Ein "schwerwiegendes" Missgeschick
"Geh weg!"
"Nun gib schon her!"
"Verschwinde!"
"Das hättest du wohl gerne!"
"In der Tat!" Teils seufzend teils belustigt verfolgen Miroku, Sango und Shippo eines der üblichen Streitgespräche zwischen Inu Yasha und Kagome. Die beiden sind mal wieder mitten im schönsten Disput. Gerade haben sie einen kleinen Bergkamm erreicht und selbst Kagome hat es mit ihrem Rad bis hier hinauf geschafft. Und das ganze Theater dreht sich jetzt wieder nur darum, dass Inu Yasha sich inzwischen aufgerappelt hat, zu der Gruppe wieder aufgeschlossen hat und nun beharrlich versucht, Kagome dazu zu bewegen, ihn das Fahrrad schieben zu lassen, was sie sich, noch immer beleidigt und mit aller Entschiedenheit, weigert.
"Also manchmal bist du wirklich so was von stur und albern!", sagt der Richtige, "Nun gib mir endlich das verdammte Fahrrad!"
Kagome schnaubt auf: "Kommt ja gar nicht in Frage! Jetzt brauchst du mir auch nicht mehr zu helfen! Außerdem sind wir sowieso fast oben."
"Ach, du willst wohl das blöde Ding auch den ganzen Berg wieder runterschieben, was?", giftet Inu Yasha.
"Darauf kannst du wetten!", entgegnet Kagome herausfordernd.
Hinter ihnen murmelt Sango: "Sie sollte ihm einfach das Fahrrad geben. Sonst geht das ewig so weiter."
"Pah!", meint Inu Yasha grade, "Dazu bist du doch viel zu schwach. Mit dem ganzen Gepäck drauf saust dir das Ding doch gleich davon."
"Ach, was du nicht sagst!", gibt Kagome zurück, "Und wieso fällt dir das erst jetzt ein, du Holzkopf? Warum nicht schon vorhin, als das Fahrrad den Berg hochschieben musste, weil irgend so ein unsensibler Halbdämon nichts anderes als Schokoriegel im Kopf hat?"
"Aber jetzt will ich dir ja helfen", grollt Inu Yasha zwischen zusammengebissenen Zähnen und es klingt alles andere als hilfsbereit.
"Ein bisschen spät, findest du nicht auch?"
"Besser spät als nie."
"Dann lieber nie!", schnappt Kagome.
Finster blickt Inu Yasha sie an. Dann packt er den Lenker auf dem noch immer Shippo sitzt und das "Gespräch" mit großem Interesse verfolgt. "Nun gib schon her!"
Doch so leicht ist Kagome gerade nicht zu besänftigen. Entschieden zieht sie den Lenker zurück. "Nein!"
Er zieht wieder daran. "Gib her!"
"Nein!!!", das Fahrrad wird zurückgerissen.
"Gib her das blöde Ding!"
"Nein!"
"Doch!"
"Nein!"
"Doch!"
Dabei wird das Fahrrad so sehr hin und her gerissen, dass der kleine Fuchs auf der Lenkstange gehörig durchgeschüttelt wird und ihm schon ganz schummrig davon wird. "Hilfe!", quiekt er.
"Um alles in der Welt, Kagome!", mischt sich jetzt Miroku leicht verzweifelt ein, "Nun gib ihm schon das Fahrrad!"
Einen Momentlang halten die beiden mitten in der schönsten Auseinandersetzung inne. Dann seufzt Kagome und verzieht das Gesicht. Sie lässt den Lenker los und meint: "Also schön, der Klügere gibt nach!"
Sofort reißt Inu Yasha die Augen auf und stemmt die Arme in die Seite: "Was soll denn das jetzt bitte heißen?"
"Das ist doch nur so eine Redensart, du Idiot!", gibt Kagome genervt zurück.
"Ähm, Kagome...?", mischt sich nun Sango ein.
"Ach, ich bin also ein Idiot, ja?", Inu Yasha scheint sich das nicht gefallen lassen zu wollen.
Kagome verdreht die Augen: "Also manchmal benimmst du dich wirklich wie einer. Jetzt zum Beispiel!"
"Kaaagome!", versucht es jetzt auch Miroku noch mal.
"Was denn?", fährt sie noch immer aufgebracht herum. Doch der Mönch macht nur eine eindeutige Geste mit dem Zeigefinger die zwischen den beiden Kampfhähnen hindurch zielt. Kagomes Blick fährt herum.
Gerade bekommt sie noch mit wie sich ihr Fahrrad inzwischen selbstständig gemacht hat und nun mitsamt Rucksack und Fuchsdämon den Pfad auf der anderen Seite des Berges herunterrollt.
"Hiiiilfe!", ist Shippos langgezogener Schrei zu hören. Verzweifelt versucht er mit seinen Pfoten die Richtung des Vehikels in irgendeiner Weise zu beeinflussen, doch das einzige was ihm teilweise gelingt ist das Gleichgewicht zu halten. So rauscht das Fahrrad durch das große Gewicht nach und nach immer mehr beschleunigt auf den unheilvollen Rand und den dahinterliegenden schwindelig tiefen Abgrund zu der sich plötzlich vor ihm auftut, weil der Bergweg auf einmal so hinterhältig ist und eine scharfe Wegbiegung vollführt.
Auch die anderen sind jetzt in Bewegung geraten. Erstaunlich wie schnell ein Streit vergessen sein kann, wenn ein Freund und ein ganzer Haufen Kartoffelchips in Gefahr sind.
"Halt das Fahrrad an!", ruft Inu Yasha Shippo zu.
"Wie denn?", kommt die panische Antwort von dem immer schneller werdenden Rad.
"Tritt auf die Bremse!", ruft Inu Yasha überflüssigerweise.
"Du bist gut!", kräht Shippo zurück, "Wie soll ich denn da drankommen? Ich hab doch viel zu kurze Füüüße!" Vor sich sieht er bereits den todbringenden Abgrund auftauchen. Das war's für mich, denkt er noch. "Dabei bin ich doch noch viel zu jung zum steeerben!"
Zum Glück ist wenigstens Kagome so geistesgegenwärtig. "Spring ab, Shippo!", ruft sie besorgt. Und tatsächlich lässt der kleine Fuchs das nicht zweimal sagen. Mit einem verzweifelten Hechtsprung hüpft er von der Lenkstange herunter und kann nun nur noch beobachten wie das herrenlose Fahrrad unaufhaltsam den abgründigen Tiefen zusteuert.
Ein wenig besorgt aber mit tapferer Entschlossenheit schaut Rin ihrem hochgewachsenen, weißhaarigen Herren entgegen der sich gerade zu ihr hinunterbeugt und nach ihrem Knöchel greift. In seinen langen Fingern mit den scharfen Klauen an der Spitze wirken ihre dünnen Beinchen fast verschwindend schmal und zerbrechlich. Obwohl sie mit ihrem ganzen kindlichen Herzen an ihm hängt, ist es Rin doch ein wenig beklommen zumute, als der große Dämonenprinz sie seit langem wieder näher zu beachten scheint und das nur um ihr zu helfen. Seine Hände sind warm aber sie zuckt trotzdem ein wenig zusammen. Zu ungewohnt ist einfach eine Berührung von ihm.
Ein winziger Zug der Überraschung ist für den Bruchteil einer Sekunde auf Sesshomarus Gesicht zu sehen, als er ihre Reaktion bemerkt, doch dann wird seine Miene wieder ausdruckslos. Erstaunlich behutsam versucht er den Fuß zu befreien. Dabei entgehen seinen wachen Augen nicht das schmerzverzerrte Gesicht des Mädchens. Offenbar ist der Knöchel verstaucht und dadurch angeschwollen. Ohne grob zu werden wird er ihn nicht herausbekommen. Er erhebt sich wieder. Mit einem leicht ängstlichen Blick schaut die Kleine zu ihm hoch. Was wird er jetzt mit ihr machen?
Sesshomaru überlegt. Dann nimmt er den Fels neben dem Mädchen in Augenschein. Es sollte kein größeres Problem sein, ihn beiseite zu schieben.
"Da hast du uns ja wieder was eingebrockt!", kann sich Jaken nicht verkneifen, "Was machst du auch immer für Unsinn? Ich hatte dir schließlich gesagt, dass du herkommen sollst, aber du hast ja wieder mal nicht hören wollen. Das hast du nun davon! Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen! Kinder sind eine solche Plage!"
Vor ihm sitzt Rin auf dem Boden und kämpft mit den Tränen. Es war doch keine Absicht gewesen. Sie hat doch auch nicht hier feststecken wollen. Jetzt sitzt sie hier auf den kalten Steinen, ihr Fuß steckt fest und tut weh, Jaken schimpft mit ihr und ihr Meister macht noch immer keine Anstalten ihr herauszuhelfen. "Tut mir leid!", schnieft sie und lässt den Kopf hängen.
"Das sollte es dir auch!", setzt Jaken tadelnd nach.
Zum ersten Mal seit langem lässt sich der stolze Youkai-Prinz zu einer Reaktion auf Jakens Umgang mit Rin herab. "Jaken!" Rasch schaut dieser auf. Er ist äußerst beunruhigt. Er kennt seinen Herrn schon lange und somit auch die unterschiedlichsten Varianten und Nuancen seines Namens wenn Sesshomaru ihn ausspricht. Dieses "Jaken!" lässt Vorsicht geboten sein.
"Mein Herr?", kommt die zögernde Frage.
"Das ist nicht dienlich!" So einfach wie die Antwort ist, so aussagekräftig und effektiv ist sie auch. Jaken zieht es vor, keinen weiteren Mucks von sich zu geben.
Nun beugt sich Sesshomaru erneut hinab um einen guten Griff an dem großen Felsbrocken zu bekommen. Neben ihm zuckt Rin wieder ein bisschen zusammen. Ihr Fuß schmerzt immer mehr und am liebsten will sie niemanden in seine Nähe kommen lassen. Sesshomaru bemerkt ihre Furcht erneut. Seine Augen werden schmal als er sie ansieht. Mit großen, leicht feuchten Augen erwidert sie seinen Blick.
"Willst du etwa hier bleiben?", fragt er. Ihre Augen weiten sich noch ein wenig mehr als sie das hört und dann schüttelt sie energisch den Kopf. Ohne weitere Worte zu verschwenden beugt sich Sesshomaru wieder zu dem Felsen hinunter.
Auf einmal hält er inne. Ihm ist so als wenn er etwas gehört hat. Forschend lauscht er. Was kann das sein? Dann plötzlich wie durch eine Ahnung geht sein Blick empor an der hohen, steilen Felswand neben ihm. Dort oben tut sich tatsächlich etwas. Irgendetwas großes, unförmiges stürzt von dort oben herab. Es ist weder ein Fels noch irgendein Dämon. Was es genau ist kann er nicht erkennen aber eines weiß er mit Sicherheit: Es ist schwer! Und es steuert zu allem Überfluss genau auf die Stelle zu an der Rin feststeckt, wie sein geschulter Blick feststellt.
Auch Rin schaut nun hinauf und sofort erkennt sie die Gefahr. Doch selbst wenn sie nicht festhängen würde, das kleine Mädchen ist starr vor Schreck. Hinter Sesshomarus Stirn arbeitet es heftig. Was auch immer dort hinabstürzt, es könnte das Mädchen erschlagen, das steht fest. Er kann sich nicht helfen, aber diese Variante möchte er gerne vermeiden. Er könnte sie mit Gewalt fortzerren doch das würde ihren Fuß wahrscheinlich nachhaltig verletzen. Auch das wäre sehr unpraktisch. Und die Zeit um den Stein beiseite zu schieben, bleibt nicht mehr. Es bleibt also nur noch eine Möglichkeit.
Ohne weiter darüber nachzudenken, legt er seine Hand auf Rins Kopf und drückt sie vorsichtig aber bestimmt zu Boden.
"Bleib unten!", sagt er. Sie gehorcht. Und dann beugt er sich über sie und schirmt sie mit seinem Körper vor der Wucht des unmittelbar folgenden Aufschlages des Fahrrades samt Rucksack ab.
"Na suuuper!", meckert Kagome. Inzwischen hat sich wieder daran erinnert wer für den ganzen Schlamassel verantwortlich ist. "Das hast du wirklich wunderbar hingekriegt, Inu Yasha!"
"Hä, wieso bin ich denn auf einmal wieder Schuld?", will der Halbdämon wissen.
"Na, wer hat denn das Fahrrad einfach losgelassen?", gibt Kagome angriffslustig zurück.
"Pah, hättest es doch selbst festhalten können!", schmollt Inu Yasha.
"Ach was, ich dachte du wolltest mir unbedingt helfen?", gibt Kagome spitz zurück.
"Ach, und ich dachte, du wolltest es unbedingt alleine schieben", mosert Inu Yasha gegen an.
"Wenn du das Fahrrad festgehalten hättest, dann wäre es nicht abgestürzt, das steht mal fest."
"Und wenn du nicht so stur und zickig wärst, dann hätte das ganze Theater gar nicht sein müssen!" Inu Yasha ist auf hundertachtzig.
Doch Kagome nicht weniger: "Wie bitte? Ich bin überhaupt nicht zickig, was fällt dir ein?"
"Klar bist du zickig!", stichelt Inu Yasha weiter.
"Wann bitte bin ich zickig?", fordert Kagome feurig zu wissen.
"Na, jetzt gerade zum Beispiel!", meint Inu Yasha eingeschnappt.
"Was? Ich bin überhaupt nicht zickig!", zetert Kagome, "Du wirst schon merken wenn ich zickig bin!"
"Ach, meinst du?", grinst Inu Yasha gehässig.
Kagome wird stocksteif. "SITZ!" Umgehend tut die Kette um Inu Yashas Hals ihre Wirkung und reist den Hanyou zu Boden. "Jetzt bin ich zickig!", kommentiert Kagome ihre Handlung gelassen und dann wendet sie sich mit verschränkten Armen ab.
"Warum muss sie bloß immer das letzte Wort haben?", nuschelt der griesgrämige Halbdämon während er versucht sich von dem erneuten Schlag auf den harten Fels zu erholen.
Sango und Miroku treten an ihn heran. "Wann siehst du es endlich ein, dass du gegen Kagome nicht gewinnen kannst?", meint Miroku, "Du könntest dir eine Menge Ärger ersparen wenn du ihr gleich recht geben würdest."
"Wer hat dich gefragt, Miroku?", brummt Inu Yasha während er sich wieder aufrappelt und den Sand vom Gewand abklopft, "Seit wann bist du denn so ein Experte was Frauen angeht?"
"Nun ja...", will sich Miroku gerade selbstbewusst rechtfertigen, doch dann fängt er sich plötzlich einen warnenden Blick von Sango ein.
"An deiner Stelle würde ich jetzt lieber meinen eigenen Rat befolgen und nachgeben, sonst könnte es sein, dass du ebenfalls eine Auseinandersetzung mit einem weiblichen Mitglied dieser Gruppe verlierst!", meint sie warnend.
"Nun ja..., offenbar ist jeder Mann in der Position..., dass er immer noch mehr über das andere Geschlecht lernen kann... ganz gleich wie viel er schon weiß", sagt Miroku der im Gegenteil zu Inu Yasha weiß was gut für ihn ist.
"Grad noch gerettet!", murmelt Sango ernst.
Inzwischen hat sich Kagome zu dem kleinen Fuchsdämon hinabgebeugt. "Alles in Ordnung mit dir, Shippo?"
"Ja", kommt die Antwort, "Aber Kagome, dein schönes Fahrrad! Jetzt ist es in die Schlucht gefallen. All deine schönen Sachen! Hoffentlich sind sie nicht kaputtgegangen."
"Ach, das macht doch nichts!", meint Kagome schon fast wieder versöhnt, "Wir müssen einfach wieder runtersteigen und nachschauen. Aber eigentlich waren da gar nicht wirklich Sachen drin, die hätten kaputtgehen können. Nur um meinen Föhn tut es mir leid. Und Mama wird ihr Fahrrad vermissen", fügt sie noch hinzu.
"Du kannst von Glück reden, dass du nicht mit runtergerauscht bist", meint nun Inu Yasha zu Shippo der dazugekommen ist, "Ein Sturz aus dieser Höhe ist nicht gerade förderlich für die Gesundheit."
"Wem sagst du das", meint Shippo erleichtert, "Ich bin zwar ein echter Dämon im Gegensatz zu dir, aber unverwundbar sind wir auch nicht."
Gerade will Inu Yasha etwas Sarkastisches erwidern, doch er kommt nicht mehr dazu, denn in diesem Augenblick ertönt der laute, helle, langgezogene, angsterfüllte Schrei eines Kindes, der die ganze Gruppe augenblicklich innehalten und aufhorchen lässt.
"Sesshomaru-samaaaaaaaa!" Geschlossen wandern ihre Blicke hinüber zu der Schlucht in der gerade eben noch das Fahrrad samt Gepäck verschwunden ist.
Kagome findet nach einem langen Moment des Schweigens als erste ihre Sprache wieder: "Ups!"