals, während er sich ein wenig vorbeugte, dann jedoch mit einem leisen, aber nicht bosartigem Lachen verschwand die Berührung und Shatei entfernte sich wieder ein paar Schritte von ihm und kam um den Sessel herum zurück zu seinem eigenen Platz. „Aber wahrscheinlich würde Ihnen das eher einen Herzinfarkt bescheren, statt zu helfen.“

Ein riesiger Kloß hatte sich hartnäckig in seiner Kehle festgesetzt und lies seine Stimme wegbrechen, als er kaum hörbar antwortete, „Das ist wohl sehr wahrscheinlich,“ und ebenfalls - kläglich versagend allerdings - versuchte zu lachen. „Ach Alexander, was mache ich nur mit Ihnen? Es droht Ihnen keine Gefahr, auch Ihrem kleinen Erique nicht. Ich habe meine Beute und kein Vampir in diesem Schloss wird es wagen meine Gäste anzurühren. Sie können wirklich aufhören, sich mittels Schals und Rollkragenpullovern bis unters Kinn zuzuschnüren.“

Ein paar Mal tief durchatmend, nickte er bevor er es erneut wagte, den Blick zu heben und den glühenden braunen Tiefen nun erstmalig stand hielt. Der Blick des Vampirs wirkte amüsiert und entspannt, aber dahinter schimmerte etwas, dass Alexanders Aufmerksamkeit erregte. Er war einen kurzen Moment erschrocken, als ihm klar wurde, dass er hier dem einflussreichsten Vampir dieses Schlosses, vielleicht auch ganz Schottlands, offen in die Augen starrte, doch er senkte den Blick nicht, als er registrierte, dass auch Shatei ein wenig darüber erschrak, dass Alexander wohl etwas witterte, was er zu verbergen gedacht hatte. Das stachelte den Wissensdurst des Forschers natürlich noch mehr an... doch die Höflichkeit machte dem dann letztendlich doch ein Ende. „Es....tut mir Leid. Bitte verzeihen Sie, ich wollte Sie gewiss nicht anstarren.“
 

Alexander hatte mit einer herunterspielenden Erwiderung gerechnet, oder aber auch mit der Beendigung ihres Gespräches, doch nicht damit. „Sie haben einen wachen Blick, Professor. Ich sollte mich wohl in Ihrer Gegenwart in Acht nehmen.“ War das als eine Art Einladung zu verstehen, das Gespräch umzudrehen? Konnte er es riskieren? Eine kurze Zeit überlegte er unschlüssig hin und her. „Drehen Sie, Professor. Wenn Sie nichts riskieren, werden Sie nie etwas erfahren und da Sie die Gabe des Gedankenlesens nicht beherrschen, bleibt Ihnen wohl keine andere Wahl, als Fragen zu riskieren, auf die Sie möglicherweise keine Antwort erhalten.“

'Keine Antwort nehme ich ja noch gerne in Kauf', ging es ihm durch den Kopf, doch Shatei hatte ihm mehr als ein gutes Argument gegeben, warum er sich darauf verlassen sollte, dass er ihn nicht umbringen würde. Selbst wenn er mit einer Frage mal zu weit gehen sollte. „Was macht Ihnen Sorgen, Shatei? Sie haben drei Sterbliche in Ihrem Schloss, einer von Ihnen ist Ihnen wie es aussieht mit Körper und Seele zu eigen geworden, auch der zweite scheint sich Ihnen kaum entziehen zu können. Wieso sehe ich dann diese Unsicherheit in Ihrem Blick?“ Hatte er das gerade wirklich alles ohne jeden Vorwurf in seinem Tonfall gesagt? Er war wohl selbst mehr überrascht als Shatei, der nun zum ersten Mal seinerseits den Blick abwandte. „Erique befindet sich in keinerlei Bann, dem er sich entziehen können müsste. Und die Bindung zu Joèl steht auf wackeligen Beinen. Natürlich kann ich Eriques Gedanken lesen, seine jedoch verschließt er vor mir und ich kann nicht einschätzen, wie er auf Eriques nächste Schritte reagieren wird. Und auch um Sie, Professor, mache ich mir ein wenig Sorgen.“ „Warum um mich?“ Eine Frage auf die er sich nicht die geringste Antwort denken konnte. Warum sollte sich jemand um ihn sorgen, und vor allem, warum ausgerechnet Shatei?

„Weil Sie sich selbst zerstören. Drei Sterbliche in einem Schloss voller Vampire und nicht die Vampire treiben alle drei an den Rand des Wahnsinns, sondern die drei sich gegenseitig. Und Sie Professor, Sie haben das Risiko am Rand des Abgrunds auszurutschen ganz allein in der Hand. Sie reden sich ein, Joèl leide wegen Ihnen. Sie haben ihm seinen Lebensgefährten genommen und der Schmerz und der Hass auf Sie treibt ihn in meine Arme? Sie irren so sehr. Joèl ist verletzt, ja. Er ist wütend. Aber Sie Professor sind ihm egal, so wie ich das sehe. Sie bereiten ihm keine Alpträume und Kopfzerbrechen. Dass schaffe ich schon ganz alleine, mit ein wenig freundlicher Unterstützung von Erique, wie ich allerdings zugeben muss.“ Machte er da Scherze? Sein Ton klang verdammt danach. Wagte dieser Vampir es tatsächlich eine kranke Art von Humor mit in dieses ernste und verletzende Thema zu mischen? Es war mehr Fassungslosigkeit, als Wut, die Alexander überrollte. „Und Erique? In diesem Fall sind doch wirklich Sie das Opfer, oder nicht? Sie haben sich verliebt, gut er hatte einen Freund, aber dazu gehören immer zwei. Er hat doch Sie jetzt sitzen lassen, oder habe ich da etwas falsch aufgeschnappt? Ah, das ist es was Sie so fertig macht? Seine abweisende Art. Sie glauben, wenn schon Joèl Ihnen nicht die Schuld an allem gibt, an der gesamten Situation in der Sie drei sich befinden, dann tut es Erique? Tun Sie ihm nicht so unrecht. Möchten Sie wissen, was in Erique vorgeht? Ich kann es Ihnen verraten.“
 

Alexanders Kopf bewegte sich fast automatisch zu einem Nicken, doch seine Antwort war ein 'nein'. „Es ist Eriques Entscheidung, ob er mir seine Gedanken und Gefühle mitteilt, nicht die meine und nicht Ihre... Dennoch danke.“ Shatei blickte ein wenig enttäuscht drein, hatte er doch so gehofft Alexanders Reaktion zu sehen zu bekommen, wenn er erfuhr, was wirklich in diesem jungen Mann tobte, den er zu kennen glaubte. „Nun, konnte ich Ihre Schuldgefühle denn zumindest ein wenig reduzieren?“ Nicht wirklich, doch Alexander zog es vor, zu schweigen. Shatei würde die Antwort kennen und er selbst hatte nicht das Gefühl, dem Gespräch noch lange folgen zu können. Er fühlte sich verwirrter als zuvor, ratlos und verloren, und doch, dieser Moment jetzt gerade, der warme Tee, der sein Inneres ein wenig beruhigt und die zwar furchteinflößende aber überaus faszinierende Ausstrahlung von Shatei, der ihn mit einem Blick musterte, der ihm mehr als deutlich sagte, dass er gerade überhaupt keinen Grund zur Furcht hatte, war beinahe entspannend.
 

Heute Nacht würde Joèl sich Shatei nicht so einfach entziehen können. Der Schwarzhaarige hatte sich am Vorabend schließlich mehr oder minder angekündigt. 'Für heute lasse ich dich in Ruhe'. Joèl hatte gelernt, dass das bei ihm nichts anderes hieß, als dass er die nächste Nacht für sich beanspruchen würde. Es war bereits eine Stunde nach Sonnenuntergang und noch war er nicht in Joèls Räumen aufgetaucht, also sah der Student es auch nicht weiter ein, auf ihn zu warten. Er verlies den Wohnraum und trat auf den Gang. Die Vorhänge waren bereits beiseite gezogen und der Mond war fast voll und erhellte den Wald jenseits des Schlossgeländes.

„....um das zu erreichen, würdest du mich wirklich töten?“ War das Eriques Stimme? „Geh nicht zu weit, Junge. Du befindest dich auf verdammt dünnem Eis!“ Shatei! Joèl eilte um eine Biegung der Gänge und kam fast stolpernd zu stehen. Shatei hatte Erique gegen eine Wand gedrängt und packte ihn am Hemdkragen. Was jetzt? Was wenn er die Situation falsch einschätzte, was wenn nicht? Wie sollte er sich geben, was würde Shatei beschwichtigen, aber Erique möglichst keine Hoffnungen machen? „Bist du gekommen, um zuzuschauen, Joèl?“ Sein Blick fixierte Shatei wütend. „Jetzt werd nicht gleich Eifersüchtig, nur weil ich mich ein klein wenig mit Erique beschäftige“, neckte er ihn auch noch. „Ein klein wenig mit ihm beschäftigen?! Ich weiß nicht, was hier zwischen euch beiden vor sich geht, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich es wirklich wissen will.“ Er ging näher auf die beiden zu und sah Shatei, der Erique inzwischen losgelassen hatte fest in die Augen. „Du sagtest, du bist ehrlich. Ich möchte dir gerne Vertrauen, aber du macht es mir nicht gerade leicht.“ Mit diesen Worten ging er an den beiden vorbei und lies einen rätzelnden Vampir und einen absolut nervlich erledigten jungen Mann zurück.

Hatte er das gerade wirklich so gemeint oder nur gesagt, da Erique dabeistand und er seine Maskerade festigen wollte? Shatei würde sich diese Frage noch einige Zeit stellen müssen, zu seinem Unwissen, Joèl ebenso. Er war sich nicht wirklich sicher, oder er ihm wirklich vertrauen wollte.... fest stand für ihn nur, er konnte es nicht.

Seine Schritte führten ihn zu der Kapelle, in der er letzte Nacht Andrea kennen gelernt hatte. Es musste sich etwas ändern, und zwar bald. Andrea schien eine Chance dazu zu sein.
 

Leise drückte Joèl die Flügeltüren auseinander und erschrak, als er feststellte, dass Andrea ihn scheinbar schon erwartete. Er stand vor dem Altar, den Blick in seine Richtung gewandt. „Ich hatte mir schon gedacht, dass du bereits heute wiederkommen würdest, Joèl. Komm herein.“ Der Student nickte, schloss die Türen und ging auf den Eindrucksvollen Mann zu. „Darf ich euch zwei Fragen stellen, Andrea?“ Ein nicken ermutigte ihn, auch wenn der Blick des Vampirs ihn ernst anfunkelte. Joèl fiel auf, dass er wohl getrunken haben musste. Er war immer noch bleicher, als er es von den anderen Vampiren gewohnt war, aber nicht mehr so vollkommen weiß und seine Augen hatten ihren kalten farblosen Schimmer verloren und wirkten wie brennendes Eis. „In welcher Beziehung standet Ihr früher zu Shatei und was war das für eine Auseinandersetzung, die Euch veranlasst hat, Euch in dieser Kapelle einzuschließen und aus dem Schloss zurückzuziehen?“ Innerlich betet Joèl für Antworten, die ihm Hoffnung gaben. Antworten, die ihm sagten, dass er in Andrea jemanden gefunden hatte, der ihnen helfen konnte, zu entkommen. Natürlich müsste er ihn erst auch noch überzeugen, dass zu tun, aber ersteinmal wollte er wissen ob der Andere überhaupt in der Lage wäre zu helfen.
 

„Du wählst deine Fragen sehr zielgerichtet. Aber ich möchte dir darauf Antworten: Shatei und ich waren uns von Beginn an schon nicht wirklich sympathisch. Wir haben uns arrangiert, bis zu dem Tag, an dem er eines meiner Kinder vernichtet hat. In all den Jahrhunderten habe ich nur zwei Sterblichen mein Blut gegeben und sie zu Unseresgleichen gemacht. Einen von Ihnen durch die Hand eines Anderen zu verlieren, konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Von jenem Zeitpunkt an war unsere Feindschaft jedem bekannt, doch wir konnten es uns nicht erlauben offen gegeneinander zu kämpfen. Es ging Jahrelang so weiter, bis ich irgendwann resignierte. Intrigen über Monate und Jahre hinweg sind ermüdend. Niemandem kann man trauen, hinter jeder Mauer des Schlosses das schon Jahrhunderte zuvor mein Zuhause war den Tod lauern zu sehen, ist kräftezehrend. Sind deine Fragen damit beantwortet?“ Joèl schluckte. Er konnte aus den Antworten nicht wirklich entnehmen, was er zu erfahren hoffte, doch zu erfahren, dass sein Gegenüber einen geliebten Menschen, oder Vampir, durch Shatei verloren hatte, schnürte ihm die Kehle zu.

„Was möchtest du wirklich wissen, Joèl. Du bist doch heute aus einem bestimmten Grund hierher gekommen, nicht wahr?“ Ertappt hatte er kurzzeitig das Gefühl, ihm würde Röte ins Gesicht steigen, doch das Gefühl verschwand sofort wieder. Es wäre fatal gewesen, nun rot zu werden und Andrea damit deutlich vor Augen zu führen, dass er kein Vampir war. Falls dieser es nicht schon wusste und alles ohnehin verloren war.

„Ich.... ich fühle mich zu Shatei sehr hingezogen, das muss ich zugeben, doch ich fürchte ihn auch. Ich möchte Erique vor ihm beschützt wissen, doch weiß nicht wie. Zugegebener Maßen.... hatte ich mir Hilfe erhofft.“ Zu Joèls Überraschung nickte sein Gegenüber. „Hilfe? Von mir? Wie kommst du auf den Gedanken, dass ich dir in deiner Situation auch nur annähernd helfen könnte?“ „Nicht mir. Erique. Er ist es den ich schützen will. Shatei weiß, dass Ihr hier seid. Glaubt mir ich habe nichts getan, was ihn hätte darauf bringen können, und er machte den Anschein, als fürchte er Euch. Erzählt Ihr mir, warum?“

Andrea lies kurz den Blick sinken und wandte sich dann zum Altar um, wo er eine Kerze entzündete. In einer fließenden Bewegung riss er ein Streichholz an, das kurze Zischen und Knistern des anfachenden Holzes hallte durch die Kapelle. Ein angenehmer Duft von Rauch und heißem Wachs wehte Joèl entgegen. Erst nach einigen Momenten drehte Andrea sich wieder Joèl zu. „Ich denke er fürchtet, dass ich wieder zu Einfluss kommen könnte. Dieses Schloss gehörte meinen Vorfahren. Ich habe es einst geerbt und zu einem Ort gemacht, an dem Vampire sich sicher fühlen können. Viele der Älteren würden mich ohne zu zögern in jeder Hinsicht unterstützen, sie hätten es auch damals bei unserem Streit getan, doch mir war es seit jeher zuwider Macht und Einfluss in einer persönlichen Fehde als Waffe zu wählen.“ Andrea lachte leise. Ein raues, unheimliches Lachen. Joèl kroch ein eisiger Schaue über den Rücken. „Er, wie auch viele Andere, wissen, wozu ich fähig bin, sollte ich es darauf anlegen. Furcht und Schrecken in Augen, die mich anblicken zu sehen, ist mir zuwider geworden. Deine Bitte um Hilfe muss ich leider ausschlagen.“ Die letzten Worte sprach er mit einer eleganten Verbeugung.

In Joèl zerbrach etwas. Hatte er sich schon so sehr auf die Unterstützung des Fremden eingeschossen? Er konnte sich doch überhaupt nicht sicher sein, ob dieser Vampir, der es vorzog ein Einsiedlerleben zu führen, Sterblichen überhaupt freundschaftlich gesinnt war. Er konnte seine Einstellung nicht im geringsten Erahnen. Ein Gedankengang, der ihn daran erinnerte, dass sich dies bei Shatei nicht anders verhielt. Auch wenn er ab und an das Gefühl hatte, eine Ahnung von Shateis Intentionen zu erhaschen, so zerstreuten Worte, Blicke, Situationen diese doch immer aufs Neue und ließen ihn in unsicheren Spekulationen zurück.
 

Joèl machte ein paar wankende Schritte rückwärts und lies sich auf eine Bank der Kapelle sinken. Seine einzige Chance war also wirklich, diese Wette zu gewinnen.

Andrea wandte sich ab, ging vor dem Altar in die Knie und versank in einem stillen Gebet. Einige Minuten herrschte Stille, als Joèl aufsah, wagte er es nicht, Andrea anzusprechen, also stand er lautlos auf und verlies den großen Raum.

Ruckartig wurde er aus seinen Gedanken katapultiert, als eine kräftige Hand ihn packte und gegen eine Wand drücke. Beinahe wäre er dabei über einen Vorhang, der auf dem Boden lag, gestürzt. Erschrocken starrte er in Shateis Gesicht, dass sich nur wenige Zentimeter vor seinem befand, während der Blick des Anderen sich brennend in ihn bohrte. Was machte er hier? So nah bei Andrea, wo er ihm doch nicht begegnen wollte? „Was versprichst du dir von ihm? Warum tust du mir das an?“ Er war wütend, unüberhörbar. Seine Stimme klang gepresst, so als brauche es seine ganze Kraft, nicht zu schreien. Joèl war viel zu erschrocken, um antworten zu können. Zugegebener Maßen auch verängstigt. Er hatte nie vergessen, was Shatei war. Ein Menschenmordendes Wesen, dass man sonst nur aus Horrorstreifen kannte. Ein Mann, der seine Realität mit einem gewaltigen, erbarmungslosen Schlag zerstört und ihn nackt und schutzlos in eine neue und grausamere Welt gestoßen hatte. Shatei kam näher an ihn heran, verringerte den Abstand zwischen ihnen, bis er zur Gänze verlosch, presste ihn nun mit seinem Körper gegen die kalte Steinwand. Sein Atem glühte auf Joèls Haut und beschrieb einen heftigen Kontrast zu der Kälte seines Körpers. „Du hasst mich nicht annähernd so sehr, wie du es gerne würdest, mein Herz. Du würdest nicht so weit gehen, meine Existenz und die aller Anderen in diesem Schloss zu gefährden, nur um deinen kleinen Schatz zu befreien.“ Es waren, wie so oft, keine Fragen, sondern Feststellungen. Shatei war sich stets so sicher mit den Behauptungen, die er aufstellte, und zur Hölle nochmal, er hatte jedes verdammte Mal Recht. Joèl spürte, wie sein Körper zu zittern begann. Seine Stimme kam ihm fremd und weit entfernt vor. „Ich....muss einfach etwas tun.... ich kann doch nicht einfach hinnehmen, was geschieht.“ Er hob die Hände, um sich an Shatei festzuhalten. Seine Kraft schien mit jedem weiteren Atemzug, der über seine Haut wehte, mehr zu schwinden. „Ich habe dir schon einmal geraten etwas zu unterlassen, dass du bereuen würdest und Recht behalten. Höre diesmal auf mich: Du wirst es bereuen, solltest du ihn dazu bewegen können, sich wieder in das Geschehen innerhalb dieser Mauern einzumischen.“ Mit diesen Worten löste er sich von dem zitternden Jungen und lies ihn stehen. Er wandte sich ab und lies ihn einfach so zurück...

Für Shatei war dies keineswegs leicht, doch so nahe an der Kapellentür, so wenige Meter von Andrea getrennt, fühlte er sich bedroht und unwohl. Nein, Andrea würde ihn weder vernichten, noch würde er ihm auf andere Weise Leid zufügen. Er würde ihm nicht einmal seine so heiß und innig begehrte Beute nehmen. Doch das wusste Joèl nicht.

Wie, fragte er sich, kam es aber, dass oèl von der Kapelle wusste? Niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand war, würde in diesen verwitterten und verfallenen Gängen herumlaufen, wenn er nicht ein Ziel hätte. Der einzigen Antwort auf diese Frage, derer Shatei sich entsinnen konnte, würde er schon in wenigen Stunden nachprüfen. Es war Riskant, doch gewiss zu Joèls Bestem.
 

Es gibt einfach Dinge, die will man nicht wissen. Hätte Joèl an diesem Abend nicht genau zu dieser bestimmten Zeit die Bücherei betreten, dann wäre ihm eine solche unerwünschte Erfahrung erspart geblieben. Das Buch, in dem er bis eben Lustlos herumgeblättert hatte wurde nun doch von einem Seufzen begleitet beiseite gelegt. Der Student konnte und konnte sich einfach nicht auf den Uni-Stoff konzentrieren, doch die Semesterferien würden auch nicht ewig währen.

Mit einem missmutigem Knurren erhob er sich von seinem Sitzplatz und lief einen Moment in seinem Wohnraum auf und ab. Diese innere Unruhe war einfach kaum auszuhalten. Es mochte ihm nichts einfallen, wie er den Tag herumkriegen sollte, denn schlafen konnte er nicht, doch zu sämtlichen erdenklichen Taten fehlte ihm der Elan.

Bernard.... natürlich, er hatte sich seit einigen Tagen nicht mehr bei ihm blicken lassen.

Als er nun um ein Bücherregal herumging,um zu dem kleinen Nebenraum zu gelangen, hoffte er im einen Moment noch inständig, den tagaktiven Vampir nicht verpasst zu haben, im nächsten aber für eben diesen Vampir, er wäre schon fort gewesen, denn Shatei stieß gerade die Tür auf und lies sie geräuschvoll hinter sich zufallen. Schnell verschwand Joèl hinter einem weiteren Regal und atmete erleichtert auf, als sein unheilvoller Verehrer die Bücherei verlassen hatte, ohne ihn zu bemerken.

Zögernd klopfte er an und betrat, nachdem er ein missgestimmtes 'Herein' vernommen hatte mit einem flauen Gefühl den Raum. Bernard sammelte gerade ein paar Unterlagen und Bücher vom Boden auf. Wie es aussah, hatte Shatei ihn nicht eines freundlichen Gespräches wegen aufgesucht. Seine Verwirrung und Besorgnis ob dieser Situation schien Joèl ins Gesicht geschrieben. „Es freut mich, zu hören, dass Andrea wohlauf ist. Doch die Art es zu erfahren hätte angenehmer sein können.“ Er warf seinem Besucher ein aufmunterndes Lächeln zu. „Schau mich nicht so an, Joèl. Shatei war wohl der Auffassung, ich habe dir von der Kapelle erzählt und du habest auf meinen Hinweis hin gezielt nach ihm gesucht. Sei mir nicht böse, aber ich war eigentlich ohnehin gerade dabei, mich zurückzuziehen.“ Bernard legte die aufgehobenen Schriftstücke auf den Schreibtisch und ging an Joèl vorbei durch die Tür. Verwirrt sah er ihm noch eine zeitlang nach und entschloss sich dann aber, noch unruhiger als zuvor wie er war, zu einem erneuten Spaziergang durch das Schloss.
 

Draußen wurde es zunehmend dunkler, was aber nur zu bemerken war, da Felix wohl schon vor ihm in dem ein oder anderen Korridor entlang gekommen war und die Vorhänge dort beiseite gezogen hatte. Er begegnete keinem einzigen Vampir auf seinem Weg hörte aber leise Stimmen aus dem ein oder anderen Raum, in dem sich angeregt unterhalten wurde. Doch etwas war heute entschieden anders als sonst. Die allgemeine Stimmung war aufgewühlt, der Geruch von misstrauischer Erwartung lag in der Luft. Erwartung auf was? Oh, er konnte sich nur zu gut denken, worum sich die meisten Gespräche wohl gerade drehen mochten.

Vielleicht war es ein Fehler, vielleicht hatte er es aber auch schon viel zu lange aufgeschoben.

Andrea klopfte nur kurz an, betrat dann aber ohne eine Antwort abzuwarten direkt den Raum. Kurz war Erschrecken in den braunen Augen zu sehen, doch schnell wandelte es sich zu einer berechnenden und abschätzenden Kälte, die selbst ihm beinahe Unbehagen bereitet. Aber eben nur beinahe.

Mit einem leichten Anflug eines Lächelns nährte er sich Shatei mit langsamen gemessenen Schritten. „Es ist viel Zeit vergangen Shatei, und wie ich sehe hast du nicht dazu gelernt.“ Es kostete Shatei ein wenig Beherrschung, nicht zurückzuweichen und er war zugegebenermaßen Erleichtert, als Andrea mehr als zwei Meter von ihm entfernt stehen blieb. Nicht dass er sich wirklich fürchtete, doch die Anwesenheit, gar nicht zu sprechen von der Nähe, des Anderen war ihm aufs Äußerste Unangenehm. „Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du nicht wegen meines Gespräches mit Bernard hergekommen bist. Also warum spielen wir nicht gleich mit offenen Karten?“ Nun lachte Andrea. Zum ersten Mal, seit er sich zurückgezogen hatte, lachte er wirklich. Es war kein freundliches Lachen, aber es war offen und befreiend, nicht nur ein leiser Anflug, wie bislang. „Mit offenen Karten zu spielen war für dich seit jeher ein weitaus schwierigeres Unterfangen, als für mich. Aber gerne: Ich werde Joèl einen Wunsch erfüllen. Er wünscht sich eine Veränderung ihrer aller Situation. Du wirst sicherlich Ahnen, woran ich dabei denke und wirst eingestehen müssen, du würdest selbst so handeln, wäre dir Joèls Zuneigung nicht so unendlich wichtig.“

Shatei war fassungslos. Nach so vielen Jahrzehnten in denen ihn nichts wirklich überraschen, ängstigen oder schockieren konnte, war er fassungslos. Dann jedoch zuckte ein Mundwinkel nach oben und er senkte den Blick. „Ich hätte es erwarten müssen. Doch ich hoffe du hast nicht vergessen, was beim letzten Mal geschehen ist, als du einem Sterblichen dein Blut gabst, Andrea. Oder ist dir das am Ende gar unwichtig?“ Ein Grinsen in dem so engelsgleichen Gesicht seines Gegenübers lies seine Befürchtung wahr werden und Shatei wurde schlagartig klar, was das bedeuten würde. Für ihn ebenso, wie für Joèl, Erique und Alexander.

Kapitel 6 - "giving in"

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 7 - „shattering peripety“

Kapitel 7 - „shattering peripety“
 

„Der Sommer im Jahr 1846 war unerträglich heiß, so dass selbst an der Küste die Nächte nur kaum spürbare Linderung brachten. Für die Fischer und Fischhändler war dies ein Fluch und auch uns traf der Verlust dieses Handelszweiges, wenn auch nur minimal. Unseren Hauptverdienst erzielten mein Vater und ich mit der Verschiffung von Stoffen und allerlei anderer Handelsgüter, die die Küste von Calais erreichten und dort auf eines der Handelsschiffe verladen wurden, die der Koordination meines Vaters unterstanden.
 

Dunkelheit hatte sich über den Hafen gelegt, und noch waren längst nicht alle Kisten, die die vor knappen 2 Stunden vor Anker gegangene 'La Couronne' aus England mitgebracht hatte, entladen. In dem geschäftigen Treiben und meinen stets zwischen schweißgebadeten Männern, Kisten, Säcken und den Listen in meinen Händen hin und her zuckenden Blicken hätte er mir vollkommen entgehen müssen und doch brannte sich fast jede Sekunde, die er für seinen Weg über die Planken bis zu mir benötigte, so tief in mein Gedächtnis als hätte ich ihn ohne Unterbrechung angestarrt.

Bis heute bin ich mir sicher, dass dem nicht so gewesen ist.

Es war nicht unüblich, dass Handelsschiffe Passagiere beförderten, doch ein Mann wie er passte nicht so recht in dieses Bild. Er machte auf mich schlichtweg einen zu wohlhabenden Eindruck, um zwischen Handelswaren oder in den Gemeinschaftskajüten der Besatzung mehrere Tage oder Wochen auszuharren.
 

Wie ich später erfahren sollte war ich weder der Erste und noch lange nicht der Letzte, der seinem Charme auf Anhieb erlag und so überzeugte er mich, während er die gesamte Zeit des restlichen Entladens an meiner Seite verbrachte, ihn zu dem von mir empfohlenen Gasthaus zu begleiten und dort noch etwas mit ihm zu trinken. Das Gespräch war gewiss belanglos, ebenso, wie es mir damals belanglos erschienen sein musste, dass er nicht ein einziges Mal an seinem Wein auch nur nippte, denn an beides kann ich mich nur schattenhaft erinnern. Fesselnde Gespräche und feurige Diskussionen ließen in den nächsten Wochen zunehmend eine Freundschaft zwischen uns entstehen, und doch musste ich mir eingestehen, dass Shatei immer dazu in der Lage war, mich gezielt vollkommen aus der Fassung zu bringen. Er war so ungreifbar, so vollkommen undurchschaubar und um so mehr Misstrauen sich in mir in mancher Situation regte, desto mehr wuchs meine Faszination für ihn und fesselte mich, ohne das ich es selbst merkte.

Seine Geschichten von fernen Ländern und Abenteuern habe ich nie hinterfragt. Mich nie gewundert, wie er so viel in seiner bisherigen Lebensspanne hatte sehen und erleben können, denn wie alt mochte er sein? Mitte zwanzig vielleicht? Gewiss nicht viel älter als ich es damals war.
 

Die nächtliche Zeit, die ich mit ihm verbracht, zusätzlich zu den zahlreichen täglich Arbeitsstunden, gingen zum Leidwesen meiner schwangeren Frau und meiner süßen dreijährigen Tochter. Natürlich dauerte es nicht besonders lange, bis Chantal mich darauf aufmerksam machte, dass ich meine Pflichten als Familienvater und Ehemann mehr als nur vernachlässigte. Ich liebte sie, keine Frage. Ich liebte sie sogar sehr und ich war glücklich und zufrieden mit meinem Leben.... bis Shatei nach Calais kam. Er führte mir vor Augen, was ich nicht besaß und haben wollte. Ich wollte diese Spannung und Abwechslungsreichen Erfahrungen. Ich wollte mit ihm auf Reisen gehen.

Doch meine Liebe zu Chantal und Elise hielt mich in der wachsenden Hafenstadt und auch wenn mein Glück geschmälert war, konnte ich doch noch sagen 'Ich bin glücklich' ohne wirklich lügen zu müssen. Als dann Anfang 1847 mein Sohn zur Welt kam war jedes Fernweh lange Zeit vergessen. Wenn ich jetzt zurückdenke muss ich sagen, dass es mir hätte auffallen sollen, wie unzufrieden Shatei mit dieser Situation war. Und dass wohl nur ich zu blind für das Offensichtliche war, wurde wohl darin deutlich wie mehr sich meine Frau von ihm distanzierte. Vielleicht sah sie in ihm, was er wirklich war, vielleicht hat sie mir mehr als einmal versucht zu verstehen zu geben, welche Gefahr von meinem Freund ausging, doch wann immer wir über ihn sprachen war ich nahezu taub für ihre Worte.
 

Um diese Spanne meines Lebens abzuschließen: Es kam wie es kommen musste und ich verlies meine Familie. Shatei zog es nach Paris und ich konnte mich dem Wunsch, ihn zu begleiten nicht erwehren, wie sehr ich es auch versuchte. Und ich schwöre, ich habe es versucht. Unruhen wurden laut und ihre Nachricht erreichte schnell den Handelsort. Auch uns ging es zunehmend schlecht als die Handelskrise 1948 auf uns zu raste. Viele befürchteten eine zweite Revolution, wie sie die halbe Welt schon 1789 in Atem gehalten hatte und als es schließlich zu gewalttätigen Aufständen und a

Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Bürgern mit der französischen Armee kam, war Shatei nicht mehr zu halten, die Stimmen meiner Frau und meines Vaters um so lauter. Doch ich ging mit ihm.

Natürlich behielt ich Recht, als ich sagte, wir würden gewiss erst Paris erreichen, wenn alles vorbei wäre. Louis-Philippe's Regierung fand ihr Ende und die Republik wurde ausgerufen.

Ich erlebte eine Zeit des Wandels und der Neuerungen mit. Etwas, das ich Shatei nie vergessen werde. Doch natürlich konnten mir jetzt die allzu deutlichen Eigenarten meines Freundes nicht mehr entgehen. Wir reisten in einer mit Vorhängen vermummten Kutsche, die Vorhänge waren bei Tage dicht zugezogen und durften nicht geöffnet werden. Er versuchte mir eine seltene Hautkrankheit glaubhaft zu machen, die ihn unangenehm sensibel auf Sonnenlicht reagieren ließe. Ebenso hätte er äußerst empfindliche Augen. In Frankreichs Hauptstadt angekommen hatte er darauf bestanden, zwei Hotelzimmer zu beziehen und zu zahlen, auch wenn ich noch so sehr dagegen argumentierte. Er verschlief jeden Tag, so dass ich mich schnell daran gewöhnte die Tage alleine in Paris' Straßen zu verbringen, was mir all zu bald viel zu viel Zeit zum Nachdenken gewährte. Ich begann, Shatei skeptisch zu beobachten und das entging ihm nicht im Mindesten. Ganz im Gegenteil, schien er genau das zu erwarten und schnell wurde auch mir klar, er wollte mir sein Geheimnis nicht verraten, ich SOLLTE es selbst lüften.
 

Natürlich waren mir alle Vermutungen, mit denen ich der Wahrheit nahe kam zu abwegig, als dass ich an ihnen hätte festhalten wollen, auch wenn ich gewiss nicht selten immer wieder in die selbe Richtung schwenkte. Gewissheit über das was er war und das 'aufklärende' Gespräch erhielt ich in der Nacht des 24. auf den 25. Juni, nachdem auch mich, wie weit über 3000 weitere Aufständische eine Kugel der Nationalgarde traf. Meine Familie hatte nach wenigen Tagen die Nachricht meines Todes in Händen, der jedoch durch nur wenige Tropfen von Shateis verfluchtem Blut verhindert wurde.

Ich war kein Untoter, wie er. Ich dürstete nicht nach sterblichen Blut und musste mich nicht vom Sonnenlicht fern halten. Ich hörte nicht auf zu altern, ich alterte lediglich sehr viel langsamer und hätte mein Körper je die Chance dazu erhalten, das Vampirblut gänzlich zu verarbeiten, vielleicht wäre ich auch wieder zu einem ganz normalen Menschen geworden und alt und grau irgendwann irgendwo eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Doch meine Zuneigung zu Shatei stieg noch so weit es möglich war. Ich war abhängig von ihm, süchtig nach seiner Nähe, seinem Blut und dem Gefühl, dass es auslöste sobald es auch nur meine Lippen benetzte.

Wir verließen Frankreich und bereisten Europa in östlicher Richtung, und sehr bald schon verstand ich, was Shatei suchte. Nicht Ablenkung, Neuheiten, etwas, dass sein unnatürlich langes Leben ausfüllte, sondern das, was jeder x-beliebige Romanvampir sucht: Seinesgleichen, die ihm Antworten geben könnten. Wir begegneten einigen von Ihnen und schnell musste ich mich daran gewöhnen, dass ich in ihren Augen nicht mehr war, als Shateis Diener und Blutwirt. Am Leben erhalten durch sein Blut war ich dazu verpflichtet, ihm mein Blut und alles was er sonst noch von mir verlangen mochte, zur Verfügung zu stellen. Wenn man ignorierte, dass er sich seiner umgarnenden Wirkung, die er nutzte um einen um etwas zu bitten, vollauf bewusst war, könnte man standhaft aussagen, er hatte mir stets die freie Wahl gelassen. Nicht dass bis dato körperlich auch nur annähernd etwas anderes als der Blutaustausch zwischen uns stattgefunden hätte, das möchte ich an dieser Stelle gerne betonen.
 

Erst als wir 1881 nach Calais zurückkehrten wurde mir schmerzhaft bewusst, dass ich kaum gealtert war. Ich mochte vielleicht in dem Körper eines 26-Jährigen stecken, nicht jedoch die 50 überschritten haben, wie Chantal, von der wir erfuhren, dass sie im sterben lag.

Mir zog es schmerzhaft das Herz in der Brust zusammen und wie brutale unnachgiebige Hammerschläge gingen die Erinnerungen an die vielen Male, die ich sie in den letzten Jahren mit anderen Frauen betrogen hatte auf mich hernieder.

Keiner erkannte mich wider. Wie auch? Ich war tot. Und 33 Jahre waren eine äußerst lange Zeit. Ich bat bei einem Herrn, der ,wenn auch nur wenig aber doch augenscheinlich, älter war als ich, darum bitten, zu meiner Großcousine wer-weiß-wievielten Grades vorgelassen zu werden, und musste feststellen, dass ich meinem eigenen Sohn gegenüber stand. Den bitteren Nachgeschmack dieser Begegnung werde ich wohl nie wieder loswerden.
 

Ein Priester war der einzige, der noch am Bett meiner sterbenden Frau stand und leise Gebete murmelte. Ihr trüber Blick fand mich und klärte sich sichtbar auf, während ihre Augen sich weiteten. „Bernard....“ Ihre Stimme war ein leises heiseres Flüstern, doch lauter als ihr Rasselnder Atem und somit unüberhörbar in diesem kleinen stickigen Raum. Der Priester sah verwundert auf und ich stellte mich ihm unverzüglich mit leiser Stimme als der vor, der ich vor meinem Sohn zu sein vorgegeben hatte. Sie würde uns jeden Augenblick verlassen, ihre Kinder und Enkelkinder könnten dies leider nicht mit ansehen, doch er würde sich freuen, wenn ich, als Verwandter, bei ihr bleiben könnte, bis es vorbei sei. Meine Bitte an ihn, und allein zu lassen schien ihn sehr zu überraschen und gewiss auch nicht wenig zu verwirren, doch er kam ihr nach.
 

Milchiges Grün schimmerte in den einst so smaragdfarbenen Augen . „Bernard.... du bist gekommen...um mich abzuholen. Endlich...“ Ich nahm ihre Hand, die Kehle wirkte mir wie zugeschnürt und lies meine Stimme ebenso heiser klingen. „Es...tut mir alles so schrecklich leid, meine Liebe.“ Ewigkeiten schienen zu vergehen, ihre Hand war eiskalt in der Meinen. Die Haut wie dünnes Pergament. Ich hatte Scheu, sie mit der kleinsten Bewegung meiner Finger zu verletzen. „Du bist so jung und warm und ich.... schau mich nicht an Bernard...“ Zaghaft strich ich hier über die Wange, Tränen verschleierten meinen Blick. „Nein...nein meine Schöne. Du bist so umwerfend, so strahlend schön, wie eh und jeh...“ „Schmeichler....“ Sie atmete zittrig durch, als müsse sie sich zu etwas durchringen, dann fixierte mich ihr Blick, der sich weiter aufzuklären schien. „Du hast nicht....auf mich gehört. Er hat aus dir gemacht...was auch er ist. Dieses....Monster...“ Ich spürte, wie sie unruhig wurde und versuchte sie mit meiner streichelnden Hand und einem Lächeln, dass mir gewiss kläglich misslang so sehr wie der Schmerz mich aufwühlte, zu beruhigen. Es gelang mir entgegen meiner eigenen Annahme. „Verzeih mir....“ War das einzige, was ich hervor würgen konnte, bevor meine Stimme wegbrach. Sie musste mich hassen. Sie würde Sterben, mit Wut auf mich als ihren letzten Gedanken. Eine zittrige, knochige Hand legte sich an meine tränennasse Wange. „Seit sie mir die Nachricht deines Todes gebracht haben, habe ich mir jeden Tag eingeredet, du seist am Leben, und einfach nur auf Reisen. Das war leichter zu ertragen, wusste ich doch immer, dass du irgendwann mit einem deiner Handelsschiffe auslaufen und nicht zurückkehren würdest, bis du nicht genug gesehen hättest. Ich bin so unendlich glücklich, dass die Illusion, die ich mir geschaffen habe... die Wahrheit ist....“ Sie wollte noch etwas sagen, ich hielt sie besorgt, nein, verängstigt, davon ab. Sie war zunehmend blasser geworden, ihre Worte immer leiser. Es kostete sie zuviel Kraft, zu sprechen. Ihre Lippen bewegten sich noch einmal, dann wich das Leben aus ihren Augen, und ihre Hand fiel von meiner Wange. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich an ihrem Bett geweint habe. Ich weiß nicht, wie Shatei es geschafft hat, mich in ein Schiff zu schaffen oder wie lange ich nur zwischen schlafen und weinen wechselte, bis ich wie nach einer langen fiebrigen Krankheit, mit tauben Gliedern und einem furchtbaren Geschmack in einer schaukelnden Hängematte unter Deck erwachte. Es stank durchdringend nach Meerwasser, Fisch, Schweiß und Unrat.
 

Ich quälte mich aus der Hängematte, trat scheinbar nicht richtig auf und landete der länge nach schmerzhaft hart auf dem feuchten Holzboden. Leise fluchend rappelte ich mich auf und sah mich um. Der kleine Raum in dem noch ein paar Kisten und Säcke verstaut waren, war verlassen, ich fand leider keine Wechselkleidung und stieg somit Gekleidet in der schlabbrigen bestimmt mindestens eine Nummer zu großen Hose und dem nahezu aufgetragenen Hemd aus grober Baumwolle, die steile Treppe hinauf an Deck. Das Schiff war nicht wirklich groß, jedoch auch alles andere als eine kleiner Fischkutter. Nur wenige Matrosen waren an Deck beschäftigt, Shatei stand vor einem sternenklaren Nachthimmel an der Reling, den Blick auf das weite Meer gerichtet. Meine erste Schifffahrt und ich kann mich bedauerlicherweise nur an diese und die darauf folgende Nacht, in der wir bereits an der Englischen Küste anlegten erinnern. „Du hast dich aufgeführt, wie ein Geisteskranker. Ständig hast du geschrien und geweint, bis du vor Erschöpfung eingeschlafen bist. Mehr als zwei Tage sind so vergangen, bis du dann angefangen hast, zu fiebern. Bei dem scheußlich kalten Wetter in letzter Zeit kein Wunder. Glaub mir, es fiel mir nicht einfach, aber so sehr du gebettelt hast, habe ich dir mein Blut dennoch verweigert. Wir können uns beide glücklich schätzen, dass die Matrosen nichts bedeutendes von deinem ohnehin zusammenhanglosen Fieberwahn-Gebrabbel mitbekommen haben. Die letzten Tage hast du dann, dem Himmel sei dank, in komatösem Tiefschlaf verbracht. Wir erreichen morgen York.“, war Shateis knappe Schilderung der bisherigen Vorfälle. Ich war mir unschlüssig, ob ich über sein Verhalten wütend sein sollte, doch andererseits fiel es mir unglaublich schwer. Es war wirklich unglaublich kalt. An sich kein Wunder, im Winter auf See, glücklicherweise wurde ich minutenschnell mit warmer frischer Kleidung ausgestattet und mir fiel nun auch erstmalig auf, dass Shatei eine schlichte Stoffhose und ein äußerst dünnes Hemd mit weiten Ärmeln trug. „Du beschwerst dich über meine Worte im Fieber und stehst hier in Sommerkleidung bei Minustemperaturen. Entbehrt dies nicht einer gewissen Logik, mein Freund?“ Er hatte mir viel erklärt. Sehr viel. Ich muss also gestehen, er ist -oder war zumindest derzeit- ein ausgezeichneter Lehrmeister im Punkto Vorbereitung auf ein unsterbliches Leben. Doch die Dinge, die die geistigen Kräfte betraf, Präsenz, Verschleierung, Gedanken lesen sowie die eigenen schützen, sickerten durch mein Gehirn, wie durch ein Sieb.

Erst einige Monate später habe ich begonnen mich eingehend damit zu beschäftigen.
 

Hier also beginnt die eigentliche Geschichte. Ich war bereits ein Vampir, als wir im Jahr 1935, nachdem wir Europa noch einige Male verlassen und wieder betreten hatten, nach Schottland kamen und uns somit auch bald unweigerlich vor den Toren dieses Schlosses wieder fanden. Nicht dass wir nicht beide zuvor schon gespürt -gewittert- hätten, dass hier mehr als nur eine handvoll Vampire lebten, wir hatten auch mehr als oft genug in anderen Ländern von unseresgleichen von diesem Schloss und seinem Schlossherrn Andrea Lecrois gehört. Was immer uns abgehalten hatte, ich möchte die Bekanntschaft zu Andrea in meinem Leben nicht missen, jedoch hätte ich mir gerne die Erfahrung mit Shatei auf entgegengesetzten Seiten zu stehen, erspart.
 

Andrea war genau das, wonach wir all die Jahrzehnte gesucht hatten. Er wusste so viel. Vielleicht nicht alles, dennoch schien sein Wissen unerschöpflich, und umso unendlicher die Informationen in dieser Bibliothek. Die Monate in denen ich Shatei nahezu überhaupt nicht zu Gesicht bekam, waren für uns so unbedeutend kurz als wären es wenige Tage gewesen in denen unsere Interessen auseinander und unsere Wege in verschiedene Richtungen in diesem Bauwerk führten.

„Ich habe eine Bitte an dich Bernard.“ Andrea stand neben dem Sessel, in dem ich es mir vor einem Kamin bequem gemacht hatte. Ein Stapel Bücher, der bis zur Armlehne reichte, neben mir, eines der Bücher aufgeschlagen in meinem Schoß liegend. Meine Hand brauchte die Geste, mit ihr auf den mir gegenüberliegenden Sessel zu weisen, nur andeuten, damit er die Einladung verstand. Es war so unendlich einfach, mit ihm zu kommunizieren. Meist reichten die wenigsten Worte, nur die Idee einer Geste oder Entgegnung, die wir regelrecht in den Augen des jeweils anderen ablesen konnten ohne uns der Telepathie bedienen zu müssen. Etwas, von dem ich mir inständig gewünscht hätte, dies mit Shatei bewältigen zu können, denn gewiss hätte es später dann nicht annähernd so viele Missverständnisse zwischen uns gegeben. „Wie kann ich dir behilflich sein?“ Die Verwunderung, mit der ich das Wort 'ich' belegte, konnte ihm nicht entgangen sein. Es erschien mir merkwürdig, dass ein Mann wie er, mich um einen Gefallen zu bitten gedachte. Er lehnte sich in dem Polstermöbel zurück, legte die Fingerspitzen seiner Hände federleicht aneinander. „Du magst den Eindruck haben, ich besäße ein unersättliches Erinnerungsvermögen, doch dem ist gewiss nicht so.“ Er machte eine kurze Pause, in der ich, ohne meine Blick von ihm zu nehmen, das Buch beiseite legte. „Ich habe unzähliges aus meinem Leben vergessen und mir ist nur zu deutlich bewusst, dass ich weiter vergessen werde. Mein sterbliches Leben existiert in meiner Erinnerung nur noch schemenhaft. Meine Bitte ist: Hilf mir dabei, verlorene Details wieder zu finden. Es würde mir eine große Freude sein, mit dir gemeinsam alte Karten und Schriften zu studieren, die meiner Erinnerung auf die Sprünge helfen könnten und in Schriftform festzuhalten, was mir nicht wieder entgleiten soll.“ Ich wusste kaum, wie ich der Ehre, die ich empfand Ausdruck verleihen sollte. Ich muss ihn wohl mit vor Euphorie brennendem Blick angestarrt haben.
 

Es waren wunderbare Monate. Und Shatei gesellte sich zu uns und verfolgte unsere Nachforschungen. Nachdem ich so mühselig gelernt hatte damit umzugehen, Leben nehmen zu müssen um selbst zu überleben, fühlte ich mich endlich wieder so lückenlos glücklich, wie lange nicht mehr. Doch natürlich durfte dies nicht von Dauer sein. Andrea begann zunehmend sich zu verändern und ich musste bald erkennen, was mit ihm vorging. Er versank mehr und mehr in seiner eigenen Gedankenwelt. Zog sich immer häufiger zurück. So gehörte ich zu jenen, die die Ankunft einer Hochschwangeren Frau im Vorhof der Schlossruine mit gemischten Gefühlen sahen. Das Wetter war scheußlich, schon die letzten Wochen und würde es auch die nächsten Wochen bleiben. Ich gehörte zu jenen, die instinktiv hinausrannten und ich war derjenige, der sie in das Schloss trug. Sie fieberte, klammerte sich zitternd an mich und lies mich nur wiederwillig los, als ich sie in einem der Zimmer auf ein Bett gelegt hatte. Einige waren mir neugierig gefolgt und der Aufruhr schien auch Andreas Interesse geweckt zu haben. Nachdem nun schon so lange nichts mehr sein Interesse wert gewesen zu sein schien. Auch Shatei war dort, doch er verlies mit allen außer Andrea, Roderique und mir, den Raum. „Ich ... habe solche Angst...“ Das hilflose Wimmern klang umso kläglicher durch das Kältezittern, das zu den Wehen hinzukommend ihren Körper schüttelte. Es war Andrea, der mit einer mir bis dato unbekannten Wärme in den Augen auf die werdende Mutter zutrat, am Bettrand platz nahm und ihr überaus zärtlich einige von Regen und kaltem Schweiß nassen Haarsträhnen aus der Stirn wischte. „Ganz ruhig, Susan. Mein Freund hier ist Arzt. Es wird alles gut werden.“ Roderique trat neben ihn. Er sprach leise mit der jungen Frau, während Andrea am Bett sitzen blieb und ihre Hand hielt. Er wich die gesamte Zeit nicht von ihrer Seite.
 

Der alles umfassende Blutgeruch in diesem Raum, die rot verfärbten Laken, der laute kräftige Herzschlag der von Schmerz und Anstrengung heftig atmenden Mutter, hätten mich in willenlose Raserei stürzen müssen, doch das was ich dort miterleben durfte, die Erinnerung an die beiden vergangenen Male in denen ich einer Geburt, der Geburt MEINER Kinder, hatte beiwohnen dürfen, hielten mich bei Verstand. Ich erlebte diese Szenen vor meinem geistigen Auge erneut, bis ich mir wieder der Realität um mich gewahr wurde.

Nachdem Roderique den Säugling warm in weiches Tuch gewickelt und ihn der Mutter in die kraftlosen Arme gelegt hatte, spürte ich Andreas Arm um meine Schultern. „Lass uns bitte allein, Bernard.“ Der Ausdruck in seinen Augen beunruhigte mich, dennoch verlies ich mit Roderique den Raum und erfuhr erst später von Andrea, was weiter geschehen war.
 

Die junge Frau hatte gespürt, dass sie nicht die nötige Kraft finden würde, sich von den Anstrengungen der Geburt zu erholen und hatte ihm, wie immer es ihr gelungen war, das Versprechen abgenommen, den Jungen aufzuziehen. Wie oft habe ich mir die Triaden seiner Verzweiflung anhören dürfen. Der so strahlende, selbstbewusste Andrea, der alles konnte, alles wusste, war am Ende ratlos, als es um ein Kind ging. Es dauerte nicht lange, bis er aufgab und das Kind in meine und Felicitas' Verantwortung gab. Natürlich war er immer wieder mal für das Kind da, doch bei weitem nicht oft und intensiv genug. Wie sehr der Junge seinen Ziehvater doch vermisste. Ich nahm die Rolle seines Lehrers ein, Felicitas die der mütterlichen großen Schwester und so wie er uns beinahe alles überlassen hatte, hätte Andrea uns auch die Erklärung dessen, was wir waren und warum er so vollkommen anders war als wir, überlassen sollen. Ich kann bis heute nicht klar zu fassen bekommen, was mich an dem Verhalten des Kindes nach dem 'klärenden' Gespräch mit Andrea so verstörte, es nahm letzten Endes doch vorerst die richtigen Züge an, das ist wohl das Wichtigste.

Ich fühlte mich in der Zeit zurückkatapultiert. Felicitas die Amme, meine Wenigkeit als Mentor, und Andrea ein Vater, der sich kaum Zeit nahm, an den der Junge nur heran kam, wenn er über andere darum bat, dass sein Vater zu ihm kam oder in empfing. Ein Vater, mit dem er ausgewählt höflich sprach. Wenn er ihn ansah so leuchtete mehr Verehrung und Bewunderung in seinen jungen Augen, als Liebe. Shatei beobachte den Knaben meist nur verstohlen und argwöhnisch, wich mir jedoch jedes Mal aus, wenn ich ihn auf ihn ansprach. Ich war wieder einmal so unglaublich blind und sah nicht das Unglück auf das wir zusteuerten.

Shatei hatte längst mit vielen Anderen Partei gegen Andrea ergriffen, sie waren gegen das Aufwachsen eines Sterblichen unter ihnen. Ein Kind, das inzwischen zu einem Teenager geworden war, der seine pubertären Launen nicht im Geringsten verheimlichte oder zu unterbinden suchte, stets erpicht darauf, seine Grenzen zu entdecken. Das Verbot Andreas seinem Sohn etwas zuleide zu tun hielt die Vampire davon ab, dem Jungen eine Lektion erster Güte zu erteilen und die seltenen Male, die Andrea ein Machtwort sprach, reichten lange nicht, um ihn in die Schranken zu weisen. Im Gegenteil wurde es nur schlimmer, umso mehr ihm bewusst wurde, dass sein Vater nur noch Zeit für ihn fand, wenn er ihn zu schelten hatte. Sein Trotz richtete sich nun gegen Andrea und alles womit er diesem auch nur die kleinste Gefühlsregung entlocken konnte, war ihm Recht. Vielleicht war ich sogar der einzige im Schloss, der von Andrea erfuhr, wie es nur wenige Jahre später wirklich zwischen ihm und dem bald schon 17-Jährigen jungen Mann stand. Für ihn stand außer Frage, dass er seinen Sohn eines Tages verwandeln und nie von seiner Seite weichen lassen würde.
 

Nie hätte ich Shatei derartige Grausamkeit zugetraut, denn er schmeichelte sich zunehmend bei dem Knaben ein. Umgarnte ihn, wie er einst mich umgarnt hatte und ich war mir schmerzlich sicher, bei ihm würde er weiter kommen, als bei mir, der ich nie auch nur das leiseste körperliche Interesse an Männern hatte empfinden können.

Er erreichte sein Ziel: Andrea wurde rasend vor Eifersucht je näher die beiden sich kamen, bis letztendlich die Grenze überschritten war und nicht nur der Körper sondern auch das Herz des Jungen vollkommen auf Shatei geprägt waren. Es kam zu offenen Anfeindungen zwischen zwei Parteien, die sich schleichend aber stetig im Schloss gebildet hatten. Es tat mir so unglaublich leid für alle Beteiligten, dass es nie um Liebe und Sterblichkeit oder Unsterblichkeit des Jungen gegangen war, sondern von Anfang bis Ende nur ein Kampf um Macht und Ansehen gewesen ist.

Wie nicht anders zu erwarten, war es Andrea, der Shatei letztendlich mit der Bitte um Frieden entgegentrat und überdeutlich in meiner Anwesenheit so wie der seines Sohnes betonte, wie wenig ihm das Sagen im Schloss bedeutete. Wie viel dafür aber sein Sohn und dessen Glück und Unversehrtheit.

Die nächsten Entwicklungen entziehen sich meinem Verständnis. Ich war und bin nicht in der Lage sie nachzuvollziehen. Fakt ist, Shatei verlies das Schloss, ohne ein Wort an mich oder irgendwen, der bereit gewesen wäre, mir mitzuteilen, warum und wohin er gegangen war. Erst als zwei Jahre später unser sterblicher Zögling nach langen Gesprächen, viel Wut, bösen Worten, liebevollem wieder Vertragen und etlichen Argumenten dem Schloss und damit Andrea und uns den Rücken kehrte, kam Shatei zurück. Andrea verschwand spurlos und es setzte sich das Gerücht fest, Shatei habe ihn getötet oder vertrieben. Er widersprach kein einziges Mal, wenn man ihn mit diesen Vorwürfen konfrontierte, grinste überheblich oder zuckte mit abfälligem Blick die Schultern. Nichts lies darauf schließen, dass die Gerüchte nicht stimmten, auch wenn nichts sie bestätigte. Es genügte, um unbändige Wut in mir zu schüren. Zum Teil wegen der Vorwürfe, die auch ich ihm nun machte aber bedeutend mehr noch, weil er nicht mit mir sprach. Ich trieb es bis zum Äußersten und hatte selbst in meinem Schmerz über den Verlust Andreas und seines Sohnes gar nicht realisiert, dass ich mir einen ehemals sehr guten Freund zum Todfeind gemacht hatte. Das Wort Todfeind sage ich, wie ich es meine. Ich wachte aus meinem aggressiven Verhalten ihm gegenüber erst auf, als ich nahezu tot unter ihm lag, sein brennender Blick sich in mich bohrte, während er mir androhte, es zu Ende zu bringen, sollte ich es noch einmal wagen, ihn mit physischen oder psychischen Kräften oder auch nur verbal anzugreifen... Möglicherweise ist das der Grund, warum ich selbst die Gerüchte den Umstand über Andreas Verschwinden geglaubt habe und ihm seit schätzungsweise vier Jahrzehnten aus dem Weg gegangen bin, bis Shatei mich vor drei Nächten..... nein, bis Andrea selbst mich kurz bevor du heute morgen hergekommen bist, aufgesucht hat.t“
 

Bernard stand von seinem gepolsterten Stuhl auf und kam um den Schreibtisch herum, setzte sich auf die Tischplatte. Er war während er seine Geschichte erzählt hatte mehrmals aufgestanden, unruhig auf und ab gegangen, um sich dann wieder zu setzen und einige Zeit darauf wieder aufzustehen. Auch Joèl hatte seinen Platz irgendwann kurz vor Ende der Erzählung verlassen und war ein paar wenige Schritte hin und her gegangen bevor er sich gegen ein Regal gelehnt und seinen Blick wieder auf Bernard gerichtet hatte. Einige Atemzüge lang herrschte Stille im Raum. Bernards Blick war in keiner Weise erwartungsvoll, und doch hatte Joèl das Gefühl, dass er irgendetwas zu dieser Geschichte sagen sollte. Immerhin hatte er lange genug auf den dunkelblonden Vampir einreden müssen bevor dieser ihm endlich seufzend nachgegeben hatte. Doch alles was ihm zu sagen einfiel kam ihm kläglich dumm vor. Das Schweigen wurde ihm unangenehm und er senkte verlegen den Blick. Er musste die zahlreichen Informationen erst verdauen. In wenigen Minuten hatte er mehr über Shatei erfahren, als all die Zeit, die er bislang schon in dessen Nähe verbracht hatte. Und doch kam er zu dem Schluss, das all dieses neue Wissen ihm nicht im geringsten half, Shatei oder Andrea einzuschätzen. Stattdessen formte sich ein anderer unangenehmer Gedanke in ihm: Würde Shatei Wut darüber empfinden, dass er nicht ihn sondern Bernard gefragt hatte....Hätte Shatei ihm etwas erzählt, wenn er ihn gefragt hätte?
 

„Geh ruhig Joèl. Man sieht dir deutlich an, dass du Zeit für dich alleine brauchst.“ Irgendetwas in Bernards Blick gefiel dem Studenten nicht. Er hatte an einigen Stellen der Geschichte verletzt gewirkt, aber das jetzt war keine Trauer, Schuld, oder Schmerz, die er auf sich bezog.... Es war Mitleid. Aber warum? Er schüttelte den Gedanken ab. Sein Gehirn musste sich jetzt mit etwas anderem beschäftigen. „Ich danke dir....“ Er hoffte, dass sein Lächeln nicht zu kläglich misslang und verlies dann der Raum, um in seine eigenen Gemächer zurückzukehren. Bis Sonnenuntergang würde er ganz allein für sich und seine Gedanken Zeit haben, nur unterbrochen, von Felix, der ihm wohl zweifellos etwas zu Essen vorbeibringen würde, sobald er, wie auch immer er das stets machte, erfahren würde, dass Joèl wach war. Shatei und er waren schnell übereingekommen, dass sie Felix einweihen mussten, damit Joèl sich nicht stets auffällig in die Küche schleichen musste.
 

Tatsächlich fand er nichtmal eine volle Stunde schlaf, bevor er wieder aufwachte und unruhig in seinen Zimmern herumlief. Irgendetwas wühlte ihn zunehmend auf. Das ungute Gefühl, dass sich etwas tat, das ihm ganz und gar nicht behagte. Es lag eine merkwürdige Spannung in der Luft, die nicht nur von Shateis und auch Bernard eigentümlichen Verhalten herrührte. Plötzlich und ohne genau zu wissen warum, landeten seine Gedanken bei Erique. Er hatte weder ihn noch den Professor seit drei Nächten gesehen. Waren sie abgereist und hatten ihn zurückgelassen, weil sie alle glaubten, er sei selbst ein Untoter? Oder war ihnen vielleicht etwas... Nein! Diesen Gedanken durfte und wollte er sich gar nicht erst erlauben. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und Joèl verlies festen Schrittes sein Zimmer. Wem immer er begegnen würde, es war ihm Recht. Er brauchte Ablenkung von dieser Achterbahnfahrt, die seine Gedanken da machten, denn mittlerweile war er geistig so durchgeschleudert, dass er das Gefühl hatte, in einer anderen ihm nahezu vollkommen unbekannten Sprache zu denken von der er nur hier und da ein Wort ohne jeglichen Zusammenhang aufzuschnappen in der Lage war.

Dass er ausgerechnet in Erique hineinlaufen würde, hatte er am wenigsten erwartet. Er stutzte kurz, legte gerade seine Maske auf, als sie sofort wieder abfiel und einem Ausdruck absoluten verständnislosen Erschreckens platz machte. Erique stand vor ihm mit einem Glanz in den Augen, der alles andere als normal, oder überhaupt von menschlichem Verstand geprägt war. Sein Grinsen war beängstigend, den Kopf hatte er leicht zur Seite gelegt. „Joèl, mein Liebster, was hast du denn? Du siehst so erschrocken aus.“ Wer immer das dort vor ihm war, das war nie und nimmer Erique. Nicht sein Erique! Sein Grinsen wurde noch ein wenig breiter und es fiel Joèl wie Schuppen von den Augen. „Nein.....nein......“ , nur leises Murmeln drang über seine Lippen. Der neugeborene Vampir kam langsam näher. Irgendetwas in diesen blauen Augen war abgrundtief bösartig, wenn auch überlagert und nahezu verschleiert von Wahnsinn. „Wir werden jetzt für immer zusammen sein, Joèl. Ich bin jetzt wie du. Ich bin dir gefolgt, jetzt kannst du mich wieder lieben, nicht wahr? Jetzt brauchst du keine Angst mehr um mein Leben zu haben.“ Er wich stolpernd rückwärts. „Shatei!! Shatei du verdammter Mistkerl, ich weiß genau dass du mich hörst!! Dafür wirst du bezahlen du Teufel! SHATEI!!!“ Erique blinzelte verwirrt. Ansonsten tat sich nichts in ihrer Nähe.
 

Gnadenlose, blutrote Wut überlagerte den Schmerz über das, was Joèl soeben erfahren hatte. Er stürmte, Erqiue ignorierend, an diesem vorbei. Instinktiv fand er die Flügeltür, stieß sie auseinander und betrat Shateis Privaträume. Der Vampir stand Mitten im Raum, die Arme verschränkt, den Blick zur Tür gewandt, als habe er ihn erwartet. „Du verdammte Ausgeburt der Hölle, was hast du mit ihm gemacht! Wir hatten eine Abmachung, wenn ich dir schon sonst nichts positives zugetraut habe, so doch, dass du ein wenig Ehre im Leib hast. Hast du das nicht selbst gesagt!? Du hälst dich an einen Deal! Ein Versprechen, auch wenn du sonst nur lügst?“ Joèl schrie und prügelte tobend mit seinen Händen auf den Brustkorb des Vampirs ein. Er war zu blind vor Wut, als dass er gezielt hätte zuschlagen können. Shatei tat nichts, um ihn abzuhalten, sagte nicht einmal etwas. „Er war es nicht.“ Das war nicht die Stimme des Schwarzhaarigen. Joèl hielt mitten in der Bewegung inne und hielt den Atem an. „Er war es nicht.“, wiederholte die Stimme. Joèl drehte sich herum. Andrea hatte in einem der ledernen Sessel der Sitzgruppe gesessen und stand nun auf. Sein Haar trug er heute offen. Er tat nur einen einzigen Schritt auf sie beide zu, blieb dann wieder stehen und fixierte Joèls Blick. „Ich war es. Ich habe Erique getötet und ihm mein Blut gegeben.“ Unfähig sich zu rühren, starrte Joèl in die beiden eisblauen Kristalle vor ihm. Er nahm am Rande seines Bewusstseins die glühende Spur wahr, die eine einzelne heiße Träne auf ihrem Weg über seine Wange nach unten zog. Sein Körper begann zu zittern und die Knie wurden ihm weich. Er spürte kräftige Hände an seinen Oberarmen, die ihn aufrecht hielten, spürte eine stählerne Brust hinter seinem Rücken, die ihn zusätzlich stützte. Ihm ein vages Gefühl von Sicherheit gab. Seine Gedanken begannen zähflüssig wieder zu fließen, wieder verständlicher zu werden. Darum also hatte Shatei ihm so eindringlich versucht begreiflich zu machen, dass er sich erhoffte, Joèl würde sich von ihm helfen lassen. Doch warum war Andrea hier, wenn die beiden sich doch so sehr hassten? Warum war Bernard gerade heute bereit gewesen, ihm diese Geschichte zu erzählen? Hatten sie all dies vielleicht gemeinsam geplant? War das alles ein Spiel, dass sie alle gemeinsam mit ihren drei Opfern spielten? Oder tat er Shatei nun unrecht, so wie Bernard ihm einst unrecht getan hatte. Hatte ihm Bernard deshalb alles erzählt, um ihm unterschwellig einzubläuen, nicht dasselbe zu tun? Aber warum Andrea? War sein erster Eindruck von dem Mann so falsch? Konnte jemand wie Bernard eine so enge Freundschaft und Sympathie zu jemandem aufbauen, der im Grunde grausam und bösartig war? Oder war Bernards gesamte Geschichte vielleicht nur eine Lüge?
 

All diese Fragen, all die Emotionen in ihm, diese so drastisch veränderter Situation waren einfach zu anstrengend. Er hatte nicht mehr die Kraft. Zu wenig Schlaf, zu viel Unruhe. Er wollte einfach nicht mehr denken. Flehte geistig um eine Pause! Geistig? Ihm war als könne er seine eigene Stimme wimmernd diese Bitte in Worte fassen hören, lies sich vollkommen in Shateis Umarmung sinken, so dass er gewiss wie ein nasser Sack zu Boden fallen würde, sobald dieser ihn losließe, dann klappten seine Augenlider zu und kurz umhüllte ihn ein angenehmes Schwindelgefühl, dann endlich Stille....

Kapitel 8 - "overdue avowal"

Kapitel 8 – ‚overdue avowal‘
 

Mit ausdruckslosem Blick betrachtete Andrea den bewusstlosen Jungen in Shateis Armen. "Er wird nicht lange ohne Bewusstsein bleiben. Schade für ihn." "Ich höre seinen Herzschlag auch. Spiel dich nicht so auf!" Shateis Blick bohrte sich hasserfühlt in den seines Gegenüber. Mit einer unbeeindruckten Handbewegung winkte Andrea ab. "Es kommt jetzt auf dich an. Ich hoffe für euch beide, dass du so weit bist..." Ein Tonfall, der Shatei in der Tat für einen Moment inne halten lies. Mitgefühl? Von Andrea?

Seit er zurückgekehrt war benahm sich der 'ehemalige' Schlossherr schon so merkwürdig. Diese Ruhe, die schon mehr Gleichgültigkeit glich, hatte einen seit jeher zur Weißglut treiben können, doch nun war diese Ruhe begleitet von geduldiger Fürsorge. Andrea verließ den Raum mit den Worten, sich um 'seinen' Schützling kümmern zu wollen.

Shatei war es egal, ob er damit nun Erique oder Alexander meinte. Hier und jetzt zählte nur Joèl. Joèl, der, wenn er diesen Schock zu überwinden in der Lage sein würde, nun vielleicht wirklich 'sein' sein konnte.

Behutsam legte er den jungen Mann auf der Couch ab und nahm selbst in einem Sessel, den er so drehte, dass er ihn besser betrachten konnte, platz.

Wie unzählige Male zuvor wanderte sein Blick über die Gesichtszüge des Studenten, prägte er sich jeden Milimeter genau ein. So vollkommen entspannt in seiner Ohnmacht lies nichts die Qualen, Wut und Trauer erahnen, die gleich, wenn er die Augen aufschlug wieder über ihn hereinbrechen würden. "Es tut mir so leid Joèl..." Ein leises Flüstern, eigentlich nur für sich selbst bestimmt und doch öffnete der angesprochene beim Klang seines Namens flackernd die Augen, antwortete ebenso flüsternd. "Gesetz den Fall, dass du dazu in der Lage bist, ändert es ja doch nichts."

Heiße Tränen fanden sofort ihren Weg über seine bleichen Wangen. Der 23-Jährige setzte sich ruckartig auf, verbarg mit einem gequälten Schluchzen das Gesicht in den Händen. In zähflüssiger Endlosigkeit dahinfließende Sekunden starrte Shatei den vom Weinen bebenden Körper an, unfähig etwas zu sagen oder zu tun. Nie zuvor - seit er seine Sterblichkeit verloren hatte- hatte er sich so hilflos gefühlt.

Ihm blieb nichts weiter, als geduldig abzuwarten, bis Joèl sich von alleine beruhigt hatte.
 

Es war gut so. Er gab sich dem Schmerz hin. Er verlieh ihm Ausdruck und schluckte ihn nicht herunter. Vielleicht würde es mit seiner Wut auch so verlaufen. Shatei würde es hinnehmen. Er musste.

Doch egal wie sehr er auf ihn einhieben würde, egal welche Beschimpfungen er ihm entgegenwarf, es würde nichts ändern.

Je länger Shatei den Jungen betrachtete, je länger er über ihn und die gegenwertige Situation nachdachte, desto schneller stieg sein Respekt vor ihm. Wie viel, fragte er sich, konnte der Verstand aushalten, bevor er unter der Last von Emotionen zusammenbrach? Der Last von Schicksalsschlägen und Verlusten?

Erst der Betrug seiner großen Liebe, dann die Erkenntnis dass alles woran man geglaubt, was das eigene Realitätsempfinden ausgemacht hat, falsch war. Die Angst vor dem was vor einem lag. Umgeben von Monstern in einem Spukschloss, dem Tod näher als der Chance auf Überleben. Wie hatte wohl der Kampf in Joèl ausgesehen, als er sich dagegen entschied, für sich selbst zu flehen und stattdessen für Erique und Rendall unter Einsatz seines Lebens, schlimmer noch: Seiner Freiheit, in einen Kampf zu ziehen? Hatte er diesen selbst überhaupt bewusst wahr genommen, oder schlichtweg in einem Moment gewusst, was er zu tun entschied?

Und nun der Verlust des Liebsten für den er dies alles getan hatte. Was mochte er gerade empfinden?

Wut auf Andrea, weil er Erqiue gebissen hatte?

Wut auf Shatei weil er es nicht verhindert hatte oder auch weil er Joèl mit ihrer irrsinnigen Wette von Erique entfernt hatte, sie daher nicht reden konnten? Weil Erique sich nur wegen dieser Wette dazu entschlossen hatte?

Vielleicht auch ein wenig Wut auf Erique?

Und Alexander, der sie überhaupt erst hierher gebracht hatte?

Schmerz über den Verlust Eriques? Verzweiflung, weil all die Nächte des Schauspielens und der Angst des Entdecktwerdens vergebens waren?

Hoffnungslosigkeit? Worin lag seine Hoffnung? Nur in der Rettung Eriques? Ein bitterer Geschmack stieg in Shatei hoch bei dem Gedanken, dass Joèl nun wohl mehr über seinen unschuldigen reinen Erique erfahren würde als gut für ihn war.
 

Minuten später beruhigte sich der Student. Das Beben wich einem stetigen, schwachen Zittern. Das Schluchzen verebbte vollends, nur die Tränen wollten nicht versiegen. Lautlos rannen sie über die bereits benässten Wangen, gerötete Augen blickten verschleiert in Shateis Richtung.

Fragen, Vorwürfe, Bitten um Hilfe. Diese Augen bombadierten den Vampir so unbarmherzig, das ihm zu schwindeln drohte.

"Warum?" Seine Stimme klang belegt und schwach. Dieses eine Wort, diese kurze Frage, drückte so unendlich viel aus.

"Bedauerlicherweise kann ich dir nur zur Antwort geben, was Andrea mir sagte. Er habe es zu deinem Wohle getan, was immer das in seinen Augen sein mag." Auch er bemühte sich um einen ruhigen doch sicheren Ton.

"Zu meinem Wohl? Andrea hat all meine Ängste der letzten Tage damit noch übertroffen. Hast du Erqiue gesehen? Hast du seine Augen gesehen?" Unaufhaltsam rannen wieder mehr und mehr Tränen über das, durch Erschöpfung zu keiner Regung mehr fähige Gesicht. Die Stimme immer wieder wegbrechend.

Jahrzehnte lang hatte sich Shatei nicht mehr so unwohl in seiner Haut gefühlt. Er schüttelte nur benommen den Kopf. Nein, er hatte Erqiue noch nicht gesehen, doch er konnte sich das Ergebnis der Verwandlung nur zu gut vorstellen.

Ein neugeborener Vampir, beherrscht von Blutdurst hätte Joèl schockiert, ihn vor Entrüstung rasen lassen, ihn auch verletzt, doch so vollkommen zerschmettern konnte ihn gewiss nur das, was Shatei von vornherein gewusst hatte. Seit Shatei Andrea kannte, hatte kein Verstand es vermocht die Wirkung seines Blutes zu verarbeiten. Sie waren alle unmittelbar nach der Verwandlung dem Wahnsinn verfallen. Manche mehr manche weniger, doch Wahn blieb Wahn.
 

Andrea fand Alexander wie üblich in seinem (nun alleinigen) Zimmer, in einem Sessel, den Blick in die Leere gerichtet. Drei Nächte waren nun seit dieser furchtbaren Offenbarung vergangen. Oder waren es vier gewesen?

Wenn er ihn so sah, machte der Professor ihm wirklich Sorgen, doch kaum hatte er die Tür hörbar zugezogen, zuckte der 39-Jährige zusammen und wandte ihm seinen Blick mit der üblichen Mischung aus ängstlichem Respekt und schwer gezügelter Neugier zu. Wobei dort seit jener Nacht Erleichterung über Gesellschaft und eine tiefe Traurigkeit begraben unter einem falschen Lächeln mit schimmerten.

"Wohl der Nacht, Alexander." Mit einem Kopfnicken erwiderte er den Gruß. "Du siehst besser aus, hast du endlich etwas Schlaf finden können?" Geschmeidig lies sich Andrea in den zweiten Sessel gleiten.

"Das Schlafmittel, dass du mir hast bringen lassen, hat mir gute Dienste erwiesen, aber ich bin wohl noch weit davon entfernt, wirklich wieder auf dem Damm zu sein." Zwei Herzschläge vergingen in Schweigen. "Du willst das Thema immer noch meiden?" Andrea betonte es zwar, wie eine Frage, doch es war, was es zu sein hatte: Eine Feststellung dessen, was er aus Alexanders Geist wusste.

"Unterhalte dich mit mir über Geschichte, Politik, Philosophie und Religion, doch bitte gestatte mir, noch ein wenig Kraft zu sammeln, bevor ich mich dem Unweigerlichen stelle." Ein sanftes Lächeln brachte ein wenig Lebendigkeit in die marmornen Züge des Vampirs. Alexander wäre ein solch vortrefflicher Kandidat für die Unsterblichkeit. So aufgeschlossen, interessiert, sein Wissensdurst schien unstillbar.
 

Die Stärke, die er hier an den Tag legte war unfassbar. Doch der Damm würde brechen. Andrea wusste nur zu genau, wie es im Innern seines Gesprächspartners wirklich aussah. Der tobende Strudel aus Trauer und Wut wurde derzeit nur von einer starken Schutzmauer aus Verstand in seinem Innern gehalten. Denn wenn sich der Professor einer Sache gewiss war, dann der, dass er wohl nicht noch einmal 'wach' werden würde, würde er sich derzeit wieder in seinen Emotionen verlieren.

Wie ein Bibliothekar inmitten einer von einem Erdbeben zerrütteten und durcheinandergebrachten Bücherei mit der Aufgabe ein neues Register zu erstellen, versuchte er mit Logik die ersten 'Gefühlsfetzen' zu analysieren und zu verarbeiten, bevor er sich an den komplizierten Stoff heranwagte.
 

Nein, Andrea erkannte in diesem Moment ein furchtbar gravierendes Argument dafür, dass Alexander sich absolut nicht zu einem Untoten eignete: Sein unerschütterlicher Lebenswille. Egal wie oft ihm die Fragen 'Was ist denn noch Lebenswert?', 'Hast du nicht schon alles verloren?', 'Warum beendest du es nicht, wo das doch so viel einfacher ist?' und 'Was hält dich noch hier?' durch den Kopf schossen, er lies nicht zu, dass der Damm brach. Drängte all die Dämonen beiseite und suchte verbissen weiter nach einem Lichtblick.

Allmählich durchschaute er Alexs Taktik und Denkweise. Bevor der Sterbliche nicht etwas gefunden hatte, von dem er wusste, dass es ihn bei Verstand halten, oder ihm zumindest den Weg zurück zu seinem Verstand leuchten würde, gab es kein Gespräch über oder gar mit Erique. So viele Jahre hatte Andrea kein Mitgefühl mehr verspürt und nun wurde ihm mulmig bei dem Verlangen Alexanders unterbewusstes Rätzeln zu beenden.

Rätzeln darüber, was aus seinem 'Engel' geworden war. Die Vorstellungen des 39-Jährigen schwankten und variierten ganz massiv über alle Nuancen zwischen den Extremen. Einem engelsgleichen Geschöpf, wie er Andrea sah, anmutig, kühl, unerreichbar, über Vampire wie Riccardo, freundlich, beinahe natürlich, wenn auch gefährlich, bis hin zu den 'Monstern' nur bestimmt von ihrem Blutdurst und dem Drang nach Zerstörung und Leid Anderer.

Er wusste, Alexander würde nicht gefallen, was die Realität bereithielt, doch zumindest würde dann diese verdammte Ungewissheit ein Ende haben. Er musste sich von Erique los sagen, der auch ohne Verwandlung mehr Gift als Heilmittel für die beiden ihn so sehr Liebenden war.
 

Alex hatte ihm diese Frage noch nicht gestellt, Joèl würde dies im ersten Moment in dem sich ihm die Gelegenheit bieten würde tun. 'Warum?'

Wollte er ihnen die Antwort geben? Er entschied sich dagegen. Sie würden es selbst herausfinden. Ganz gewiss. Dies war zwar die unangenehmere und langwierigere Methode, jedoch aber die wirksamste. Seine Aufgabe nach diesem 'Vergehen' saß ihm hier gegenüber. Er würde Alexander nicht aufgeben lassen, sich aber nur dann einmischen, wenn es unvermeidbar war.
 

Jahrzehnte als Sterblicher unter Bluttrinkern und nie zuvor hatte Felix um sein Leben gefürchtet. Bis jetzt. Dieser ‚Neugeborene‘ war unberechenbar und selbst die drei Vampire, die sich mit ihm im Raum befanden, mit Seitenblicken darauf achtend, dass Erique Felix nicht zu nahe kam, konnten ihn nicht wirklich beruhigen.

Möglichst schnell verrichtete er seine Arbeiten, hielt dann jedoch jäh inne und begann ganz im Gegensatz dazu nun besonders langsam und gründlich vorzugehen.

Hatte er aus seinen Gedanken erlauscht, dieser kleine Teufel mit dem Engelsgesicht, dass er den Raum und damit ihn baldmöglichst verlassen wollte, oder warum scharwenzelte er jetzt so heimtückisch und bar jeder ersichtlichen Logik vor der Tür herum?

Der ältere Herr warf um Hilfe ersuchende Blicke zu seinen drei Beschützern, doch diese schienen zutiefst konzentriert auf ihre eigenen Beschäftigungen. War dies Tarnung für den Jungvampir oder hatte Felix sich zu sehr in seinem Wunschdenken von Schutz verirrt?

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete bewusst und tief durch. Sein Herzschlag war für die Bewohner dieses Schlosses gewiss noch in den Etagen über und unter ihm dröhnend dahingaloppierend hörbar. Er hatte Shatei so viele Jahre gedient, war schon Teil des Schlosses als Andrea sich noch nicht zurückgezogen hatte. Der strahlende Schlossherr, der nun zurückgekehrt war… der diesen Wahnsinnigen erschaffen hatte.

Shatei würde ihn nicht sterben lassen, nicht wahr? Er würde nie zulassen, dass Erique ihm etwas antat! Doch scherte Erique das? Wie viel war von diesem freundlichen Jungen noch übrig?
 

Felix schaute auf, als er ein Kichern vernahm. Die Drei glucksten verhalten während Erique ihn mit schiefgelegtem Kopf ansah und dann laut lachte. ‚Jaja, meine Gedanken sind der Renner, was?‘

Ein Zwinkern des sich bereits wieder beruhigenden 21-Jähringen bevor dieser auf Riccardo zu schlenderte.

Felix zog sich tiefer in den Raum zurück. Er konnte nicht verstehen, was Erique sagte, dafür sprach er viel zu leise, doch es blieb kein Zweifel daran, dass Riccardo und auch die anderen Beiden ihn hörten und dass ihnen keinesfalls gefiel, was der Frischling zu erzählen hatte.

Spannung lag plötzlich in der Luft. Dieses Kind versuchte doch allen Ernstes sie zu provozieren!

Wenige Schritte vor der Gruppe blieb Erique stehen, kichernd, ein diabolisches Grinsen auf den Lippen. Riccardo bleckte die Zähne. Das würde Ärger geben. Ganz gewaltigen Ärger. Felix blick wanderte immer wieder zur Tür. ‚Verschwinde Felix!‘ Der Hausmeister zuckte zusammen, als er Riccardos Stimme in seinem Kopf vernahm. ‚Keine Angst, wir sind schneller und stärker als dieser Welpe. Aber du stehst kurz vor einer Herzattacke, also sieh zu, dass du hier verschwindest.‘ Der ältere Herr schluckte schwer und bewegte sich dann mit bleiernen Schritten auf den rettenden Flur zu. Erst an der Tür angelangt beschleunigte er seine Schritte, wagte erst jetzt, den Blick von den vier Vampiren abzuwenden. Augenblicklich hörte er hinter sich Fauchen und Knurren, dann ein kurzes schmerzhaftes Aufschreien. Er drehte sich nicht noch einmal um.
 

Joèl lag entkräftet auf der Couch. Getrocknete Tränen klebten an seinen Wangen, fahrig rieb er sich die brennenden Augen. „Was willst du nun tun Joèl?“ Eigentlich hatte Shatei sich vorgenommen, ihm mehr Zeit zu geben. Doch die Sorge trieb ihm diese Frage immer wieder zu, bis sie nun aus ihm herausgebrochen war. Er würde ihn nicht gehen lassen können. Doch welche Möglichkeit bliebe ihm, wenn er bleiben würde? Shatei zuckte überrascht zusammen, als er wider erwarten tatsächliche ein Antwort erhielt. Der Student war so voller Überraschungen, seit Ewigkeiten war Shatei nicht mehr zusammengefahren.

„Ich will hier heraus. Lebend. Sterblich. Nenn es wie du willst.“ Seine Stimme klang so unglaublich schwach und heiser. Sie erinnerte bald an die von Andrea. Als habe er sie zu lange nicht benutzt, doch war hier das Gegenteil der Fall. Sein Toben, Schluchzen und Schreien hatten seine Stimmbänder strapaziert. „Die Wette läuft weiter. Die Semesterferien enden in vier Tagen. Wenn ich bis dahin weiter alle in dem Glauben lassen kann, ich sei ein Vampir, lässt du mich und Rendall gehen.“

Shatei seufzte. Er wollte ihm widersprechen. Ihm sagen, dass Andrea doch schon lange bescheid wusste. Die Wette verloren war. Aber letztlich hatte auch Shatei durch Andreas auftauchen seinen Teil der Wettbedingungen nicht einhalten können. Er musste ihm also entgegenkommen. Andrea musste als Faktor für Ihre Wette ignoriert werden.

„Du bist bewundernswert, Joèl.“ Mehr sagte Shatei dazu nicht und es dauerte noch eine ganze Weile, bis Joèl sich aufsetzte, sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht wischte. „Ich will zu ihm. Du kannst doch sicherlich schnell herausfinden, wo in diesem riesigen Steingrab ich ihn finde.“ Der Vampir schluckte, kannte er Joèl doch gut genug dass seine Wortwahl eine Spitze sein sollte. „Hälst du das wirklich für eine gute Idee?“ Ein feuriger Blick traf die dunklen Augen. Die roten Ränder unter dem Goldbraun, diese Aggression, die unausgesprochene Warnung in seinem Blick von unten herauf, den Kopf leicht geneigt. So stellte man sich einen Vampir vor, kurz bevor er sein Opfer anfällt. „Wenn ich durch die Begegnung mit ihm eine Dummheit mache oder unachtsam werde gereicht dir das nur zum Vorteil. Also halt dich raus!“

Oh er würde ihm gehören. Niemals, niemals würde er ihn gehen lassen. Er wollte ihn viel zu sehr. Und er hatte immer bekommen was er wollte, Mitgefühl für ihn hin oder her. Er würde ja Jahrzehnte Zeit haben, ihm zu verzeihen.
 

Glucksend und Kichernd saß Erique auf einer Fensterbank in einem dunklen selten begangenen Korridor und sah zu, wie die letzten blauen Flecke und blutenden Schnitte von seiner weißen Haut verschwanden. Wohlwissend von der rasanten Heilkraft eines Neugeborenen hatten die drei Vampire ihn über zugerichtet. Ja, sie waren stärker als er, in der Tat. Aber was sollte es? Er hatte sie in Rage gebracht, sie beinahe zur Weißglut getrieben. Er musste ihnen nicht schaden, musste nicht der sein, der am Ende die Oberhand behielt. Er reichte ihm, ihnen ein Dorn im Auge zu sein. Diesen arroganten, engelsgleichen Wesen, die glaubten, ihm seinen Joèl wegnehmen zu können.

Ruckartig hob er den Kopf und schnupperte in der Luft. Er witterte Joèl… und Shatei! Doch Shatei entfernte sich wieder. Joèl kam zu ihm. Sein Joèl kam zu ihm!

Mit einem breiten Grinsen erwartete er den Studenten, der die Augen leicht zusammenkniff, um in dem schwachen Licht etwas erkennen zu können. „Nettes kleines Versteck hast du dir hier ausgesucht…. Komm mit.“ Er war sich nicht ganz sicher, ob es eine gute Idee war, ihm den Rücken zuzudrehen, atmete bewusst und konzentriert um seinen Herzschlag ein wenig zu beruhigen. Das war die ultimative Prüfung.

Er ging den Flur einige Meter hinab und öffnete dann eine Tür hinter der sich ein kleiner Raum mit Kamin und Sitzgruppe befand. Mit langsamen Bewegungen, um das Zittern seine Hände zu verhindern, zündete er die Kerzen, der an der Wand befindlichen Kandelaber an. Auf Erique mussten diese Bewegung wirken, als konzentriere sich Joèl darauf, seine Tätigkeiten in einer menschlichen Geschwindigkeit zu halten.

Kaum hatte er das letzte Streichholz gelöscht und war im Begriff, die Streichholzschachtel auf den niedrigen Couchtisch abzulegen von dem er sie genommen hatte, da prallte Eriques eisiger Körper schon gegen ihn. Starke Arme wollten sich um seinen Nacken schlingen, doch Joèl riss instinktiv die Arme hoch und war nicht wenig überrascht, als er feststellte, dass er Erique tatsächlich hatte von sich stoßen können. Dieser schaute ihn einen Moment verdutzt an. Diese Augen. Diese verdammten Augen! „Was soll das? Was hast du?!“ Aggression? Nein, Erique würde ihm nie etwas antun, nicht wahr? Und schon lachte er wieder. Drehte sich im Kreis, die Arme weit von sich gestreckt. „Sieh mich doch an, Joèl. Ist das nicht großartig?“ „Nein, das ist es nicht.“ Joèls ernster und fester Tonfall, lies den Jungen inne halten und ihn fragend betrachten. „Das hättest du nicht tun sollen. Du hättest mit mir reden können, Erique. Du sagst, du hast das für mich getan, aber warum schmeißt du dein Leben für mich weg, wenn du mir nicht einmal mehr genug vertraut hast, mit mir zu reden? Ich wusste, deine Naivität würde einmal fatal werden. Schon als du…“ „Naivität?!“ Ein lautes schallendes Lachen schnitt Joèl das Wort ab. „Wovon sprichst du Liebster? Von den Autorennen? Von Alan. Reden? Zuhören? Beherzige deinen eigenen Rat, mein Schatz, bevor du Anderen Ratschläge erteilst!“

Mit zittrigen Beinen lies Joèl sich in einen Sessel sinken. Diese Nacht war so schon unglaublich anstrengend gewesen, doch hier würde er seine Grenzen überschreiten müssen, dass wurde ihm von Sekunde zu Sekunde deutlicher.

„Wie meinst du das?“ Er war müde. So unglaublich müde. Doch auf den Andren musste sein Tonfall wohl wirklich gefasst, ja beinahe gefühllos oder gleichgültig klingen, denn sein Blick warf ihm Entrüstung entgegen. „Nein, mein Herz, du hast ein falsches Bild von mir. Hör auf damit. Du weißt, ich bin dein Erique. Du kennst mich. Schau mich nicht so prüfend an.“ Er wich zurück, die Hände in seine Haare gekrallt, den Kopf schüttelnd. „Kenne ich dich wirklich? Kennst du dich wirklich, Erique? Du hast dich nie auch nur an die kleinste Begebenheit vor unserem Kennenlernen erinnert.“ Woher kam diese Kälte? Joèl war verwundert über sich selbst. Er wollte schreien und weinen, wollte vor Erique zusammenbrechen, ihn an sich drücken und wenn es denn sein sollte, durch seinen Biss sterben. Doch irgendetwas in ihm hielt ihn aufrecht. Drängte ihn weiter.

„Das habe ich für dich getan! Alles! Alles habe ich immer für dich getan. Hör auf mich so abzuweisen!“ Was war das? Alles für ihn getan? Sprach er jetzt schon wieder von seiner Verwandlung? Joèl lehnte sich leicht nach vorn, stützte die Unterarme auf seine Oberschenkel. „Was hast du für mich getan, Erique?“ Er widerstand dem Drang, ihm die Affäre mit Rendall an den Kopf zu werfen. Meinte er auch das für ihn getan zu haben? Warum meinte alle etwas für ihn tun zu müssen, was ihm dann nur weh tat?

„Du hättest mich nie geliebt! Du hättest mir keine Chance gegeben, so wie ich war! Ich wollte es dir ja sagen, aber als ich sah, wie du auf Alan reagierst….“ Es wurde Joèl zu bunt. Er sprang aus seinem Sessel auf und packte Erique, der sich schon bis an die andere Wand des Raumes zurückgezogen hatte, so als wäre er der Sterbliche und Joèl das Monster in diesem Zimmer, an den Schultern. „Was hat Alan schon wieder damit zu tun?!“ Von jetzt auf gleich schlug der Blick der blauen Augen wieder in Wut um. Ein Fauchen, die Reißzähne bleckend, stieß er Joèl von sich und brachte wieder Abstand zwischen sie. Seine leichte gebückte Haltung, die Zähen immer noch gebleckt, warnten den jungen Mann, ihm nicht noch mal zu nahe zu kommen. „Glaubst du wirklich, er hat mich überreden müssen bei diesen Rennen mit zu machen? Ich habe noch viel mehr getan als ohne Fahrlizenz mit über 200 Sachen über Landstraßen zu heizen! Wer ist hier naiv Joèl? Hm? Glaubst du, Alexander hätte mich verführt? Ein 39-jähriger, von allen als verrückt abgestempelter Professor? Es war der Reiz, erwischt zu werden! Du kennst mich nicht! Du weißt gar nichts!!“

Jetzt war es Joèl der zurückwich. War das möglich? Nein. Nein! Es war das Blut, dass Erique diese Dinge vorgaukelte. Das entsprach nicht der Wahrheit. Er konnte ihm nicht drei Jahre lang etwas vorgespielt haben. Tränen begannen sich wieder in seinen Augen zu sammeln, verschleierten seinen Blick. Er hörte noch, wie Eriques verzerrte Stimme ihm „Jetzt weißt du es, und wenn du mich nicht lieben kannst, wirst du nie wieder jemanden lieben,“ entgegentrug, sah die verschwommene Gestalt auf ihn zu springen und fand sich im nächsten Moment in dem Sessel wieder in dem er zuvor gesessen hatte. Erschrocken wischte er die Tränen aus seinem Gesicht und starrte auf das Bild von Shatei, der Erqiue am Kragen gepackt hielt. Beide mit gebleckten Zähnen. „Rühr ihn noch einmal an, denke auch nur einmal noch daran, ihm ein Leid zuzufügen, und ich werde dich endgültig vom Angesicht der Erde wischen!“

Er schleuderte den Jungvampir in Richtung Tür, wo dieser einer Katze gleich landete und nach einem letzten Fauchen verschwand.

„Es tut mir so unendlich leid, Joèl.“ Sein Blick verschwamm. Nein… nein, nicht schon wieder. Wie lächerlich klischeehaft wäre es, jetzt schon wieder das Bewusstsein zu verlieren. Doch dann spürte er eine kühle Hand auf der Stirn. „Hey Joèl, bist du noch bei mir?“ Er schluckte trocken, nickte dann.

„Ist das wahr? Du weißt es doch, oder? Hat er mich all die Jahre…?“ „Hat er. Erique hatte mehr als einen Grund, zu behaupten, er könne sich an sein vorheriges Leben nicht mehr erinnern. Ich gebe ungerne zu, du warst einer davon. Seine Gefühle waren – oder sind – echt. Aber das ändert wahrscheinlich nichts?“ Joèl lachte müde. „Wahrscheinlich? Du willst wohl sagen ‚hoffentlich‘! Aber, nein, das ändert nichts.“ Seine Arme legten sich wie von allein um Shateis Schultern. „Lass mich heute Nacht nicht mehr allein. Nimm mich mit zur Jagd wenn es sein muss, aber bleib in meiner Nähe.“ Er wusste, er würde Shatei am Ende verlassen. Doch im Augenblick brauchte er ihn. Im Augenblick…
 

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wieder muss ich mich für die lange Wartezeit entschuldigen. Ich habe derzeit ein wenig Probleme, die Reihenfolge festzulegen. Es gibt noch eine ganze Menge näher zu beleuchten und ich kann mich so schwer entscheiden bei wem ich anfange.
 

Wenn also jemand einen Wunsch hat, über wen er als erstes mehr erfahren würde, oder welche Charaktere er gerne in einem Gespräch miteinander lesen würde, nur heraus damit ^^
 

Nur eines steht fest: Es wird nur noch zwei Kapitel geben von daher wird wohl nicht restlos alles aufgedeckt. Würde mich freuen, wenn ihr mir bei der Entscheidung helfen würdet.
 

Viele liebe Grüße und tiefsten Dank, dass ihr bis hierher gelesen habt.

Kapitel 9 - "death penalty"

Kapitel 10 – „death penalty“
 

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sein Zimmer verließ und den breiten Korridor in Richtung Bibliothek entlang ging. Es hatte ihn unendliche Überwindung gekostet, Andrea zu gewähren, ihm von Erique zu erzählen.

Natürlich hatte der elegante Vampir seinen innerlichen Kampf in jeder Nuance mitverfolgen können, doch er wartete bis Alexander bereit gewesen war, die Aufforderung laut auszusprechen. Er hatte ihm erzählt, was aus Erique geworden war, wie er jeden, wo er nur konnte provozierte. Hatte sich mehrere Male in verschiedensten Wortlauten entschuldigt und ihm auch erzählt, dass Eriques eigentlicher Charakter sich gar nicht so sehr verändert hatte.

In der festen Überzeugung es ja doch nicht mehr von Erique selbst zu erfahren, lies er sich von Andrea aus dessen Leben erzählen. Es erschreckte ihn bei weitem nicht so sehr, wie Joèl, was er über ihren gemeinsamen Liebhaber hörte.

Hatte er doch schon oft geahnt, dass hinter dessen Engelslächeln viel Tieferes steckte. So naiv konnte kein Mensch überleben, ganz davon abgesehen, dass er ihm die Geschichte mit der Amnesie nie vollständig abgekauft hatte. Es war ihm derzeit schlicht und ergreifend gleichgültig gewesen. Er liebte die Person, die Erique ihn sehen lies und genoss die Zeit, hatte er doch im Gegensatz zu Joèl, der sich ein 'happy ever after' versprach, stets gewusst, dass ihr Glück zeitlich begrenzt war.

"buh!" Alexander wirbelte erschrocken herum. Hinter ihm stand Erique und kicherte amüsiert. "Wow, du schaust als hättest du einen Geist gesehen." Alexanders Hände wurden feucht. Er war unglaublich nervös. Nicht, weil er befürchtete, was Erique tun könnte, er fürchtete sich vor seinen eigenen Reaktionen.

Der Junge kam näher, schnupperte demonstrativ in seine Richtung. "Hmmmm, du riechts gut." Automatisch wich Alexander zurück, Erique folgte, bis eine Wand den Professor stoppte. "Oh Alex, du willst doch nicht der Einzige von uns sein, der nicht weiß, wie unglaublich fantastisch sich so ein Vampirbiss anfühlt, oder?"

Korrektur: Jetzt hatte er Angst vor dem was Erique tun könnte.

Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, seine Knie wurden weich und das Atmen fiel im schwer, als Erique nun ganz nah bei ihm stand, sich seinem Hals entgegen reckte. Dann erklang sein lautes Lachen, als er Abstand zwischen sie brachte. "Bin ich nicht großartig Alexander? Andere Können solch köstlichem Blut nicht widerstehen, wenn sie noch so jung sind, wie ich!"

Er glaubte ihm nicht. Kein Wort.

"Weißt du schon das Tollste? Ich kann deine Gedanken hören. Ich kann sie spüren. Weißt du, ich wollte bei dir bleiben. Aber wenn du mir so sehr mistraust, wie soll ich dir da glauben, wenn du sagst, du würdest mich lieben?"

Das war nicht fair. Alexander ballte die Hände zu Fäusten. "Du hast dir insgeheim so lange gewünscht, dass ich Joèl für dich verlassen würde, obwohl du ganz genau wusstest, dass das nie passieren kann. Die Verwandlung hat mir die Augen geöffnet, weißt du? Aber du? Du schmeißt das weg mit deiner verdammten Angst. Naja, wahrscheinlich wäre ich jetzt für dich nur noch ein Forschungsobjekt."

"Hör auf..." Er widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten. Es hätte nichts genutzt. Erique sandte ihm Bilder von sich auf einem OP-Tisch. Alexander über ihn gebeugt, ein Skalpell in der Hand. Sandte ihm Bilder wie Alexander seine Hand packte und unter eine UV-Lampe hielt. Sandte ihm... "Hör auf!" "Oh, ich tue doch gar nichts. Das sind Bilder, die ich aus deinem tiefsten Innern hole. Das sind deine ganz eigenen Vorstellungen. Das was du mit mir machen willst. Du enttäuschst mich Alex! Und ich dachte, du würdest mich lieben und dabei war diese Reise von Anfang an nur dazu gedacht gewesen, mich zu verwandeln!"

Jetzt war Alexander froh über die Wand in seinem Rücken, andernfalls wäre er bestimmt schon auf den Boden gesunken. Bilder und Worte quälten ihn weiter, bis er kurz davor stand, nicht mehr zu wissen, was wahr ist und was gelogen. Plötzlich jedoch brach die Flut ab und Erique zog sich mit einem lauten Fauchen zurück. Verwirrt und verstört blickte Alexander sich um, wollte ein paar Schritte gehen, musste sich dabei aber weiter an der Wand abstützen. Nein, nach der Bibliothek stand ihm jetzt nicht mehr der Sinn. Er würde noch eine Nacht in seinem Zimmer verbringen und sich vielleicht morgen bei hellichtem Tag den Büchern widmen.

Die ganze Zeit über drängten sich ihm die Bilder, die Erique ihm eingepflanzt... oder gefunden, hatte vor sein inneres Auge. Nein, das alles kam mit Sicherheit allein von Erique. Er würde solche Grausamkeiten nie auch nur annähernd in Erwägung ziehen. Seltsam bestärkt in diesem Gedanken fragte er sich zunehmend, warum der Junge das getan hatte.

Es schmerzte und seine Schuldgefühle, die beiden jungen Männer hierhergebracht und damit ihre Leben zerstört zu haben, trieben ihn bald in den Wahnsinn. Doch er musste jetzt nicht damit fertig werden, dass Erique, wie er ihn kannte nun ein Vampir war, sondern Erique, wie er ihn kannte, beerdigen. Wenn es diesen Jungen je wirklich gegeben hatte, dann gab es ihn spätestens jetzt nicht mehr.

Es erschreckte den 39-jährigen ein wenig, dass ihm dieser Gedanke weniger Probleme breitete, als der Erste. Vielleicht aber auch wirklich nur, weil er von seinem Schauspiel wusste. Weil er Andrea glaubte. Bedingungslos und ohne Verständnis für die Beweggründe, die ihn dazu bewegten.
 

Überraschen einfach fiel es ihm, sich in den nächsten Nächten unter den Vampiren zu bewegen. Zwar versetzte es ihm einen schmerzhaften Stich, wenn er Erique sah, doch schnell tröstete ihn der Gedanke, dass er nur ein Vampir von vielen war, der in dem Körper seines ehemaligen Geliebten herumlief. Nicht gerade aufmunternd, aber verkraftbar.

Oft erwischte er sich jedoch dabei, Erique zu beobachten, und schnell stellte er für sich fest dass er keinerlei Sympathie für das Wesen zu dem er geworden war empfinden konnte. Irrational, provokant. Alexander hatte bislang die nördlichen Schlosstürme und -kerker gemieden, wusste nur vom Hörensagen, welche Art Vampire dort hausten. Erique gehörte bald zu ihnen. Etwas, was ihm alle Anderen deutlich zu verstehen gaben. Immer wieder.

Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn eigenhändig durch eine der Verbindungstüren der Korridore werfen und sie hinter ihm verriegeln würden.

Mehr Unbehagen bereitete es Alexander dann als Joèl die Bibliothek betrat. Niemand sonst war mehr anwesend, da die Sonne bereits aufging, auch wenn die Vorhänge das Licht aussperrten.
 

Joèl hatte kurz mit dem Gedanken gespielt den so zerknirscht wirkenden Professor mit den dunklen Rändern unter den Augen links liegen zu lassen und im Nebenraum auf Bernard zu warten. Ihre Blicke trafen sich und er schlug nun doch seine Richtung ein, lies sich betont langsam auf den Stuhl sinken.

"Sie sehen schlecht aus, Professor." In der kurzen Stille zwischen Ihnen nahm Alexander fahrig die Brille ab und rieb sich die Augen. "Es tut mir leid, Professor. Wäre ich nicht Vorreiter gewesen, vielleicht wäre Erique nie auf die wahnsinnige Idee gekommen,..." "Nein, Sie trifft da am wenigsten Schuld. Diese ganze Reise war bis hierher bereits eine Katastrophe. Alles aufbauend auf meinen Fehlern."

Joèl konnte nicht anders. Er musste lachen. Leise nur. Kein böses Lachen. "Wollen wir uns jetzt unsere Schuldgefühle vorheulen? Ich hatte eine Abmachung mit Shatei, höchstwahrscheinlich wären Sie beide lebend hier herausgekommen. Ich glaube, sie brauchen sich um Ihr überleben keine Sorgen zu machen." Alexander setzte zu einer Entgegnung an, doch es genügte, dass Joèl seine Hand leicht hob, um ihn um Schweigen zu bitten.

"Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Gerade der, der betrogen wird sollte doch am besten nachvollziehen können, was derjenigen mit dem er betrogen wird, für den Liebsten empfindet. Ich hätte Ihnen und auch Erique zumindest die Chance geben sollen, mit mir zu reden. Mein Verhalten war egoistisch und bei dem hohen Grad der Lebensgefahr unangebracht." Wieder musste Joèl ihn mit dieser Geste vom Widerspruch abhalten.

"Außerhalb des Schlosses hätte ich Ihnen wohl eine reingehauen und dabei nicht ansatzweise ein schlechtes Gewissen gehabt, aber hier... " Joèl probierte ein Lächeln. Es fiel ihm noch schwer, und seine Augen erreichte es nicht. Selbstverständlich machte die Tatsache darauf achten zu müssen, dass das Fehlen von Reißzähnen, nicht auffiel, ein Lächeln nicht gerade einfacher.

Alexandr schwieg. Er sah aus, als würde er eine ganze Menge sagen wollen, tat es jedoch nicht. Joèl fluchte innerlich. Wahrscheinlich erwartete der Andere, dass er schon aus seinen Gedanken wusste, was er ausdrücken wollte. Dieses Gespräch war gefährlich. Er musste jetzt also ganz genau aufpassen was er sagte.

Zu seiner Rettung betrat Bernard die Bücherei und grüßte höflich. "Sie entschuldigen mich, Professor?" Ohne eine Erwiderung abzuwarten stand Joèl auf und folgte Bernard fluchtartig in dessen kleines Studierzimmer.

Das war dann ja gerade nochmal gut gegangen.
 

Ein ungewohnter Aufruhr herrschte zwei Tage später auf den Gängen. Joèl wendete sich verwundert dem verhangenen Fenster seines Schlafzimmers zu. Richtig, Er hatte nicht geirrt, die Sonne war längt aufgegangen.

Was also war da los?

Schnell schlüpfte er in eine Jeans und ein T-Shirt, um nachzusehen. Nicht noch mehr Überraschungen. Bitte nicht. Nicht wieder Ärger, Schmerz....

Er bog um eine Ecke, dann noch eine. Lief die Treppe hinunter, durch eine Tür, bis plötzlich Shatei vor ihm stand und ihm den Weg versperrte. "Du wirst es bereuen. Glaubst du mir diesmal?"

Hatte er damit bezwecken wollen, dass Joèl seine Neugier herunterschluckte, so erreichte er mit diesen Worten das genaue Gegenteil. Der Magen des Jungen krampfte sich einen kurzen Moment schmerzhaft zusammen, um dann einem stetigen flauen Gefühl von Angst Platz zu machen. Sein Blick ebenso aggressiv wie vorsichtig. "Möglich, dass du erneut Recht hast, doch umso mehr will ich wissen, was hier los ist. Was soll das Theater, warum sind alle auf den Beinen?"

Er schob sich an Shatei vorbei, der ihn gewähren lies. Ihm schweigend folgte.

Stimmen und Fauchen führten sie in die Eingangshalle des Schlosses. In weitem Abstand zu der großen Flügeltür hatten sich zahlreiche Vampire versammelt, einige standen, saßen oder hockten auf der Treppe. Ein Flüstern, so leise und unverständlich, dass es an das Rauschen von Wind in Laubbäumen erinnerte war rings herum.

Dann näherten sich Stimmen, johlend und lachend. Einige der Schaulustigen verstummten, andere knurrten, wieder Andere begannen zu kichern. Ein bösartiges, gehässiges Kichern.

Joèl spürte, wie sich Shateis Hand einem Schraubstock gleich um seinen Oberarm schloss und das Ungute Gefühl in seinem Magen nahm zu.
 

Eine Eskorte von fünf Vampiren, Erique in ihrer Mitte, kam aus einem der Gänge und das Fauchen um sie herum schwoll an. Zwei der Vampire hatten den Jungen links und rechts an den Armen gepackt und schleiften ihn mit während er sich, unartikulierte Laute des Protests von sich gebend, strampelnd zu wehren versuchte.

Es dauerte einige unendlich wirkende Sekunden, bis Joèl wie vom Blitz getroffen klar wurde, was sie vor hatten. "Nein! NEIN!!" Aus einem Impuls heraus wollte er auf die Gruppe zurennen, doch Shateis unbarmherziger Griff lies ihm nicht einen einzigen Zentimeter Spielraum.

Vor Wut und Panik zitternd verstummte er also. Unwillig mit ansehen zu müssen, was als nächsten geschehen würde und doch nicht fähig, den Blick abzuwenden.

Umso näher sie der Tür kamen, desto lauter wurden Eriques Schreie. Unmenschlich. Wahnsinnig.

Er zappelte, trat aus und doch brachten ihm diese Bemühungen ebenso wenig, wie Joèls soeben unternommener Versuch, von Shatei los zu kommen.

Grotesk war das Bild der in schwarze Umhänge gehüllten Gestalten, von denen einer nun nach der Tür griff, was alle Umstehenden noch ein weiteres Stück zurückweichen lies, so als lauere dahinter eine Bestie, die hineinzustürmen drohte, sollte die Tür zu weit geöffnet werden.

"Shatei tu doch was, verflucht!" "Das kann ich nicht." Wie bitte?! Joèl war außer sich. "Das kannst du nicht? Natürlich kannst du! Bring sie davon ab!" Keine Reaktion. Er würde nichts tun.

Alles ging rasend schnell. Eine Seite der Flügeltür wurde nur einen Spalt geöffnet, Erique hinaus gestoßen und das Tor wieder verschlossen.

Einige schrien auf, viele, sehr viele andere, jubelten. "NEIN!" Joèl wäre beinahe gestürzt, hatte er doch nicht damit gerechnet, dass Shatei ihn los lies, als er sich nun nach vorn warf. Er ging wohl nicht davon aus, dass Joèl nun noch etwas unternehmen könnte. Rechnete nicht mit den nächsten Schritten des Studenten, der so schnell bei den Toren war, dass dem Vampir keine Möglichkeit mehr blieb, ihn aufzuhalten, ehe das Sonnenlicht hereinfiel.

Auch Joèl hatte die Tür nur einen Spalt geöffnet und war hinausgeschlüpft. Es lag nicht in seiner Absicht, den Anderen zu schaden. Noch nicht!

Erique kauerte unmittelbar vor seinen Füßen auf dem Boden, starrte mit weit aufgerissenen Augen auf seine Hände. In Sekunden schnelle wurde die Haut erst leicht-, dann dunkelrot, Erique begann zu kichern, seine Stimme brach weg. In das Kichern mischten sich Schluchzer und Schreie. Brandblasen bildeten sich und platzen schon kurz danach auf, Eriques Schreie wurden schriller, bis er nur noch panische und schmerzverzerrt Kreischte. Vor Joèls Augen verbrannte ein Körper ohne Feuer.

Er schüttelte die Starre, die ihn für einen Bruchteil der Sekunde befallen hatte ab und packte Erique mit festem Griff, schleifte ihn mit sich und stieß das Tor auf. Lautes Fauchen und Aufschreien schlugen ihm entgegen, als die Vampie, die näher an die Tore herangetreten waren, sich schnell vor den Sonnenstrahlen zurückzogen.

Joèl warf seinen Ex-Freund regelrecht zurück in den Saal und stieß die Tür zu. Sofort war er bei ihm.

Die gesamte Haut des Jungen war eine einzige nässende und stellenweise blutende Brandwunde. Seine Augen waren blutunterlaufen und verschleiert, der Mund ein ausgefranstes Loch ohne Lippen. Er schrie und kreischte nach wie vor, wand sich auf dem kalten Steinboden, der doch nicht in der Lage war, den brennenden Schmerz zu löschen.
 

Mit einem Satz war Shatei bei ihnen, Joèl blickte hilfesuchend auf. Er selbst hockte neben dem sich windenden Vampir auf dem Boden, Shatei stand neben ihm, hoch über ihm aufragend mit einem mahnenden Blick. Schräg hinter ihm Andrea und Alexander. Alexander, der von Andrea gestützt wurde. Alexander dessen Blick starr auf Erique gerichtet einen Ausdruck hatte, als wäre er selbst es, der brennen würde.

Erst jetzt bemerkte Joèl die Stille. Stille, bis auf Eriques Schreien und Wimmern. Er sah sich erschrocken um, sein Herz begann einen Takt schneller zu schlagen, aller Augen, bis auf die des Professors, ruhten auf ihm. Auf ihm, nicht auf Erique. Noch eine Sekunde. Zwei. Dann setzte sein Herz einen Schlag aus, seine Nackenhaare stellten sich auf und sein Magen drehte sich ihm um. Er hatte sich verraten.

All die Wochen... er war nach draußen in das grelle, alles verbrennende Sonnenlicht gerannt und hatte nicht die kleinste Hautrötung aufzuweisen.

Eine nasse Hand packte ihn plötzlich am Handgelenk. Riss ihn hinunter. Ehe er wusste, wie ihm geschah, bohrten sich spitze Zähne in seinen Oberarm. Erique...

Nach kurzem Erschrecken, atmete Joèl tief durch. Es war in Ordnung. Das wohlige Kribbeln, der laute rythmische Schlag setzten wieder ein. Er schloss die Augen. Spürte wie sein Blut durch seinen Arm strömte. Diese Wunde würde nie und nimmer ausreichen, um Erique genug Blut zu geben, sich zu heilen.

Joèl wollte ihm sein Handgelenk darbieten. Sollte er zubeißen. Sollte er alles nehmen, was er brauchte. Er würde ihm alles geben, was er geben konnte. Er wollte es so. Dahingleiten, sterben. Joèl sank immer tiefer in diesen Gedanken und verspürte nicht die leiseste Furcht davor, Erique sein Leben zu überlassen. Nein, ganz im Gegenteil. Dieser Gedanke wurde immer angenehmer und reizvoller. Er konnte sich schon gar nicht mehr vorstellen, die Augen je wieder zu öffnen oder seine Lungen noch einmal mit Luft zu füllen, als es plötzlich vorbei war.
 

Verwirrt sah Joèl sich um. Shatei hatte ihn auf die Füße gezogen, Bernard hielt den jetzt wieder tobenden Erqiue fest gepackt. Seine Sinne waren so sehr geschärft, dass er in Sekundenbruchteilen die gesamte Situation um sich erfasste. Er sah Shatei an, dessen Blick schmerzerfüllt und doch tröstend auf ihm ruhten, Andrea, der einen ähnlichen Blick in Renadalls Richtung warf, ihn immer noch stützend. Nur kurz huschte sein Blick zu Bernard hinüber.

Bernard, der aussah, als habe man ihn gefoltert. Als bereite es ihm Schmerzen, Erique fest zu halten. Alexanders Augen waren gerötet, Tränen liefen ihm über die unrasierten Wangen. Ein Ausdruck in seinen Zügen als habe man ihm ein Todesurteil ausgesprochen, die Schlinge des Galgens bereits um seinen Hals gelegt. Der Augenblick in dem Joèl klar wurde, dass der Gedanke an eine Hinrichtung so grausam korrekt war. Er hatte eine Hinrichtung gestört, doch das Todesurteil stand.

Im Augenwinkel nahm er wahr, wie Cesario, ein Vampir wie aus einem typischen Horrorfilm, mit langen Spitzgefeilten Fingernägeln, rotumrandeten, gierigen Augen, langem pechschwarzen Haar und dem ständigen Ausdruck eines Raubtieres in den Zügen, in die Hocke ging, die Zähne bleckte und im nächsten Moment schon auf Erqiue zusprang und ihn Bernards Armen entriss.

Eriques Schreien ging in einem gurgelnden, übelkeiterregenden Laut unter, als Cesario seine Zähne in dessen Kehle schlug. Dunkelheit legte sich über sein Blickfeld, als Shatei ihm seine kühlen Hände vor die Augen drückte. Doch waren die realen Bilder wirklich schlimmer, als das, was Joèls Vorstellungskraft ihm aufgrund dessen, was er hörte ausmalte?

Mit Nachdruck versuchte Joèl sich umzudrehen, würgte. Dann hörte er Shateis tiefe Stimme, spürte sie in seinem zitternden Körper vibrieren. "Ich bin bei dir, Liebster. Es ist vorbei."

Sollten diese Worte ihn beruhigen?
 

Shatei hatte ihn mit sich in seine Gemächer genommen, ihn erst einmal unter die Dusche gestellt. Und tatsächlich half ihm das, wieder ein wenig 'aufzuwachen'. Wie sehr sich Shatei auch gewünscht hatte, das Thema 'Erique' endlich abhaken zu können, was nun geschehen war ärgerte ihn ungemein. Joèl hatte sich gerade erst wieder gefangen.

Auch wenn Joèl wann immer der Name seines Ex-Freundes fiel, der Schmerz anzusehen war. Wenn er immer einige Sekunden brauchte, den Blick abzuwenden, wenn der Jungvampir einen Raum betrat, er für immer ein Bestandteil seines Lebens sein würde, so hatte Shatei doch das Gefühl gehabt, Joèl habe begonnen, sich langsam zu erholen.

Ganz allmählich in seinem Tempo und auf seine Art begonnen zu verarbeiten, was geschehen war und sich mit der neuen Situation zurechtzufinden. So wie er es auch getan hatte, als seine Realität ihm entrissen wurde.

"Du bist so unglaublich stark Joèl. Es ist nicht fair, was du hier erleiden musst." Nicht fair, was er hier erleiden musste? Shatei hatte nicht gerade wenig damit zu tun, war daran nicht sonderlich unschuldig! Dennoch lehnte Joèl sich an ihn, verbarg sein Gesicht an dessen Halsbeuge, genoss die kühlen Finger, die seinen Nacken streichelten.
 

Schnell beschloss Joèl für sich, den Schmerz erst einmal zu verdrängen. Tief in seinem Innern einzuschließen. Er würde genug Zeit finden, sich ihm hinzugeben. Wenn er Pech hatte, mehrere Jahrhunderte. Denn das war das Thema um dass er sich jetzt sorgen sollte. Er hatte die Wette verloren. So nahe am Ziel war er in die Sonne gerannt und hatte dem gesamten Schloss gezeigt, dass er sie an der Nase herumgeführt hatte.

Wenn Shatei nicht dafür sein Leben als Wetteinsatz einforderte, dann würden es die Anderen spätestens nach seiner Rückreise tun. Aus Wut und Entrüstung, was ein Sterblicher sich gewagt und damit dann auch noch Erfolg gehabt hatte.

Die gesamte Nacht bereitete ihm dies Kopfschmerzen, Shatei jedoch vermied es, ihn darauf anzusprechen, aus liebevoller Rücksicht.
 

"Shatei ist in diesem Thema in der Tat schwer einzuschätzen. Er ist sehr besitzergreifend und ich habe ihn nie so vernarrt in etwas gesehen, wie in dich. Andererseits wäre es möglich, dass seine Gefühle ihn dazu bewegen, dir deinen Wunsch zu erfüllen. Immerhin kann er sich wohl seine Chancen bei dir ausrechnen, wenn er dich gewaltsam zu sich nimmt.

Damit hätte er sich diese Wette gleich sparen können." Bernard war solch ein Schatz. Er hatte laut gelacht als Joèl den Nebenraum betrat, war aufgesprungen und hatte ihm applaudiert, so begeistert war er von dem, was Joèl gelungen war. Er fing sich allerdings schnell und erkundigte sich danach, wie er sich fühlte, Joèl beruhigte ihn jedoch vorerst, dass er sich damit erst wesentlich später auseinandersetzen wolle.

"Du darfst nur selbstverständlich nicht vergessen, dass Andrea auf ähnliche Weise verlassen wurde. Er lies ihn gehen und hat nie wieder etwas von seinem Sohn gehört. Shatei hat natürlich Angst, dasselbe zu erfahren." "Also bist du in diesem Punkt genauso unsicher, wie ich." Joèl wurde das Herz schwer. "Ich werde wohl mit ihm reden und mich überraschen lassen müssen. Ich danke dir für alles." Er stand auf, wurde an der Tür jedoch noch einmal zurückgerufen.

"Natürlich wünsche ich mir, dass du den für dich richtigen Weg wählen kannst, aber ich muss zugeben, dass ich nicht traurig darum wäre, wenn er dich hier halten würde. Du bist ein äußerst angenehmer Gesprächspartner." Bei diesen Worten verneigte er sich vor ihm. Welch ein rührender Abschied, wenn es denn wie im besten Falle erhofft einer sein sollte.

Als Gesprächspartner von jemandem wie Bernard geehrt zu werden bedeutete sehr viel, das wusste Joèl.
 

Gerade da er dem 23-jährigen noch ein wenig Zeit einräumen wollte schaffte dieser es erneut den Vampir zu überraschen, als er kurz nach Mitternacht neben dessen Sessel in die Knie ging und so unglaublich sanft und etwas nervös zu ihm aufsah.

"Ich war so nah dran. Ich habe die Motoren des Flugzeuges schon förmlich gehört... Forderst du meinen Wetteinsatz dennoch ein?" Verflucht was sollte er denn darauf erwidern? Mit den Fingerspitzen strich er dem Studenten eine braune Haarsträhne aus der Stirn.

"Seit ich dich das erste mal gesehen habe wollte ich nichts anderes als genau das. dich in meinen Armen halten und zusehen, wie du zu einem von uns wirst. Mein. Für die Ewigkeit." Joèl richtete sich auf, setzte sich auf die Armlehne des Sessels. "Aber?" Kurz blitze es in den Augen des Vampirs, wollte er sagen es gäbe kein 'Aber', dann seufzte er jedoch.

"Willst du wirklich zurück? Was versprichst du dir davon Joèl? Du wärst so wunderbar geeignet für diese Art von Leben. Ich..." Joèl legte einen Finger an seine Lippen. "Es bedarf keiner Rechtfertigungen, mich hier zu halten. Ich habe diese Wette verloren und Wettschulden sind Ehrenschulden, Shatei. Du hast dich an alle Bedingungen gehalten..." "Andrea..." Wieder der Finger um seine Unterbrechung im Keim zu ersticken.

"Andrea habe ich geweckt. Hätte ich ihn nicht erneut aufgesucht, ihn nicht neugierig gemacht, dann wäre Erique noch am Leben, und ich wahrscheinlich nicht in das Tageslicht gelaufen. Eine Kette von Ereignissen, die ich ganz allein ins Rollen gebracht habe. Ich kann dich nur bitten, uns mir zu liebe gehen zu lassen."

Shatei wendete den Blick ab. Ihm zu liebe? "Du würdest nicht zurechtkommen. Erinnerst du dich? Ich habe dir deine Realität zerstört." Ja damit hatte er Recht. Joèl wusste nun, dass er sein Leben lang falsch gelegen hatte mit seiner Einstellung nur zu glauben, was er sah. Doch viele Menschen glaubten an Übernatürliches und lebten ein vollkommen normales Leben. Warum sollte er das nicht auch können?

"Gib mir noch eine Chance, Shatei. Ich schaffe das. Ich kriege mein Leben wieder in den Griff, ich brauche nur die Möglichkeit es überhaupt zu versuchen."

Wieder breitete sich Schweigen zwischen Ihnen aus. Dieses mal lies Joèl ihm die Zeit und wartete geduldig, wagte nicht, sich zu rühren.

Alexander würde gehen dürfen. Joèl hatte vor wenigen Stunden mit Andrea gesprochen. Dieser hatte ihm zunächst von aller Hoffnung auf ein Weiterleben als Sterblicher abgeraten und ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass Alexander sich gegen eine Rückreise entschieden hatte. Joèl wusste, der Professor würde sich nicht verwandeln lassen. aber vielleicht würde er, wie Felix, von den Vampiren als Mitglied dieser Gemeinschaft akzeptiert werden.

Er selbst hatte von vorherein geahnt, dass er mit dieser Wette sein Todesurteil unterschrieb. Das Urteil stand. Jetzt kam es auf den Henker an, ob sie vollzogen oder aufgeschoben wurde. An ein 'Aufgehoben' wollte Joèl gar nicht erst glauben.

Kapitel 10 - "back to reality"

Kapitel 10 - „back to reality“
 

Es war ein unangenehmes, fremdes Gefühl, wieder zuhause zu sein. Joèl war spät in der Nacht von einem Taxi heimgebracht worden und hatte wohlwissend das Rollo des Schlafzimmers oben gelassen, in der Hoffnung, seinen normalen Schlafrhythmus wieder antrainieren zu können.

Schottland hatte er nun vor einer Woche hinter sich gelassen. Vor drei Tagen haben die Vorlesungen an der Universität begonnen und er hatte seither die Wohnung noch nicht verlassen. Mit angezogenen Beinen saß er auf der gepolsterten Fensterbank im Wohnzimmer, die Stirn an die Kühle Fensterscheibe gelehnt.

Erique hatte ihn verlassen. War mit Professor Renadall nach Schottland gereist. Joèl atmet zitternd ein, als die Bilder seines Betruges zu ihm zurückkehren. Viele böse Worte, Streit und Tränen und er hatte ihn verlassen. War gemeinsam mit seinem neuen Liebhaber abgereist und hatte Joèl zurückgelassen.

Das war die Geschichte, die sich der Student krampfhaft einredete, auf dass sie für ihn zur Realität werden möge.

Er erwischte sich dabei, wie er aufhorchte, als im Hausflur Schritte an seiner Wohnungstür vorbeigingen. Ertappte sich bei der Erwartung, einen Schlüssel in der Tür zu hören. Erique hereinkommen zu sehen.

Doch nichts dergleichen geschah. Wie denn auch? Joèl schüttelte den Kopf. Idiot! Erqiue war fort. Er würde nicht zurückkommen.

Müde rappelte er sich auf und ging zum Schlafzimmer. Das Bild über dem Bett hatte er abgenommen. Noch hatte er es nicht durch ein neues ersetzt. Noch hatte er es auch nicht übers Herz gebracht, das große Fantasie-Gemälde zu vernichten. Es lehnte von einem Leinentuch verdeckt an einer Wand in seinem Atelier.
 

Entschlossen holte Joèl sich einen großen Plastikbeutel und öffnete den Kleiderschrank. Er würde nicht zurückkommen. Wenn er irgendwann wieder ein normales Leben führen wollte, musste er aufhören, ihn zu erwarten.

Behutsam nahm er Eriques Kleidungsstücke aus dem Schrank und verstaute sie in dem Plastiksack. Allzuviel war es nicht, immerhin hatte er für eine längere Reise gepackt. Joèl schluckte schwer, als ihm Eriques Lieblingspullover in die Hände fiel. Er war aus weicher Wolle, blau. Zu warm für den Sommer, auch für Schottland, deshalb hatte Erique ihn natürlich nicht mitgenommen.

Der 23-Jährige drückte den Pulli an sich, atmete den Duft ein. Waschpulver. Natürlich, was sollte auch getragene Kleidung im Kleiderschrank verloren haben.

Nichts in dieser Wohnung haftete noch der der Geruch seines Liebsten an. Joèl hatte in einem Anflug von Putzwahn alles gewaschen und gebügelt, bevor er entschieden hatte, ihm nachzureisen. Schluchzend setzte er sich auf das Bett, den Pullover weiter fest an sich gedrückt und weinte tränenlos.

Er hatte keine Tränen mehr übrig. Zu viele waren in den vergangenen Tagen und Wochen geflossen. Genug für die nächsten zehn Jahre.

Bestimmt würde er einer von diesen verbitterten Männern werden, die sich in sich selbst zurückzogen, nicht in der Lage eine Emotion zu zeigen. Er würde Menschen meiden und immer nur allein und unbeobachtet an seine verlorene Liebe denken, voller Gram über seinen Verlust.

Wut, dass er nicht abschließen konnte, würde er in Whiskey ertränken. Er würde launisch und unnahbar werden, sich vielleicht eine Katze oder einen Hund anschaffen. Und dann irgendwann mit 50 oder 60 Jahren in seiner dunklen Wohnung dem Sterben nahe, würde er feststellen müssen, dass er allein war. Niemand würde ihn vermissen. Sein Haustier würde kläglich verhungern. Vielleicht würde auch niemandem auffallen, dass er gestorben war. Höchstens den Angestellten des Supermarktes um die Ecke, in dem er ab und an einkaufen gehen würde.
 

Er nahm sich noch eine weitere Woche unentschuldigter Fehlzeit bevor er wieder zu den Vorlesungen ging. Und dann besuchte er sie nur vier Tage lang. Die Menge an laut schnatternden Menschen. Diese Blicke. Die verfluchten Blicke, die ihm folgten. Er fühlte sich ohnehin seit seiner Rückkehr verfolgt und beobachtet und konnte das Getuschel hinter seinem Rücken nicht ertragen.

Dieser Versuch lag nun bald einen Monat zurück. Er hatte Post von der Universität bekommen. Er könne aufgrund seiner bislang so großartigen Arbeiten auch ohne Anwesenheitsnachweise an der nächsten Prüfung teil nehmen. Er wusste selbst nicht, ob er das wollte.

Natürlich hatte er nicht vor sein Studium hin zu schmeißen. Aber es war so verdammt schwer, wieder in ein normales Leben zurückzufinden. Zu vergessen, was er gesehen und erlebt hatte.

Er hatte es versucht. Hat versucht, sich selbst einzureden, dass das alles anders gewesen sei. Doch Erkenntnis ist wie eine tiefe Narbe. Man kann sie überschminken, doch man wird sie nie wieder los.
 

Alexander hatte es richtig gemacht. Er war geblieben. Nicht weil er bleiben wollte, sondern, weil er nicht zurück wollte. Er war sowieso nur der verrückte Idiot, der an Schauergeschichten glaubte und mit leeren Händen zurückkehren würde. Doch für Joèl könnte hier noch ein ganzes Leben warten.

Wenn er doch nur den Dreh kriegen könnte.

Seit einigen Tagen klingelte immer wieder das Telefon. Die Schelle hatte er mittlerweile abgestellt. Auf der einen Seite wollte er niemanden sehen. Andererseits regte sich tief in ihm etwas, das froh war, dass seine Befürchtungen über seine Zukunft vielleicht doch nicht eintreffen würden. Dass er nicht so allein war, wie er glaubte.
 

Die Digitalanzeige seines Weckers zeigte kurz nach sieben Uhr morgens, als Joèl von lauten hämmernden Geräuschen an seiner Wohnungstür geweckt wurde. Gedämpfte Rufe drangen zu ihm. Er stand auf, strich sich das wirre Haar aus dem Gesicht. Im Wohnzimmer war es schon verhältnismäßig hell, ging doch die Sonne immer noch sehr früh auf.

In Boxershort gekleidet spähte er durch den Türspion. Alan! Na prächtig! Der letzte Mensch auf Erden, den er jetzt sehen wollte. Eigentlich wollte er überhaupt niemanden sehen. Kurz drifteten seine Gedanken ab. Er fragte sich unbewusst, wen er überhaupt, wenn es denn nun sein müsste, in seiner Nähe ertragen könnte. Die Antwort gefiel ihm nicht. Gefiel ihm ganz und gar nicht.

"Joèl, mach die beschissene Tür auf! Ich weiß ganz genau dass du zuhause bist. Du hast aufmerksame Nachbarn, weißt du? Hey Arschloch, mach auf!!"

Na so dann ja wohl erst recht nicht. Joèl machte auf dem Absatz kehrt und ging erst einmal zur Küche, um sich dort einen Kaffe zu kochen. Mangels besserer Beschäftigung - das Klavier war gut eingestaubt, sein Atelier zum Abstellraum degradiert worden, seine Bücher waren nur nette Deko im Regal - blieb er neben der Maschine stehen. Nahm ganz bewusst den Geruch der ersten Kaffetropfen auf, lauschte dem Geräusch des Wasserdampfes, der durch die Maschine hochstieg.

Mit seiner duftend dampfenden Tasse tiefschwarzen Gebräus in der Hand machte er sich zurück auf den Weg ins Wohnzimmer. War da etwa immer noch ein stätiges Klopfen? Nicht mehr ganz so energisch aber doch da.

Er stellte die Tasse auf dem Wohnzimmertisch ab. Hatte eigentlich vor gehabt, es sich auf der Couch gemütlich zu machen. Er ging wieder näher zur Tür. "Weißt du, ich kann mir auch den Zweitschlüssel von deinem Vermieter geben lassen." In einer fließenden Bewegung öffnete Joèl die Tür, trat dabei direkt beiseite, so dass Alan hereinkommen konnte. Er kannte ihn nur flüchtig, aber gut genug um zu wissen, dass sein Dickschädel unbesiegbar war. "Ich habe keinen Vermieter, das hier ist eine Eigentumswohnung. Was willst du hier?" Der Schwarzhaarige blieb erst einmal mitten im Raum stehen, lies den Blick schweifen. Ignorierte ihn der Kerl etwa? "Wow, echt geile Wohnung!" Joèls Laune sank rapide dem Tiefpunkt entgegen. "Erique ist nicht da."

Nun drehte Alan sich doch um. Grinsend. "Ich weiß. Zu ihm will ich ja auch nicht." Eine Augenbraue wanderte in die Höhe. "Nicht?" Jetzt war Joèl verwirrt. Was konnte es geben, dass dieser Kerl von ihm wollte? Warum wollte er nicht zu Erique? Erique hatte ja logischerweise auch schon seit Wochen nicht von sich hören lassen. Konnte nichts von sich hören lassen, wie Joèl wusste, versuchte energisch dies wieder zu verdrängen.

"Hast du noch ´nen Kaffee?" Zum aus der Haut fahren. Legte der Kerl es darauf an, rausgeschmissen zu werden? "Nein. Ich erwarte, dass du mir sagst, was du von mir willst und dann augenblicklich wieder verschwindest!"

Eisig kalt schien seine Stimme die Luft zu durchschneiden. "Du bist wirklich gruselig geworden, Joèl. Aber fein: Ich mache mir Sorgen, ob du's glaubst oder nicht. Du kommst nicht zu den Vorlesungen, verlässt kaum die Wohnung, Erique ist spurlos verschwunden und deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hat er nicht nur seinen Urlaub verlängert."

Nein. Nein, nicht das Thema. Wieder krampfte sein Magen. "Das geht dich nichts an." Es kostete ihn einige Mühe, seine Stimme daran zu hindern wegzubrechen. "Du weißt wo die Tür ist." Er ging an seinem Studienkollegen vorbei, wollte zur Couch, doch eine warme Hand schloss sich um sein Handgelenk. So ungewohnt... so vergessen.

Der Blick des Anderen erinnerte ihn entfernt an den des Professors, als sie sich verabschiedet hatten. Diese Sorge in den Augen. Und als würde er um den Schmerz wissen, den Joèl empfand. Dabei konnte er das nicht. Wie auch? Er war allein mit seinem Schmerz. Würde allein bleiben und wollte es auch gar nicht anders.

"Gib mir eine Chance! Ich werde dich nicht fragen und auch nicht über Erique sprechen, wenn du es nicht willst. Aber schmeiß das Studium jetzt nicht hin. Das bedeutet dir doch viel zu viel." War das so? Ja, Alan hatte recht. Das Studium bedeutete ihm wirklich sehr viel. Er hatte das Studium direkt nach dem Abitur, noch lange bevor er Erique kennen gelernt hatte begonnen. Er liebte und lebte das Studieren. "Ich muss gleich zur Vorlesung. In zwei Wochen sind Prüfungen. Lass mich dir beim Aufholen des Stoffes helfen, Joèl. Lass mich einfach nur da sein, falls du es dir anders überlegst und doch reden möchtest. Meine Nummer hast du ja." Mit diesen Worten verschwand der warme Griff und hinterließ ein Kribbeln auf Joèls Haut an der Stelle an der Alans Hand gewesen war.

Ohne ein weiteres Wort ging der junge Mann. Verquere Welt. Schlief er noch? Ausgerechnet Alan war hierhergekommen und sorgte sich um ihn? "Schwachsinn..."
 

Joèl dachte noch einige Zeit über Alans Worte nach. Selbstverständlich war es Richtig, was er gesagt hatte. Nachdem er geduscht und sich angekleidet hatte nahm er sich eines seiner Bücher zur Kunstgeschichte zur Hand. Mit diesem Stoff hatte er keinerlei Probleme. Er las gerne von der Entwicklung der Kunst in den verschiedenen Epochen und Ländern. Von großen namhaften Künstlern und den Facetten ihrer Werke. Mathematik war da schon eher etwas, bei dem man in Übung bleiben sollte, doch im Moment fehlte ihm einfach die Motivation, sich an ellenlange Zahlenreihen voller Unbekannter zu setzen. Mit ein paar Broten und einem Tee bewaffnet kuschelte er sich also auf die Couch, ein dickes Buch über die Zeit des Impressionismus vor der Nase.

In der Bücherei im Schwarzen Schloss hatte er so viel Zeit mit Lesen und Lernen verbracht... nein, korrigierte er sich. Er hatte nur die ersten Tage wirklich seinem Studium gewidmet. Danach war er zu Vampirromanen und Forschungswerken zu diesem Thema übergegangen. Er atmete tief durch. Wüten darüber, dass ihn diese Gedanken schon wieder ablenkten.
 

Tatsächlich kam Alan am gleichen Abend wieder. Mit einer Mappe gefüllt mit Mitschriften und zwei großen Pizzen im Arm. Joèl war überrascht, wie wunderbar das gemeinsame Büffeln funktionierte. Alan hatte irgendwie die gleich Art an Aufgaben heranzugehen, wie er. Erklärte es mit Worten, die Joèl wohl nicht anders gewählt hätte. Die verpassten Vorlesungen waren unglaublich schnell aufgearbeitet und der Braunhaarige war sich sicher, dass er ihrem Professor nicht so gut hätte folgen können, wie Alan.

Er sprach ihn nicht auf Erique an. sprach eigentlich überhaupt nicht von den Semesterferien, und bewältigte das sogar ganz ohne dass man das Gefühl hatte, als meide er das Thema. Dreimal die Woche fanden die Mathematikvorlesungen statt und jeden Abend nach den Vorlesungen kam Alan bei ihm vorbei und ging den Stoff mit ihm durch. Heute war Sonntag, doch scheinbar hatte er wohl nichts Besseres zu tun, als sich mit ihm auf die Prüfungen vorzubereiten.

"...und dann stolpert der Depp über seine eigenen Füße und schleudert dem Prof die ganze Sauerei entgegen. Du hättest sein Gesicht sehen sollen!" Alan hatte neben der Mathematik noch Biologier begonnen und war nun im dritten Semester. "Da! Ich habe es ganz genau gesehen. Deine Mundwinkel haben gezuckt. Das war eindeutig sowas wie ein Lachen!"

Joèl starrte ihn perplex an. Was? "Bin ich so ernst?" Ein Nicken bestätigte seine Befürchtung. Die Abende waren wirklich überraschend angenehm und auch amüsant gewesen. Hatte er kein einziges Mal gelacht? Verdammt, war er jetzt schon zu diesem griesgrämigen Einsiedler aus seinen Albträumen geworden?

"Du musst das nicht machen, Alan. Du brauchst nicht ständig mit mir hier rumhocken. Erique kommt nicht wieder." Ein dumpfer Schmerz schoss durch seinen Oberarm, als dieser von Alans Faust getroffen wurde. "Idiot. Als ob ich hier wäre, weil ich auf Erique warte. Ehrlich, was immer du gedacht hast, wir waren nicht befreundet. das nur mal zu Protokoll."

Er hatte das Thema meiden wollen. Alan hatte sich entgegenkommend daran gehalten. warum nur, fing er nun selbst davon an? Doch irgendetwas in ihm sagte ihm, dass es in Ordnung ist. Er wollte jetzt darüber reden. Nicht über alles. Nicht über das was geschehen war. Aber über Erique im Allgemeinen.

"Nur schien das anders zu sehen. Immerhin hat er sich ja von dir zu diesen waghalsigen Rennen schleppen lassen. Was mich eigentlich daran erinnert, wie wenig ich dich leiden kann." "Autsch. Das tat weh, Joèl." Sein breites Grinsen widersprach da allerdings massiv. Natürlich war auch Joèl überdeutlich bewusst, dass da gewiss wesentlich mehr hinter steckte als Erique ihn hatte glauben lassen.

Die Bestätigung dieser Vermutungen folgte auch prompt. Es war wohl wirklich an der Zeit, dass die beiden jungen Männer sich mal aussprachen. "Um dich endlich von diesen verfluchten Rennen runter zu bringen: Ja, ich fahre illegale Rennen. Ja, der Scheiß ist waghalsig und obendrein kriminell. Doch hättest du auch nur einmal meine Einladung angenommen... mich hätte wirklich interessiert, was passiert wäre. Was wäre gewesen, wenn du auf all die Leute getroffen wärst, die Erique so gar nicht als den kleinen unschuldigen, naiven Kerl kannten? Keiner von uns ist gerne gegen ihn gefahren. Es war ihm egal ob er seine Gegner in den Graben drängte. es war ihm egal, ob er schon zu betrunken war um geradeaus zu gehen."

Ja, das klang in etwa so, wie Joèl es nach den abgrundtiefen Offenbarungen über sein Herz erwartet hatte. Er schluckte trocken, ein Kloß saß ihm im Hals. "Warum habt ihr ihn dann überhaupt fahren lassen? Ohne Gegner hätte er es doch sicherlich schnell aufgegeben?"

Alan stand nun auf, verschwand nur kurz in der Küche, um sich eine Dosencola aus dem Kühlschrank zu nehmen. Bereits am zweiten Tag hatte Joèl ihn aufgefordert sich jederzeit zu bedienen. Der Verschluss clickte in die Stille hinein, das zischende Entweichen der Kohlensäure verursachte bei Joèl eine Gänsehaut, dem er keine weitere Bedeutung beimaß.

Erst nach zwei Schlucken des eisgekühlten Koffeingetränkes setzte Alan sich wieder zu ihm, hielt ihm die Dose hin, die Joèl mit schweigender Geste ablehnte. "Es ist nicht so einfach. Stolz ist ein gefährlicher Freund. Keiner würde eine Herausforderung ohne wirklich guten Grund ablehnen. Und schon gar nicht kam in Frage, vor einem Homo zu kneifen. Nichts gegen dich, aber gerade in dieser Szene werden Schwule mit einiger Geringschätzung betrachtet. Spätestens nach seinem Outing brauchte Erique sich keine Sorgen mehr um Gegnermangel zu machen."
 

Welch eine Situation. Da musste sich Joèl doch tatsächlich von einem Studienkollegen über den Charakter des Jungen aufklären lassen mit dem er drei Jahre lang die Wohnung und das Bett geteilt hatte. "Wenn du Erique so wenig leiden konntest, warum..." "Warum ich mit ihm rumhing? Hohlkopf. Wegen dir! Guck nicht so! Ist dir mal aufgefallen wie schwer man an dich ran kommt? Wir studieren jetzt, wie lange zusammen? Naja, ist ja auch egal, auf jeden fall konnte man nie als zwei drei Sätze mit dir wechseln und schon warst du wieder weg."

Das entsprach der Wahrheit. Joèl war immer ein Einzelgänger gewesen. Seit er von seinen Eltern vor die Tür gesetzt wurde, weil sie einen schwulen Sohn schlicht und ergreifen nicht akzeptieren wollten und es besser zu verdrängen war, wenn er nicht unter dem gleichen Dach wohnte, hatte Joèl auch noch seine sogenannten Freunde verloren.

Es waren eher Bekannte gewesen. Seine Freizeit verbrachte er, wenn er sich nach Menschen sehnte in Clubs. Mit seinem Aussehen fehlte es ihm an nichts. Er hatte zwar ab und an über das Thema Beziehung nachgedacht, doch es war nie für ihn in Frage gekommen. Und auch Erique war er nicht von Beginn an treu gewesen. Das hatte sich dann später irgendwie mit den wachsenden Gefühlen von selbst eingestellt.

Shatei hatte er sich auch nicht Geringsten verweigert. So banal der Gedanke war, fühlte er sich allen Ernstes deswegen so unwohl seit er zurück was? Kein Sex in der Heimat? Er musste über sich selbst und diesen Aberwitzigen Gedanken schmunzeln. "Jaja, lach nur über mich. Vor Erique war es noch ein wenig Unsicherheit, die in deiner Ausstrahlung mitschwang. Bloß niemanden zu nahe heranlassen. Während eurer Beziehung hat man immer mehr gemerkt, dass dir alles und jeder außer ihm gleichgültig ist. Und jetzt. Jetzt bist du unheimlich. Du solltest mal einen Blick in dein Spiegelbild in einem Schaufenster werfen, wenn du an einem vorbeikommst. Wie du dich bewegst, das ist nicht normal."

Joèl musst schlucken. Selbst Shatei hatte einen kurzen Moment geglaubt jemand habe sich seinen Anordnungen widersetzt und Joèl verwandelt... Verdammt. Er war hier unter ganz normalen Menschen. Benahm er sich immer noch so... untot? Er wendete den Blick zum Fenster. Die Sonne war vor einigen Minuten untergegangen. Er hatte es seit einiger Zeit vermieden, in den Nachthimmel zu schauen. Er musste sich eingestehen, dass er die Nacht vermisste. Der Geruch der nächtlichen Luft, das Zwitschern von Vögeln, der Lärm und das Licht des Tages waren ihm zuwider geworden. Er hatte sich zu sehr an die Atmosphäre in diesem Schloss gewöhnt. Die dauerhafte Präsenz des Übernatürlichen. Dieses Alte und Erhabene....

Das Geräusch eines Finger-schnippen direkt vor seiner Nase schreckte ihn auf. "Du tust es schon wieder! Dich unheimlich verhalten. Lass das!" "Oh, ich... entschuldige. Ich dachte nur gerade, dass es vielleicht Zeit ist, dass ich endlich mal wieder ausgehe." Alan klatschte in die Hände und sprang auf. "Na wunderbar. Du gehst eh nicht zur Uni und ich kann mir einen Tag frei auch erlauben. Lass und ausgehen." Da damit zumindest schon klar war, dass der Lern-Abend an seinem Ende angelangt war, begann Joèl die Unterlagen zusammen zu räumen. "Ich denke nicht, dass du doch in den Clubs, die ich für gewöhnlich besuche, wohl fühlen würdest." Nein, nicht so ein illegale-Rennen-fahrender-absolut-100%ig-hetro wie Alan. Der würde es fertig bringen und sich mit seiner großen Klappe noch in derbe Schwierigkeiten bringen.

Joèl musste zugeben, dass der Andere ihm zu sympathisch geworden war, um ihn mit gebrochener Nase und vielleicht noch schlimmeren, im Krankenhaus abliefern zu müssen. Welch Ironie. Vor nicht ganz zwei Monaten hätte er ihm am liebsten noch eigenhändig jeden Knochen im Körper zertrümmert. "Langsam aber sicher wird deine Ignoranz beleidigend, mein Freund. Wir haben schon den selben Mathe-LK auf dem Gymnasium besucht und du hast immer noch nicht gepeilt, dass ich auf dich stehe? Oder bin ich so dermaßen unattraktiv dass du es mit krampfhafter Absicht übersiehst?"

Wie schloss man noch gleich wieder den Mund? Joèl starrte Alan ungläubig an. Ein Traum. Alles ein dummer Traum. Er war auf dem Hinflug nach Schottland eingeschlafen und seither nicht wieder erwacht.

Dass er keine Probleme hatte, nen One-Night-Stand zu finden war super, Dass Erique sein Herz an ihn verloren hatte war umwerfend. Dass er sich für ihn verstellte, weniger. Dann verliebt sich ein Vampir in ihn. Das war beängstigend, aber auch schmeichelnd. Äußerst schmeichelnd. Wütend rief sich Joèl selbst zur Ordnung als seine Gedanken abzudriften drohten.

Nun sollte Alan schon seit sechs Jahren auf ihn stehen? Da konnte doch etwas nicht stimmen!

Klar. Alan war der Typ Spaßvogel. Er hatte einen merkwürdigen Humor, das war Joèl ja bereits aufgefallen. Er begann leise zu lachen. "Ok, jetzt hast du mich erwischt." Natürlich war es ihm auch zu einem gewissen Grad peinlich, tatsächlich für einen Moment geglaubt zu haben, der Schwarzhaarige würde Interesse an ihm haben, aber letztendlich war es wie es war. Er hatte ihn eiskalt drangekriegt. Joèl verstummte und hob eine Augenbraue. Alan stand vor ihm, die Arme verschränkt, sein Blick ernst und gefasst. "Es gibt gewisse Dinge über die selbst ich keine Scherze mache. Ich kenne die Clubs in denen du dich vor deinem plötzlichen Anfall von Monogamie herumgetrieben hast. Auch da hast du mich schlicht und ergreifend übersehen." Gut, nun wurde es Joèl allmählich wirklich unangenehm. War er so ein ignorantes Arschloch? Aber warum hat jemand wie Alan, nie die Zähne auseinander gekriegt? Er war ja nun noch nie die Schüchternheit in Person gewesen. Oder?

"Ich will ja jetzt nicht deine Ehrlichkeit anzweifeln, aber bin ich so Abschreckend, dass du in all den Jahren nichts gesagt hast und jetzt hast du gerade irgendwie so eine Art Eingebung, die dir nach sechs Jahren sagt 'Jetzt ist der richtige Zeitpunkt' ?" Joèl musterte ihn skeptisch, während Alan tief durchatmete und dann die Schultern zuckte. "Für mich kommen One-Night-Stands nicht in Frage, für dich war alles Andere tabu. Während du mit Erique zusammen warst hatte ich wohl kaum eine Chance. Also wann sonst, wenn nicht jetzt?"

Da war was dran. Da war verdammt nochmal wirklich was dran...aber...Alan?

Er brauchte nicht lange zu überlegen, ob der Biologie-Student in seinen Augen attraktiv war. Er war es ohne jedweder Beanstandung.
 

----------------

Das war dann nun wirklich das vorletzte Kapitel ^^

In der nächsten gibt es wieder 'adult'-markierung und ENDLICH lasse ich auch mal was passieren ^^

Slash-fans ihr dürft euch freuen
 

Liebe Grüße

Fye

"happy ever after ?"

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]



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Kommentare zu dieser Fanfic (11)
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Von:  asu-ka
2010-02-24T23:21:35+00:00 25.02.2010 00:21
Es ist ein irgendwie bisschen schade, dass diese Geschichte so wenige Kommentare hat...

sie ist meiner Meinung nach gut und fesselnd geschrieben, auch ist sie sehr übersichtlich...
auch die Story selber ist interessant, es ist schon irgendwie schade, dass sie ein so offenes Ende hat, was aber wohl jedem selbst überlassen ist;
Ein offenes Ende regt ia schließlich auch das Denken an ^^

lG
asu-ka
Von:  ReinaDoreen
2009-04-16T17:18:06+00:00 16.04.2009 19:18
Das ist ein ziemlich offenes Ende geworden. Wobei ich denke das Joel irgendwann zurück zu Shantei kommen wird, nur nicht heute und nicht gleich in ein paar Wochen.
Die Erkenntnis, das er vielleicht doch eher ins Schloss gehört, und Joel ja auch die Sehnsucht spürt wird ihn bestimmt einholen.
Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Reni
Von:  ReinaDoreen
2009-04-09T19:46:37+00:00 09.04.2009 21:46
Ich glaube Shatei möchte das Joel freiwillig bleibt. Nur soweit ist dieser noch nicht.
Reni
Von:  Toastviech
2009-04-08T20:48:21+00:00 08.04.2009 22:48
ICh hoffe ja Sahtei sagt nein und hält Joel bei sich.
Das wäre konsequent^^


lg Toasty
Von:  Toastviech
2009-04-05T19:56:23+00:00 05.04.2009 21:56
Enrique wird auch mir immer unsympatischer, auch wenn seien Gefühle echt sind.
Joel sollte Enrique nicht so reizen, es wundert mich das keiner rafft, selbst ein Neugeborener nicht, dass Joel NOCH ein Mensch ist.

lg Toasty
Von:  ReinaDoreen
2009-04-05T19:42:53+00:00 05.04.2009 21:42
Ich mag Enrique nicht. Und jetzt ist er ja geradezu bessen davon, das Joel ihm gehören soll oder gar niemanden.
Joel sollte, wenn möglich, Enrique aus dem Weg gehen.
Reni
Von:  ReinaDoreen
2008-12-14T12:44:30+00:00 14.12.2008 13:44
Dieser Ausflug in die Vergangenheit war sehr interessant.
WAr das so geplant, das Erique ein Vampir wird? Joel ist ja entsetzt und wieso hat Andrea das getan?
Reni
Von:  ReinaDoreen
2008-11-14T21:09:36+00:00 14.11.2008 22:09
Ist schon unheimlich was Shathei zu Joel sagt. Ich bin gespannt was da noch auf ihn zukommen wird. Aber jetzt muss Joel erst mal micht sich selbst klarkommen und was er wirklich will.
Und wenn nun auch noch Enrique wieder beginnt Joel für sich gewinnen zu wollen, wird der noch verwirrter in seinen Emotionen.
Reni
Von:  ReinaDoreen
2008-06-29T22:12:53+00:00 30.06.2008 00:12
Heute habe ich deine Geschichte entdeckt und sie war mir wichtiger als die EM und das Endspiel.
Immer mehr wünsche ich mir das Shatei und Joel ein Paar werden. Aber es ist recht kompliziert. Joel muss seine Gedanken erst wirklich frei von Erique machen und das was er für Shatei fühlt auch wirklich annehmen,
Ich weiß aber noch nicht welche Rolle Andrea in der ganzen Sache spielen wird. Er ist für mich doch noch etwas sehr mysteriös.
Reni
Von:  Titzian
2008-06-24T21:33:43+00:00 24.06.2008 23:33
Hi, ich bin erstaunt, dass du nur ein Kommi bisher bekommen hast.
Ich bin hin und weg von deiner Story, und freue mich auf mehr davon.
Mir gefällt die Art wie du schreibst und auch die Wendungen deiner Story.
Sei gewiss das ich immer wider nachsehen werde, ob es neue Teile gibt.
Bis demnächst, Titzian!!!


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