Eine Kurzgeschichte
Der Kuss
Seit einigen Tagen ist sie heimlich verliebt. Jeden Abend sieht sie den graziösen Jüngling an der selben Laterne stehen. Geplackt von ihrer Arbeit ist er immer wieder aufs neue ein schöner Ausklang des Tages. Ganz elegant und ruhig an der Zigarette spielend steht er da, sie unauffällig beobachtend. Sie muss darauf acht geben, dass sie nicht gegen eben solche Laterne läuft, wenn sie ihn beobachtet. Eigentlich hat er die Zigarette nur als Leuchtmittel in seiner Hand, vielleicht um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten. Noch nie hat sie gesehen, dass er einen Zug genommen hat. Beobachtet er sie auch? Vielleicht schaut er ihr hinterher. Hoffentlich schaut er ihr hinterher. Je weiter weg sie von ihm läuft, will sie wieder zurückgehen und ihn ansprechen. Was er da macht, warum er immer an der selben Laterne steht, ob er sie kennt? Aber immer läuft sie weiter, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Warum ist es so schwer jemanden anzusprechen? Fällt es ihm auch schwer sie anzusprechen? Hoffentlich traut sich irgendwann einer von beiden.
Ihre Freundin sagt immer wieder: „Was hast du zu verlieren? Sprich ihn an. Er wird schon nicht beißen.“ Und jedes Mal schmunzelt sie dabei. Morgen! Morgen sprech’ ich ihn an, denkt sie sich. Endlich den Mut gefasst, läuft sie voller Selbstvertrauen die Straße hinab, ihre Augen auf ihr Ziel gerichtet. Doch wo ist er? Ist sie zu zeitig? Er steht nicht da. Sie wartet einige Zeit, obwohl sie von der Arbeit fast schon zu müde ist. Jedoch kommt er nicht. Bestimmt ist er krank, er stand schließlich die ganze Zeit über draußen in der Kälte, wer weiß wie lang, vermutet sie. Morgen wird er sicherlich wieder da sein.
Den darauffolgenden Tag stand er wahrhaftig wieder da. Am liebsten wäre sie zu ihm hinübergerannt und hätte ihn küssend umarmt. Doch sie läuft leicht errötet wieder einmal an ihm vorbei. Dieses Mal aber bleibt sie kurz stehen, um ihn noch einen Blick zuzuwerfen. Er sieht dies. Erstaunt verbeugt er sich leicht. Überrascht von dieser Geste, rennt sie nach Hause. Noch nie war sie so glücklich. Ihr Herz schlägt laut in ihrer Brust. Morgen! Morgen wird der Tag, an dem wir endlich miteinander reden, hofft sie. Ganz aufgeregt, läuft sie mit schnellem Schritt die Straße hinab, obwohl ihre Füße von ihrer Arbeit fürchterlich schmerzen. Aber erneut steht er nicht an „seiner“ Laterne. Wo ist er dieses Mal? Ganz verträumt schaut sie immer zu an die Laterne, an welcher er jeden Abend steht. Sie bemerkt nicht, dass er auf ihrer Straßenseite an einer Laterne steht. Plötzlich, aus ihrem Traum gerissen, spricht sie der hübsche Mann an. „Schöne Frau passen Sie auf, sonst laufen Sie noch gegen eine Laterne.“ Er lächelt sanft. Sie jedoch, völlig aus ihrer Träumerei gerissen, schreit sie laut auf vor Schreck. Alle drehen sich nach ihr um. Der schöne Jüngling bleibt ruhig. „Keine Angst, Miss. Aufessen wollte ich Sie nicht mit meiner Bemerkung.“ Sie schaut ihn an. Ihr gesamtes Blut scheint ihr in den Kopf zu steigen, so errötet wie sie ist. An ihrer Scham findet er gefallen. „Verzeihung.“ Einen Knicks machend fährt sie fort: „Dass Sie mich ansprechen, kam so unerwartet. Ich wollte Sie nicht anschreien.“ Er lacht leise. „Ich hätte wohl nicht meinen eigentlichen Platz verlassen sollen.“ Mit einem Zwinkern von ihm, wirkt sie entspannter. Neuen Mut gefasst , fragt sie ihn schließlich: „Jeden Abend stehen sie hier, aber warum dies?“ In seinem Gesicht ist ein leichtes Erstaunen zu sehen. „Meine Liebe,“ er fasst ihre Hand, „wegen Ihnen steh ich hier. Nur um Sie Abend für Abend ansehen zu können.“ Küssend lässt er ihre Hand wieder los. Sie hält ihre Hand an ihre Brust und schaut geschmeichelt zu Boden. „Das haben Sie schön gesagt.“ Für den Samstag verabreden sie sich. Ihr Treffpunkt war natürlich die Laterne. Vor Aufregung hatte sie kaum geschlafen. Ihm ging es nicht anders. Die beste Kleidung hatten sie sich für den Abend herausgesucht. Keiner dachte daran, dass Regen für die Nacht vorausgesagt wurde.
In einem kleinen Restaurante führte er sie aus. Sie lachten viel und verstanden sich prächtig. Man merkte sofort, dass beide wie für einander geschaffen waren. Als sie das Restaurante endlich verließen, regnete es unaufhörlich. Es störte sie aber nicht. Beide gingen eng aneinander die Straße hinab, bis zu ihrer Laterne. Da hielten sie an. Er nahm sie erneut an der Hand, doch dieses Mal küsste er sie auf ihren Mund. Die Leidenschaft war fast schon zu spüren beim bloßen Beobachten der Zwei. Beide vergaßen, dass sie auf einer belebten Straße standen. Ihren Rock zog er hoch, um ihre weiche Haute zu fühlen. Sie schwebte wie auf Wolken, wieder war sie in ihrer Traumwelt, doch diesmal küsste er sie wirklich. Ihre Kleidung war bis auf die Haut durchnässt. Ein Regentropfen glitt an ihrem Körper herab. Ein warmes Gefühl erfasste sie. Vollkommen zerwühlt waren ihre Haare, sie sah aus wie eine Heilige. Ihre Haare sponnen sich um die Laterne. Es schien so, als ob mit diesem Kuss die gesamte Last der Arbeit von ihren Schultern genommen wurde.