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Aschenstaub

Der erste Zauberkrieg
von

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I. Kriegsjahr – Omnia vincit amor


 

| 1971 |

- 1. Kriegsjahr -

 

Omnia vincit amor

[Liebe besiegt alles]

 

─♦─

 

High Wycombe, Februar 1971 •

 

Natürlich schien die Sonne. Während es die letzten Tage höchstens ein paar schwache Strahlen durch die fast schon stählerne Wolkendecke geschafft hatten, war der Himmel heute von frühlingshaftem Blau. Noch hingen keine Blätter an den Bäumen, die das Licht hätten filtern können, und so kitzelte Alston Mulciber die gute Laune der Natur ungeniert im Nacken.

Blanker Hohn. Anders konnte er es nicht beschreiben. Da wünschte er sich einmal, das Wetter wäre ein Spiegel seiner Stimmung und dann das. Fast konnte er feines Gelächter hören, das von ganz weit her kam. Maybell hätte diese Ironie sicherlich amüsiert – vielleicht war es also doch passend, dass die Sonne ihn ausgerechnet jetzt piesackte.

Er seufzte. Hätte ihr auch die Ironie seiner mitgebrachten Blumen gefallen? Es war so lange her, dass sie ihn mit seinen ungelenken, romantischen Gesten aufgezogen hatte ... Was, wenn er vergaß, wer sie wirklich gewesen war? Belogen ihn seine Erinnerung inzwischen genauso wie er sich selber? Hätte sie ihn verständnislos angesehen; gar den Kopf geschüttelt?

Sein Kiefer knirschte, so fest presste er die Zähne aufeinander. In den Manteltaschen ballte er die Hände zu Fäusten.

Hör auf damit, flüsterte ihm eine innere Stimme zu. Sie hörte sich verdächtig nach May an. Aber vielleicht war auch das eine Lüge. Vielleicht hätte sie ihm gesagt, dass er sein Leid verdiente. Denn eines war klar – sie verdiente es nicht, unter einem Strauß roter Rosen begraben zu sein, den eine lächerlich große pinke Schleife zusammenhielt und der voll magischem Feenglitzer strotzte. Am schlimmsten war allerdings das hineingesteckte Pappherz, in dessen Mitte regelmäßig und ekelerregend grell ‚Frohen Valentinstag‘ aufblinkte.

Auch die goldene Zauberschrift schien ihn zu verhöhnen. Alston konnte sich nicht erklären, warum er das geschmackloseste Blumengesteck aller Zeiten nicht nur gekauft, sondern wirklich mitgebracht hatte. Etwa nur, weil die Verkäuferin es ihm als ihr teuerstes Stück angepriesen hatte, garniert mit der Frage, was ihm seine Liebe wert sei? Wurde er ... schwach?

Eigentlich hätte er die Floristin infolge ihrer Verkaufsbemühungen ganz süffisant nach den Grabgestecken fragen müssen. Einfach um das Grinsen von ihrem Gesicht zu wischen. Bloß weil der 14. Februar auf dem Kalenderblatt stand, gab es schließlich nichts zu feiern. Besonders für ihn nicht. Sein einziger Grund, diesen Tag zu zelebrieren (und das nicht etwa wegen eines ausgedachten Feiertags), lag unter der kalten, harten Friedhofserde vor ihm – seit zehn Jahren.

Er starrte auf die Inschrift des Grabsteins, obwohl er diese jederzeit mit geschlossenen Lidern vor sein inneres Auge beschwören konnte.

 
 

Maybell Mulciber

(née Longbottom)

* 14.02.1932

† 15.06.1961

 

***

- Omnia vincit amor -

 

Liebe besiegte alles. Noch mehr Hohn. Insbesondere wenn man wusste, dass jeder der drei kleinen, fast schon unscheinbaren Sterne im weißen Marmor für ein Kind stand, das seiner Mutter in den Himmel vorausgeeilt war.

Egal, was sie auch versucht hatten – Ihre Liebe hatte den Tod nie besiegen können. Sie hatte ihn überhaupt erst gebracht. Und jetzt schenkte er May ausgerechnet an ihrem Geburtstag Valentinsblumen. Als wären er und seine verfluchte Blutmagie nicht der Grund, weshalb sie unweit der überfüllten Krypta seiner Familie ruhte, anstatt sich in irgendeinem Tanzlokal die Füße zu ruinieren, wie sie es geliebt hätte.

Wobei ... würde sie heute noch tanzen? Es herrschte immerhin Krieg. Womöglich hatte das kleine gemischt-magische Lädchen in Brighton, in das sie ihn früher mit Vorliebe gezerrt hatte, gar nicht mehr geöffnet. Er wusste es nicht. Diese Straße mied er seit zehn Jahren erfolgreich, obwohl er nicht weit entfernt wohnte. Und selbst wenn jener Schuppen der Situation trotzte – die meisten schlauen Leute versteckten sich abseits der Arbeit trotzdem in ihren vier Wänden und gingen nicht mit Muggeln tanzen. Oder sie täten zumindest gut daran.

(Er ignorierte zu seinem eigenen, geistigen Wohl die Tatsache, dass er früher selber zwischen Muggeln, Schlammblütern und allerlei Mittelstandstragik durch die Menge gewirbelt war, weil er nur gewollt hatte, dass Maybell lachte und kein Walzer von ihnen verlangt wurde. Manchmal wirkte es, als würde der Okklumentikschild um seine intimsten Gedanken auch ihn selber ausschließen, denn er wagte es kaum, daran zu denken, dass ihm der Irrsinn gefallen hatte.)

Jedenfalls herrschte jetzt Krieg und Tanzen spielte an diesem Valentinstag keine Rolle. War die Hexe im Blumenladen deshalb so erpicht darauf gewesen, ihm einen völlig überteuerten Strauß anzudrehen? Weil kaum einer kam, um ein Dutzend bester doxyzidfreier Rosen zu kaufen, während ein paar Häuser weiter eine leerstehende Apotheke daran erinnerte, dass der Inhaber dieser (ein Squib) letzten November ermordet worden war?

Von seinen Leuten. Von Zauberern, die verflucht noch einmal Angst vor ihm hatten. Angesichts dessen hatte Alston wohl kein Recht zu bedauern, dass nicht mehr gefeiert wurde. Er hatte nicht nur Maybells Gesundheit auf dem Gewissen, sondern alles, was sie einst geliebt hatte.

(Bis auf Aiden. Ihr einziger Sohn lebte (dank seiner Blutmagie). Das musste er sich immer wieder vor Augen halten. Aiden ging es gut, Aiden lag nicht bei seiner Mutter unter der Erde. Aiden war in Sicherheit bei seiner Tante. Und das war Grund genug für alles.)

Ja, er verdiente stechenden Sonnenschein und jeden Rosendorn, den die Erinnerungen in sein Herz trieben. Er hatte es sich mit seinen eigenen Taten verdient, verdient, verdient.

Am liebsten hätte er sich auf Knien in das taufeuchte Gras vor dem Grab geworfen. Aber der uralte, über Jahrhunderte vererbte Familienstolz hielt ihn zurück. Er mochte alleine auf dem magischen Teil des Friedhofs sein, das hieß allerdings nicht, dass er sich wie ein hoffnungsloser Trottel verhalten durfte. Sein Vater war vielleicht seit Jahren tot und seine Mutter noch länger, doch manche Dinge lebten auch ohne ihre mahnenden Stimmen fort.

In seinen Augenwinkeln kribbelte es. Alston legte den Kopf in den Nacken, statt sich hinzuknien und über die spärliche Inschrift des Grabsteins zu streichen. Sonst würde er noch laut aussprechen, was er dachte, und wie ein Idiot mit jemandem reden, der ihn längst nicht mehr hörte. Aller Trauer zum Trotz, das würde entschieden zu weit gehen.

Dennoch konnte er nicht verhindern, dass ihm ein Satz immer wieder durch den Kopf kreiste, während er so in die Sonne blinzelte: Es tat ihm leid. Nicht nur May, der Kinder oder seiner selbst wegen.

Er rieb mit den Fingern seiner linken Hand über die schwache, kaum fühlbare Erhebung an seinem Daumenballen. Eine von drei Narben, die ihm das letzte Jahr geschenkt hatte. Auch wenn man die Spuren rund um sein Handgelenk nicht wirklich so nennen konnte. Hätte er nicht von den Überbleibseln des unbrechbaren Schwurs gewusst, wären sie ihm nie aufgefallen.

Die Mauer in seinem Kopf weigerte sich, aus Worten und Bildern einen klaren Gedanken zu formen, aber es tat ihm leid. Nicht was er getan hatte, sondern wie er sie letztes Jahr enttäuscht hatte. Vermutlich war es Wahnsinn, dass er seine einstige Arbeitskollegin Minerva McGonagall tatsächlich mochte. Es war in jedem Fall dem Wahnsinn zuzuschreiben, dass er ihr geschworen hatte, ihren alten (und viel zu geliebten) Vorgesetzten Elphinstone Urquart für sie zu beschützen. Vor den Todessern – vor sich selber.

Wenn dieser Valentinstag nicht ein Sonntag gewesen wäre, hätte er heute im Büro sitzen und diesem unerträglichen Weltverbesserer dabei zusehen müssen, wie er sich stündlich tiefer in die Scheiße ritt. Es war völlig egal, was er versuchte oder wie oft er auf Elphinstone einredete, am Ende musste er ja doch wieder den Zauberstab packen und ihm auf irgendeine Außenmission folgen, bevor er sich noch umbrachte (und ihn schlimmstenfalls gleich mit).

Alston seufzte erneut. Neben den feinen Linien des unbrechbaren Schwurs unter seiner Haut fühlte er die tiefen Gräben, die seine Fingernägel vor lauter Anspannung in der Handfläche hinterlassen hatten. Warum hatte er auch gehofft, bei May Ruhe zu finden? Dieser Gedanke war nicht nur schwach, sondern richtiggehend naiv. Er konnte nicht zulassen, dass er noch weiter abrutschte. Jetzt war es wichtiger denn je, standhaft zu bleiben!

Besser, er begab sich doch zurück ins Ministerium. Heute würde Elphinstone ja sicher Sinnvolleres zutun haben, als dort Überstunden zu schieben (schließlich verstand er etwas von echter Romantik). Und seine verehrte Minerva weilte noch im Diesseits und nervte bestimmt gerade die Schüler in Hogwarts mit Hausaufgaben. Verwandeln Sie einen Strauß rote Rosen in weiße Lilien – das wäre doch mal was.

Von Versuchung erfüllt, betastete Alston den Zauberstab in seiner Manteltasche, ließ es dann allerdings bleiben. Er war miserabel in Verwandlungen. Folglich verdiente er keinen Weg, um diese schlechte Entscheidung aus der Welt zu schaffen. Wenigstens war sie mit seinen vielen anderen beschissenen Beschlüssen in bester Gesellschaft ...

»Fuck, ich vermisse dich, May!«, platzte es plötzlich wider seines Stolzes aus ihm hervor, ohne dass er den Blick vom Himmel löste. »Ich vermisse dich jeden verfluchten Tag!«

»Ich vermisse sie auch.«

Alston wirbelte herum. Sein Herz stolperte und er musste husten, um es wieder in Takt zu bringen. Direkt vor ihm stand –

»Aiden!«

Für ein paar kostbare Sekunden starrte er seinen Sohn sprachlos an. Dieser trug einen dunkelblauen Umhang, der ihn älter als seine zehn Jahre wirken ließ. Mit seinem fast schwarzen, ordentlich gescheitelten Haar und den Gesichtszügen, in denen Alston so viel von seiner eigenen Härte erkannte (und zu wenig von Maybells Sanftheit), wirkte er wie die Miniaturausgabe eines erwachsenen Zauberers.

Der Anblick erschreckte ihn – jedes Mal aufs Neue. In seinen Gedanken war er doch immer noch ein kleines Kind! Und das sollte nicht am Grab seiner Mutter stehen. Wo war er überhaupt hergekommen? Er hatte nicht mit seiner Schwägerin verabredet, dass sie ihn herbrachte ...

»Hallo ... Vater.« Aiden lächelte unsicher. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Ja – hast du nicht ...«

Seinen Zauberstab fest umklammert, suchte Alston den Friedhof nach einer weiteren (unangenehmeren) Überraschung ab. Und tatsächlich, oben an dem abschüssigen Hang voller Gräber stand eine einsame, dunkel gekleidete Gestalt. Zu entfernt, als dass er sie erkennen konnte, aber trotzdem schienen die eben noch verhassten Sonnenstrahlen mit einem Mal deutlich schwächer.

Der Blick seines Sohnes fiel auf den gezückten Stab. »Ich – es tut mir leid ...?«

Die Furchtsamkeit in seiner Stimme lockte Alstons Aufmerksamkeit von der ominösen Gestalt zurück ans Grab. Er sah auf das kleine Gesteck aus Frühlingsblumen in Aidens Händen, an dessen Blättern der Junge sichtlich verlegen herumzupfte. (Und er wünschte sich, dasselbe tun zu können, obwohl sein Stolz es schon lange nicht mehr zuließ, sich derartige Blöße zu geben).

»Aiden ...« Eine unsichtbare Hand legte sich um seinen Hals und schnürte ihm die Worte ab. Wie viele Wochen (oder waren es Monate?) hatte er seinen Sohn nicht gesehen? Wann hatte er ihn zuletzt in die Arme geschlossen? Er wusste es nicht mehr und diese Erkenntnis stach schlimmer als zehn Jahre alte Reue. »Was machst du hier? Bist du etwa ganz alleine hergekommen?«, fragte er unerwartet heiser.

In seiner Stimme schwang zu viel von seinem eigenen (furchtbaren) Vater mit, das begriff er sofort. Er sah es in der Art, wie Aidens schlanke Finger sich um das Blumenkörbchen verkrampften. Oder wie seine Lider zuckten. Wie seine Lippen die Farbe verloren, nun da er sie fest aufeinanderpresste ...

»Das sind schöne Blumen«, hörte er sich schnell hinterherschieben. »Die würden deiner Mutter bestimmt gefallen.«

Aiden holte tief Luft. »Tante Edith hat gesagt, sie sind billig«, gestand er leise, wobei er das letzte Wort abfällig betonte. »Aber ich dachte ... die blauen Blüten haben mich an Mama erinnert. Solche Ähnlichen waren auf dem Foto von eurer Hochzeit.«

Alston hob die Mundwinkel zur Andeutung eines Lächelns. (Er liebte das Bild auf seinem Kaminsims und vermied es doch so oft, hinzusehen.) »Das stimmt. Ich bin sicher, es waren genau diese Blumen.« Das war eine glatte Lüge – die er gerne erzählte. »Also hat dich Tante Edith hergebracht ...?«, fragte er erneut, eklig hoffnungsvoll in seinen Ohren.

Wie um ihn für diese Schwäche zu bestrafen, schüttelte Aiden den Kopf. »Sie war nur heute Morgen mit mir beim Blumenladen. Eigentlich wollten wir morgen herkommen, weil sie heute so viel zu tun hat. Abends gibt es bei Großmutter eine Soiree.«

Allein das letzte Wort fühlte sich schon an, als hätte Alston in eine Zitrone gebissen. Kein Zehnjähriger sollte solch affige Begriffe für Abendveranstaltungen kennen müssen, auf denen nicht mal anständig getanzt und zu viel geschwätzt wurde. »Lädt die Alte etwa immer noch die Achtundzwanzig zu sich ein?«, brummte er missgelaunt. (Wenn der Krieg doch wenigstens solche spaßbefreiten Feiern auf dem Gewissen hätte!)

»Inzwischen sind es nur noch siebenundzwanzig der alten Reinblutfamilien«, korrigierte Aiden flink wie ein Klatscher. »Irgendein Weasley hat vorletztes Mal ihren Punsch mit Feuerwhiskey gemischt und dann auch noch hinter den Vorhängen mit meiner Cousine rumgemacht. Seitdem sind die endgültig raus.«

»Woher weißt du das so genau? Zwingt Edith dich inzwischen etwa, bei diesen geschmacklosen Veranstaltungen teilzunehmen?«

Aiden biss sich auf die Unterlippe. »Nein, aber Großmutter sagt, es reicht schon, dass du dich nicht mehr blicken lässt, dann muss wenigstens ich einen guten Eindruck machen. Immerhin bin ich der letzte Erbe –«

»Des Hauses Mulciber. Schon klar.« Es verlangte Alston reichlich Beherrschung ab, die Hände nicht wieder zu Fäusten zu ballen. Manchmal konnte er sich selber nur gratulieren, dass er Maybells Schwester wirklich seinen Sohn überlassen hatte. Natürlich schützte sie ihn vor allem, aber nicht den fragwürdigen Traditionen ihrer Eltern (offenbar vergaß nicht nur er gerne, wie sie als junge Menschen unter den Zwängen dieser feinen Gesellschaft gelitten hatten).

»Tut mir leid ...?«, sagte Aiden zögerlich – als könnte er irgendetwas dafür, dass er, sein eigener Vater, ihn vor Jahren weggegeben hatte. (Zu seinem Schutz, immer nur zu seinem Schutz – niemals vor Überforderung. Egal, was Edith glaubte.)

»Nein. Alles gut. Du hast nichts falsch gemacht.« Alston zwang sich, breiter zu lächeln (irgendwann würde die echte Freude schon wieder den Weg auf sein Gesicht zurückfinden). »Ich freue mich, dass du hier bist. Auch wenn ich immer noch nicht weiß, wer dich hergebracht hat.«

Obwohl er zwischenzeitlich die Gestalt oben am Eingang des Friedhofs verdrängt hatte, vergessen war sie nicht. Und ein schneller Blick zeigte ihm, dass sie immer noch an derselben Stelle stand, völlig unbewegt.

»Ähm ...« Offenbar betreten senkte Aiden die Lider und sah auf die Blümchen in seinen Armen. »Ich erinner mich nicht an seinen Namen, ehrlich gesagt. Irgendein Bekannter von Tante Edith. Er hat mich in ihrem Auftrag vom Nachmittagsunterricht bei Mr Tenner abgeholt, meinte er.«

»Hm«, brummte Alston. Seine Finger zuckten Richtung Zauberstab, aber er ließ es nicht so weit kommen. Er musste keinen Legilimentik-Zauber anwenden, um zu wissen, dass sein Sohn von diesen Worten überzeugt war – und gleichzeitig zu erkennen, dass sie eine Lüge waren. »Warum pflanzt du deine Blumen nicht in Ruhe ein?«, schlug er vor. »Immerhin ist es das letzte Mal, dass du es ohne Zaubern machen musst. Das ist ein besonderer Moment. Die Arbeit muss man zelebrieren, wenigstens einmal im Leben.«

Aiden legte die Stirn in Falten. »Ich wette, ich könnte es schon mit Zauberstab. Manchmal nehme ich heimlich Onkel Hughs Stab, wenn er Mittagsschlaf hält, und verhexe die Gnome im Garten –«

»Nun, ich bin aber nicht Onkel Hugh und lasse meinen wertvollsten Besitz einfach zu deinem Vergnügen rumliegen«, erwiderte Alston streng (aber nicht zornig, niemals zornig). »Also wirst du das hier ohne Magie erledigen müssen.«

Ein Schmunzeln konnte er allerdings nicht verbergen. Selbst wenn Aiden die letzten Jahre nicht mehr bei ihm gelebt hatte, war er eindeutig sein Sohn. Als ob irgendein Ministeriumsgesetz einen Mulciber von außerschulischer Magie abhalten konnte! Er klopfte ihm auf die Schulter.

»Bald, Aiden. Bald können wir dir deinen eigenen Stab kaufen gehen. Wollen wir später vielleicht schon mal einen Blick ins Schaufenster von Ollivanders riskieren? Dann können wir auch bei Florean Fortescues nach neuen Eissorten gucken.«

Endlich lächelte sein Sohn richtig. »Oh ja!«, rief er begeistert. »Können wir auch durch die Nokturngasse gehen? Tante Edith weigert sich immer, dabei ist es so aufregend da!«

»Nun, vielleicht hat deine Tante recht, wenn sie da nicht mit dir hingeht.«

Die paar Funken Vorfreude auf einen Einkaufsbummel in der Winkelgasse zerfielen in Alstons Innerem zu Asche, als er die Enttäuschung auf Aidens Gesicht wachsen sah. (Er wollte doch nur ein guter Vater sein. Warum war das so schwer?)

»Früher hast du mich immer die Schrumpfköpfe im Schaufenster bei Borgin & Burkes sehen lassen!«, beschwerte sein Sohn sich.

»Früher hatten wir auch keinen Krieg. Was meinst du, wie es in diesen Zeiten aussieht, wenn ich als Strafverfolger mich da rumtreibe? Ganz davon ab, dass uns jemand angreifen könnte, falls es so aussieht, als würde ich eine Razzia planen. Und das willst du doch nicht, oder?«

Aiden seufzte so entnervt, wie es nur ein Kind vollbrachte, das sich schon erwachsen wähnte. (Alstons Herz seufzte mit.) »Schön. Aber ich will vier Eiskugeln!«

»Meinetwegen kannst du auch fünf haben. Mit Feueratemstreuseln. Wenn du dich traust.«

»Mhhh ... okay.« Ein freches Zucken hob Aidens Mundwinkel wieder. »Aber nur damit du es weißt – mir ist klar, dass das Bestechung ist.«

»Und deshalb funktioniert es ja auch.« Alston zwinkerte seinem Sohn zu. »Ich bin gleich wieder da, in Ordnung? Ich will nur kurz mit ... Tante Ediths Freund sprechen. Ihm sagen, dass er gehen kann.«

»Klar.« Nun wieder ganz der brave Sprössling, zu dem ihn die Longbottoms zweifellos erzogen, nickte Aiden.

Mit einem letzten, langen Blick auf Maybells Grab und den grässlichen Rosenstrauß wandte Alston sich ab. Der Weg hinauf zum Eingang des Friedhofs war nicht weit, aber einigermaßen steil. Er hasste es, die vielen kleinen Treppchen am Hang überwinden zu müssen, während dort oben jemand (er) wartete und sich wahrscheinlich an seinem Anblick vergnügte. Immerhin schaffte er es, nicht außer Atem zu sein, als er den gepflasterten Platz auf der Kuppe des Hügels betrat, der das Örtchen High Wycombe übersah und seit Jahrhunderten der Familie Mulciber eine letzte Ruhestätte war.

»Du hast Nerven«, sagte er, noch bevor er die Distanz zwischen sich und der Gestalt im dunkelgrünen Umhang überwunden hatte.

»Dasselbe kann man von dir behaupten.« Tom drehte sich nicht zu ihm, sondern blieb stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, seinen Blick in die Ferne gerichtet.

Obwohl, nein – er sah geradewegs zu Maybells Grab, vor dem nun Aiden kniete und fleißig ein Loch für seine Blumen schuf. Seine Gesichtszüge glichen nur entfernt denjenigen auf den Fahndungsplakaten, doch Alston sah das rote Funkeln in den Augen. Früher hatten sie höchstens im Dunkel der Nacht, bei Kerzenschein und in einem Moment des Zornes so ausgesehen. Heute waren sie das Einzige, was nicht einmal Lord Voldemort mit Magie kontrollieren konnte.

Alston schlenderte zu Tom hinüber und lehnte sich an die Rückenlehne der Bank neben ihm, seine Füße an den Knöcheln überschlagen. »Nett von dir, dass du gekommen bist.« (Macht. Es war eine reine Machtdemonstration.)

»Es ist immerhin das letzte Mal für deinen Jungen, dass er seine Mutter an diesem Tag besuchen kann«, erwiderte Tom ungerührt. »Nächstes Jahr um diese Zeit wird er in Hogwarts am Haustisch der Slytherins sitzen.«

Die Arme vor der Brust verschränkt, sah Alston ebenfalls hinab zu Aiden. Er musste sich wohl keine Illusionen machen, dass er einen Hufflepuff herangezogen hatte (oder gar einen Gryffindor. Höchstens einen verkappten Ravenclaw). »Hör zu, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du dich hier als Apparierservice für den Kleinen verdingt hast, aber wir wissen beide, dass du nicht deswegen da bist.«

»Selbstverständlich nicht. Aber du kannst nicht verkennen, dass es ein positiver Nebeneffekt ist, wenn ich meine Aufmerksamkeit dem Nachwuchs widmen kann.«

Toms Mundwinkel kräuselten sich zu der spöttischen Imitation eines Grinsens. Noch während sein Gesicht sich verzog, schmolzen auch seine magisch verfremdeten, aber somit herrlich menschlichen Züge wie Kerzenwachs dahin. Schon war es wirklich Tom – oder eher Voldemort –, der Alston aus dem Augenwinkel musterte.

Im Sonnenschein wirkte seine dünne Haut beinahe durchsichtig, sodass die Röte in seinen Iriden nur umso mehr hervortrat. Alston hatte schon Bilder von Vampiren gesehen, die gesünder aussahen als der Dunkle Lord. (Dabei hatte Tom einst ernsthaft gut ausgesehen. Bevor er nach Albanien gegangen war zumindest.)

»Netter Zauber«, kommentierte er die Verwandlung und hob die Augenbrauen. »Vielleicht solltest du den öfter bemühen.«

»Ich dachte, diese Oberflächlichkeiten hättest du frühzeitig hinter dir gelassen, Alston. Enttäusch mich jetzt nicht.«

Die Worte waren nur so dahingesagt, doch sie reichten, um Alston an das Gefühl zu erinnern, wenn er bei Amtsbesuchen in Askaban die Dementoren passierte. Nur, dass hier selbst ein Patronus machtlos wäre. (Wann war die Furcht nur so stark geworden?)

»Oh, mir soll es recht sein, wie du aussiehst«, gab er trotzdem grinsend zurück (wollte er sich etwas beweisen?). »Aber Halloween ist halt schon vorbei.«

»Macht ist eben nicht ansehnlich. Du weißt zu gut, dass sie das auch nicht sein muss.« Tom hielt den Blick unverwandt auf Aiden geheftet und keine Regung glitt über seine Maske von Gesicht.

»Ach, findest du Albus Dumbledore nicht absolut reizend?«, hörte Alston sich scherzen (als würde er nicht merken, welche Drohung Tom hier personifizierte).

Doch Tom war dieser halbgare Kommentar keine Erwiderung wert. Natürlich nicht.

Es war Fluch und Segen, den großen Lord Voldemort seit dem Alter von elf Jahren zu kennen. Fluch deshalb, weil Alston ihn immer noch Tom nennen wollte, obwohl der jedem die Zunge verhexte, den er auch nur bei diesem Gedanken erwischte. (Und schon stählte er seinen Gedankenschild ein wenig mehr.) Segen hingegen, weil er so immerhin ein ganz anderes Verständnis davon hatte, wer Lord Voldemort wirklich war (nämlich Tom).

Er straffte seine Schultern. Egal wie gerne er seinen alten Schulfreund weiter mit scharfzüngigen Bemerkungen herausgefordert hätte, er wusste, dass er sein Glück nicht übermäßig strapazieren sollte. Hier ging es nicht um ihn, sondern Aiden.

»Also, was kann ich für dich tun, mein überaus mächtig aussehender Freund?«, fragte er Tom in deutlich ernsterem Tonfall.

»Überleg lieber, was du für dich selber tun kannst.«

Zwischen Alstons Zähnen knirschte es, als hätte er Graberde geschluckt. »Einen Monat Urlaub fände ich nett. Und ein neues Set Zinkkessel vielleicht ...«

Er beobachtete, wie Toms Nasenflügel sich kaum merklich aufblähten. (Er war ein Meister der Körperbeherrschung – aber zu seinem Pech hatte Alstons Vater ihn früh gelehrt, jedes Zucken zu beachten.)

»... tja und es wäre wirklich nett, wenn meine Arbeit mir genug Zeit lassen würde, mich um die Anwärter aus dem äußeren Kreis zu kümmern – falls es das ist, was du meinst.«

»Nein. Lewis alleine erweist sich auch als fähig genug in den letzten Wochen. Somit ist Gideons Verlust so gut wie ausgeglichen.«

Alston zwang seine Arme aus ihrer Verschränkung und drückte stattdessen die Fingerknöchel gegen die Holzlehne der Bank, dass es schmerzte. »So gut wie ...?«

»Es fehlt immer noch jemand, der Gideons andere Aufgabe übernimmt.«

»Nun, jetzt wo es so viele junge, fleißige Anhänger gibt, die sich beweisen müssen – lass uns einen von ihnen dafür auswählen.«

Tom schüttelte genau einmal den Kopf. »Nicht alle, die mir dienen sind von gleicher Qualität.« Unerwartet drehte er sich doch um und konfrontierte Alston mit seiner vollen Aufmerksamkeit. »Und dein Potential verkümmert derweil. Wollen wir das etwa zulassen?«

Statt zu antworten, schnaubte Alston nur. Er brauchte den Moment, um seine Gedanken zu sortieren. (Früher hatte er ohne Nachdenken vor Tom sprechen können. Aber diese Zeiten waren lange vergessen. Sie waren keine Schüler mehr und in Momenten wie diesen vermisste er die Vergangenheit stärker denn je.)

»Ich glaube, du verkennst, wie wertvoll meine Position im Augenblick ist«, wandte er ein. »Ohne mich wüsste das Ministerium von jedem deiner Agenten, von der Führungsebene bis runter in die Mysteriumsabteilung. Ich halte alle Fäden in der Hand. Habe ich nicht erst neulich Beweise verschwinden lassen? Wie soll ich das tun, wenn ich mich noch anderen Dingen widmen soll?«

»Früher hättest du dich um die Chance gerissen, wieder ganze Nächte der Forschung zu widmen.« So schnell wie Tom ihn angesehen hatte, drehte er sich nun fort. »Denk nur an all die Geheimnisse, denen wir auf der Spur waren. An die vielen uralten Bücher und die Magie, welche direkt unter unseren Fingerspitzen lauerte ... War es nicht ein berauschendes Gefühl?«

Alston tat eine Menge, aber er dachte nicht daran. (Vor allem nicht an die Blutmagie.) »Wir werden diesen Krieg anders gewinnen«, sagte er, auch die letzten Spuren von bitterem Humor aus seiner Stimme verbannt. »Ich habe nicht umsonst jahrzehntelang im Ministerium gearbeitet und jede seiner Strukturen untergraben. Manchmal ist der menschliche Weg der Effektivste!«

»Und trotzdem haben wir es letztes Jahr nicht geschafft, dieses angeblich so gut ausgehöhlte Ministerium, das löchriger als ein Schweizer Käse ist, unter unsere Kontrolle zu bringen. Stattdessen hat uns archaische Magie zurückgeschlagen, wenn ich dich erinnern darf.«

Es kostete Alston jedes Fitzelchen Beherrschung, bei diesen Worten nicht zu zucken. (Sag nicht das Falsche, denk nicht einmal an die Wahrheit!, schrie es durch seinen Kopf.) »Ich musste mich am Ende gegen dich stellen, um mein Gesicht zu wahren. Aber das haben wir oft genug besprochen. Ich weiß, dass du meine Gründe kennst und verstehst.«

»Oh, ich habe nie etwas anderes behauptet.« Tom griff in seinen Umhang und zog ein winziges, schwarzes Säckchen hervor. »Aber genau deshalb müssen wir jetzt andere Wege finden, unsere Zukunft Wirklichkeit zu machen. Auch deinem Sohn zuliebe. Du willst schließlich ein guter Vater sein.«

Reglos starrte Alston auf Toms lange Finger, die das unbekannte Etwas nachdenklich abwogen.

»Geh ein Eis mit deinem Sohn essen«, sagte dieser, fast so freundlich wie der Junge von einst, mit dem er im Gemeinschaftsraum zusammengesessen hatte. »Und danach wirst du dich nach Wales begeben. Hier« – er drückte Alston das samtene Säckchen in die Hand – »du wirst es brauchen.«

Alston war, als hätte ihn ein Lähmfluch getroffen. Selbst seine Zunge schien mit einem Mal ganz schwer. Doch Tom lächelte nur wieder.

»Ich vertraue dir, Alston. Lass es mich nicht bereuen.«

»Natürlich nicht.«

(Log er? Vielleicht. Aber er würde nichts riskieren, solange Toms glutrote Augen auf Aiden ruhten.)



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