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Raftel (2)

The Rainbow Prism
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
yume no shima = Insel der Träume Komplett anzeigen

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36 - Yumenoshima

Wie war sie hierher geraten? Tashigi vermochte sich nicht mehr zu erinnern. Ihre letzten Gedanken aus der Vergangenheit zerfetzten wie Herbstlaub im Wind just an der Stelle, als die Fregatte in einen handfesten Sturm geriet. Dabei hatte alles so gut begonnen. Die Seekarte zeigte ruhiges Fahrwasser an, und die Sonne schien so sanft und fröhlich von einem strahlend blauen Himmel herab, als hätte es nie schlechte Zeiten gegeben. Ihre Mannschaft war guter Stimmung und scherzte untereinander. Der Schichtwechsel setzte ein. Die diensthabende Crew verzog sich erst zum Essen in die Mensa und überließ anschließend die Arbeit der frisch ausgeruhten Wachablösung. Es war der Moment, als Tashigi sich von der Kommandobrücke abmeldete, um sich erst in der Mensa zu stärken, dabei mit ihren Offizieren den Kurs für die aktuelle Route festlegen und sich später in ihre Kabine zurückziehen wollte. Für das, was gleich über sie hereinbrechen sollte, gab es keine Vorzeichen oder eine Warnung.

Plötzlich wurde alles so schlagartig finster, dass man meinen könnte, die Sonne wäre mit einem Lichtschalter ausgeknipst worden. Alle waren überrumpelt, überrascht und panisch zu gleich. Selbst erfahrene Crewmitglieder, welche schon viele Seemeilen und Dienstjahre auf dem Buckel hatten, konnten sich das sofortige Erlöschen des Lichtes nicht erklären. Noch ehe sie alle einen klaren Gedanken fassen konnten, bäumte sich das eben noch so glatte Gewässer auf. Es buckelte und schlug wilde Haken. Die unruhigen Wellen erreichten Höhen, welche wohl nur hohe Bergen haben konnten und kratzten mit ihren Wellenkämmen scheinbar an den schwarzen Wolken entlang. Krakenähnlichen Armen gleich streckten sich die Wassermassen nach dem Marineschiff aus und umschlangen Masten und Rumpf. Und dann kam da noch dieser Lärm hinzu. Ohrenbetäubender Lärm. Donnergrollen knallte über ihren Köpfen, dass es einem jeden Moment den Schädel zerschmettern musste. Der Himmel drohte förmlich über der Mannschaft einzustürzen. Blitze zuckten grell zwischen den Wolken wie tausend Sonnen, und wer seine Augen noch nicht geblendet geschlossen hielt, hatte es bereits durch das peitschende Wasser getan. Reflexartig hielt sich jeder an allem fest, was sturmfest und schwimmbereit schien. Keiner war noch irgendwie fähig, eine klare Handlung zu vollziehen, geschweige denn einen Befehl auszuführen. Der Orkan prügelte mit aller Härte auf die Fregatte ein und wirbelte sie umher wie eine kleine Nussschale. Es war nur eine Frage von Sekunden, wann das Schiff kraftlos aufgeben müsste.

Doch von allem dem würde Tashigi nichts mehr mitbekommen. Ihre Kräfte gaben schon weit früher nach als sie gehofft hatte. Die nächste Welle griff nach ihr und schleuderte sie brutal über Bord. Der Aufschlag auf der harten Wasseroberfläche schmerzte hart auf ihrem Bauch, dem Gesicht und den Beinen. Es kribbelte und brannte furchtbar. Schon einen Wimpernschlag später tauchte sie ein in die Tiefen des Meeres. Wo war oben? Wo war unten? Sie war völlig orientierungslos. Es war pechschwarz, so dass sie nicht einmal ihre eigene Hand hätte sehen können, was ihr ohne Brille unter Wasser generell schon schwer gefallen wäre. Es gab keinen Auftrieb, der einen nach oben zog. Was war das hier für ein Wasser? Da konnten doch nur Teufelskräfte am Werk gewesen sein. Sie hing wie in einer riesigen, nassen Wattewolke fest. Panik breitete sich in ihr aus. Sie könnte nicht länger die Luft anhalten, also schwamm sie einfach los. Und es war warm, so merkwürdig warm. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Es kribbelte überall so herrlich entspannend unter der Haut, als würde man gleich in einen ewigen Tiefschlaf verfallen. Plötzlich fühlte sie sich frei und schwerelos. War das der Moment, indem man nun ertrinken und sterben würde? Nein, das wollte sie auf gar keinen Fall! Mit kräftigen Schwimmzügen suchte sie den Weg nach oben. Sie schwamm und schwamm. Sie wurde immer hektischer und panischer, bis sie nur noch wilde, unkontrollierte Bewegungen vollbrachte. Der Druck in ihrem Innersten, endlich nach Luft schnappen zu wollen, wuchs unaufhörlich. Liebend gern hätte sie ihren Körper von der Qual erlöst und nur einen einzigen Atemzug getan, doch sie hatte ja keine Kiemen, wie Fische sie hatten. Es mochten noch zwei oder drei weitere Schwimmzüge gewesen sein, als sie es nicht mehr aushielt. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Aus ihrem Mund stiegen Wasserblasen empor, dann endeten ihre Erinnerungen.
 

Es gab ein großes Metallbett. Sicherlich hätten auch zwei Personen bequem Platz darin gefunden. Weißlackiert war es und die Metallstangen zu romantischen floralen Mustern geschmiedet. Klares und weißes Glas bildeten hauchzarte Blütenblätter, die man sich nicht getraute zu berühren, da man fürchtete, sie würden sofort zerbrechen. Das Betttuch war so glatt und glänzend wie Seide. Blütenrein und schneeweiß wie das Nachthemd, was sie am Leibe trug. Knielang mit dünnen Trägern. Wer mochte sie angekleidet haben? Tashigi hatte beim besten Willen nie so ein Nachthemd in ihrem Kleiderschrank besessen. Als sie das erste Mal erwacht war, hatte die Dunkelheit nicht nachgelassen. Über ihr spannte sich ein schwarzer Nachthimmel. Doch er war frei von Wolken und Himmelsgestirnen. Auch keine Sonne zog hier ihren Tageslauf. Sie warf nie Licht über diesen merkwürdigen Ort. Nur allein ein großer, blanker Vollmond pappte wie festgeklebt an ein- und derselben Stelle am Himmel und warf sein silbernes Licht herunter. Er war ihre einzige Lichtquelle. Nach dem ersten Erwachen war sie verwirrt aufgestanden. Sie konnte den Boden nicht sehen, waberten doch wallende Nebelfelder knöchelhoch über den Grund. Aber ihre nackten Füße spürten die glatte Kälte, wie sie es von Fliesen her kannte. In welche Richtung man auch immer blickte, es war kein Ende der Ebene zu sehen. Der Nebel verlor sich in der unendlichen Finsternis. Da war nichts weiter, nur sie und das Bett. Und ein kleine Wasserschüssel. Wie das Bett war das Gestell der Wasserschüssel weiß gelackt und ebenso kunstvoll geschmiedet. Das Wasser war so kristallklar wie Quellwasser, doch ließ man es durch die Finger gleiten, benahm es sich wie Quecksilber. Beim ersten Mal sah sie dort stumm auf die Wasseroberfläche hinab, und das Wasser reflektierte ihr Antlitz wie ein Spiegel. Da sah sie eine blasse Frau mit langen schwarzen Haaren und dunklen, großen Augen. Vielleicht mochte es eine Täuschung sein, dass sie sich eine fahle, graue Haut und dunkle Augenringe einbildete. Sie fühlte sich so müde. Und je länger sie hineinblickte, desto größer wurde die Trauer in ihrem Herzen. Sie musste tot sein. Natürlich war sie tot. Wer überlebte denn einen Sturz in die eiskalte See und fand sich dann an diesem schrecklichen Ort wieder? Es war hier so einsam und zeitlos. Ohne jegliche Freude. Es war weder warm noch kalt. Sie spürte weder Hunger, noch Durst oder gar Schmerzen. Tränen füllten sich in ihren Augen. Große dicke Tropfen kullerten über die Wangen hinab, sprangen auf das Wasser und zeichneten runde Kreiswellen. Erst als ihr Spiegelbild vollkommen zerstört war, schlurfte sie zurück in das Bett. Ob ihre Crew auch tot war? Oder hatte die Fregatte es eventuell bis zu einem schützenden Hafen geschafft? Vermutlich würde sie das niemals erfahren. Sie dachte an die Tage, bevor sie sich von Taiyoko und Zoro verabschiedet hatte. Hätte sie geahnt, dass sie beide sich damals wohl zum allerletzten Mal gesehen haben mochten, so hätte sie schreien können. Wut und Selbstmitleid zerrissen sie innerlich. Hin- und hergeschmissen tobten ihre Gedanken durch ihren Kopf von „hätte“ und „wäre“. Hätte sie doch Taiyoko nur noch einmal in den Arm nehmen können. Nun würde sie nie sehen, wie ihre Tochter weiter aufwuchs. Ja, da hatte es häufig Szenen gegeben, da hätte sie ihre liebe Tochter nur an die Wand schlagen können. Aber natürlich liebte sie sie und hatte, seit sie da war, wirklich alles gegeben, was sie hatte aufbringen können. War das aber wirklich alles? Tashigi zweifelte in ihrem Selbstmitleid vor sich her. Wie würde es nun für Taiyoko werden, wenn sie als Mutter nie wieder nach Hause kam? Käme sie damit zurecht oder würde sie daran zerbrechen? Hätte sie sich bloß vor dem Abschied wieder mit Zoro vertragen. Sie waren im Streit auseinandergegangen. Nun war es wohl für immer zu spät, solche Fehler auf Grund von Selbstsucht und Egotrips wieder zu bereinigen. Oh, wie sehr sie ihn vermisste. Dabei konnte sie sich bis heute nicht erklären, warum ausgerechnet sie beide zueinander gefunden hatten. Ausgerechnet sie, die tollpatschig war und immer auf der Versagerschiene fuhr. Und dann erst die selbst zugefügte Narbe mitten im Gesicht, weil sie ihr Gesicht so hasste, und der rote Schmetterlingsfluch am Hals. So ein hässliches Entlein konnte doch niemand lieben. Warum konnte sie nicht irgendetwas Besonderes oder war zu irgendetwas gut?

Zoro! Taiyoko! Der Kloß in ihrem Hals wuchs und wuchs und schnürte ihr die Luft mehr ab, als der rote Schmetterling an ihrem Hals es jemals getan hatte. Da war es nur verwunderlich, dass der brennende Falter so ruhig blieb. Unter Heulkrämpfen schlief sie unruhig ein.
 

Als sie zum zweiten Mal erwachte, waren ihrer Augen voller Schlafsand. Sie gab sich nicht die Mühe aufzustehen. Nichts hatte sich hier verändert. Gar nichts. Der Mond schien monoton herab. Der Nebel wallte. Das Wasser ruhte. So begann ein Rhythmus der ewigen Wiederkehr. Sie erwachte, ging ihren Depressionen nach und schlief wieder ein. Erst als sie bereits zum siebten Mal erwachte, durchzog es sie wie einen Ruck. Ob die Ebene wohl wirklich unendlich war? Sie hatte das doch noch gar nicht untersucht. Also ging sie los. Erst mutig voranschreitend, später immer schleichender. Die Erkenntnis beschlich sie, dass sie sich im Kreis bewegte, denn egal, wie lange sie wanderte, sie kam immer wieder und immer wieder bei dem weißen Bett an. Dann legte sie sich Schlafen und das Spiel begann von vorn.

Sie hatte aufgehört zu zählen, wie häufig sie schon erwacht und wieder eingeschlafen war. Mittlerweile empfand sie diesen Ort als Hölle. Auch wenn hier kein Fegefeuer brannte, quälte sie allein die Monotonie und Dunkelheit dieses Ortes. Und die Angst, für alle Zeiten diesen Kreislauf erleben zu müssen, jagte ihr Panikattacken ein. Sie wollte nicht länger hier sein, sah jedoch keinen Ausweg. Und was es ihr noch Unheimlicher zu Mute machte, war die Tatsache, alles zu vergessen, was sie je erlebt hatte. Es begann erst sehr schleichend und wäre ihr gar nicht aufgefallen, wenn sie nicht selbst angefangen hätte, krampfhaft danach in ihrem Kopf zu suchen. So musste sich Zoro gefühlt haben, als er damals Stück für Stück sein Gedächtnis verlor.

Als sie wieder einmal erwachte, streiften ihre Finger das Bettgestell. Weißer Lack auf Eisen. Nein, es fühlte sich diesmal anders an als zuvor. Weißer Lack auf Holz. Immer wieder Strich sie darüber und setzte verloren gedachte Erinnerungen frei. Wo hatte sie das schon mal in den Händen gehalten, was sich genau so angefühlt hatte? Weißer Lack auf Holz. Auch in einer ähnlichen Form. Ein Stab? Nein, ein Schwert! Wadôichimonji! Ruckartig setzte sie sich auf, als wären alle Lebensgeister wieder in sie zurückgefahren. Noch einmal strich sie über das Metallgestell, aber das feine Gespürte in ihren Fingerkuppen kehrte nicht zurück. Sie musste sich etwas eingebildet haben, was nicht da war. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe, nur um einen erneuten Tränenfluss zu unterdrücken. Zoro war nicht da. Er war irgendwo weit weg. Das kannte sie schon von früher, wenn sie in Loguetown geblieben, aber Zoro mit den Strohhüten weiter gesegelt war. Zynisch hätte man auch sagen könne, sie war dort zurückgelassen oder ausgesetzt worden. Doch es war stets ihre Entscheidung gewesen, zu bleiben und nicht zu reisen, obwohl es diese zwei Optionen immer gegeben hatte. Also gab es da auch nichts zu meckern. Aber beide hatten sich immer wieder gesehen. Egal, wie lange sie getrennt waren. Diesmal würden sie sich nicht wiedersehen. Sie wusste nicht, wo sie war und wie lange sie schon hier war. Wie sollte sie hier gefunden werden? Wie sollte sie sich hier befreien? Wieder glitten ihre Finger über die weißen Stäbe. Wadôichimonji. Es hatte sich so real angefühlt, als hätte sie das Katana in den Händen gehalten. Sie wusste nicht, ob es die Gedanken an Zoros Schwert waren oder irgendetwas anderes, was sie aus dem Bett getrieben hatte. Sie sprang auf und rannte los. Es war ihr total gleichgültig, ob das Weglaufen nun einen Sinn machen würde oder nicht. Sie wollte zurück nach Hause. Zu Zoro und zu Taiyoko.

Die Puste ging ihr nach einem kurzen Sprint schneller aus als erwartet. Vornübergebeugt stützte sie sich mit den Händen auf den Knien ab und japste. Erst als ihre Atemzüge sich beruhigt hatten, hob sie den Kopf und blickte um sich. Interessanter Weise hatte sie sich sehr weit von ihrem Bett entfernt und war wohl auch nicht im Kreis gelaufen. Und nun stand dort in der weiten Ferne etwas, was zuvor noch nie da gewesen war. Ein Schrank? Eine Käfig? Eine Tür! Das war mal sensationell neu. Mit frischem Forscherdrang marschierte sie auf das brandneue Objekt zu. Schnell kam sie näher und begutachtete es sorgfältig. Ein geschmiedeter Torbogen stand mutterseelenallein mitten auf der Nebelebene. Das Design war ihrem Bettgestell nachempfunden. Die Türklinke ließ sich herunterdrücken und die Tür schwang geräuschlos auf. Tashigi verstand nicht, welchen Sinn dieses Tor haben mochte, denn die Gitterstangen gaben den Blick durch das Tor frei auf die ihr schon seit geraumer Zeit bekannten Ebene. Es konnte also nichts dahinter versteckt sein, was es davor nicht auch schon zu sehen gab. Dennoch schritt sie durch das Tor und erschrak.

Ein langer Weg mit Rindenmulch erstreckte sich in einer völlig neuen Dimension vor ihren Füßen. Eingerahmt wurde der Weg von hohen Buchenhecken. Ein Gärtner hätte wohl viel Mühe gehabt, die Heckenwände so schön kantig zu schneiden. Über allem strahlte im schönsten Azurblau ein Sommerhimmel mit bauschigen Schäfchenwolken. Tashigi ging mehrmals durch das Tor vor und zurück, konnte sie doch kaum glauben, was ihre Augen da erblickten, was ihre Fußsohlen da spürten, was ihre Nase an einer Sommerbrise roch. Wenn sie zurück in den Nebel ging, so war es nur ein einfaches Gittertor im Nichts. Doch wenn sie hindurch ging, so tat sich eine vollkommen neue Welt auf. Ohne lange Nachzudenken wagte sie den Schritt hinaus, was ihr wie eine neue Freiheit schien. Ihre Finger berührten das frische Blattgrün der Buchenhecke. Der unebene Boden stach in ihre Füße. Doch es war ihr alles egal. Auch, dass sie immer noch ihr Nachthemd trug. So lief sie los mit einer guten Laune, die sie sich nicht erklären konnte. Es war alles so unbeschwert. Der Buchengang knickte ab, hatte Durchbrüche in den Hecken und verzweigte sich in alle Himmelsrichtungen. Tashigi nahm in ihrem Freudentaumel überhaupt nicht wahr, wie sie immer tiefer und tiefer in ein Labyrinth hineingeriet, welches jeder Gesetzmäßigkeit trotzte. Es war einfach viel zu aufregend, was es dort alles zu sehen und zu entdecken gab. Hinter einer Ecke waren unglaublich viele Luftballons. Hinter der Nächsten erstreckte sich ein Gang voller duftender Rosen. Wie ein kleines Kind auf einem Geburtstagsparty taumelte sie von einer Entdeckung zur nächsten, und jede war für sich noch bunter, fröhlicher und verrückter als die vorherigen. Von allen Sinnen verlassen tanzte und lustwandelte sie weiter und weiter, bis sie zu müde wurde. In einer Ecke kletterte sie in ein Hängematte hinein und starrte erstaunt in den Himmel. Das Azurblau war einem Sternenhimmel gewichen. Es funkelte über ihre reiner als Tausende von Diamanten es je tun könnten. Sie konnte sich an dem Anblick gar nicht sattsehen und beschloss, bis zum Morgengrauen die Sterne zu beobachten. Es gelang ihr aber keine Minute länger, in die Sterne zu sehen. Kurzum fielen ihre Augen zu.

Als sie wieder erwachte, erschlug sie förmlich die Tristes eines viel zu bekannten Ortes. Sie war wieder dort angelangt, von wo sie gestartet war: In ihrem weißen Bett. Hatte sie nur geträumt? Aber es fühlte sich doch alles so echt an. Es war so ein herrlich schönes Gefühl gewesen. So voller Lebensfreude und Wärme. Sie hatte dieses Gefühl schon einmal in ihrem Leben erlebt, doch sie konnte sich nicht erinnern. Wieder kam da dieser Kloß in ihrem Hals. Tashigi hatte ihr Leben immer eher pessimistisch eingeordnet. Aber da hat es wohl tatsächlich etwas gegeben, was ihr diese immense Freude bereitet hatte. Warum konnte sie sich nicht erinnern? Sie schnaubte einmal kurz auf, hatte sie doch der Ehrgeiz gepackt. Mit einem leichten Schwung warf sie die Bettdecke zurück und setzte sich auf die Bettkante. Wo kam dieses Gefühl schon einmal her? Sie grübelte und biss sich dabei auf die Unterlippe. Ihr Hände parkten rechts und links neben ihr, so dass sie unbewusst anfing, mit dem Oberkörper zu wippen. Dieses Gefühl … ihre Hände umklammerten das weiße Bettgestell und spürten den Lack. Dieser Lack... Es kam ihr schon beinah etwas zu blöde vor, wie sich die absurde Idee in ihrem Kopf festfraß, der Lack und das Gefühl könnten etwas miteinander zu tun haben. Vielleicht musste sie nur wieder die Tür finden und so auf der Sache auf den Grund gehen. Ja, das war eine super Idee! Kaum auf den Füßen gelandet, rannte sie wieder los mit dem festen Wunsch im Herzen, noch einmal dieses Labyrinth zu finden, dass ihr soviel Freude bereitet hatte.

Und tatsächlich war das Tor wieder da. Allerdings hatte es sich verändert. Es wirkte nicht mehr so schlicht wie bei ihrem letzten Besuch. Es mochte eine Illusion sein, dass dort in dem Gittermuster noch mehr Glasblumen gewachsen waren. Sachlich-filigran war gestern, romantisch-mädchenhaft war heute. Voller Vorfreude riss sie die Tür auf, dass sie laut knarzte. Sie sollte nicht enttäuscht werden. Der pure Sommer stach ihr entgegen. Bunte Schmetterlinge flogen umher. Vögel zwitscherten lieblich. Ein Orchideenhain überwucherte gnadenlos einen schmalen Elfenpfad. Große, bunte Blüten verströmten einen betörenden Duft. Dem Irrgarten der Orchideen schloss sich ein Wassergarten an. Ebenso verwinkelt kreuzten sich hier kleine Kanäle, Rinnsäle, Kaskaden und Wasserfälle. Lilien, Farne und Moose umsäumten die Gewässer. Bunte Vögel flogen umher, und Tashigi freute sich, dass sie wohl doch nicht alleine schien. Die Paradiesvögel waren die ersten Seelen, welche sie seit ihrer Ankunft in dieser verrückten Welt kennengelernt hatte. Auf einer Steinbrücke rastend, verlor sich ihr Blick und ihre Gedanken in dem vorbeiströmenden Wasser unter ihr. Hey, da schwammen ja kleine Kois! Doch nach einer Weile wurde das Beobachten der Fische langweilig. Es zog sie weiter durch die langen Gänge und dimensionslosen Räume, wo jeder anders war als zuvor. Und kaum bog man um eine Ecke, war wieder alles brandneu. Ein Ziel schöner als das andere. Sie verlor sich zusehends und genoss es. Hier war doch alles so sehr viel schöner als da draußen in ihrem alten Leben, wo es nur Stress und Probleme gab.

Und wieder verirrte sie sich tiefer und tiefer in das Labyrinth. Sie sollte noch viele Male durch den Irrgarten reisen, der ihr bei jedem Besuch immer größer und bunter erschien. Und mit einem Mal kam ihr eine ganz neue Erkenntnis: Das Labyrinth konnte allein durch ihre Wünsche beeinflusst werden. Da fingen Papageien an zu sprechen, Schokoladenguss tropfte wie Tau von den Blättern und immer bizarrere Landschaften quetschten sich in die Gänge. Tashigi hatte alle Hände voll zu tun, alle neuen Orte zu bereisen und alle Ideen unterzubringen. Mittlerweile vergaß sie, dass es alles nur ein Zauber war. Viel zu real fühlte sich das neue Leben an. Und es war großartig! Da war es fast schon misslich, jedes Mal aufs Neue in dem weißen Bett aufwachen zu müssen. Dort, wo alles so traurig und leer war.
 

Was Tashigi nicht wissen konnte, war die Tatsache, dass sie niemals wirklich über eine nebelverhangene Ebene und durch ein wandelbares Labyrinth streifte. Fern ab von allen bekannten Inseln schlief sie irgendwo auf der großen weiten Welt in einem Krankenzimmer einen ewigen Tiefschlaf. Ein künstliches Koma, aus dem es kein Entkommen gab. Verknüpft mit Maschinen, die ihr Sauerstoff und Nahrung gaben. Gepflegt von Menschen, denen sehr daran gelegen war, dass sich dieser Zustand auch niemals ändern möge.



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