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Die Seele der Zeit

Yu-Gi-Oh! Part 6
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Und weil's beim letzten Mal so lange gedauert hat - hier gleich noch ein Kapitel als kleine Wiedergutmachung. Komplett anzeigen

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Am Abgrund - Teil I

Am Abgrund – Teil I
 

Langsam, beinahe träge, löste sich Bakura aus den Klauen Diabounds. Die große Bestie war soeben gelandet und hatte die Pranke gesenkt, um ihren Träger abzusetzen. Kaum, da er sich ein Stück weit von ihr entfernt hatte, rief er sie zurück. Ein kurzes Flackern, dann war das Monstrum wie in Bakuras Seele verschwunden.

Sein Blick wanderte dorthin, wo sich zwischen sandigen Felsen ein Weg dahin schlängelte, der plötzlich nach unten abknickte und somit aus seiner Sicht verschwand. Der Pfad, der nach Kul-Elna hineinführte. Langsam setzte er sich in Bewegung, folgte dem kaum noch erkennbaren Weg bis zu dessen höchstem Punkt. Dort angekommen, hielt er einen Moment lang inne.

Unter ihm erstreckte sich die verlassene Siedlung. Still und seit langer Zeit unberührt lag sie da. Außer einigen Sandkörnern, die der Wind aufscheuchte, bewegte sich nichts zwischen den kleinen, heruntergekommenen Hütten. Sie waren inzwischen noch verfallener, als Bakura sie in Erinnerung gehabt hatte. Einige hatten sich endgültig den Elementen ergeben müssen und waren in sich zusammengefallen, während andere weiterhin Wind und Wetter trotzten. Hier und da erklang ein gespenstisches Pfeifen, wenn eine Böe durch die Risse und Löcher in den Mauern streifte. Allmählich machte er sich daran, dem Pfad in das Dorf hinein zu folgen.

Wider aller Erwartungen war Bakura nie davor zurückgeschreckt, Kul-Elna nach der Tragödie aufzusuchen. Anfangs hatte er die Siedlung verlassen, doch es hatte nicht lange gedauert, bis ihn sein Weg wieder dorthin geführt hatte.

So wie auch diesmal …

Er hatte damals gar beschlossen, sein Lager hier aufzuschlagen. Wenn er sich nicht gerade in den Weiten der Wüste oder den Straßen von Men-nefer herumtrieb, war er zumeist hier anzutreffen gewesen. Damals war es hier nicht so still, so verlassen gewesen wie heute. Die Seelen der Verdammten waren umhergestreift, hatten diesen Ort heimgesucht und zu Bakura geflüstert. Nun jedoch war Kul-Elna endgültig seinem Schicksal erlegen. Es war tot, ebenso, wie die meisten seiner Bewohner. Und dennoch schien die Geschichte des Dorfes noch immer nicht an ihrem Ende angelangt zu sein.

Der Grabräuber hielt inne und sah sich um. Er kannte jeden Winkel, jedes Fleckchen dieser Siedlung auswendig. Doch auf Anhieb wollte ihm kein Ort einfallen, an dem ein göttliches Relikt so gut versteckt sein könnte, dass es ihm bislang nie aufgefallen wäre. In all den Jahren, die er hier zugebracht hatte, hätte ihm etwas ins Auge stechen müssen, irgendeine Auffälligkeit, die nun Sinn ergab.

„Wenn ich ein Artefakt verbergen müsste … wo würde ich es tun?“, murmelte er.

Doch so lange er auch überlegte, ihm fiel kein bestimmter Platz ein. Die Kammer, in welcher die Milleniumsgegenstände ihren Ursprung hatten, schloss er aus. Wäre ein göttliches Relikt so nah bei anderen ebenfalls mächtigen Artefakten gewesen, es wäre aufgefallen – wenn nicht ihm, dann Zorc. Er konnte nur hoffen, dass er damit richtig lag. Nachdem der unterirdische Komplex durch die Kämpfe, die hier stattgefunden hatten, beschädigt worden war, würde es Tage dauern, in den Trümmern ein Relikt zu finden – selbst für Diabound.

Aber was blieb dann noch? Außer der besagten Kammer hatte es in Kul-Elna keine besonderen Einrichtungen gegeben. Hütte hatte sich an Hütte gereiht. Das war es. Theoretisch konnte das Relikt überall und nirgendwo sein.

Er fuhr sich durch die Haare. Gleich, wie lange er hier herumstand und grübelte, er kam nicht um eine banale Begehung des Dorfes herum, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Vielleicht gab es doch die eine oder andere auffällige Stelle, die ihm gerade nur nicht in den Sinn kommen wollte. Zügig machte er sich an die Arbeit.
 

Keiro!

Die Klinge kam wenige Finger breit vor der Stelle auf Rishas Haut zum Stehen, unter der sich ihr Herz verbarg. Der alarmierte Ton im Gedankenruf der Ka-Bestie hatte ihn innehalten lassen, kurz bevor er sein selbstauferlegtes Werk verrichten konnte.

Was ist?

Dort draußen ist jemand …

Das Monstrum, das bislang lauernd, beobachtend in der Ecke gehockt war, richtete sich auf, stellte die großen Ohren nach vorne und witterte. Keiro legte die Stirn in Falten.

Du kennst diesen Geruch. Es war keine Frage.

Der Zerberus grollte. Bakura …

Sein Träger ließ den Dolch sinken, umklammerte ihn jedoch weiterhin so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Verdammter Mist … was will er hier?

Mit seinem Auftauchen drohte sein Bruder, den ganzen Plan zu torpedieren. Er konnte Risha nicht töten, wenn er hier herumschnüffelte. Sein Ziel war es, sie ohne eine Spur verschwinden zu lassen. Sie hatte sich, ehe er sie gefangen hatte, eigenwillig von der Gruppe abgesetzt und war verschwunden – das gedachte er zu seinem Vorteil zu nutzen. Wenn er jetzt keinen noch so kleinen Hinweis auf ihr Ableben hinterließ, dann würde man denken, sie sei einfach untergetaucht, habe vielleicht gar das Land verlassen. Das wäre das Beste für alle. Er würde sich nicht mit den Schattentänzern anlegen müssen und vermied einen eventuellen Konflikt mit seinem Bruder. Aber dazu brauchte er mehr Zeit. Er musste eventuelle Rückstände beseitigen, ihren Leichnam fortschaffen. Er hatte geglaubt, dass Kul-Elna – von seiner Geschichtsträchtigkeit einmal abgesehen – der perfekte Ort für sein Unterfangen war. Kaum jemand kam hier her – außer Bakura vielleicht und mit diesem hatte er beim besten Willen nicht gerechnet.

Komm, gab er einen stummen Befehl an seine Ka-Bestie, die sich in seine Seele zurückzog. Er griff nach einem Lumpen, der am Boden lag und stopfte ihn der noch vollkommen verstörten Risha in den Mund. Mit einem Tuch zurrte er ihn fest, sodass sie ihn nicht ausspucken konnte. Wir müssen sehen, ob sich diese unerfreuliche Wendung gerade biegen lässt.

Mit entschlossenen Schritten ging er dem Ausgang des ehemaligen Vorratskellers entgegen. Er würde sein Möglichtest tun, um seine eigenes Fleisch und Blut aus dieser Sache herauszuhalten. Bakura war sein Bruder. Aber auch diese Liebe hatte inzwischen ihre Grenzen. Es ging nicht mehr nur um ihn und sein Wohlergehen. Die Erkenntnisse, die Keiro seit dem Erlebnis in der Wüste gewonnen hatte, waren beunruhigend. Risha stellte nicht nur eine Gefahr für das dar, was von seiner Familie übrig war, sondern für alle, auf die sie traf. Er musste dem Einhalt gebieten, ehe es zu spät war. Sollte Bakura sich ihm dabei in den Weg stellen, nun …

Es gab schönere Szenarien.
 

Gebannt starrten sie alle zu dem Punkt in der Wüste, an welchem Caesian sein Heer hatte anhalten lassen. Inzwischen befand er sich im unmittelbaren Umkreis der Stadt, lediglich einige hundert Schritt von ihnen entfernt. Es war soweit. Das feindliche Heer war einer schwarzen Welle gleich an seinem Ziel angelangt, bereit, alles, was in seinem Weg stand, zu vernichten. Sie nahmen die gesamte, umliegende Dünenkette ein, es gab keinem Fleck, an welchem nicht ein Mann stand.

„Ich wünschte, Risha wäre hier …“, hörte Riell Samira murmeln, die sich neben ihm befand.

Er legte ihr aufmunternd eine Hand auf die Schulter. „Sobald das hier vorüber ist, werden wir sie suchen. Versprochen.“

Die kleine Schattentänzerin sah ihn nicht an, nickte jedoch. Der Ältere konnte nicht leugnen, dass es ihm ähnlich ging, wie dem kleinen Clanmitglied. Seine Schwester wäre besser geeignet gewesen, die Truppen zu führen. Es lag ihr mehr im Blut als ihm. Schon des Öfteren hatten sie es so gemacht, dass sich Risha um die Organisation der kampffähigen Schattentänzer kümmerte, während Riell die allgemeine Strukturierung des Clans leitete. Doch sie war nicht hier. Er würde an die Stelle treten müssen, die er ansonsten nur zu gerne abgegeben hatte.

Wo auch immer du bist … jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um hier zu erscheinen.

Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Bedrohung vor sich zu richten. Caesians Heer war trotzdem sie nicht mehr marschierten weiterhin in Bewegung. Menschen liefen durcheinander, positionierten sich neu.

„Er lässt sie in Stellung bringen“, stellte Seto fest.

Atemu nickte zustimmend. „Es scheint so, als würde er diesmal auf ein vorgeschobenes Friedensangebot verzichten.“

„Gut. Je weniger Worte wir aus dem Mund dieses Kerls ertragen müssen, desto besser“, befand sein Vetter.

„Eben. Da kommt eh nichts Anständiges bei raus“, stimmte Joey zu.

„Eine andere Frage bleibt aber: Wo ist er? Ich sehe ihn nirgends“, gab Riell schließlich zu bedenken, dessen Blick suchend über die schier endlos wirkenden Reihen von Feinden wanderte, die allmählich Formation annahmen. Das Gewusel legte sich allmählich.

„Die feige Sau versteckt sich wahrscheinlich“, mutmaßte Tristan.

„Das würde nicht zu ihm passen. Er war bislang immer an vorderster Front dabei, wenn wir ihm begegnet sind“, entgegnete Mana.

„Ich stimme ihr zu“, äußerte Atemu. „Und da ist er auch.“

Tatsächlich tat sich wie auf Geheiß eine Schneise zwischen den Reihen von Soldaten auf, die geradewegs durch die Mitte des Heeres verlief. Diesen Weg kam Caesian entlang geritten, gemächlich, als befände er sich auf einem erholsamen Ausritt. Dass dem nicht so war verriet jedoch sogleich die schwarze Rüstung mit goldenen Ornamenten, die er angelegt hatte. Ein Umhang von gleicher Farbkombination, besetzt mit Stickereien, wehte ebenso wie seine langen, dunklen Haare im Wind. Ein Schwert war um seine Hüfte gegurtet, die andere trug das Zepter des Gottes Seth.

„Und schon mit einem Relikt im Anschlag … verdammter Mist“, murmelte Duke.

Er fasste nach der Scheide seiner eigenen Waffe, ganz so, als wolle er prüfen, ob sie noch da war. Wie allen anderen, die in Schlacht zogen, hatte man auch Yugi und seinen Freunden leichte Rüstungen und Waffen verschafft. Es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass sie in eine direkte Konfrontation mit dem Feind gerieten, in welcher sie sich nicht auf den Beistand ihrer Ka-Bestien verlassen konnten.

Anfangs waren sie zögerlich gewesen. Die ungewohnten Rüstungsteile schränkten an manchen Stellen ihre Bewegungsfreiheit ein. Zudem hatte keiner von ihnen Erfahrung im Umgang mit Waffen. Ryou hatte sie jedoch schließlich beruhigen können, was das anging: Langatmige Kämpfe mit zahlreichen Schlagabtäuschen, wie man sie aus Hollywood kannte, entsprangen lediglich der Fantasie von Regisseuren. Die Forschung war sich in ihrem Jahrhundert weitgehend einig, dass die meisten Auseinandersetzungen mit Schwertern, Äxten und anderen Waffen nur einige Sekunden gedauert hatten. Man schlug zu und hoffte darauf, dass der Gegner die Attacke nicht abwehren oder ihr ausweichen konnte. Und wenn man traf, dann meistens mit bösen Folgen, dafür brauchte eine Klinge noch nicht einmal scharf sein. Ihr Gewicht und die Geschwindigkeit, mit der sie heransauste, stellten oftmals eine ebenso verheerende Kombination verschiedener Faktoren dar.

Die Einzige, die keine Rüstung und auch keine größere Waffe als einen Langdolch mit sich führte, war Samira. Es gab einfach keine Rüstungsplatten in ihrer Körpergröße, zudem brachte sie noch nicht die Körperkraft auf, derer es bedurfte, ein Schwert zu führen. Im Zweifel würde sie sich auf Kiarnas Schulter zurückziehen und dort ausharren müssen.

Caesian erreichte die Front und verharrte einen Moment lang mit Blick auf die Stadt, als würde er sie mustern. Dann gab er seinen umstehenden Feldherren ein Zeichen, woraufhin sich diese über die gesamte Breite des Heeres verteilten. Er selbst begann langsam vor seinen Truppen dahin zu reiten. Der Wind trug seine Stimme als undefinierte Fetzen zu ihnen herüber.

„Er adressiert die Truppen“, stellte Seto fest.

„Ja, sieht aus, als fackelt er diesmal wirklich nicht lange“, ergänzte Tristan.

Der Hohepriester zog kurz eine Augenbraue ob der für ihn eigenartigen Formulierung in die Höhe, dann wandte er sich ab. „Bogenschützen in Bereitschaft!“, rief er der genannten Gruppe zu, welche daraufhin Pfeile an die Sehnen ihrer Schusswaffen legten. Einige von ihnen positionierten sich vor aufgestellten Fackeln, um den ausgegossenen Teer vor den Mauern auf Geheiß hin entzünden zu können.

„Damit beginnt es also …“, murmelte Mana, während sie unterbewusst ihrem Stab fester umklammerte.

Atemu nickte stumm. Jetzt würde sich zeigen, ob sich ihre Vorbereitungen, all die Strapazen und Verluste, die sie in der vergangenen Zeit erlitten hatten, auszahlen würden.

Resham, Kipino … all die Soldaten unseres Landes … das ist für euch, schoss es Atemu durch den Kopf. Eure Tode werden nicht ungesühnt bleiben.

Gebannt beobachtete er Caesian, wartete darauf, dass er seine Ansprache beendete und das Signal zum Angriff gab. Doch es kam nicht. Mehrmals wurden laute, zustimmende Rufe auf den feindlichen Reihen laut, Waffen wurden gen Himmel gereckt, doch mehr geschah nicht. Auch, als der Tyrann sich von den Seinen abwandte und den Blick wieder gen Theben richtete, tat sich für eine ganze, bange Weile nichts.

Nach einer gefühlten Ewigkeit dann schälte sich ein berittener Soldat aus dem Heer und kam zu Caesian hinüber. Auf dem Arm trug er allem Anschein nach einen Vogel, welchen er an seinen Herren übergab. Der behielt das Tier einen Moment lang bei sich, ehe er es davonscheuchte. Es kreiste einmal, dann hielt er direkt auf Theben zu. Augenblicklich spannten die Bogenschützen auf den Mauern die Sehnen.

„Was hat das nun wieder zu bedeuten? Soll das ein Angriff sein?“, wunderte sich Riell laut.

Doch Mana schüttelte den Kopf, ihren Stab erhoben, der am vorderen Ende leicht glühte. „Es scheint ein gewöhnliches Tier zu sein. Es geht nichts von ihm aus, das auf einen Ka oder Magie hindeuten würde.“

Verdutzt beobachteten sie, wie der Vogel – ein Falke – sich zügig näherte und schließlich auf der Stadtmauer, nur wenige Schritte von Atemu entfernt, landete. An seinem Bein befand sich ein zusammengerolltes Stück Papyrus.

„Du bist sicher, dass es kein Trick ist?“, erkundigte sich der Pharao an die Hofmagierin gewandt, die bestätigend nickte. Dann näherte er sich dem Tier, welches sich die Botschaft bereitwillig abnehmen ließ, ehe es wieder davonflog. Er konnte die angespannten Blicke der Anderen auf sich spüren, als er den Zettel aufrollte. Schließlich lag die Nachricht ausgebreitet zwischen seinen Fingern.
 

All die Umstände, die du mir beschert hast, sollen nicht unvergolten bleiben. Deshalb sollst du durch die Hand derer sterben, die du zu beschützen versucht hast.
 

Seto, der herüber gekommen war und den Text ebenfalls gelesen hatte, ballte die Fäuste. „Wir haben Verräter in unseren Reihen? Mana!“

Die Hofmagierin brauchte nicht zweimal aufgefordert zu werden. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Erneut begann ihr Stab zu glimmen. Nach einigen Wimpernschlägen schüttelte sie den Kopf. „Nein, da ist nichts. Es befindet sich, von Caesians Truppen einmal angesehen, niemand in unmittelbarer Nähe, dessen Intentionen falsch sind.“

„Aber was soll die Nachricht dann bedeuten?“, warf Yugi in die Runde.

„Was, wenn sich die desertierten Soldaten ihm angeschlossen haben?“, mutmaßte Marik.

„Nein, die waren schon viel zu weit im Süden. Bis jetzt hätten sie es niemals hierher zurück geschafft, zumal die meisten von ihnen ohne Pferde reisten“, widersprach Samira.

„Vielleicht will er einfach nur Verwirrung streuen“, überlegte Ryou. „Uns glauben lassen, dass da noch etwas ist, auf das wir achten müssen.“

„Das glaube ich nicht“, entgegnete Yugi. „Caesian ist hinterlistig und grausam, aber eines hat er bislang noch nie getan: gelogen. Im Gegenteil, er hat uns immer sehr direkt gesagt, was er vorhat. In seiner Welt ist es für ihn absolut sicher, dass er Ägypten einnehmen wird, weswegen er seine Ziele nie verschleiert hat.“

„Damit hat er Recht. Aber was soll das Ganze dann?“, stimmte Riell zu.

„Leute, seht mal. Da tut sich was.“

Mariks Stimme ließ sie alle wieder den Blick auf die feindliche Armee richten. Diese hatte ihre Aufstellung abermals leicht verändert. Hier und da hatten sich zwischen den Reihen Wege aufgetan, durch welche Truppen aus dem hinteren Teil des Heeres nach vorne wechselten. Als die ersten von ihnen an die Front kamen, legte Marlic die Stirn in Falten. „Was soll das denn? Die sind weder gerüstet noch bewaffnet.“

Mehr und mehr Menschen stellten sich in vorderster Reihe auf – einige von ihnen bedeutend kleiner als die anderen.

„Was, bei Horus, geht da drüben vor sich?“, machte auch Seto seiner Verwirrung Luft.

Atemu verstand ebenso wenig, was das sollte. Gedankenverloren rieb er mit dem Daumen über den Papyrusfetzen in seiner Hand – bis er spürte, dass er unter dem Druck nachgab. Überrasch blickte er nach unten und erkannte, dass sich hinter der ersten Schicht der Mitteilung noch eine zweite befand. Auch auf dieser stand etwas geschrieben.
 

Vermisst du zufällig die Zivilisten, die du aus Theben weggeschickt hast?
 

Atemus Augen weiteten sich, sein Magen überschlug sich. Ruckartig fuhr er herum und trat näher an die Außenwand der Mauer heran, um besser sehen zu können. Seine Fingernägel schabten über den Sandstein, als er die Hände zu Fäusten ballte, die unkontrollierbar zitterten.

Nein … ihr Götter, bitte nicht!

„Atemu? Atemu, was ist?“

Die besorgte Stimme Yugis nahm er kaum wahr. Wortlos reichte er den zweiten Papyrus an Seto und Riell weiter, die ihn ebenfalls beunruhigt musterten. Der Hohepriester überflog ihn als erstes, mehrmals, bis ihm das ganze Ausmaß dieser einen Zeile bewusst wurde. Langsam wanderten seine Augen zurück zu Caesians Heer, ehe er die Finger so fest in seine Handflächen presste, dass das Blut daraus hervortrat. „Dieses dreckige Schwein!“, schrie er, während er Riell die Nachricht an die Brust drückte.

„Was zum Geier ist denn los? Klärt uns vielleicht mal einer auf?“, verschaffte sich Joey schließlich lautstark Gehör.

Der Schattentänzer war es schließlich, der ihm antwortete. „Es scheint, als handle es sich bei diesen Menschen dort um unsere Zivilisten …“ Er schluckte. „Die, die wir zur Sicherheit fort geschickt haben.“

„Was bitte?“, rief Tristan aus, während Tea sich eine Hand vor den Mund schlug. Mana indes schüttelt geistesabwesend den Kopf, den Tränen nahe.

„Was … was soll das? Was verspricht er sich davon? Da sind Kinder unter ihnen!“, brachte sie schließlich hervor.

„Das, was er geschrieben hat. Er will den Pharao durch seine eigenen Leute umbringen“, schlussfolgerte Marlic und biss sich auf die Unterlippe. „Das wird keine Auseinandersetzung in einem Krieg, das wird ein Schlachtfest. Entweder wir töten die eigenen Leute oder wir kommen nicht an ihn ran. Mistkerl.“

Seto war indes noch immer in Rage. „Wie? Bei den Göttern, wie? Womit hat er ihnen gedroht, dass sie sich ihm ergeben haben? Es muss schlimmer sein als der Tod, wenn sie sich bereitwillig an die vorderste Front stellen lassen!“

„Er hat ihnen nicht gedroht. Seht.“

Atemus Stimme war tonlos, als er ihnen bedeutete, zu Caesian hinüber zu schauen. Von diesem ging ein gelegentliches Aufblitzen aus. Er schwenkte irgendetwas zwischen seinen Fingern hin und her, das an einem Band um seinen Hals lag und die Sonne reflektierte.

Riells Knie wurden weich.

„Das Amulett der Bastet …“
 

Beobachtend, beinahe lauernd ruhten die Augen der göttlichen Wesenheit auf der spiegelglatten Oberfläche, durch welche sie zu sehen vermochte, was dort, im Reich der Menschen vor sich ging. Ein Seufzen, einem Grollen gleich, entwich der Kehle der pechschwarzen Löwin.

„Wer hätte gedacht, dass es dein Relikt sein würde, das die Waagschale noch einmal zum Kippen bringt – Schwester?“

Aus den ewigen Schatten der heiligen Sphäre schälte sich langsam ein weiterer Tierkörper – der einer Katze. Ihre Tatzen, deutlich kleiner als die Sachmets, verursachten kein Geräusch, als sie sich bewegte, ebenso wenig wie der zahlreiche Goldschmuck, den sie trug. Ihr Fell hatte die gleiche Farbe wie das der anderen Gottheit, auch in der Größe ihrer Erscheinungsform stand sie der Löwin in nichts nach. Die goldfarbenen Augen blickten erschöpft drein. Sie richtete sie auf das, was sich in Ägypten zutrug. Der schlanke Schweif zuckte bei den Bildern unruhig.

„Ich hatte darauf gehofft, dass es eine Erschütterung der Sphären sei, die ich spürte. Es scheint, als sei dem nicht so gewesen“, sagte sie schließlich.

Sachmet schnaubte. „Hoffnung ist etwas für Sterbliche, Bastet.“

„Du scheinst zu vergessen, dass wir genau das sind, solange unsere Relikte in den Händen dieser dunklen Seele sind.“

Die Blicke der beiden trafen sich.

„Auch, wenn es nicht sein Ziel sein mag – wenn ihm niemand Einhalt gebietet, wird er uns töten, so wie er es mit Sokar getan hat. Es ist nur eine Frage der Zeit.“

Die Löwin grollte erneut. „Widerwärtiger Schweinepriester …“

Bastet musterte sie noch einen Moment lang, dann ließ sie sich neben der anderen Göttin nieder. „Denkst du, es kann dem Pharao gelingen?“

„Besser wäre es für ihn. Sollte er Caesian weiterhin walten lassen und alles, was wir kennen, somit ohnehin verdammt sein, werde ich nicht zögern, ihn den Preis für seine Unverschämtheit einer Göttin gegenüber zahlen zu lassen. Die direkte Tötung eines Sterblichen durch mich würde dann auch keine Rolle mehr spielen. Die Menschen haben ihren Platz vergessen, Schwester. Was sind wir noch für sie? Sie mögen uns opfern, uns preisen. Doch sie fürchten uns nicht mehr. Stattdessen suhlen sie sich in der eigenen Arroganz, schimpfen sich Könige. Dabei sind die einzig wahren Herrscher, die es je gegeben hat, wir. Ohne unser Wohlwollen wäre Ägypten längst verrottet.“

„Und doch sind es wir, die nun ihrer Hilfe bedürfen.“

Als Sachmet den Kopf umwandte, fixierte sie die Andere bereits eindringlich.

„Nicht wir sind es, die sie vor dieser Bedrohung schützen. Im Gegenteil, sie schützen sich selbst – vor unseren Dämonen, die wir nicht zu bändigen vermochten.“

Die Löwin schnaubte abermals. „Ist dem so?“

„Das ist es. Wir waren feige und unfähig. Anstatt uns dem zu stellen, was wir zu entfesseln im Stande waren, den schwierigen Pfad zu gehen, haben wir es uns leicht gemacht und jene, die wir einst hervorbrachten, einer mächtigen Bedrohung ausgesetzt. Wir haben damals keine Lösung für das Problem gefunden, wir haben es lediglich verscharrt in der Hoffnung, nicht noch einmal darüber zu stolpern. Wir haben vollkommen fahrlässig gehandelt und sie müssen nun ebenso dafür büßen wie wir, die eigentlichen Schuldigen. Wenn sie sich für etwas Besseres halten, nicht mehr auf unseren Beistand vertrauen, so ist dies nur verständlich. Zumal der Pharao mit seiner Unverschämtheit, wie du es nennst, nicht ganz falsch gelegen zu haben scheint.“

Sachmet musste nicht fragen, um zu wissen, was sie meinte. Ihr Blick wanderte zu dem zweiten spiegelgleichen Gebilde hinüber, das sich in unmittelbarer Nähe zum ersten befand. Auf diesem zeigte sich jedoch nicht Theben, sondern ein altes, verlassenes Dorf in Mitten der Wüste. Kul-Elna.

„Unsinn. Sie jagen mein Relikt, Bastet. Gewiss interessiert mich, ob sie in der Lage sind, es zu finden.“

Die Katze beobachtete sie einen Moment lang, dann erhob sie sich mit einer Bewegung, die an ein Schulterzucken erinnerte. „Ich habe nie verstanden, was in dir vor sich geht, Schwester. Deshalb werde ich mir ersparen, dich auszufragen. Aber was auch immer es ist, das du mit diesen Seelen planst …“

Sie sah noch einmal zu dem Abbild Kul-Elnas hinüber.

„… sie haben genug gelitten.“

Damit verschwand sie in den Schatten und ließ Sachmet alleine mit ihren Gedanken zurück.
 

„Wo zum Teufel hat er das verdammte Ding her? Argh, das darf nicht wahr sein! Jedes Mal, wenn es aussieht, als hätten wir auch nur eine winzige Chance, taucht der Kerl plötzlich mit einem weiteren von den Teilen auf!“ Joey fuhr sich vollkommen entnervt durch die Haare. „Das gibt’s doch einfach nicht!“

„Keiro hatte das Relikt zuletzt …“, knurrte Riell und biss sich beinahe die Unterlippe blutig. „Dieser Abschaum … wenn ich ihn in die Finger kriege … Wahrscheinlich hat er sich mit dem Artefakt freies Geleit erkauft und sich aus dem Staub gemacht, während wir hier um unser Leben kämpfen!“

„Die Frage, woher er es hat, können wir später noch klären. Wichtiger wäre zu wissen, wozu dieses Relikt in der Lage ist“, warf Atemu ein. „Was weißt du darüber?“

„Nicht viel mehr, als über die anderen. Das meiste sind Legenden. In Bezug auf Bastets Amulett heißt es, es wäre geeignet, die Herzen und Gemüter der Menschen zu manipulieren.“

„Womit geklärt wäre, wie er sie dazu bewegt hat, sich ihm anzuschließen. Das Relikt verleitet sie dazu, ihm aus freien Stücken zu folgen“, schlussfolgerte Yugi.

„Und sie werden ihm nicht nur folgen“, fuhr Riell fort. „Es steht zu befürchten, dass sie alles tun werden, was er von ihnen verlangt.“

„Wirklich alles?“, hakte Tristan nach.

„Das bedeutet, sie würden uns auch angreifen?“, fügte Ryou hinzu.

„Beispielsweise. Sie würden vermutlich aber auch über glühende Kohlen laufen oder schlimmeres, sollte er es von ihnen verlangen. Sie sind ihm vollkommen gefügig.“

„Passiert das mit jedem, auf den er das Artefakt richtet?“, sprach Tea schließlich die Frage aus, die ihnen allen auf der Zunge lag.

Riell sah sie nicht an. „Höchstwahrscheinlich … die Schriften erwähnen, dass die Stimme des Trägers dazu gehört werden müsse. Stimmt das, bedeutet es, dass er uns auf diese Entfernung – vorerst – nichts anhaben kann. Das wird sich jedoch ändern, wenn er beschließt, die Stadt zu stürmen“, antwortete er leise.

„Vergiss es – mich kontrolliert niemand“, proklamierte Marlic. „Soll er’s doch versuchen! Er wird schon sehen, was er davon hat.“

„Ob du es glaubst oder nicht, auch du bist wahrscheinlich nicht vor diesem Effekt sicher“, kommentierte seine bessere Hälfte trocken.

„Was zu beweisen wäre.“

„Können wir uns nichts einfach die Ohren zuhalten?“, schlug Joey vor.

„So funktioniert das nicht, befürchte ich …“

„Leute, ganz ruhig! Riell, gibt es irgendeine Möglichkeit, diese Auswirkungen abzuwehren oder gar zu unterbinden? Mana, fällt dir vielleicht ein Zauber ein?“, versuchte sich Atemu an einer Lösung.

Noch ehe die Hofmagierin jedoch etwas sagen konnte, ergriff bereits wieder der Schattentänzer das Wort. „Magie wird hierbei nicht behilflich sein. Wir sehen uns mit überirdischen Mächten konfrontiert, Majestät.“ Er kaute erneut auf seiner Unterlippe, die allmählich anschwoll. „Es gäbe eine einzige Möglichkeit … aber sie ist riskant.“

„Und die wäre?“, hakte Seto ungeduldig nach.

„Der Reif der Isis.“

Betretenes Schweigen folgte.

„Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, die Relikte aus dem Spiel zu lassen“, entgegnete Mana verwirrt.

„Das haben wir. Aber der Reif wäre unsere einzige Chance. Isis hat vor allem eine Funktion als Schutzgöttin. Wenn irgendetwas die direkten Auswirkungen von Bastets Artefakt von uns abhalten kann, dann ist es ihr Gegenstand.“

Niemand sonst wagte etwas zu sagen. Seto war es schließlich, der sich nach einer gefühlten Ewigkeit an Atemu wandte, der den Blick auf das feindliche Heer gerichtet hatte.

„Majestät? Was meint Ihr?“

Atemus Augen glitten über die unzähligen Reihen von unschuldigen Menschen, die Caesian wie lebendige Schilde vor sich aufgestellt hatte. Er schloss die Lider, fuhr sich durch die Haare. Diese Entscheidung war keine leichte, doch er musste sie treffen.

„Wenn wir es nicht tun, haben wir bereits verloren. Wir müssten sie alle töten, um überhaupt an seine Truppen heranzukommen – etwas, das ich mich weigere zu tun. Und ehe wir ihn erreicht hätten, hätte er uns ohnehin längst der Macht des Relikts unterworfen. Harren wir hingegen hier aus, braucht er nur zu uns kommen, den Gegenstand zu nutzen und er erhält Theben auf dem Silbertablett, nur um uns alle zu versklaven oder zu töten. Es scheint keinen anderen Ausweg zu geben, weshalb wir diesen gehen müssen, so gefährlich er auch sein mag. Wenn wir überhaupt noch eine Chance haben wollen, ihm das Handwerk zu legen, dann müssen wir Gebrauch vom Reif der Isis machen und das Risiko eingehen, dieser Sphäre Schaden zuzufügen. Ansonsten existiert sie bald vielleicht gar nicht mehr.“ Er wandte sich an Yugi. „Es tut mir leid, dass ich dich schon wieder um etwas bitten muss …“

Ehe er jedoch enden konnte, nickte der Angesprochene bereits. „Ist in Ordnung. Ich gehe den Reif holen.“

„Und Sam wird dich begleiten“, warf Riell ein. „Sie wird gegenüber den Wachen meines Clans bestätigen, dass alles mit rechten Dingen zugeht.“

„Worauf warten wir dann noch? Lass uns gehen!“

Schon wuselte die Rothaarige an ihm vorbei und die Stufen der Mauer hinab. Ehe Yugi ihr folgte, warf er noch einmal einen letzten Blick in die Runde. „Passt auf euch auf, bis ich zurück bin.“

Dann verschwand auch er. Atemus Blick wanderte ein weiteres Mal dorthin, wo der Feind lauerte, einem Raubtier gleich. Das Dröhnen eines Horns erklang. Jeden Moment würde der Befehl zum Angriff erfolgen.

Das wirst du tausendfach büßen, Caesian …



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Seelendieb
2016-10-17T04:42:21+00:00 17.10.2016 06:42
<3

Toll! Wunderschön... *_____________*
Antwort von:  Sechmet
17.10.2016 19:41
Vielen lieben Dank! :)
Von:  Rowanna
2016-10-16T23:06:03+00:00 17.10.2016 01:06
Juhu! Gleich noch ein Kapitel! Und das Amulett der Sechmet versteht es wirklich, die Spannung auf die Spitze zu treiben. In Spannungsaufbau bist du wirklich große klasse. Gerade wenn man glaubt, dass es für unsere Freunde einen Lichtblick gibt, lässt du Cesarian so erstarken, dass ich mich wieder frage, wie um Himmels willen Atemu und Co das wieder richten sollen - und gebannt weiter lese.

Ich hoffe, dass es Bakura gelingt, Keiro von seinem Fluch zu erlösen und die drei nochmal das Dream-Team von einst werden der Kreis sich schließt und ihre Seelen heilen. Aber wie auch immer es kommt, ich freue mich auf das nächste Kapitel und wünsche dir ansonsten ein gutes Vorankommen mit deiner Master-Arbeit.
Antwort von:  Sechmet
17.10.2016 19:43
Hey Rowanna,

freut mich, dass Dir auch dieses Kapitel gefallen hat - und danke für das Lob!
Mal sehen, wie es mit den Dreien weitergeht ... meine Pläne habe ich natürlich, aber es wäre ja langweilig, würde ich Dir jetzt schon sagen, worauf sie hinauslaufen. :)

Liebe Grüße!
Sech


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