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Stolen Dreams Ⅳ

von

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16. Kapitel

„In fünf Minuten sind wir da.“

Misha wusste weder, was er darauf erwidern sollte, noch ob Artjom überhaupt eine Antwort erwartete. Der Russe hatte sich seit dem Stau zusammengerissen und seine verdammten Finger von dem armen Jungen gelassen, der dafür, dass er endlich mal seine Ruhe hatte, unglaublich dankbar war.

Misha war todmüde und so erschöpft, als wäre er die ganze Fahrt über neben dem Auto hergelaufen, aber die Angst, dass Artjom seine Hände nicht bei sich lassen konnte, hinderte ihn am Einschlafen. Außerdem hatte er Hunger, Durst und Schmerzen und trotz Artjoms Jacke war ihm kalt.

Der Russe steuerte auf eine Kreuzung zu, die wie ein Pluszeichen geformt war. Zwar schien weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sein, aber weil die Ampel ihr rotes Licht zeigte und er kein Risiko liebender Vollidiot war, hielt er vor der Haltelinie.

Wie es aussah, hatte der Schnee, der in Sankt Petersburg jede freie Oberfläche bedeckte, Moskau und dessen Umgebung noch nicht erreicht. Trotzdem war es unangenehm kalt und Misha zitterte vor Kälte. Alles, was er sich wünschte, war ein warmes Bad, eine leckere Mahlzeit, ein starkes Schmerzmittel und irgendetwas, das Artjom ans andere Ende der Welt befördern würde.
 

Misha zuckte erschrocken zusammen, als etwas Festes mit weicher Oberfläche ohne Vorwarnung seine Wange streifte. Es war Artjoms Handrücken, was ihn eigentlich nicht wundern sollte. Dieses kranke Schwein nutzte jede Gelegenheit, die es kriegen konnte, um seine gierigen Hände nach Misha auszustrecken, der Artjoms Hand am liebsten weggeschlagen hätte. Nicht nur das – er würde dem Russen gerne den Arm brechen, ihn anschreien und aus dem Auto werfen.

„Wie geht es dir?“, fragte der Ältere und bemerkte gar nicht, dass die Ampel gerade grün wurde.

Was ist das für eine Frage? Davon abgesehen, dass ich kurz davor bin, das Bewusstsein zu verlieren, geht es mir blendend.

„Hey.“ Artjom legte seine Hand unter Mishas Kinn und wollte den Jungen somit zwingen, ihn anzusehen, aber der Kleine starrte so krampfhaft zur Seite, als würde ein Blick in Artjoms grüne Augen ihn umbringen.

Der Größere sah ein, dass es sinnlos war, und ließ von Misha ab, der sich sofort gegen die Autotür presste, um einen möglichst großen Abstand zu dem unkontrollierbaren Monster zu gewinnen.

Die Ampel wurde wieder rot.
 

„Du hättest mir ruhig sagen können, dass du Russisch sprichst“, wechselte Artjom das Thema und schaltete auf seine Muttersprache um. „Hätte mir erspart, unsere ganzen Gespräche übersetzen zu müssen.“

Von Misha kam immer noch keine Antwort. Er saß einfach nur da, schaute zu seinen Füßen und zitterte leicht.

Artjom gab auf und sah zur Ampel, die in genau diesem Moment auf grün umsprang. Er trat aufs Gaspedal und hatte schon fast die Mitte der Kreuzung erreicht, als plötzlich wie aus dem Nichts ein anderes Auto von der rechten Straße kam. Dass mit dem fremden Fahrzeug etwas nicht stimmte, war schon auf dem ersten Blick zu erkennen: Erstens fuhr es viel zu schnell, zweitens schwankte es auf der leeren Straße hin und her, was vermuten ließ, dass der Fahrer betrunken war, und drittens schenkte es der roten Ampel auf seiner Bahn keine Beachtung.

Glücklicherweise konnte Artjom das Schlimmste verhindern. Er beschleunigte sein Auto und überquerte gerade noch rechtzeitig die Straße – nur eine Haaresbreite von seinem Heck entfernt schoss der andere Wagen vorbei.

Wer auch immer der Fahrer war, er schien erkannt zu haben, dass es beinahe einen Unfall gegeben hätte. Nachdem er fast mit Artjoms Auto kollidiert wäre, machte er einen großen Schlenker und krachte seitlich gegen die Ampel.
 

„Was für ein Penner“, knurrte Artjom, während er anhielt und halb auf dem Bürgersteig parkte. Er stieg aus, ging auf den anderen Fahrer zu, der gerade lallend die Tür öffnete und von seinem Sitz fiel, und packte den Kerl am Kragen. „Hör mir zu, Arschloch. Dass du mein Auto ruinierst, den Schaden übernehmen musst und dich damit in Schulden stürzt, die du niemals abbezahlen können wirst, ist eine Sache, aber dass du einen bestimmten Jungen verletzt, ist etwas anderes. Ich würde dir hier und jetzt den Schädel einschlagen, wenn ein gewisser Jemand nicht hier wäre.“

Mit diesen Worten stieß er den Trunkenbold, der gar nicht verstand, was passiert war, grob zu Boden und kehrte in sein eigenes Auto zurück, wo ihm sofort auffiel, dass Misha sich verändert hatte.

Der Kleine zitterte so stark, dass auch sein Sitz zu vibrieren begann, und war leichenblass. Artjom vermutete, dass es mit der brenzligen Situation zu tun hatte, aber als er Misha tröstend in den Arm nehmen wollte, schrie der Junge so panisch auf, als hätte man ihn in Brennnesseln geschubst.

Artjom verstand nicht, was los war, aber wäre er in der Lage gewesen, sich in das kleine Häufchen Elend hineinzuversetzen, hätte er es sofort kapiert.

Misha hatte Angst, dass der Ältere seine Wut an ihm auslassen würde. Eigentlich würde der Russe so etwas niemals tun, aber er hatte in den letzten Tagen noch ganz andere Sachen gemacht, die er sonst nicht tat.
 

Obwohl es Artjom störte, nichts gegen Mishas Angst tun zu können, ignorierte er ihn fürs Erste und fuhr zu seinem Haus, das nur wenige Straßen entfernt war.

„Warte hier“, wies er den Jungen an, ehe er sich seine Tasche und Charly schnappte, die das Auto unbedingt verlassen wollte und so ein lautes Theater veranstaltete, dass man sein eigenes Wort kaum verstehen konnte, und mit ihnen im Haus verschwand.

Misha beobachtete, wie der Russe die Haustür hinter sich zumachte. Für einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, aus dem Wagen zu springen und sich aus dem Staub zu machen, aber er konnte sich noch gut daran erinnern, was passiert war, als er das letzte Mal fliehen wollte. Artjom hatte ihn so lange und heftig mit einem Rohrstock geschlagen, dass Mishas Hintern und Beine so aussahen, als hätte er sich auf einen Stuhl niedergelassen, auf dessen Sitzfläche sich rote, blaue und violette Farbe befand, die noch feucht war.

Misha seufzte und schaute sich um. Artjoms Haus stand in einer ziemlich ruhigen Nachbarschaft. Es hatte einen großen Garten und war locker hundert oder mehr Meter von allen anderen Häusern entfernt, mit einer einzigen Ausnahme, die auf der anderen Straßenseite stand und nicht bewohnt zu sein schien.
 

Es dämmerte langsam. Einige Vögel flogen von einem Baum zum anderen und in einem Haus in der Ferne wurde das Licht angeschaltet. Ein Auto hielt vor dem Haus, das Artjoms gegenüberstand, aber der Fahrer stieg nicht aus.

Misha sah vorsichtig zu ihm, doch alles, was er von hier aus erkennen konnte, war der Umriss einer Person mit hellem Haar.

Ich weiß nicht, wer das ist, aber ich könnte ihn oder sie auf mich aufmerksam machen und dazu bringen, die Polizei zu rufen, damit... nein. Artjom ist kein Amateur. Er wird mit einer kriminellen Organisation in Verbindung stehen, die weiß, wie man gewisse Leute zum Schweigen bringt.

Misha ballte seine Hände frustriert zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen. Er durfte nicht aufgeben. Eines Tages würden er und der Rest seiner Klasse wieder frei sein und die Verbrecher, die für diesen Albtraum verantwortlich waren, in den Nachrichten sehen. Und Misha würde Artjom im Gefängnis besuchen kommen und ihn als Kinderschänder bezeichnen, damit die anderen Insassen dem Russen alles heimzahlen würden, was er ihm angetan hatte. Und dann--
 

Misha erschrak fast zu Tode, als die Tür neben ihm plötzlich geöffnet wurde. Es war nur Artjom, der seine Wiederkehr auch angekündigt hatte, aber trotzdem wäre dem Jungen beinahe das Herz stehen geblieben. Wahrscheinlich weil sein Unterbewusstsein den Älteren schon längst nicht mehr als Person, sondern als unberechenbares Monster wahrnahm.

„Lass mich“, fauchte der Junge, als Artjom seine Arme nach ihm ausstreckte, um ihn aus dem Auto zu heben und ins Haus zu tragen. „Ich kann alleine gehen.“

„Gut. Dann tu das“, erwiderte der Größere schnippisch und trat zur Seite, damit Misha aussteigen konnte.

Der Kleine ahnte, dass Artjom beleidigt war und gleich etwas Unangenehmes geschehen würde, und er sollte recht behalten. Kaum hatte er ein paar Schritte gemacht, die dank seiner Wunden die reinste Folter waren, nahm ihm ein gezielter erster Tritt gegen den rechten Knöchel das Gleichgewicht und ein zweiter – diesmal gegen die Hüfte – stieß ihn grob zu Boden, auf dem Misha seitlich landete. Der Untergrund bestand aus harten und mit totem Laub bedeckten Stein, doch als der Junge auf ihm aufkam, fühlte es sich so an, als wäre er auf mehrere Nägel gefallen. Kläglich wimmernd krümmte er sich zusammen und hielt sich die schmerzende Seite.
 

„Steh auf, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit“, knurrte Artjom ungeduldig und verpasste Misha einen dritten Tritt, der aber nicht viel brachte, außer dass das Winseln lauter wurde.

Dieses blöde sadistische Arschloch... er erinnert mich an meinen Halbbruder Jan, der, sobald irgendetwas passiert, dass ihm nicht gefällt, und sei es auch noch so unwichtig und irrelevant, sofort die Beherrschung verlieren und anfängt, zu schreien und um sich zu schlagen. Der einzige Unterschied ist, dass Jan nichts dafür kann. Er wurde so geboren und wünscht sich sicherlich ständig, ein normaler Junge zu sein, aber dieser Wichser hier tut das aus freiem Willen. Und dann besitzt er auch noch die Dreistigkeit, mir vorzuwerfen, es wäre meine Schuld, weil ich ihn provoziert hätte. Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben so viel Hass gegenüber einer Person verspürt.

Misha hatte keine Ahnung, wie falsch er mit dieser Annahme lag. Artjom hasste es, dem Jungen Schmerzen zuzufügen, und das genauso sehr, wie Misha die Schmerzen hasste. Aber Artjom konnte nicht anders. Er musste sich wehren. Sonst würden die Ranken, die Mishas Anziehungskraft um seine Gliedmaßen geschlungen hatte, ihn wie eine Marionette lenken und zu Dingen bewegen, die nicht nur Artjom, sondern auch dessen Familie ins Verderben stürzen würden.
 

Der Russe hob den immer noch wimmernden Jungen vom Boden auf und trug ihn ins Haus. Als er die Tür hinter sich zumachte, warf er einen Blick auf das fremde Auto, das er vorhin bemerkt hatte, doch es war verschwunden.

Er half Misha dabei, Schuhe und Jacke auszuziehen, und setzte ihn auf der Couch im Wohnzimmer ab, wo er ihn dazu aufforderte, sich die Kleidung vom Oberkörper zu streifen.

„Warum?“

„Weil du verletzt bist und ich mich um deine Wunden kümmern möchte.“

Misha schwieg, aber sein Blick sagte: „Wohl eher damit du dich an meinem Leid ergötzen kannst, nicht wahr?“

„Kleiner, zieh dich aus.“

„N-nein, ich--“

„Komm, lass mich mal sehen.“

Der Junge hatte mit dieser freundlichen Tonlage nicht gerechnet, sondern etwas viel Aggressives erwartet, was jedoch nichts daran änderte, dass er von diesem Grobian nicht angefasst werden wollte.

„Nein. Ich möchte das nicht“, sagte er tapfer – und bereute seine Worte sofort.
 

„Kann es sein, dass du in Wirklichkeit von mir gezwungen werden willst und das bloß nicht zugeben kannst? Zieh dich aus, Misha. Das ist ein Befehl und keine Bitte.“

„Dir ist es doch egal, was ich mache. Du wirst mich so oder so schlagen.“

„Junger Mann, treib es nicht zu weit.“

Angesprochener entledigte sich seines Pullovers, aber mit Gehorsamkeit hatte diese Handlung nichts zu tun.

„Und? Zufrieden? Wahrscheinlich nicht.“ Er nahm Artjoms Hand und drückte sie gegen die Wunde an seiner Seite, die beim Fall vor wenigen Minuten aufgerissen war und nun leicht blutete. „Hier! Genau das gefällt dir doch, nicht wahr? Du findest es geil, mich leiden zu sehen. Na los, reib dir mit meinem Blut den Schwanz ein und hol dir einen runter! Das ist es doch, was du willst, du krankes Schwein! Du bist bloß zu feige, es zuzugeben, weil du weißt, wie abartig das ist!“

„Wie zur Hölle“, sagte Artjom, der Misha eigentlich schlagen wollte, aber von dieser obszönen Wortwahl vollkommen aus dem Konzept gebracht worden war, „bist du auf die Idee gekommen, ich würde so etwas erregend finden?“

„Heute Morgen im Auto hast du mich geschlagen und bluten gesehen – und das Nächste, was dir eingefallen ist, war der Wunsch, mich zu ficken.“
 

Artjom erwiderte nichts, sondern entzog Misha seine Hand, an der das warme Blut des Jungen haftete. Er konnte sich an die Drohung, den Kleinen zu missbrauchen, noch erinnern, aber er wusste auch, dass es eine leere Drohung gewesen war. Artjom hätte sie niemals in die Tat umsetzen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Der Grund, warum er sie überhaupt ausgesprochen hatte, war, dass ihm die Möglichkeiten, Misha von sich wegzustoßen, ausgegangen waren.

Während der Russe schwieg und gedankenverloren das Blut an seiner Hand betrachtete, fing Misha zu weinen an.

„Schau mich an“, flüsterte er heiser. „Ich sehe aus, als wäre ich von einer Bestie angefallen worden. Später werde ich scheußliche Narben haben, die mich jedes Mal an das Monster erinnern werden, dem ich sie zu verdanken habe... vorausgesetzt, ich überlebe den Scheiß. Wenn du nämlich so weitermachst, wirst du mich noch diese Woche begraben können.“

Artjom wusste nicht, was er tun sollte. Vielleicht wäre es das Beste für beide Parteien, Misha von seinem Leid zu erlösen, aber es war jetzt schon klar, dass er das nicht machen konnte. Er hatte diese Hibiskusblüte von ihrem Strauch gepflückt, ihr die Blütenblätter einzeln herausgerissen und sie zwischen Schuhsohle und Asphaltboden zerquetscht, aber ihr den Rest geben – das konnte er nicht.
 

„Ich gehe den Verbandskasten holen“, sagte Artjom nach mehreren Minuten Stille. Er ging in die Küche und durchsuchte dort die Schränke, doch konnte das blöde Ding nirgendwo finden. Das letzte Mal, dass er es gebraucht hatte, lag bestimmt schon fünf Jahre oder noch länger zurück.

Charly hockte vor der Spüle und leckte die Dose mit Katzenfutter sauber, die Artjom ihr vorhin spendiert hatte, bevor er zurück zum Auto gegangen war. Als er näherkam, um den Schrank über der Spüle zu durchstöbern, schnappte Charly besitzergreifend nach der Dose und knurrte bedrohlich. Sie befürchtete, dass der Russe ihre Mahlzeit klauen würde, aber Artjom hatte kein Interesse an einer schleimigen Masse, die angeblich aus Hühnchen bestand. Eigentlich konnten die Hersteller behaupten, was sie wollten – niemand würde je prüfen, ob das Futter wirklich nach Huhn schmeckte.

Artjom durchschritt die Tür, welche in den Flur führte, und entdeckte den Verbandskasten endlich, als er auf einmal ein komisches Geräusch aus dem Wohnzimmer hörte. Es klang, als wäre etwas auf den Boden gefallen... oder jemand.

„Misha?“, rief Artjom, doch er wusste bereits, was passiert sein musste. Misha hatte schon wieder das Bewusstsein verloren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Onlyknow3
2018-04-07T10:28:31+00:00 07.04.2018 12:28
Wahnsinn, was da abgeht. Der Junge tut mir leid, er kann doch nichts dafür, für das was in dem Erwachsenen vorging.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Sumino
2018-04-06T19:50:04+00:00 06.04.2018 21:50
der arme...
Von:  Arya-Gendry
2018-04-06T14:58:31+00:00 06.04.2018 16:58
Wie lang muss der Arme Misha denn noch leiden? Es wer besser für denn kleinen bei jemand anderen zu sein. Obwohl man weiß ja nicht wie es ihn bei jemand anderen ging. Ich hoffe einfach Artjom wird bald damit aufhören denn Armen Misha so zu quälen. Wenn das so weiter geht wird der Kleine nicht mehr lange aushalten.
Bin schon auf das nächste Kapitel gespannt. ;)
LG.


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