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Eien 永遠

Der Samurai und der Fremde
von

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Flucht

12. Kapitel: Flucht
 

[Leblose Kälte,

in einsamer Ewigkeit

Bittere Tränen]
 

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Mit angespannter Miene verließ Kagegaku die Eingangsveranda und trat in den Hof, in dem sein Pferd "Schwarzer Lotus" mit Wasser und Futter versorgt wurde.

Auf Kasugayama herrschte große Aufregung. Alle sprachen nur noch über den versuchten Mord an Kenshin und über die Flucht des Spions. Unverständliche und teils auch hasserfüllte Blicke trafen den Strategen, seit er auf der Hauptburg eingetroffen war. Für viele hatte das Nishiyamaoberhaupt tiefste Schwäche gezeigt, indem er auf den blonden Fremden reingefallen war und diesem blind vertraut hatte.

Einige hochrangige Männer gingen sogar soweit, den Strategen selbst des Verrats anzuklagen. Sie glaubten der Geschichte nicht, die ihnen Hidetori aufgetischt hatte. Sie waren davon überzeugt, dass im Erben der Nishiyama der eigentliche Verräter steckte.

Kagegaku zweifelte nicht im geringsten daran, dass sein eigener Bruder der Herd dieses Misstrauens war. Er hatte sie aufgehetzt, einen nach dem anderen, damit er beim Daimyo an Gunst verlieren würde. Was Kagemura bisher jedoch kaum gelungen war.

Kenshin vertraute seinem Strategen nach wie vor, was vor allem an seinem schnellen Auftauchen und seiner sofortigen Entschuldigung lag.

Nichtsdestotrotz wurden dem Oberhaupt unzählige Fragen gestellt, auf die er mit ebenso unzähligen Lügen antworten musste. Das schlechte Gewissen plagte den Strategen bis aufs Blut und doch wusste er, dass er das Richtige getan hatte. Es war notwendig gewesen, um den Blonden zu schützen und ihm ein neues Leben zu schenken. Ein Leben, welches nun nicht mehr den Namen Hidetori Toshiba trug.
 

Erleichtert über den durchaus positiven Ausgang seiner Audienz mit dem Lord von Echigo, streichelte Kagegaku sein Pferd, während er darüber nachdachte, wie es nun weiter gehen sollte.

Er musste den Blonden verstecken. Irgendwo, wo ihn niemand suchen würde. Irgendwo, wo Hidetori in Frieden leben konnte, ohne Angst haben zu müssen, gefunden zu werden. Irgendwo, wo selbst ein Samurai das Leben genießen konnte und nie wieder an Krieg denken musste. Einen solchen Ort suchte er, damit er mit dem Blonden ein völlig neues Leben beginnen konnte. Fernab seiner Verpflichtung als Erbe der Nishiyamafamilie, abseits seines gewohnten Daseins inmitten von Blutvergießen und Tod.

Mehr denn je war er dazu bereit, alles für Hidetori aufzugeben, sein ganzes Leben komplett zu verändern, sein Schwert abzulegen und als Bauer auf dem Feld zu arbeiten. Selbst wenn der Blonde kein Fünkchen Liebe für ihn empfand, würde er es tun. Denn Hidetoris Sicherheit war dem Strategen das Allerwichtigste. Um ihn mit den eigenen Händen beschützen zu können, musste er diesen Schritt gehen und alles, was bisher Inhalt seines Lebens gewesen war, hinter sich lassen.

Mittlerweile fiel ihm diese Entscheidung auch kaum noch schwer. Das Erbe seines Vaters anzutreten war eine Pflicht gewesen und nie sein innerster Wunsch. Es bedeutete ihm überhaupt nichts. Heute gar noch weniger als gestern .

Sein wirkliches Schicksal sah völlig anders aus. Es war geheimnisvoll, stur und hatte Haar aus Gold.

Wenn er daran dachte, wie wundervoll es sich auf seiner Haut anfühlte, schlug ihm das Herz bis zum Hals.

Dieses Gefühl wollte er nie wieder gegen die Trauer, die er fühlte wenn sich Flüsse rot färbten, oder blühende Felder mit Leichen bedeckten, tauschen. Selbst sein verhasster Bruder würde daran nichts ändern können.

Keine Intrige der Welt könnte ihm den blonden Vasall rauben. Denn schon seit ihrem ersten Kuss, als tanzende Schneeflocken sie umgeben hatten, gehörte Hidetori nur noch ihm ganz allein. Und er gab ihn nicht mehr her.

Selbst wenn die ganze Welt unter seinem Egoismus untergehen würde, war er entschlossen, rücksichtslos seinen Willen durchzusetzen.

Zuversichtlich klopfte Kagegaku seinem Pferd leicht gegen den Hals, als er plötzlich in die warmen Augen seines Bruders blickte. Er stand neben dem pechschwarzen Tier und hielt dessen Zügel in seinen Händen.

Das breite Grinsen, welches sein Gesicht zierte, strotze vor Provokation.
 

„Na, was hast du Kenshin erzählt?“, bohrte Kagemura sofort nach, als sich ihre Blicke trafen. Skeptisch vernahm Kagegaku den spöttischen Unterton, welcher ihm signalisierte, dass das Interesse an einer Antwort nicht bestand.

Stattdessen schien der Bruder seinen Auftritt regelrecht zu genießen. Er lachte plötzlich laut los und klopfte dem Pferd des Strategen auf das Hinterteil, bevor er selbst die Antwort auf seine Frage lieferte.

„Dass es dir Leid tut, einem Spion Unterschlupf gegeben zu haben? Dass du sofort losgeritten bist, als du davon erfahren hast und auch erschüttert darüber bist, dass er geflohen ist, ohne die gerechte Strafe erhalten zu haben?“ Übertrieben mitleidig starrte der jüngere Bruder in die Augen des Strategen, der vor Wut kochte.

„Und damit Kenshin die Sache ruhen lässt, hast du sicher auch erwähnt, dass du dem Flüchtigen auf dem Weg hierher begegnet bist, oder?“ Misstrauisch runzelte Kagegaku die Stirn. Wollte Kagemura ihn nur reizen, oder wusste er bereits, dass die Entführung misslungen war? Was jedoch kaum möglich sein konnte. Er war so schnell geritten, wie es nur irgendwie ging, und auf dem Weg hierher war ihm keine Menschenseele begegnet. Wie sollte sein Bruder jetzt schon davon erfahren haben?

Das ekelhafte Grinsen auf Kagemuras Lippen ließ trotz des Misstrauens, welches Kagegaku im Moment fühlte, darauf schließen, dass sich der Jüngere immer noch auf der Siegerseite glaubte.

Der Zorn strömte dem Strategen durch den ganzen Körper, wenn er in das Gesicht seines Bruders sah und darüber nachdachte, in welch eine Lage er Hidetori gebracht hatte.

Er wäre froh gewesen, hätten sich ihre Wege heute nicht gekreuzt, denn die Gefahr, dass er beim bloßen Anblick dieser Person ausrasten könnte, war unberechenbar. Und Fukushima, der ihn sonst immer ruhig in die Schranken wies, war heute nicht an seiner Seite.

Es kribbelte ihn derart in den Fingern, dass sie schon zu zucken begannen. Doch davon ahnte Kagemura nichts. Er grinste arrogant und fuhr dem Pferd durch die lange schwarze Mähne.

„Was hast du ihm erzählt? Dass du den Spion umgebracht hast? Oder ist dir die kleine Kröte etwa auch entwischt?“

Er reizte ihn absichtlich, das wusste Kagegaku, und trotzdem konnte er sich nicht zurückhalten. In seiner Brust staute sich all sein Hass zusammen. Es drückte so sehr, dass er trotz des Versuches, ruhig zu bleiben, die Beherrschung verlor.

Er packte den Bruder am Kragen des Kimonos und drückte ihn unsanft gegen die hölzerne Mauer hinter ihm.

„Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt, als ich sagte, du sollst deine dreckigen Hände von Hidetori lassen“, knurrte er zornig hinter zusammengepressten Zähnen. Kagemura lächelte unbeeindruckt.

„Das hast du und ich habe mich daran gehalten. Ich habe ihn nie angerührt. Und ehrlich gesagt, spüre ich kein Verlangen danach, etwas anzufassen, was bereits von dir verschmutzt wurde.“ Jedes einzelne Wort war dem Strategen eine Beleidigung. Allein seine Stimme zu hören, ekelte ihn so sehr an, dass er auch das letzte bisschen Kontrolle über sich selbst verlor.

Ruckartig riss Kagegaku seinen Bruder herum und stieß ihn zu Boden. Doch selbst das beeindruckte Kagemura nicht. Er lachte lauthals, während er sich selbst wieder nach oben zog.

„Für solche Spielchen sind wir doch schon etwas zu alt, oder?“, meinte der Bruder und klopfte sich den Staub vom teuren Seidenkimono. Ein unachtsamer Moment, den der Stratege in seinem Zorn ausnutzte. Er schlug Kagemura mit der bloßen Faust so fest ins Gesicht, dass dieser taumelnd zurück an die Holzwand stolperte. Fassungslos fuhr sich der Bruder über die sofort blutende Unterlippe, während er weiterhin krampfhaft versuchte, spöttisch zu grinsen. Was Kagegaku weiter provozierte. Sein Blut kochte. Er vergaß all seine Vernunft und ertappte sich dabei, wie er darüber nachdachte, seinen eigenen Bruder umzubringen.

Er kannte keine Skrupel mehr, sondern nur noch den Hass auf diese blutsverwandte Person, die voller Abscheu versuchte, sein Leben zu ruinieren.

Kagemuras Grinsen hatte ihn schon immer zu unbedachten Handlungen getrieben. Er wusste, dass der jüngere Bruder es nur einsetzte, um ihn zu reizen, damit er unwiderrufliche Fehler beging. Fehler, die ihn das Leben kosten oder andere mit in den Untergang stürzen könnten. Und obwohl er all dies wusste, konnte Kagegaku seine brodelnden Gefühle nicht unterdrücken. Er trug sie offen zur Schau, woran sich Kagemura sichtlich erfreute.

„Der Kleine scheint als Liebhaber ja wirklich was zu taugen. So heißblütig erlebt man dich nur, wenn es um deinen strohhaarigen Günstling geht“, kam es provokant vom Jüngeren, als dieser das Zittern in den Händen seines älteren Bruders entdeckte.

„Ich werde nicht zulassen, dass du jemals wieder in seine Nähe kommst“, entgegnete der Stratege zornig. Kagemura blickte zu ihm auf und tat überrascht.

„Ah, verstehe. Du hast ihn also gefunden. Ich dachte mir schon, dass du den Kleinen nicht einfach kampflos hergibst.“

„So ist es. Und sei dir gewiss, dass ich dir auch den Kopf abgeschlagen hätte, wäre Hidetori etwas passiert.“ Das gefährliche Funkeln in den dunklen Augen des Strategen unterstrich diese indirekte Drohung. Und obwohl Kagemura wusste, dass sein Bruder es ernst meinte, konterte er darauf nur mit einem gleichgültigen Schulterzucken.

Kagegaku, der den Jüngeren dann aufgebracht am rechten Oberarm packte, mahnte mit seinem Blick, bevor er mit fester Stimme die Zwecklosigkeit einer weiteren Intrige erklärte. „Hidetori ist fort. Dank deiner Geschichte wird er in Echigo nicht gesucht. Du hast nichts mehr gegen mich in der Hand. Du kannst Kenshin nicht mehr gegen mich aufzuhetzen.“

Von sich überzeugt schüttelte Kagemura grinsend den Kopf.

„Um dich bluten zu sehen, brauche ich Kenshins Hilfe nicht. Ich habe deinen geliebten Hidetori immer im Auge. Ich finde ihn überall, egal wo du ihn versteckst“, sagte er und sah ernst aus, fast schon fanatisch. Seine Augenbrauen zuckten, während er sich aus Kagegakus festem Griff riss.

Dann herrschte eine seltsam kurze Stille, bevor der verfeindete Bruder erneut das Wort erhob. „Falls du überhaupt dazu kommst ihn zu verstecken“, deutete er an und ergötzte sich an dem Anblick des geschockten Strategen, der sofort realisierte, was Kagemura damit meinte.

Das siegessichere Grinsen auf den Lippen des jüngeren Bruders ließ Kagegaku erschaudern. Er schwitze und zitterte zugleich, als ihm mit einem Mal klar wurde, dass er in eine Falle gelaufen war.

„Der Reiter war nicht allein“, stellte der Stratege mit bebender Stimme fest. Und Kagemura nickte.

„Du weißt doch, dass ich immer auf Nummer sicher gehe.“

Angewidert von den sanften Augen des Bruders, hinter denen in Wahrheit nur noch Hass und Habgier steckten, wandte sich der Ältere ab und fuhr sich panisch durch das immer noch zerzauste Haar. Er hätte es besser wissen müssen. Diese klein angelegte Entführung war doch viel zu untypisch für seinen Bruder gewesen.

Ein einzelner Mann, der eine wichtige Geisel fortschaffen sollte ...? Ein absurder Plan, der so nie funktioniert hätte. Und doch war es ihm nicht aufgefallen.

Vor Glück, den Blonden wieder in seinen Armen liegen zu haben, war er vollkommen blind gewesen. Genau so, wie Kagemura es erwartet und geplant hatte. Er war naiv darauf reingefallen. Und nun wurde er mit diesem unerträglichen Grinsen dafür bestraft, worauf er mit einem Zittern, welches er nur mit Mühe verbergen konnte, reagierte.

„Ehrlich gesagt, …“, begann Kagemura, während er provokant vor seinem älteren Halbbruder auf und ab ging, "Ja, ehrlich gesagt, habe ich mir noch keine genauen Gedanken darüber gemacht, was ich mit deinem Liebling anstellen werde.“

Mit gespielter Nachdenklichkeit fuhr sich der Vertraute des Daimyos über das Kinn, bevor er wahres Entsetzen in den Augen des Strategen wahrnehmen konnte. Was ihm reine Genugtuung war.

„Vielleicht verkaufe ich ihn an jemanden, der an so etwas Exotischem interessiert ist. Sklavenhändler wären ihm sicherlich auch nicht abgeneigt. Oder ich sperre ihn einfach irgendwo ein und lass ihn elendig verhungern. Die Wahl liegt zwischen Qual, langsamem Tod, und ewiger Demütigung. Was wäre dir lieber?“

Als Kagegaku das wahre Ausmaß der fehlenden Menschlichkeit seines Bruders erkannte, spürte er einen harten Stich in seiner Brust. Warum entsetzte es ihn so sehr, nachdem er doch bereits über 20 Jahre lang mit dieser Kaltherzigkeit gelebt hatte? Warum konnte er sich nicht damit abfinden, dass ein Mensch, in dem das gleiche Blut floss, ein solches Scheusal sein konnte? Warum war er nicht in der Lage, seinen Hass freizulassen und diesen Menschen zu töten? Was hinderte ihn daran? Sein eigenes Gewissen, sein Mitleid?

In Gedanken war er schon so oft der Mörder seines Bruders gewesen und nun war es vor allem Ekel, was er empfand. Mit schüttelndem Kopf trat er an Kagemura heran und blickte ihm zornig in die Augen, bevor sein unendlicher Groll wieder aus ihm herausbrach und er den Jüngeren anschrie. „Was willst du von mir? Das Erbe unseres Vaters? Mein Land, die Familie, meinen Posten? Bitte! Nimm es dir doch! Nimm dir alles! Für mich hat das alles sowieso keinen Wert!“

„Lass mich raten … Und dafür soll ich dich und dein Vögelchen in Ruhe lassen, oder?“, entgegnete Kagemura sofort fragend, während er skeptisch das Gesicht verzog.

Kagegaku nickte und antwortete nur mit einem einfachen "Ja", obwohl die Wut so stark in ihm kochte, dass er den Bruder am liebsten bewusstlos geschlagen hätte.

„Tut mir Leid, aber ich bin nicht mehr interessiert“, kam es von Kagemura im gleichgültigen Ton.

„Alles was ich will, ist dein Untergang, sonst nichts. Und weil mir das zu einfach von der Hand gehen würde, lass ich dich vorher noch leiden. So sehr, dass du dich selbst umbringst, statt mir alles freiwillig zu geben.“ Fassungslos starrte Kagegaku dem Jüngeren in die sanften Augen, die zum ersten Mal die selbe Kälte ausstrahlten, die auch im Herzen des Bruders existierte.

Es fröstelte ihn regelrecht bei diesem Anblick und er fragte sich abermals, was der Auslöser dieses Hasses war. Er wusste es einfach nicht. Nie hatte es ihm der Bruder direkt gesagt.

Und ändern konnte er es so oder so nicht mehr.

Doch es gab andere Dinge, die dem Strategen wichtiger waren, als die Liebe seines Bruders zu gewinnen.

Hidetori war in Gefahr. Und solange es ihm möglich war, Kagemuras Pläne zu durchkreuzen und Hidetori zu beschützen, würde er Tag und Nacht durchreiten und nach dem Blonden suchen.

Solange er Kraft in seinem Körper hatte, würde er nicht aufgeben. Egal wie beschwerlich der Weg war und wie lange es dauern würde. Kagemura kämpfte mit dem falschen Mann und das würde er früher oder später bemerken.
 

Wortlos stieg der Stratege auf sein Pferd und griff nach den Zügeln.

Der Blick des Bruders folgte ihm, während Kagegakus Pferd langsam lostrabte.

Er hatte ihm nichts mehr zu sagen. Denn kein Wort der Welt vermochte es, das Herz des gefühllosen Mannes zu erwärmen.

Was es bedeutete, jemanden zu lieben, würde Kagemura wohl nie verstehen können. Nie würde dieser sein Leben für einen anderen Menschen aufgeben oder verändern.

Kagegaku aber war dazu bereit. Er spürte, dass es die richtige Entscheidung war.

Sobald er wieder mit Hidetori vereint war, würde er sich von Kenshin und Kagemura lossagen und zusammen mit den Blonden verschwinden.

Dann würde sie keine Macht der Welt mehr auseinander reißen können. Dann waren sie für immer eins.
 

***
 

Langsam tauchte er seine Hände in das kalte, im Sonnenlicht funkelnde Bachwasser, von dem er bereits getrunken und sich das schmutzige Gesicht gewaschen hatte.

Nachdenklich genoss er die schimmernden kleinen Wellen, die er mit seinen Fingern erzeugte, während Fukushima und Yukitaka ihre müden Pferde versorgten.

Die wachsamen Blicke der beiden Krieger auf ihn bemerkte der Blonde gar nicht mehr. So versunken war er in dieser glitzernden Welt, die das direkte Gegenteil seiner aussichtslosen Realität war.

Er dachte an früher, an sein schillerndes Leben als Rockstar, welches zwar nicht frei von Problemen, jedoch sehr viel einfacher gewesen war. Hier konnte er niemanden um Hilfe bitten, niemanden um Rat fragen. Selbst Fukushima, der sein Geheimnis kannte, konnte er sich nicht anvertrauen. Denn im Grunde wusste er selbst nicht einmal, was sein Problem war.

Was er erklären konnte, war nur ein eigenartiges Gefühl, welches ihn schlimmes ahnen ließ; weiter nichts. Allein der Gedanke daran, so etwas vorzubringen, war ihm zu lächerlich. Er war auf sich allein gestellt und musste selbst herausfinden, was er tun musste. Doch das war einfacher gesagt als getan.

Während der letzten Stunden hatte er viel Zeit gehabt, über das, was passiert war und noch geschehen würde, nachzudenken. Er hatte in Erwägung gezogen, auf Kagegakus Kraft und Intelligenz zu vertrauen und sein Schicksal einfach in seine Hände zu legen. Doch auch eine Flucht und das einsame und ungewisse Leben im Nirgendwo war eine Möglichkeit, die ihm blieb und die in Anbetracht seines schlechtem Gefühls wohl auch die klügere war. Noch immer aber wusste er nicht, welchen dieser Wege er einschlagen sollte.

Statt ernsthaft darüber nachzudenken, vergrub er sich lieber in seiner verlorenen Vergangenheit, der er mehr denn je nachtrauerte.

Die Gesichter seiner Freunde verblassten. Mit jedem Tag, der verging, verschwanden mehr und mehr Erinnerungen an geliebte Menschen. Er vergaß Namen, Orte und sogar Songs, die er geschrieben hatte. Selbst das Bild seiner Eltern war lückenhaft. Dafür war sein Kopf voller unbekannter Ereignisse, die plötzlich da waren und sich immer und immer wieder vor seinen Augen abspielten. Sie verdrängten seine wenigen kostbaren Erinnerungen, die ihm noch geblieben waren, in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses. Doch das Schimmern des Wassers, welches er nun minutenlang angestarrt hatte, war wie ein Schild, das ihn davor bewahrte, alles zu vergessen.

Als würde er durch einen Spiegel in die Zukunft blicken, und klar feststellen, dass sie noch existierte. Irgendwo in seinem Inneren.
 

„Hidetori, wir müssen weiter“, wurde Hyde aus seinen Gedanken gerissen. Orientierungslos blickte er auf und nickte widerwillig, als er Fukushima, der neben seinem braunen Pferd stand und auf ihn wartete, sah.

Müde stand der Blonde auf und ließ seine nackten Füße über den moosigen Boden schleifen.

Er wusste nicht, wohin sie ritten, oder wie weit es noch war. Die Pausen, die sie machten, um ihren Durst zu stillen, waren zu kurz. Das ewige Sitzen auf dem Pferd war anstrengend und raubte ihm die Kraft. Er wollte einfach nur, dass das alles endlich ein Ende hatte, dass er die Augen schließen konnte und über nichts mehr nachdenken musste.

Selbst an Kagegaku, der so verzweifelt um eine Antwort gebeten hatte, wollte er nicht mehr denken. Es betrübte ihn zu sehr, sich an den gebrochenen Blick des Strategen zu erinnern, dessen Grund seine Abweisung gewesen war. Es war ihm unerträglich, zu wissen, dass er den Schwarzhaarigen damit verletzt hatte.

Bekümmert näherte sich Hyde den beiden Kriegern, die abseits des Baches auf ihn warteten. Er seufzte verloren, während er sich das Tuch um seinen Kopf zurechtzog und einzelne Strähnen darunterschob.

„Bleib stehen!“, zischte Fukushima plötzlich und ließ Hyde erschrocken zusammenzucken.

Der ernste Blick des Samurai und der Griff zu seinem Katana machte den Blonden sofort unruhig. Auch Yukitaka blickte sich wachsam um, bevor der Berater leise „Hier ist noch jemand“ flüsterte.

Kaum, dass diese Worte über seine Lippen gekommen waren, raschelte es von allen Seiten. Und dann ging alles rasend schnell. Aus den Büschen sprangen bewaffnete Männer, die auf sie zu rannten. Yukitaka und Fukushima zogen ihre Schwerter und kämpften, während Hyde nur wie erstarrt zusah.

Er zählte sieben Männer, von denen zwei direkt auf ihn zukamen. Die langen Schwerter blitzen im Sonnenlicht, genauso wie die dunklen Augen der schwarzmaskierten Besitzer.

Erst, als es fast zu spät war, bewegten sich die angwurzelten Füße des Blonden.

Er rannte panisch los. So schnell wie seine erschöpften Beine konnten.

Seine nackten Füße trugen ihn über spitze Steine und splittriges Holz. Er spürte keinen Schmerz, denn die Angst vertrieb jede andere Empfindung.

Doch egal, wie schnell er unter seiner Todesangst rannte, seine Verfolger waren ihm auf den Fersen. So nah, dass Hyde hören konnte, wie sie atmeten. Er wusste, dass er keine Chance gegen sie hatte, deswegen fuhr er mit seinen bebenden Fingern unter seinen Obi.

Er ertastete den Griff des Dolchs, den er von Kagegaku bekommen hatte und sein Herz begann vor Panik zu rasen. Obwohl es nur wenige Sekunden waren, dachte Hyde, die Zeit, in der er die Stichwaffe zögernd in seine Hand nahm, wäre endlos. Der Dolch fühlte sich schwer und eiskalt an, genauso wie sein Inneres, als er entschied, ihn trotz seiner Bedenken und Angst einzusetzen.

Er hatte während der letzten Tage oft über den Tod nachgedacht; er hatte geglaubt, ihm furchtlos gegenübertreten zu können. Er war sogar bereit gewesen, sein Leben selbst zu beenden.

So war es jedoch nicht. Er wollte nicht sterben. Obwohl er nicht wusste, wie er leben sollte, wollte er nicht sterben.
 

Er sah die Schatten der Krieger, direkt neben seinem, während er vor Erschöpfung langsamer wurde. Seine Finger schlossen sich fest um den hölzernen Griff des Dolchs, als er plötzlich an der Schulter gepackt und herumgerissen wurde. Der Blonde stolperte und fiel zu Boden. Was genau er dann tat, konnte er gar nicht mehr realisieren.

Er folgte seinem Überlebensinstinkt, zog die Waffe aus der Scheide und fuchtelte mit geschlossenen Augen wild um sich. Er spürte, dass er auf etwas traf und hörte dann einen dumpfen Schrei.

Als er seine Augen öffnete, erblickte er seine blutüberströmten Hände. Ein Mann lag leblos auf dem Boden, der andere hatte ihn von hinten gepackt.

Gerade als der Maskierte ihm seine Waffe an den Hals legen wollte, stach ihm der Blonde in die Seite. Der laute Schrei dröhnte in Hydes Ohren, während er sich losriss und stolpernd weiter rannte.

Sein Herz pochte, als würde es herausspringen wollen. In seinen Augen sammelten sich heiße Tränen und seine Füße brannten vor Schmerz.

Was hatte er getan? Seine Gedanken kreisten um diese Frage. Er hatte getötet, er hatte einen Menschen umgebracht. Die starrenden Augen des Toten würde er nie vergessen können. Sie hatten sich mahnend in sein Herz gebrannt und stachen wie spitze Nadeln.

Er stand unter Schock, deswegen konnte er nicht aufhören, zu rennen. Er lief und lief, obwohl er auf einmal Fukushimas und Yukitakas Rufe hörte. Er rannte, bis die Stimmen der Samurai leiser wurden und schließlich ganz verstummten. Die dichten Bäume verschwammen vor seinen Augen. Nun gab es kein Zurück mehr. Sie waren weg und er allein.

Als er das realisierte, versagten seine schmerzenden Beine. Er sank geschockt auf die Knie und kippte zur Seite auf den moosigen Waldboden.

Er wollte gleichzeitig schreien und weinen, doch er konnte nicht. Das Entsetzen über sein Handeln saß noch zu tief. Es flossen nur stille Tränen, die kein Ende fanden.

Dass nun alles verloren war, hatte er noch gar nicht wirklich begriffen. Alles woran der denken konnte, war das Blut, welches an seinen Fingern klebte.

Verzweifelt versuchte er es am Moos abzuwischen, doch es haftete an seinen Händen wie eine widerliche Tätowierung. Panisch stand er wieder auf und lief weiter. Er musste es loswerden. So schnell wie möglich. Doch der Ekel machte ihn so rasend, dass er nur noch wirr umherstolperte.

Überall nur Bäume, kein Weg, keine Lichtung und kein Wasser. Wie lange er so herumgeirrt war, bevor er wieder zu Sinnen kam, wusste er nicht. Doch was er sofort realisierte war, dass er sich verirrt hatte. In einem Wald, mitten im Nirgendwo.

Entsetzt blieb er stehen und sah sich um. Er lauschte dem Wind und wünschte sich, Fukushimas Stimme zu hören, die hoffentlich von irgendwoher leise zu vernehmen war.

Doch da war nichts. Nur das Rascheln der Blätter im Wind und das fröhliche Singen der Vögel. Es war ein schriller Ton, der sich mit seiner panischen Angst vermischte.

Zittrig fuhr er mit seiner Hand über den Obi und wollte nach Kagegakus Dolch fassen. Doch er griff ins Leere.

Er war nicht mehr da. Er hatte ihn neben dem Toten liegen lassen, als er aus seinen bebenden Händen gerutscht war. Aus lauter Dummheit und Furcht, vor dem Anblick der Leiche, war er weggelaufen. Und nun war er schlichtweg schutzlos.

Was sollte er tun? Es wurde langsam dunkel und er wusste nicht, wo er war. Vielleicht lebte der andere Krieger noch und suchte nach ihm. Vielleicht würde er diese Nacht nicht überleben, wenn er kein Versteck fand.

Seine Angst, welche zitternd durch seinen ganzen Körper fuhr, hatte das Höchstmaß erreicht.

Verzweifelt fasste er sich an die Brust und sackte auf die Knie. Seine Füße hatte er sich blutig gelaufen, überall an seinem Kimono klebte das Blut des Kriegers, den er aus Notwehr getötet hatte und seine Kraft war schon lange aufgebraucht.

Er war müde. Er wollte schlafen, endlich seine brennenden Augen schließen und alles vergessen, so wie er seine Vergangenheit Stück für Stück vergaß.

Keinen Schritt konnte er mehr gehen, keinen klaren Gedanken mehr fassen. Erschöpft rutschte er nur an dem großen Stein hinter sich hinab und winkelte die schmerzenden Beine an.

Seine Augen blieben wachsam, obwohl sie ihm doch ab und zu für wenige Sekunden zufielen. Er hatte einfach zu viel Angst, die Lider zu schließen und zu schlafen. Doch er wusste, er würde nicht mehr lange gegen diese Müdigkeit ankämpfen können. Was würde dann passieren?

Er fürchtete sich davor, zu erfahren, was mit ihm geschehen würde.

Und vor dem Gedanken, tatsächlich allein in dieser Welt leben zu müssen. Ohne Fukushima, ohne Kagegaku, ohne die Hilfe von irgendjemandem.

Und trotzdem musste er es. Es war doch gut so. Genau so war es richtig. Er war nicht mehr Kagemuras Geisel. Der Bruder hatte nichts mehr gegen Kagegaku in der Hand.

Alles würde nun wieder so sein, wie es sein musste, denn den blonden Fremden gab es nicht mehr. Genauso, wie es Tayama in Tokio erzählt hatte. Für Geschichten würden sich die Menschen nun den tragisch-romantischen Selbstmord des Mannes mit dem goldenen Haar dazudichten. Und er war tatsächlich gestorben. In genau jenem Moment, als er sich am Morgen wortlos von Kagegaku verabschiedet hatte.

Er hatte sein Schicksal erfüllt und musste nun alles daran setzen, dass dies auch so bliebe. Er musste einen Weg finden, seine düsteren Träume nicht wahr werden zu lassen.

Also durfte ihn nie jemand finden. Weder der rachsüchtige Kagemura noch Kagegaku. Es war ein schwerwiegender Entschluss und doch wusste Hyde, dass ihm keine andere Wahl blieb. Er würde den Strategen nie wieder sehen können.

Das war unbestrittener Fakt. Der Schmerz über diese Erkenntnis war groß. Er seufzte schwer, während er über das schwarze Band, welches der Schwarzhaarige ihn um sein Handgelenk gebunden hatte, fuhr. Auch jener feine Stoff war mit Blut befleckt, was Hydes Pein noch schlimmer machte. Er drückte sein verbundenes Handgelenk an seine Lippen und schluchzte.

Er war ein unsichtbarer Schatten, der kein Recht mehr auf Glück hatte.
 

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Vielen Dank für die Kommetare zum letzten Kapitel. Waren ja ein bisschen mehr als sonst. XD

Danke, danke!
 

Leider ist dieses Kapitel nun auch nicht happier als das Vorhergehende, aber ich hatte ja gewarnt *lol*

Eigentlich wird es ja immer schlimmer, oder? O.o Aber ihr wisst ja, dass es noch ein kleiner Weg bis zum Ende ist und ich kann euch versprechen, dass noch so einiges passieren wird. ^_-

Was Gutes, was Schlechtes... was Trauriges, was Leidenschaftliches. Es ist noch alles drin. Also bleibt dabei. ^_^
 

Thank you kissu

Ina



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  BODYROCKER
2011-07-25T21:34:54+00:00 25.07.2011 23:34
du machst einen echt fertig eh!!! XDDD'' ich konnt einfach nicht aufhören zu lesen und bin jetzt echt verdammt am arsch. Allein schon wegen diesen ganzen Eindrücke! Also die Liebesszene war ja am tollsten eher gesagt (fast) Liebesszene XD'' aber mir gefällt auch dieses dramatische/aussichtslose...es fesselt einen so sehr das man sich einfach nur wieder etwas..naja friedliches wünscht ;___; Mir tun die beiden so endlos leid! Wah~ es macht einen verrückt, weil ich echt das Bedrüfniss verspür etwas gegen diese Auswegslosigkeit zu unternehmen... D: naja hör ich mal auf zu träumen XDDD' ...ich schätze ich werde Heute nach echt verrücktes zeug träumen <<; wie dem auch sei. Gott schreib schnell weiter Q-Q please?
Von:  Chilet
2011-07-25T16:19:48+00:00 25.07.2011 18:19
Als ich dieses Kapitel gelesen hab, hatte ich iwie nen Deja-vu.. Die Szene, als Hyde um sein Leben gekämpft hat und die Krieger mit dem Dolch getötet hat, kam mir so bekannt vor.. x_x
Uwah.. es wird echt immer schlimmer. Vor allem, weil Hyde einfach weggelaufen is und nun irgendwo in dem großen Waldstück ist... Hoffentlich wird er von Fukushima gefunden.. ;_;

Kagemura war aber fies, ich hatte auch nicht daran gedacht, dass sein Krieger quasi "nicht allein" war, als er Hyde entführt hat... Das er damit Kagegaku so anstachelt und ihm die ganzen Sachen provokativ an den Kopf wird... boah ey... .__.
Ich, an Kagegakus Stelle, hätte wohl auch die Geduld verloren und ihm eine geknallt.. -.-

*sigh*
Ich hoffe, das die Story laaaangsam wieder etwas~ besser wird.. ;_;
Lass die Armen (und uns >O<) doch ned so leiden! T_T


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