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"huma" - die chinesische "Tigermutter" August, china

Autor:  Lingo
Mittlerweile bin ich schon einen ganzen Monat hier gewesen und, auch wenn es mir nicht allzu leicht fällt,
habe mich vor wenigen Tagen dazu entschlossen, die Familie zu wechseln.

Ich kann es einfach nicht mit ansehen, wenn die Mutter das eigene Kind mit einer Pferdegerte auspeitscht, sobald sie beim Tanzunterricht den Fuß falsch aufsetzt (nein, das ist nicht übertrieben, genau so war es) oder mal vier Anläufe braucht, um ein englisches Wort richtig zu buchstabieren.
Sie ist sechs Jahre alt, hatte gestern ihren allerersten Schultag und kann bereits chinesisch und Englisch schreiben, spricht Englisch fließend, hatte mehrere Mathekurse und was weiß ich nicht alles.

Sie ist nicht schlecht bei all dem, was ihr aufgezwungen wird, aber der Preis dafür ist hier ganz klar ihre Kindheit.
Schlagzeug- und Klavierunterricht, Schwimmtraining, Tanzunterricht, Wei Qi (= Go, etwa chinesisches Schach) Stunden, Matheklassen, außerschulische Englischkurse, privater Englisch- und Deutschunterricht, Schlittschuhlauftraining mit dem ganzen Pirouettengedöhns und was weiß ich nicht alles nehmen sie beinahe jeden Tag bis in viel zu späte Nachtstunden ein.

Manchmal kann sie bis ein Uhr morgens nicht schlafen. Als Sechsjährige. Muss dann aber für ihre Unterrichtsstunden am nächsten Tag wieder früh raus.
Wenn sie mal spielt, dann allerhöchstens sehr kurz, aber aus Sicht der Mutter am besten gar nicht, denn - und das meint sie ernst - Spielen ist eine Verschwendung von Zeit. Auch Zeichnen ist nur Zeitverschwendung, das soll sie also nicht. Sie muss es heimlich machen.
Wenn sie in ihrem Studierzimmer sitzt und genau das tut, was ihre Mutter von ihr verlangt, - gehorsam und so konzentriert wie es in ihrem müden Zustand möglich ist lernend - zuckt sie bei jedem Öffnen der Tür zusammen, schaut sich erschrocken um und ist erst dann wieder entspannt, wenn sie ganz sicher weiß, dass die Mutter noch immer nicht in der Nähe ist.

Sie erzählte mir täglich im Geheimen, das ihre Mutter sie nachts für ihre Fehler auspeitscht, hinter verschlossenen Türen, sodass niemand einschreiten kann (das haben mitunter sogar schon Vater und Oma versucht, weswegen sie weiß, dass es da zu Unterbrechungen kommen kann und gezielt versucht, es zu unterbinden).
Von den anderen Angestellten des Hauses erfuhr ich, dass die Mutter die Tochter hin und wieder auch nur auspeitscht, weil sie wütend ist und es, seit man ihr verboten hat, die Hunde mit ihren eigenen Leinen auszupeitschen, niemand anderen gibt, an dem sie ihre Wut ablassen kann.

ich wusste das alles, dachte aber, da wäre es üblicherweise wieder dazu gekommen, dass jeder die Geschichte beim Wiedergeben etwas würzt. Weit gefehlt, letzte Woche durfte ich ihre verzweifelten Schreie und das Weinen hören, begleitet von einigen erschreckend lauten Aufschlägen, wenn ihre Mutter wieder ausgeholt hatte. Es ging mindestens 10 min lang so - die Tanzlehrerin scheint zugesehen zu haben.

Ich werde noch acht Monate in China sein und habe entschieden, dass ich die Zeit in einer Familie verbringen will, die die westliche Erziehung befürwortet - das hier kann ich mir beim besten Willen nicht zumuten und solange ich es nicht MUSS, werde ich es gar nicht versuchen.
Die Familie darf ihr Kind so erziehen, wie sie es will - ich kann ihnen da nicht reinreden, es gibt keine Kompromissmöglichkeit und wenn ich damit nicht klar komme, muss ich eben gehen.

Die Suche nach einer neuen Familie ist bereits im Gange. Ich habe als ausdrücklichen Wunsch nur geäußert, dass ich in keine Familie möchte, in der die Kinder dem gleichen Leistungsdruck unterworfen sind.


PS.: Ich habe mit einer gleichaltrigen Chinesin über diese Erziehungsmethode gesprochen und war schockiert. Sie hat dieselbe Situation durchlebt (seit heute studiert sie dafür auch an der besten Uni Pekings) und denkt trotzdem, es sei in Ordnung, normal, für eine gute Zukunft des Kindes. Sie sagte, es sei für einen Chinesen normal, dass es eine Zeit im Leben gibt, in dem er durch eine "living hell" durchmuss, das hat hier jeder erlebt. Aber es sei auszuhalten und diejenigen, die sich deswegen das Leben nehmen, die dem Leistungsdruck nicht standhalten können, das sind eben zu sensible Menschen.
Ich habe hier nichts verdreht, so sieht sie es. Für die Kindheit ihrer zukünftigen Kinder - und unglaublich vieler anderer auch - sehe ich schwarz.
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Datum: 01.09.2012 15:08
Oh mein Gott, das ist ja furchtbar. D:
Die Kleine tut mir echt leid...
gone fishing.
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Datum: 01.09.2012 22:22
Dann wünsche ich dir viel Erfolg bei der Suche nach ner neuen Familie. :( Dass Kinder in China nichts Wert sein sollen, wusste ich ja, aber dass es so extrem ist... nun, ich weiß, warum ich auf keinen Fall dorthin wollte.
Elen síla lúmenn' omentielvo!
✖✐✖
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Datum: 02.09.2012 07:12
Ich kann das nicht mit angucken. Die Agentur meinte auch, das scheine ein schlimmer Fall zu sein, die werden also nicht sagen, es sei meine übertrieben unnötige Pingeligkeit, die mich dazu veranlasst zu gehen. Was gut ist. >:



Kinder sind in China nicht nichts, sondern zu viel wert.
Die chinesische Sichtweise ist: Wir dürfen nur ein Kind haben, wir haben nur den einen Versuch, das bedeutet, dieses Kind muss erfolgreich sein und durchstarten, komme was wolle.
Die denken, sie täten dem Kind einen Gefallen.
Der Vater ist eigentlich ein echt lieber Kerl, aber auch er meinte vor wenigen Tagen, sie hätten den Plan, hartes Arbeiten und viel Lernen für das Kind zur Gewohnheit zu machen, damit es im späteren Leben keine Probleme hat. Dass sie viel lernt und so ausgebeutet wird, macht sie den anderen Kindern überlegen, sodass sie einen guten Job und später ein tolles Leben haben wird, blabliblubb... sie finden es gut.

Als eine ihrer Lehrerinnen bin ich auch noch Teil dieser verqueren Weltsicht.
Was ich nicht sein will.
- - »Cleverness that comes too late is hardly cleverness at all.«

    »Sarcasm is the last refuge of the imaginatively bankrupt.« - -

Your sincerly Lingo


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